ADB:Oetinger, Friedrich Christoph

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Artikel „Oetinger, Friedrich Christoph“ von Albrecht Ritschl in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 24 (1887), S. 538–541, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Oetinger,_Friedrich_Christoph&oldid=- (Version vom 24. April 2024, 03:29 Uhr UTC)
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Oetinger: Friedrich Christoph Oe., geb. am 6. Mai 1702 zu Göppingen in Würtemberg[1], wurde von seinem Vater zur Theologie bestimmt, und besuchte die Klosterschule in Blaubeuren und Bebenhausen. Hier trat ihm die Zumuthung nahe, die Rechte zu studiren und verwickelte ihn in eine lange dauernde peinliche Ueberlegung, welche er durch den Gedanken zum Schluß brachte, er könne zwar als Jurist zu Glanz, Macht und Ehre gelangen, es sei jedoch besser als Theolog Gott zu dienen. Die Stellung dieses Dilemma ist nicht im Sinne des Protestantismus, sondern ist pietistisch. Demgemäß wurde Oe. sogleich ein anderer Mensch, ging nicht mehr in Gesellschaft, war nicht mehr elegant gekleidet, redete wenig, gab die Lesung der Classiker auf und las nur die Bibel. In der Ablehnung der sogenannten Mitteldinge ist er sich sein Leben hindurch gleich geblieben. Als er jedoch 1722 sein theologisches Studium in Tübingen begann, trat er zunächst unter den Einfluß des Wolffianers Bilfinger. Jedoch interessirte er sich auch für die Kabbala, wurde mit Jakob Böhme, ferner mit der modernen katholischen Mystik bekannt, und kam binnen 3 Jahren zu der Ueberzeugung, daß die idealistische mechanische Weltanschauung von Leibnitz und Wolff nicht den letzten Begriffen entspreche, welche Christus und die Apostel besessen hätten. Aus der Bibel wollte er vielmehr erkennen, daß nicht einfache Dinge im Causalzusammenhang zur Welt zusammengesetzt seien, sondern daß die Elemente derselben in Wesen bestehen, welche als „Leben“ Vielheit umfaßten und körperlich wären. Diesen Aufschluß fand Oe. in den sieben Geistern Gottes, in der vierfachen Gestalt der Cherube; diese mythologischen Elemente der heiligen Schrift generalisirte er zu dem Begriff des Lebens als dem Grundsatze einer zugleich metaphysischen und religiösen Theorie von Gott, Welt, Mensch und Erlösung. In den „massiven Begriffen“ heiliger Schrift hatte er einen Vorgänger an J. A. Bengel. Jedoch was dieser nur in der Lehre von dem Blut Christi versucht hatte, wurde von Oe. auf den ganzen Lehrstoff angewendet. In diesem Sinne hat er sich dauernd mit Chemie beschäftigt. Er erklärt sich darüber in Briefen an den Grafen von Castell: „Wer die wahre Metaphysik heiliger Schrift mit aus der Chemie lernt, der hat etwas gelernt, daraus er bei dieser verrückt philosophischen, im [539] Innersten des Herzens fanatischen und indifferent orthodxen Zeit Festigkeit beweisen kann, die Schrift nicht metaphorisch zu verstehen, wo sie proprie auch in den ersten Begriffen von der Seele will begriffen sein.“ „Die Chemie und die Theologie sind mir nicht zwei, sondern Ein Ding.“ Das führt zum Materialismus, auch wenn Oe. diese Folgerung ablehnt. Er sagt: „Leibhaftig sein ist eine Realität oder Vollkommenheit, wenn sie nämlich von den der irdischen Leibhaftigkeit anhaftenden Mängeln gereinigt ist. Diese sind die Undurchdringlichkeit, der Widerstand und die grobe Vermischung. Diese drei können von der Leiblichkeit hinweggethan werden, wie aus dem Fleisch und Blut Christi bei Joh. 6 und aus der Auferstehung der Gläubigen erhellt.“ Nun ist dies eine Erklärung der unbekannten Leiblichkeit, welche nur in der Verneinung der constitutiven Merkmale der bekannten Leiblichkeit besteht, und die angeführten Beispiele enthalten eben nichts Deutliches. Ist nun aber hierdurch der geforderte Begriff von Leiblichkeit nicht erklärt, so ist er entweder nicht denkbar oder mit den Merkmalen der Materie versehen; in der Anwendung dieses Begriffs von Leben auf Gott und die menschliche Seele ist es also unvermeidlich, diese Größen als materiell zu setzen. Diese vorgeblich realistische Ansicht von Gott und Welt, Mensch und Erlösung, welche Oe. sein philosophia sacra nannte, und welche er zugleich als Inhalt der göttlichen Offenbarung in der heiligen Schrift und als den nothwendigen Gegensatz gegen den philosophischen Idealismus seiner Zeit schätzte, ist von ihm später in vielen Schriften in naturgemäßer Undeutlichkeit ausgeführt worden. Wie er nun hierin hauptsächlich von Jakob Böhme abhängig war, so ist er durch seinen Pietismus bis in das männliche Alter immer wieder zu einer separatistischen Haltung gegen die Kirche versucht worden. Er hat sich tiefer mit Separatisten eingelassen als irgend einer von den Pietisten seiner Zeit, zuerst mit dem inspirirten Sattler Rock, einem Würtemberger, der in Isenburg-Büdingen wohnhaft, wieder in seinem Vaterlande erschien, dann mit dem Anhänger Böhme’s, Dr. med. Kaiser in Stuttgart. Seit 1729 auf Reisen, hat er in Frankfurt einen separatistischen Schriftsteller Fend, in Berleburg die Inspirationsgemeinde, in Jena die erweckten Studenten aufgesucht, welche sich um G. A. Spangenberg sammelten, dann suchte er im Winter 1729–30 als magister legens in Halle die Verbreitung seiner philosophia sacra zu betreiben, und ging in derselben Absicht im Mai 1730 nach Herrnhut zu Zinzendorf. Dieser nahm den Anschein, sich für Oetinger’s Weisheit sehr zu interessiren, suchte aber wirklich ihn in seine Angelegenheiten zu verflechten, und wollte ihm eine Sendung nach Frankreich auftragen. Der Würtemberger jedoch entzog sich ihm, indem er seine dienstliche Pflicht gegen seinen Herzog vorwandte, und kehrte im December 1730 zurück. Von 1731 im Frühjahr bis eben dahin 1732 war Oe. Repetent im herzoglichen Stipendium. In dieser Frist hing er wieder dem Studium Böhme’s nach und kam in einer Schrift: „Abriß der evangelischen Ordnung zur Wiedergeburt“ mit dem Problem der Weltsucht und der Zurückziehung von der Kirche so in die Enge, daß ihm Bengel den Rath gab, wieder auf Reisen zu gehen. Der Besuch, welchen Zinzendorf 1733 in Tübingen machte, gab den Anlaß, daß Oe. vom Juni 1733 bis Juli 1734 zum zweitenmale sein Glück in Herrnhut versuchte. Freilich für die philosophia sacra zeigte der Graf keine Zugänglichkeit, aber umgekehrt trat Oe. als litterarischer Vertheidiger des Herrnhutischen Gesangbuches auf, indem er zugleich für einige Lieblingsideen der radicalen, separatistischen Pietisten eintrat, von welchen man in dem Gesangbuch Spuren und Andeutungen gefunden hatte. Uebrigens vermochte Oe. sich den Plänen Zinzendorf’s nicht anzuschließen, weil er die „zweizüngige ja zweiherzige“ Haltung desselben durchschaute. Bei seiner immer stärkeren Neigung zum Separatismus erwog aber Oe., daß er mit seiner theologischen Bildung [540] vielleicht keinen Lebensberuf gründen werde, und widmete sich seit dem Sommer 1734 in Leipzig dem Studium der Medicin. Er setzte dasselbe in Halle und in Homburg v. d. Höhe bei dem Dr. Kämpf, einem Anhänger der Inspirationsgemeinde fort, nachdem er inzwischen in Holland die Gichtelianer, eine Gruppe der Böhmisten besucht hatte. Allein trotz dieses Verkehrs kam Oe. doch nicht zu dem Entschluß, aus der Kirche auszuscheiden; deshalb trat die Möglichkeit, in den Dienst der Kirche zu treten, ihm wieder nahe, und als er im Sommer 1737 nach Würtemberg heimgekehrt war, legte er die Entscheidung in die Hand des Consistoriums, daß wenn man ihn für verdächtig hielte, man ihn auf die Ausübung der Medicin verweisen möge. Indem das Consistorium auf die Erörterung dieser Frage nicht einging, berief es Oe. als Pastor zu Hirsau bei Calw 1738. In der Ausübung seines Amtes kam er über die Versuchung zum Separatismus hinaus, indem er die Strenge des christlichen Lebens immer als die Aufgabe hochhielt, um deren willen er an der Kirche Zweifel gehegt hatte. In seinen Predigten streift er gelegentlich den separatistischen Grundsatz, um sogleich die Ungiltigkeit desselben zu behaupten. – Oe. hat den Ort seiner Wirksamkeit sehr häufig gewechselt. Von Hirsau kam er 1743 nach Schnaitheim bei Heidenheim, 1746 nach Walddorf bei Tübingen, 1752 als Decan nach Weinsberg, 1759 in gleicher Eigenschaft nach Herrenberg, endlich 1766 als Prälat nach dem Kloster Murhard. An allen diesen Orten hat seine eigenthümliche Predigtweise keinen Anstoß gegeben, außer in Weinsberg, wo die Gemeinde sich aus ihrer kirchlichen Legalität und sittlichen Schlaffheit nicht wollte aufrütteln lassen. Oe. aber hat sich in seinen Predigten die Freiheit genommen, gegen Plato und Leibnitz zu streiten, die apokalyptischen Rechnungen Bengel’s und die Entdeckungen Swedenborg’s im jenseitigen Leben vorzutragen und die Kabbala als Quelle der Wahrheitserkenntniß zu empfehlen. Hierdurch zog er aber gerade die Aufmerksamkeit der Pietisten im Lande auf sich, welche zahlreich seinen Predigten zuliefen. Nur gegen die herrnhutische Methode erklärte er sich, hatte aber auch die Gegenwirkungen der Anhänger derselben zu erfahren, welche um das Jahr 1750 in Würtemberg auch sonst nachweisbar sind. Es ist hier nicht möglich, eine Anschauung der Theologie Oetinger’s zu gewähren, deren Erkenntnißmethode schon bezeichnet ist, und in welcher die Vorbilder von Böhme, Bengel und Swedenborg verwerthet sind. Das System, aus zahlreichen Schriften geschöpft, ist dargestellt von Auberlen, Die Theosophie Oetinger’s (Tübingen 1847). Allein es verdient hervorgehoben zu werden, daß Oe., indem er absichtlich den vollen Gedankengehalt der heiligen Schrift für die Theologie zu verwenden unternahm, eine Gedankenreihe zu betonen vermocht hat, welche in der früheren Theologie unbeachtet geblieben ist. In den Briefen an die Kolosser und Epheser ist ausgesprochen, daß Christus als das Haupt der Gemeinde der Zweck der von Gott geschaffenen und geleiteten Welt ist. Das ergibt einen andern Ansatz für die Erkenntniß von Gott, Christus und Welt, als ihn die hellenistische Combination in der altkirchlichen Christologie darbietet, einen Ansatz, der fruchtbarer ist, weil er nicht mit hellenischer Weisheit, sondern im christlichen Sinne formulirt ist. Diese Entdeckung muß Oe. zum Verdienst angerechnet werden. Eine eigentliche theologische Schule ist auf Oe. nicht gefolgt. In den Conventikeln aber sind seine Schriften gelesen worden. Wie Vieles von seinen eigenthümlichen Ansichten in jenen Kreisen angeeignet worden ist, läßt sich natürlich gar nicht ermessen. Jedoch hat die Anerkennung, welche Oe. der Swedenborg’schen Entdeckung der Ordnungen der jenseitigen Geisterwelt und des Verkehrs mit derselben geschenkt hat, den Mythus hervorgerufen, der an verschiedenen Orten seines Wirken nachgewiesen ist, daß Oe. im Walde oder in der Kirche bei Nacht den Geistern gepredigt hat. –

[541] Obige Darstellung beruht auf einer Selbstbiographie von Oe., welche 1845 von Hamberger zuerst herausgegeben ist. Dieselbe ist auch enthalten in Oetinger’s Leben und Briefe, herausgegeben von Karl Chr. Eberhard Ehmann, Stuttgart 1859. Daselbst von S. 337 an ein chronologisches Verzeichniß von Oetinger’s sämmtlichen Werken. Vgl. auch meine Geschichte d. Pietismus, 3. Bd. (Bonn 1886).

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 538. Z. 24 v. o.: Oetinger † 10. Febr. 1782 in Murrhardt. [Bd. 28., S. 808]