ADB:Lindener, Michael

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Artikel „Lindener, Michael“ von Erich Schmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 18 (1883), S. 693–695, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lindener,_Michael&oldid=- (Version vom 23. April 2024, 14:03 Uhr UTC)
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Lindener: Michael L., Facetist, geb. um 1520 zu Leipzig (Lipsensis), dort nachzuweisen bis nach 1544, in diesem Jahre immatriculirt, vorher schon Famulus von Luther’s Gegner Hieronymus Dungersheim aus Ochsenfurt, den er als filzigen „Dr. Ochßenfart“ verhöhnt; Protestant. Seine gelehrte Bildung bezeugen „Loci scholasticorum egrigii“, 1557, lateinische Verse, massenhafte Anspielungen und Brocken, der Plan einer Dieta oder Methodus für Zecher. Nicht erschienen sind außer kleinen „carmelein und tractetlein“: „Der Münche und Nunnen fahrt“ („ain sonderlicher tractat“ über das Saufen und Huren der Klosterleute), „Chronica für den gemeinen mann“ vom Anbeginn der Welt mit Bildern und Quellenverzeichniß, und wenn dies Versprechen ernst zu nehmen, eine Schwanksammlung „Raudj maudj“ als Seitenstück zu „Katziporj“. Daß er poeta laureatus gewesen, ist sehr zu bezweifeln und sein Poeta L. gleich dem „ziemlichen Poet Juncker Michael von L.“ (Leipzig oder Lindenau, wo sein Oheim lebte) als Scherz zu fassen. Auch Doctor nennt er sich schwankweise. Er durchstreifte Süddeutschland, ward in Nürnberg Corrector bei Daubmann (wie der nicht akademisch gebildete Leipziger Facetist Val. Schumann dort 1558 als Schriftgießer bei G. Heyn arbeitete), fand Gönner wie A. Baumgarten, Freunde wie den lustigen Augsburger Papiermüller Hans Greuther, Gegner wie den Bearbeiter der „Faulen Schelmenzunft“ Hans Betz, und ist nach 1561, wo er [694] noch einen Holzschnittbogen editirte, verdorben gestorben. Ein begabter, lüderlicher Mensch: „dann ich auch der gutten gesellen einer bin, die man die freyen knaben nennet“, ein Grobianer, Schnudelbutz, auf griechisch Raudj maudj, auf wälsch Katziporj. Letzteres Scherzwort giebt den Titel seiner bedeutendsten Schwanksammlung. L. braucht im Singular und Plural die Form Katziporj (Wickram u. A.: Katziporus).

Er setzt mit zwei kecken, später vielgescholtenen Büchern die Richtung Poggios, Bebels (dessen Geschwenck er nicht verdeutscht hat), der Elsässer fort. Um 1558 „Katziporj“, 26 Nummern, Titelbild: ein frech grinsender Kerl, nothdürftelnd auf einer Matratze, von Insekten und Vögeln („tawbe“ bei L. wie „schnagke“: „bosse“, „fatzbößlein“, „grill“, „sprudeling“, „zotte“) umschwirrt, mit einem Wedel in der Hand, „Rastbüchlein“, vielleicht nicht ganz von L.. 2 + 26 Nummern, mehr Novellen als Anekdoten, also im Durchschnitt längere Stücke als in Katziporj), obwol auch dort keineswegs nur knappe Anekdoten stehen. Titelbild: zwei Wanderer im Schatten eines Baumes ruhend. Fast sämmtliche Geschichten des „complirten“ Rastbüchleins – einige aus dem Decameron in Steinhöwels Uebertragung – drehen sich um Buhlschaft, die in Katziporj wenigstens nicht so ausschließlich herrscht. Der katholische Klerus und die dummen Bauern spielen die Hauptrolle; manchmal trifft die Polemik auch Adel und richterliche „bluthundt“. Mehrfach giebt der Lüdrian L. auch eine Schlußmoral gegen den Geist der Zeit. Anekdoten von Buchbindern und Druckern, überhaupt viel erlebtes. Spott gegen dumme Aerzte, „altfressene“ Studenten, Pseudogelehrte, elende Dichter, z. Th. im Sinne der Epp. obsc. virorum. Unkenntniß des Latein dient sehr oft als komisches Motiv. Das ist akademisch, ebenso wenn Themata der dissertationes ludicrae berührt werden oder – wie mehrere Lieder eingelegt worden sind – ein Trinklied declinatio vini per omnes casus (vgl. Gargantua) erschallt. „Ein unerhörts vnd scharpffes Mandat, des Großmächtigen Königs Volknarij“, eine langathmige krause Rede, geht von der Brant-Murnerschen Narrenlitteratur aus (Rastbüchlein Nr. 26), und bereitet Fischarts „Faztrazprif“ vor. Die Geschichten vom Zauberer Schrammhans[WS 1] (dieser auch bei Montanus; Zarncke, Die deutschen Universitäten S. 251 ff.?) deuten auf die spätere[WS 2] Fausthistorie, das Lügenmärchen „Wahrhafftige newe zeytung von einem gar vnerhört grossen mann“ auf den Gargantua Fischart’s, der überhaupt trotz seinem Tadel L. mehrfach verpflichtet ist. Studentengeschichten machen sich breit in „Katziporj“, welches Werk schlotteriger, aber von größerem persönlichen Interesse ist als das ältere „Rastbüchlein“. Man hört von frechen Streichen, die auf einen billigen Imbiß und das Bett der Frau zielen. Die Possen der Katziporj sind zur Unterhaltung in der Kneipe bestimmt, wo die Leute sonst sitzen wie eine „hültzne latern“. Wir[WS 3] sehen L. bei Fastnachtsgelagen, oder mit der Laute gassatenlaufen, auch im Pelz in der kalten Stube, deren Fenster mit Papier verklebt sind. Die meisten Geschichten sind lokalisirt. Er kennt Bräuche und Sprache mancher deutschen Landschaft. Wählerisch ist L. nirgends, und seine Bücher voll Gestanks und gröbster Sinnlichkeit zeigen den bedauerlichen Zustand damaliger Unterhaltungslitteratur, der Stil spart die stärksten Rohheiten nicht, die Geschichten verdienen kaum die oft verwendeten Prädicate „visirlich“ , „erlesen“, „artig“ etc., aber eine ironische Färbung („eine gute Madunnen“ von einer verbuhlten Köchin), eine Menge drastischer Witze ergötzen, neben akademischen Quodlibetspäßen erscheinen zahlreiche Sprichwörter und Volksreime, der Wortschatz ist sehr groß. Eine gewisse sprachliche Virtuosität darf L,, obwol er sehr unachtsam darauf los schrieb, nicht abgesprochen werden. Seine Schnörkeleien, seine Pleonasmen, die Fülle von Synonymen, z. B. für Posse, Schelm, Buhlschaft, die Manier ohne künstlerisch-rhetorische Absicht deren gleich ein Dutzend herzusagen (19 – „welches ich einmal inn ein ordnung bringen will“ für Coitus „Rastbüchlein“ 1), die parodistischen Vergleiche [695] (z. B. ein Venusritter „hieb vmb sich wie Gundter“) erinnern an Fischart. Einfluß des Fastnachtspiels, Paulis, Waldis’ u. a. ist nachzuweisen, die Verbreitung der meisten Geschichten groß.

Goedeke’s Grundriß und „Schwänke des 16. Jahrhunderts“ (Deutsche Dichter des 16. Jahrhunderts, Bd. XII, 1879). Proben auch bei I. Hub, Die deutsche komische und humoristische Dichtung seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts, 1854 ff. Bd. II. – Bobertag, Geschichte des Romans und der verwandten Dichtgattungen in Deutschland, Bd. I, 1876; ders., Archiv für Litteraturgeschichte 6, 129 ff. – Scherer, Die Anfänge des deutschen Prosaromans und Jörg Wickram von Colmar. Quellen und Forschungen XXI, 1877, S. 23 f., 96. Wendeler, Ztschr. f. deutsches Alterthum 21, 435 ff. Archiv 7, 339 f. 346 ff. – Ein Neudruck wird von F. Lichtenstein für die Bibliothek des litterarischen Vereins vorbereitet (inzwischen erschienen als 163. Publication).


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Beiname des mit Narben bedeckten Gottfried Heinrich Graf von Pappenheim
  2. Vorlage: spärere
  3. Vorlage: Wie