ADB:Graun, Carl Heinrich

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Graun, Karl Heinrich“ von Moritz Fürstenau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 607–609, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Graun,_Carl_Heinrich&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 14:35 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Nächster>>>
Graupner, Christoph
Band 9 (1879), S. 607–609 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Carl Heinrich Graun in der Wikipedia
Carl Heinrich Graun in Wikidata
GND-Nummer 118541706
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|9|607|609|Graun, Karl Heinrich|Moritz Fürstenau|ADB:Graun, Carl Heinrich}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118541706}}    

Graun: Karl Heinrich G., geb. 1701 zu Wahrenbrück im jetzigen preuß. Regierungsbezirk Merseburg, war der Sohn des Acciseneinnehmers August G. und der jüngste unter 3 Brüdern, von denen der älteste August Friedrich G. 1772 als Dom- und Stadtcantor in Merseburg starb. Karl Heinrich kam mit seinem Bruder Johann Gottlieb (s. oben) um 1713 als Alumnus auf die Kreuzschule nach Dresden, wo beide beim Cantor Grundig im Gesange, sowie später durch den Kammercomponisten, Hoforganisten und Claviermeister an der königl. Capelle, Christian Petzold auf der Orgel und im Clavierspiele Unterricht erhielten. Mit Vorliebe studirte Karl Heinrich die Gesangscompositionen von Reinhard Keiser, insbesondere dessen „Musikalische Landlust“, welche er fast ganz auswendig lernte. Er besaß damals eine schöne Discantstimme, die sich später in einen weichen Tenor umwandelte. Unter dem Capellmeister Johann Christoph Schmidt studirte er die Composition und hatte 1718 Gelegenheit, die damals außerordentlich berühmte italienische Oper unter A. Lotti’s Leitung zu hören, wodurch er als Componist und Sänger bedeutend gefördert ward. Nachdem G. die Kreuzschule verlassen hatte, begann er fleißig zu componiren, besonders Kirchenstücke für seinen ehemaligen Lehrer Grundig und dessen Nachfolger Theodor Christlieb Reinholdt; dieselben betragen mehr als 2 Jahrgänge. 1723 ging G. mit Joh. Joachim Quantz und dem berühmten Lautenisten Silvius Leopold Weiß nach Prag um der Aufführung der Oper „Constanza e Fortezza“ beizuwohnen; 1725 ward er durch den Hofpoeten Joh. Ulrich König als Nachfolger Hasse’s nach Braunschweig empfohlen und dort als Opernsänger angestellt. Er debütirte 1726 in der Oper „Henricus Auceps“ (Heinrich der Finkler) des Capellmeister Schürmann. G. ward bald zum Vicecapellmeister ernannt und schrieb noch fünf Opern, theils italienisch, theils deutsch und mehrere Kirchensachen, Cantaten etc. für Braunschweig. In neuerer Zeit hat Chrysander über Graun’s Aufenthalt am Hofe zu Braunschweig einige interessante und berichtigende Mittheilungen im zweiten Bande seiner „Jahrbücher für die musikalische Wissenschaft“ (Leipzig 1863. S. 276 ff.) gebracht. Im J. 1735 hörte Kronprinz Friedrich II. G. und erbat sich ihn als Sänger für seine Kammermusik in Rheinsberg. Dort mußte er vorzugsweise Kammercantaten componiren, die er ganz seinem Geschmacke gemäß ohne alle Nebenrücksichten setzte und durch deren Vortrag er sich die Gunst seines Fürsten immer mehr gewann. Viele dieser Cantaten soll der Kronprinz in französischer Sprache selbst entworfen haben; die italienische Uebersetzung besorgte dann der Dichter Boltarelli. Friedrich II. liebte [608] G. als Sänger nicht minder denn als Componist; seine Tenorstimme soll zwar nicht besonders stark, aber sehr angenehm gewesen sein: „die Hälfte der ungestrichenen und die ganze eingestrichene Octave waren ihre bequemsten Töne. Er hatte eine große Leichtigkeit in derselben und sang sehr viel Passagen mit großer Fertigkeit, Deutlichkeit und Würde, in der rechten Singart, folglich weder am Gaumen angestoßen, noch geschleift. Das Adagio sang er ungemein zärtlich und rührend. Das Trillo, welches er als Discantist sehr gut gehabt hatte, war ihm nach Aenderung der Stimme in den Tenor, ungeachtet großer Uebungen darin, nicht mehr vortheilhaft. Doch wußte er, als ein Meister der Satzkunst, diesen Mangel überaus wohl zu bedecken. Desto besser geriethen ihm dagegen die Doppelschläge und andere kleine Manieren.“ Als Friedrich II. im Jahre 1740 den Thron bestieg, mußte G. eine Trauermusik für das Leichenbegängniß Friedrich Wilhelms I. componiren. In demselben Jahre ward er vom König nach Italien geschickt, wo er in Venedig, Bologna, Florenz, Rom und Neapel durch seinen Gesang großen Beifall erwarb und Gesangskräfte für die neu zu errichtende große italienische Oper in Berlin engagirte. Bei seiner Rückkehr ward er mit einem Gehalte von 2000 Thaler zum Capellmeister ernannt. Von jetzt an verwendete er fast alle seine Zeit auf Operncompositionen; jährlich schrieb er eine, mitunter auch zwei Opern. G. und Hasse versorgten fast allein die Berliner Bühne mit ihren dramatischen Werken. Seine erste Oper für die preußische Residenz war „Rodelinde“ (1741), seine letzte „Merope“ (1756). Im Ganzen schrieb er an 30 dramatische Werke für die Berliner Hofoper. Sein Tedeum, das er 1756 nach dem Siege von Prag componirte, machte großes Aufsehen und ist bedeutender als alle seine Opern. Das Componiren der letzteren scheint ihm überhaupt durch die willkührliche Art, mit der der König ihm seine künstlerische Selbständigkeit fast ganz nahm, zuwider gewesen zu sein und man sagt, daß sie fast alle nachlässig gearbeitet sein sollen. Nach Fasch (Biographie desselben von Zelter) componirte G. seine Opern kurz vor dem Carneval. Jeden Tag schrieb er dann eine Arie, die des Morgens aufgesetzt und nach Tische ausgefüllt wurde. Die Worte der Recitative ließ er sich vom Copisten zwischen zwei Notensysteme schreiben und er selbst setzte nachher die Noten hinein. Auch Marpurg, der es von G. selbst gehört haben will, hat dies bestätigt. – So nachgiebig G. übrigens bei der Composition seiner Opern auf den Geschmack des Königs Rücksicht nahm, so gab es doch Momente, wo er seine Rechte als Künstler aufrecht erhielt; mancherlei Erzählungen haben sich hierüber erhalten. Graun’s Meisterwerk bleibt seine Passionscantate „Der Tod Jesu“ von Ramler. Sie ist dreimal, und zwar 1760, 1766 und 1810 in Partitur erschienen; Clavierauszüge sind in großer Anzahl herausgegeben. Das Werk hat sich in Berlin so heimisch gemacht, daß es fast mit zur Feier der Passionszeit gehört und noch jetzt jährlich oft zweimal aufgeführt wird. Im Jahre 1855, den 26. März ward die Säcularfeier desselben in der Domkirche zu Berlin durch die Singakademie mit Hülfe der königl. Sänger und der königl. Capelle in Gegenwart des Königs glänzend begangen. G. starb den 8. August 1759 Abends nach 7 Uhr zu Berlin an einer hitzigen Brustkrankheit im 58. Lebensjahre. Seine Büste ist in dem Concertsaale des königl. Schauspielhauses aufgestellt; ebenso ist an der Rückseite der Statue Friedrich d. Gr. in Berlin von Rauch seine Gestalt mit dem Taktstock in der Hand, dargestellt. G. war wie die meisten Componisten seiner Zeit außerordentlich productiv. Er schrieb eine große Anzahl Werke für Kirche, Bühne und Haus, von denen nur ein kleiner Theil gedruckt worden ist. Ein Verzeichniß derselben gibt Ledebur[WS 1] in seinem Tonkünstlerlexikon Berlins (Seite 198 ff.); darunter allein der Opern 36. Viele Stücke aus diesen Bühnenwerken erschienen gedruckt 1773 und 1774 in vier Theilen zu [609] Königsberg unter der Redaction Kirnberger’s mit folgendem Titel: „Duetti, Terzetti, Quintetti, Sextetti ed alcuni chori delle opere del Sign. Carlo Enrico Graun“. Die meisten seiner Compositionen bewahrt die königl. Bibliothek zu Berlin. G. und Hasse waren die Hauptvertreter der deutsch-italienischen Schule, die mit ihren Ausläufern weit über die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hinaus in Deutschland, namentlich an den Höfen herrschte und trotz mancher einseitiger Urtheile moderner Kunsthistoriker der Entwickelung deutscher Kunst namentlich in technischer Beziehung viel genützt hat. In Dresden hatte G. die ersten Eindrücke in dieser Beziehung erhalten; dieselben blieben maßgebend für seine ganze spätere Richtung. Wie die deutsch-italienische Schule jener Zeit alle Vorzüge der italienischen Musik besaß, so besaß sie freilich auch alle Schwächen ihrer sinnlich schönen Mutter und verfiel der Vergessenheit, als ächt deutsche Kunst sich durch die großen Meister Bach, Händel, Gluck, Haydn, Mozart und Beethoven zu universeller Bedeutung emporschwang. Die einzige Composition Graun’s, welche sich, wie schon bemerkt, bis auf die jetzige Zeit erhalten hat, ist „Der Tod Jesu“; doch ist auch dieses Werk ungeachtet seiner vielen Vorzüge überschätzt worden. Trotz alledem ist G. eine Erscheinung von Bedeutung, welche durch die Umgebung, in der er lebte, noch an Interesse gewinnt; er wurde von seinen Zeitgenossen sehr geschätzt. Kirnberger sprach nur das allgemeine Urtheil aus, wenn er im Lebenslauf Graun’s, der vor dem 2. Bande der Duetti, Terzetti etc. steht, folgendes sagt: „Als Componist verstand er die Harmonie und ihre Künste sehr gründlich. Sein harmonischer Satz war überaus rein, richtig und deutlich. Er war immer im rechten Maße vollständig, aber nie der Singstimme überlästig. Seine eigentlich harmonischen Stücke sind alle nach ihren Eigenschaften sehr gut gearbeitet. In allen seinen Arbeiten herrscht eine sehr genaue Ordnung der Modulationen. Er war darin so empfindlich, daß auch die geringste wahre Härte in der Modulation ihm zuwider war. Seine Melodie war eine der angenehmsten unter (wir sagen nicht zu viel) allen Componisten. Ob es gleich seinen Singstücken am gehörigen Feuer fehlte: so war doch der Ausdruck des Angenehmen, Schmeichelhaften und Zärtlichen bei ihm derjenige, der ihm im Ganzen genommen, immer am besten gerieth. Seine Adagio’s sind besonders Meisterstücke, und entsprechen seinem leutseligen, freundlichen und zärtlichen Charakter vollkommen.“

J. A. Hiller, Lebensgeschichte berühmter Musikgelehrten.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Karl von Ledebur (1806–1872)