ADB:Moscherosch, Johann Michael

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Moscherosch, Hans Michael“ von Franz Muncker in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 22 (1885), S. 351–357, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Moscherosch,_Johann_Michael&oldid=- (Version vom 19. April 2024, 17:59 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Moscheles, Ignaz
Band 22 (1885), S. 351–357 (Quelle).
Johann Michael Moscherosch bei Wikisource
Johann Michael Moscherosch in der Wikipedia
Johann Michael Moscherosch in Wikidata
GND-Nummer 118641182
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|22|351|357|Moscherosch, Hans Michael|Franz Muncker|ADB:Moscherosch, Johann Michael}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118641182}}    

Moscherosch: Hans Michael M. stammte aus einem altadeligen arragonischen Geschlechte (ursprünglich Musenrosh). Sein Ururgroßvater war 1520 unter Kaiser Karl V. nach den Niederlanden gezogen und von da mit der Familie seiner Braut nach dem Elsaß übergesiedelt; seinen Großvater bestimmten unglückliche Processe, den Adel abzulegen. Michael M. (1578–1634), der Vater des Dichters, war (protestantischer) Kirchensenior und Amtmann zu Willstädt in der Grafschaft Hanau-Lichtenberg, unweit von Straßburg. Auch seine Frau Veronica Peck, mit der er sich 1600 verheirathete, war aus einer altangesehenen (dänischen) Familie gebürtig, die erst seit wenigen Generationen in Deutschland heimisch und des Adels verlustig gegangen war; ihre Großmutter war die Schwester des von M. („Gesichte“, II, 4, Vorrede) hochgerühmten „redlichen deutschen Helden“ Sebastian Schärtlin von Burtenbach. Hans Michael, das älteste unter zwölf Kindern, wurde zu Willstädt am 5. März 1601 geboren und von den ob ihrer Rechtschaffenheit allgemein geachteten Eltern „mit höchstem Fleiß“ erzogen. In seinem elften Jahre kam er, da sich seine ungewöhnlichen Geistesgaben schnell entwickelten, in die lateinische Schule zu Straßburg. Um das Jahr 1620 bezog er als stud. jur. die dortige Universität, und schon 1622 wurde er daselbst auf Grund einer historischen Dissertation („In C. Suetonii Tranquilli XII Caesares diatribae XV“) mit allgemeinem Beifall als der erste unter 24 Mitbewerbern zum Magister promovirt. 1624 wurde er eben da in die Liste der Bewerber um das philosophische Doctorat eingezeichnet. Bald darauf, nachdem er seine Studien vollendet, bereiste er einen großen Theil Frankreichs und der französischen [352] Schweiz und hielt sich namentlich in Paris längere Zeit auf. Nach seiner Rückkehr wurden ihm verschiedne Stellen angeboten; er nahm 1626 die eines Hofmeisters bei den Söhnen des Grafen Johann Philipp von Leiningen-Dachsburg an (bis 1628). 1628 vermählte er sich mit Esther Ackermann, der Tochter eines Juweliers aus Frankenthal († 1634). Nachdem er sich 1630 vergeblich mit Samuel Gloner um die Professur der Poesie an der Straßburger Hochschule beworben hatte, ging er als Amtmann des Freiherrn Peter Ernst von Kriechingen und Püttingen nach Kriechingen (östlich von Metz). Tüchtig in seinem Berufe, gesegnet in seinem Hauswesen, verlebte er hier Anfangs glückliche Jahre. Als aber 1635 in den Drangsalen des Krieges Kriechingen an die Franzosen überging und das Land rings umher arg verwüstet wurde, siedelte M. mit den Seinigen nach dem sicherern Straßburg über. Unterwegs verlor er nach einjähriger Ehe am 6. November 1635 auch seine zweite Frau, Maria Barbara geb. Paniel, durch den Tod. Zu Ende 1636 trat er als Rath und Amtmann der Herrschaft Vinstingen an der Saar in die Dienste des Herzogs Ernst Bogislaw zu Croy und Aerschot. Bald darauf verheirathete er sich zum dritten Male, mit Anna Maria Kilburger aus Biedburg, die ihm eine treue Lebens- und Leidensgefährtin bis an seinen Tod war. Besonders während der ersten Jahre ihrer Ehe häufte das Kriegselend allerlei Noth, Gefahren und Plagen auf ihn. Nicht nur brachte ihm sein Amt, in solcher Zeit doppelt mühsam und verantwortlich, lange keinen positiven Ertrag; sondern die Almosenspenden an seine armen Untergebenen zehrten sogar bedenklich an seinem eignen (später jedoch wieder ansehnlich anwachsenden) Vermögen. Seinen und der Seinigen Unterhalt gewann er zunächst durch Ackerbau. Zuletzt jedoch wurde seine Lage so drückend und gefahrvoll, daß er mit seiner Familie 1642 wieder nach Straßburg zog und seine Stelle in Vinstingen durch einen Vicar versehen ließ. Nach einiger Zeit (wahrscheinlich 1643) wurde er zum Staatssecretär und Kriegsrath der Krone Schweden in der kleinen Festung Benfeld bei Straßburg ernannt. 1645 reiste er in öffentlichen Angelegenheiten wieder nach Paris. Die gewissenhafte Sorgfalt, mit der er sein Amt verwaltete, hatte zur Folge, daß ihm nach einigen Jahren der schwedische Feldherr Gustav Horn die Stelle eines Kriegsrathes in seiner Umgebung anbot. Gleichzeitig berief ihn die Reichsstadt Colmar zum Syndicus und Gesandten für die westphälischen Friedensverhandlungen. Beide Anträge lehnte M. ab und nahm dafür das Amt eines Secretärs und Fiscals in Straßburg an (1645 oder 1646). Verdienstlich wirkte er, jetzt wenigstens von den Wechselfällen des Krieges verschont, auf diesem Posten bis 1656, da ihn Graf Friedrich Casimir von Hanau und Zweibrücken zu seinem geheimen Rathe in Hanau und bald darauf zum Präsidenten der Canzlei und der Kammer sowie zum Kriegs- und Kirchenrath ernannte. Widerstrebend nahm M. diese Würden an; als Neid und Intrigue ihn gleichwohl verfolgten, legte er freiwillig seine Aemter nieder, behielt aber das Vertrauen und die Zuneigung seines Herrn in ungemindertem Grade. Durch ihn empfohlen, wurde er von dem Kurfürsten Johann Philipp von Mainz als „Rath von Haus aus“ angenommen und 1664 in der gleichen Eigenschaft von der Landgräfin Hedwig Sophia in Hessen nach Cassel berufen. Daneben übernahm er mit der Zeit noch die Stelle eines Rathes und Oberamtmanns bei Graf Cratzen, desgleichen bei dem Rheingrafen zu Dhaun und Kirburg. Im Begriffe, sich von allen Aemtern zurückzuziehen, starb er am 4. April 1669 zu Worms auf einer Reise von Dhaun (westlich von Kreuznach) nach Frankfurt, wo einer seiner Söhne als Lehrer am Gymnasium wirkte.

Redlich und tüchtig, unermüdlich thätig, bescheiden und mildherzig, aber zugleich freimüthig und unerschrocken, wußte M. sich die Achtung, die Liebe und [353] das Vertrauen der höheren wie der niederen Stände zu gewinnen. An den verschiednen Höfen, an denen er abwechselnd wirkte, in den gelehrten Kreisen und nicht minder in allen Schichten des einfachen Volkes erwarb ihm sein Thun und Leben zahlreiche Verehrer und Freunde. Außerordentlichen Ruhm aber selbst über Deutschlands Grenzen hinaus errang er sich durch sein litterarisches Wirken.

Viele Jahre hindurch (mindestens bis 1649) versuchte er sich nach der Sitte der Zeit in lateinischen Versen. Da ihm eigentliches dichterisches Talent versagt war und meist auch die Zeit zu größeren poetischen Arbeiten mangelte, war ihm die kurze Form des Epigramms am bequemsten. Von 1630 an veröffentlichte er (später in seinem Auftrage sein Sohn Ernst Bogislaw) sechs centuriae epigrammatum, die mehrere Auflagen erlebten. Er selbst empfahl neben Martial den Engländer John Owen (1560–1622) und den bayrischen Poeten Matthäus Zuber (1570–1623) als nacheiferungswürdige Meister des Epigramms und gestand offen zu, daß er besonders Owen sich zum Vorbild erwählt habe, während er die kecke Sprache („lascive loqui“) des römischen Dichters absichtlich vermied und die directe persönliche Satire fast gänzlich ausschloß. Ueberhaupt bekunden die wenigsten seiner Epigramme eine polemische Tendenz; den meisten fehlt der scharfe, verwundende Stachel. Es sind mehr kurze, mitunter witzig pointirte Sinngedichte, didaktisch-moralische Denksprüche, Sentenzen oder bons-mots, freundschaftliche Zuschriften, öfters harmlose Parodien älterer lateinischer Verse und sehr oft Wort- und Gedankenspiele. Wie sehr alles darin künstliche Verstandesarbeit ist, beweisen am besten die Vorschriften über das Epigramm, welche M. im Anhang zur vierten centuria strebsamen Kunstgenossen ertheilte.

In lateinischer Sprache trat er noch etliche Male als Herausgeber fremder Arbeiten hervor. Großentheils lief dabei nebenher die Absicht, Elsässer oder gar specifisch Straßburger Localpatriotismus zu bethätigen. So veröffentlichte er 1648 die von Erasmus 1514 in einem Brief an Wimpheling entworfene „Imago reipublicae Argentinensis“ und wenige Wochen darnach, gleichfalls noch 1648 in deutscher, 1649 auch in lateinischer Sprache Jakob Wimphelings vorher nicht gedruckten Beitrag zur vaterländischen Geschichte „Tutschland zu Ehre der Stadt Straßburg und des Rhinstroms“ von 1501 („Cis Rhenum Germania“). 1651 folgte Wimphelings „Catalogus episcoporum Argentinensium ad sesquisaeculum desideratus“ (von 1508); 1652 Georg Gumpelzhaimers „Gymnasma de exercitiis academicorum“ und dessen „Dissertatio de politico“.

Aber der sprachenkundige Autor – er verstand außer Latein und Griechisch auch Französisch, Italienisch, Spanisch, Englisch, Holländisch, dazu Rothwelsch und die verschiedensten deutschen Mundarten – beschränkte sich keineswegs auf lateinische Schriftstellerei. Aus dem Französischen des Samuel Bernhard übersetzte er 1645 die „Anleitung zum adeligen Leben“ in’s Deutsche, aus dem Holländischen 1647 die vor der Politik Frankreichs eifrig warnende „Holländische Sibylle“. Gleichfalls 1645 ließ er „Dialogues Gallice Italice, Germanice“ erscheinen; 1656 schloß sich daran unter dem Titel „Technologie allemande et françoise, ausgeübtes Wörterbuch“ ein deutsch-französisches Vocabular, welches Hans Kaspar Herrmann fortsetzte.

Hoch über allen diesen Arbeiten steht die „Insomnis cura parentum: christliches Vermächtnuß oder schuldige Vorsorg eines treuen Vaters, bei jetzigen hochbetrübtesten, gefährlichsten Zeiten den Seinigen zur letzten Nachricht hinterlassen“. M. schrieb das umfangreiche Buch vom 22. bis 29. September 1641 zu Vinstingen unter dem Eindruck der steten Gefahren, denen er sein Leben ausgesetzt wußte, angeregt durch ein englisches Büchlein „Testament, so eine Mutter ihrem ungeborenen [354] Kind gemacht hat“. Aus der außerordentlichen Kürze der Abfassungszeit erklärt sich die einheitliche Geschlossenheit und Abrundung des Werkes, auf welches auch die Essays des „redlichen Franzosen“ Montaigne und das vielgelesene Lehrgedicht „Die lauter Wahrheit“ des märkischen Pfarrers Bartholomäus Ringwaldt nicht ohne Einfluß blieben. Reich an autobiographischen Nachrichten wie an praktischen Regeln für allerlei Verhältnisse und Zufälle des Lebens, ist das „Christliche Vermächtnuß“ hauptsächlich als pädagogisches Lehrbuch bedeutend, das einzige ausführlichere Werk in deutscher Sprache, welches auf diesem Gebiete damals erwuchs. Moscheroschs Vorschläge, auf eignen Erfahrungen und emsigen Studien beruhend, wiesen auf eine Reform des Schulwesens, verbunden mit Schulzwang und materieller wie geistiger Hebung des Lehrerstandes; fast noch größeres Gewicht aber legte er auf die Erziehung in der Familie. Richtig verlangte er consequenten Ernst und zugleich freundliche Milde in der Behandlung der Kinder, die zum Dienste Gottes und des Vaterlands im nationalen Geist und in nationaler Sitte herangebildet werden sollten. Er widmete das Buch dem Professor der Theologie Johann Schmid zu Straßburg (1594–1658), seinem ehemaligen Lehrer. Als es 1643 zuerst herauskam, fand es den reichlich verdienten Beifall und erlebte ziemlich rasch hinter einander vier Auflagen, wurde sogar (von Severin Terckelsen) in’s Dänische übersetzt.

Seinen dauernden Ruhm hatte jedoch M. bereits wenige Jahre zuvor durch ein anderes, größeres Werk begründet. Während seines Aufenthaltes zu Vinstingen, wo er Tag für Tag gewahren mußte, wie der lange Krieg das deutsche Volk materiell und sittlich zu Grunde richtete, fühlte er sich gedrängt, seinen Zeitgenossen warnend und mahnend ein getreues Spiegelbild ihres eitlen und lasterhaften Wandels vorzuhalten. So gab er etwa seit 1640 zu Straßburg unter dem Pseudonym Philander von Sittewald (durch Buchstabenumsetzung aus Wilstaedt entstanden) mehrere „Wunderliche und wahrhaftige Gesichte“ heraus, „in welchen aller Welt Wesen, aller Menschen Handel mit ihren natürlichen Farben der Eitelkeit, Gewalts, Heuchelei und Thorheit bekleidet, offentlich auf die Schau geführet, als in einem Spiegel dargestellet und von Männiglichen gesehen werden“. Die Publication wurde von den Lesern so günstig aufgenommen, daß schon 1642 f. eine neue [vermehrte und verbesserte) Auflage (13 Gesichte in 2 Theilen) nöthig wurde. Gierig bemächtigten sich der Warnung des Autors zum Trotze die Nachdrucker des Buches: zu Frankfurt, zu Leyden und an andern Orten erschienen unechte Ausgaben desselben, auf sieben und mehr Theile ausgedehnt und von unberechtigter Hand um mehrere Gesichte vermehrt. Energisch verwahrte sich M. gegen diese litterarische Freibeuterei in der neuen Straßburger Ausgabe von 1650, für die er den ersten Theil bedeutend umgearbeitet, dem zweiten ein weiteres Gesicht, „Reformation“ betitelt, hinzugefügt hatte. Rechtmäßige Ausgaben erschienen ebenda noch 1665 und 1677 (nur der erste Theil).

Titel und Charakter seines Werkes bildete M. nach einem spanischen Muster, den „Sueños“ des Don Francisco Gomez de Quevedo y Villegas (1580–1645), die ihm wahrscheinlich in der französischen Bearbeitung des Sieur de la Geneste (unter dem Titel „Les visions de Don Francesco“ etc. Caen 1633) vorlagen. Aber weit entfernt, eine bloße Uebersetzung der fremden Arbeit zu geben, schuf M., wie in einem ähnlichen Falle 65 Jahre zuvor Fischart, im freien Anschluß an sie ein neues deutsches Originalwerk, in welchem er seine eigensten Gedanken und Erfahrungen niederlegte. Ueberall erweiterte er die „Visions“ seines Vorgängers, schmückte sie mit neuen Bildern, gelehrten Citaten, Einfällen, Sentenzen, Ideen aus, kleidete die Erzählung umständlicher, hie und da auch kunstvoller ein, indem er sie in die Geschichte seiner Reiseschicksale in Frankreich verflocht. Das ausländische Colorit ersetzte er aller Orten durch echt nationale Farben; [355] wahrheitsgetreue Schilderung der gleichzeitigen Culturzustände in Deutschland bezweckte er zumeist. Namentlich im zweiten Theil der „Gesichte“ trat diese Absicht augenfällig hervor; hier aber arbeitete M. ganz selbständig, ohne seiner spanisch-französischen Vorlage das Geringste zu entnehmen. Während im ersten Theil die allgemeine Satire vorherrschte, welche die groben und die feinen Laster überhaupt ohne Rücksicht auf Zeit und Ort geißelte und höchstens gewisse Stände (die Juristen, Aerzte, Hofleute, Schergen u. s. f.) mit besonderer Leidenschaft verfolgte, bezog sich im zweiten Theil der Tadel vornehmlich auf die speciellen Verhältnisse des damaligen Deutschland. Hier erst entrollte M. das erschreckende Bild von dem Unglück des dreißigjährigen Krieges, von der Noth der Bürger und Bauern; von der Verkommenheit des Soldatenstandes, von dem scheußlichen Treiben der Maraudeurs, von dem Ueberwuchern ausländischer Sitte und Art im deutschen Volk zum Schaden des nationalen Sinnes, der nationalen Kraft und Tugend.

Persönlich hatte er sich auf seinen Reisen mit Entzücken dem Eindruck hingegeben, den Paris auf ihn machte, „ce monde, cet univers, ce paradis terrestre, où tout vient, où tout va, où tout est“; und Ludwig XIV. pries er in einem Brief an Harsdörffer schon 1645 als einen König „sans pareil en victoires“, der sein Volk die vollendetste Monarchie hoffen lasse, die vor dem jüngsten Gericht auf Erden erstehen werde. Nichts desto weniger warnte er immer und immer wieder in seinen Schriften vor jeglicher Annahme und Nachahmung des welschen Wesens, klagte über die absolute Macht des französischen Königthums und widerrieth seinen Kindern im „christlichen Vermächtnuß“ direct eine Reise nach dem Westen. Selbst daß die lutherische Confession, die er nach redlicher Prüfung als „die gewisseste zur Seligkeit“ erkannte und (doch ohne Intoleranz gegen andere christliche Bekenntnisse) empfahl, in Frankreich geduldet wurde, bestach ihn nicht: er war überzeugt, daß auch diese Glaubensfreiheit nicht um der Religion willen, sondern nur aus politischen, deutschfeindlichen Absichten gewährt wurde.

Persönliche Satire gegen Zeitgenossen vermied M. auch hier gleich seinem spanischen Vorgänger, dem er diese Enthaltsamkeit zu ausdrücklichem Lobe anrechnete. Weniger ängstlich waren beide Männern aus vergangenen Zeiten gegenüber, und wie Quevedo die deutschen Reformatoren, so verwies M. den Herzog von Alba in den Höllenpfuhl. Die Polemik war ihm aber nur ein Mittel neben andern zu seinem Zwecke, den er stets in der moralischen Didaxis erblickte. Diesem Zwecke sollte der ganze Apparat dienen, den er aus dem Leben und aus Büchern, aus Geschichte und Dichtung, aus der volksmäßigen wie aus der gelehrten Litteratur massenhaft herbeischaffte. Polyhistor im Stile der Zeit, citirte und excerpirte er in unablässig rührigem Wechsel Stellen der Bibel und der Kirchenväter oder der Reformatoren, antike und moderne Dichter und Prosaiker aller Arten und in allen europäischen Sprachen, vorzugsweise Historiker und Epigrammatiker (zumeist Owen). Seine Darstellung wurde dadurch, obwol er selbst die Rundheit und Kürze über alles zu lieben behauptete, oft ermüdend breit, und der künstlerisch einheitliche Charakter ging ihr bei der bunten Mischung deutscher und fremder, volksthümlich-derber und akademisch-gelehrter Elemente verloren. Auch die stilistische Form des Werkes litt unter diesen vielsprachigen Citaten. M. suchte dieselben mit der realistischen Tendenz seiner Schilderung zu rechtfertigen und verzichtete auch in den späteren Auflagen nicht auf den fremdartigen und ausländischen Pomp, reinigte jedoch sonst seine Diction möglichst von undeutschen Ausdrücken. Er verfaßte auch ein Büchlein ausdrücklich gegen die Sprachmengerei unter dem Titel „Sprachverderber“ (vielleicht den 1643 anonym erschienenen „Unartigen deutschen Sprachverderber“).

[356] In dieser Hinsicht betheiligte er sich gern an den Bestrebungen der fruchtbringenden Gesellschaft, in die er 1645 unter dem Namen „der Träumende“ zu seinem Entzücken aufgenommen worden war: dankbar erklärte er, hinfort ihrem hochweisen Urtheil vor allem nächst Gott und dem Vaterlande sich und seine Feder untergeben zu wollen, und trat mit hervorragenden Mitgliedern der Gesellschaft in lebhaften persönlichen oder brieflichen Verkehr. Ihre litterarischen Reformversuche aber konnten ihm nach seinem innersten Wesen nur zum geringen Theile zusagen. Wie er in seinen (inhaltlich nüchternen, weitschweifigen und stets lehrhaften) deutschen Gedichten sich im ganzen nach den metrischen Grundsätzen Weckherlins und Zincgrefs richtete und keineswegs sich durchaus den strengeren Principien der Opitzischen Schule beugte, so knüpfte er auch in seinen prosaischen „Strafschriften“ unmittelbar an die volksthümlichen Autoren Oberdeutschlands aus dem 16. Jahrhundert an. Die derbe Satire Sebastian Brants, welche in der gleichen, halb allegorischen Form Laster für Laster durchhechelte, mochte neben dem „Grobianus“, dem plump-ironischen Lehr- und Musterbuch roher Sitten und unhöflicher Gebärden, das älteste Vorbild für die „Gesichte“ Philanders darbieten. Ebenso übte Thomas Murner, selbst von Brant abhängig, auf die Denk- und Vorstellungsweise seines jüngeren Landsmannes einen merklichen Einfluß aus. Manches deutete ferner bei M. im allgemeinen auf Aegidius Albertinus und verwandte ältere Schriftsteller; hingegen waren in seinen Werken nur wenige Anklänge an die Predigten des beständig schematisirenden und symbolisirenden Geiler von Kaisersberg vernehmbar. Auch Fischarts sprachschöpferisches und sprachzerstörendes Walten verführte ihn seltner zur Nachahmung als die andern Elsässer Schüler des gewaltigen Meisters. Aus Aventin, den er gewissermaßen zum Anwalt und Fürsprech des alten deutschen Wesens stempelte, citirte er zahlreiche und ausführliche Stellen; ebenso aus Weckherlin und Zincgref, denen er auch persönlich nahe stand: an den „Apophthegmata“ des letzteren (seit 1628 erschienen) arbeitete er sogar mit. Im Anschluß an einzelne dieser oberdeutschen Autoren, namentlich aber an Wimpheling, verkündigte M. denn auch in den „Gesichten“ das besondere Lob der pfälzisch-elsässischen Heimath, sprach den Bürgern der Stadt Straßburg (Hans Mentelin und erst in zweiter Linie Gutenberg und Fust) gegenüber den Ansprüchen von Franzosen und Niederländern die Erfindung der Buchdruckerkunst zu und vindicirte dem Stuttgarter Weckherlin und dem Straßburger Isaak Habrecht die metrische Reform der deutschen Poesie „lange Zeit vor dem sonst ewig lobwürdigen Herrn Opitzen“. Wahrscheinlich gehörte er auch der aufrichtigen Tannengesellschaft an, welche von Jesaias Rumpler 1633 in Straßburg zur Pflege deutscher Gesinnung und reiner deutscher Sprache gestiftet wurde und unter andern Johann Matthias Schneuber und Weckherlin zu Mitgliedern zählte. Von den norddeutschen Schriftstellern des letzten Jahrhunderts übte Ringwaldt (durch seine „Christliche Warnung des treuen Eckarts“ 1588) den ersichtlichsten Einfluß auf die „Gesichte“ Philanders aus: M. ahmte ihm nie sklavisch nach, erhielt aber sicherlich von ihm nicht nur formell, sondern auch sachlich manche Anregung. Ferner war die deutsch nationale Tendenz der „Gesichte“ und die daraus entspringende heftige Polemik derselben gegen die Nachäfferei der Ausländer, den Flitterprunk der unbeständigen Mode und andere schlimme Neuerungen der Gegenwart bereits durch Johann Sommer (Joh. Olorinus Variscus) aus Zwickau, der jedoch hauptsächlich auf den Satirikern des südwestlichen Deutschlands beruhte, zum kräftigen Ausdruck gelangt: mit seiner „Ethographia mundi“ (seit 1609 in mehreren Theilen wiederholt aufgelegt) stimmte M. in Worten und Meinungen vielfach überein. Aber auch schon vor Sommer hatte Rollenhagen, dem M. sonst wenig verdankte, in seinem „Froschmäuseler“ die Wendung der Satire nach dem politischen Gebiete angebahnt. Entschiedner [357] war dieser Zug in den Schriften des Italieners Traiano Boccalini ausgeprägt, die seit 1616 auch ins Deutsche übersetzt wurden und in mehreren Auflagen erschienen, im „Politischen Probierstein aus Parnasso“ (gegen die spanische Politik) und in den „Relationes aus Parnasso“, einer allegorisch-symbolischen Darstellung des Regentenideals: beide Werke hatte der deutsche Bearbeiter Quevedos nicht ohne Frucht gelesen. In der Art und Form der Behandlung, in der Allgemeinheit der Satire, in der Einseitigkeit und Maßlosigkeit der Negation den volksthümlichen Autoren des 16. Jahrhunderts verwandt und von ihnen abhängig, in den veränderten, verfeinerten, nicht mehr ausschließlich moralisch-religiösen Tendenzen von ihnen unterschieden, steht M. an der Grenzscheide zweier Zeitalter, als Dichter unbedeutend, wenn auch von den Zeitgenossen meist in diesem Sinne betrachtet und überschätzt, aber von maßgebendem Einfluß auf die nächstfolgende deutsche Erzählungslitteratur und wegen seines persönlichen wie schriftstellerischen Charakters eine culturhistorisch überaus interessante Erscheinung. –

Eine wissenschaftlich genügende Monographie über M. fehlt. Die biographische Hauptquelle ist noch immer Matthias Meigener (Pfarrer in Worms), Ultimum vale Philandrinum, das ist: ewiggrünende Gedächtniß und Ehrensäul, in höchstem Leidwesen aufgerichtet, als … Moscherosch … dieses 1669. Jahrs auf den Palmsonntag … entschlafen, den 6. aber in sein Ruhkämmerlein begleitet worden (Frankfurt a. M. 1669). Dazu lieferte Heinrich Dittmar in seiner Einleitung zu einer (unvollendeten) Ausgabe der „Gesichte“ (Berlin 1830) höchst schätzbare Nachträge (mit Angabe der älteren Litteratur über M.). Die erste (vortreffliche) litterarhistorische Würdigung Philanders verdanken wir Gervinus (Geschichte der deutschen Dichtung, III, 357–370 der 4. Auflage, Leipzig 1853). Kaum Neues bringt A. Tholuck, Lebenszeugen der Lutherischen Kirche aus allen Ständen vor und während der Zeit des dreißigjährigen Krieges, S. 146 ff. (Berlin 1859); bedeutend mehr enthält Ottokar Lorenz und Wilhelm Scherer, Geschichte des Elsasses, II, 72 ff. (Berlin 1871). Sonst vgl. Reinhold Köhler, M. und sein „Sprachverderber“ (in Gosche’s Archiv für Litteraturgeschichte, I, 291 ff., Leipzig 1870); Christian Achmed Scholtze, Philander von Sittewald (Programm der städtischen Realschule zu Chemnitz 1877); Erich Schmidt, Gedichte von M. (Zeitschrift für deutsches Alterthum, XXIII, 71–84, Berlin 1879) und „Der Kampf gegen die Mode in der deutschen Litteratur des 17. Jahrhunderts“ (Im neuen Reich 1880, Nr. 39); Max Nickels, M. als Pädagog (Leipzig 1883); endlich Felix Bobertags (dürftige) Einleitung zu seiner (unzulänglichen) Auswahl aus den „Gesichten“ (in Kürschners „Deutscher Nationallitteratur“ Bd. 32, Berlin und Stuttgart 1883). Für Mittheilungen aus den Acten der Straßburger Universität bin ich Herrn Professor Dr. Ernst Martin Dank schuldig.