ADB:Poel, Piter

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Artikel „Poel, Piter“ von Wilhelm Sillem in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 87–95, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Poel,_Piter&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 05:06 Uhr UTC)
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Poel (spr. Puhl): Piter P., geboren am 17. Juni 1760 in Archangel, † am 3. Oktober 1837 in Altona, Privatgelehrter. Mit dieser Bezeichnung seines Standes und Berufs ist freilich seine Bedeutung nicht erschöpft, die allerdings nach Außen weniger hervorgetreten ist als sie sich in einem engeren Kreise geltend gemacht hat. In diesem Sinne sagt Varnhagen von Ense (Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften, Bd. IV, S. 362 f.): „Poel’s anfängliche Laufbahn [als russischer Diplomat] wie seine Kenntnisse und Talente mußten ihn zu einer großen öffentlichen Stellung und Wirksamkeit führen, hätte nicht ein starkes Uebergewicht sittlichen Ernstes und prüfender Betrachtung ihn von raschem und glänzendem Handeln allzusehr abgezogen“. P. war holländischer Abkunft. Bei seinem Urgroßvater, auch Piter genannt, einem Werftmeister der Admiralität und der ostindischen Compagnie in Zaardam, hatte Peter der Große den Schiffbau gelernt und nahm dessen Sohn mit nach Petersburg, um dort den Schiffbau zu leiten. Die Familie Poel gelangte zu [88] Ansehen. Jacobus Poel, der Vater unsers P., in Leiden erzogen, dort zum Kaufmann vorgebildet, erwarb sich tüchtige Sprachekenntnisse und, in Archangel etabliert, ein ansehnliches Vermögen. Am Hofe der Kaiserin Elisabeth und besonders bei dem ersten Gottorper auf Rußlands Thron, Peter III., stand Jacobus Poel in Gunst, so daß z. B. der Kaiser Taufpate unsers P. wurde. Der Zar beauftragte Poel, im großfürstlichen Theile Holsteins für ihn Einrichtungen zu treffen. Die vortheilhaften Anerbietungen bewogen Poel, sein Geschäft in Archangel aufzugeben. Allein die Ermordung Peter’s III. 1762 vereitelte die Ausführung dieser Pläne und verleidete ihm den Aufenthalt in Rußland. Infolge früherer Verbindungen mit Hamburg schiffte sich Poel mit seiner (zweiten) Frau, geb. van Brienen, auch aus einer holländischen Kaufmannsfamilie in Petersburg stammend, und Kindern nach Hamburg ein. Hier verlebte die Familie den Winter, den Sommer aber auf dem Gute Zierow bei Wismar, das Poel nebst den Gütern Rethwisch, Rastorf und Naudien erworben. Ein Jahr nach der Ankunft in Hamburg starb Poel’s Mutter. Dies war die Ursache, daß der dreijährige P. mit seiner Schwester Magdalene Poel (geb. 1757) einem französischen Mädchenpensionat in Hamburg bis zu seinem sechsten Jahr anvertraut wurde und das er nur verließ, um in ein Knabenpensionat des Candidaten Wacht einzutreten, wo er bis in sein fünfzehntes Lebensjahr blieb. Daher hat P. ein Familienleben kaum, Mutterliebe nie kennen gelernt. Die Kränklichkeit des Vaters und die Persönlichkeit von dessen dritter Frau waren schuld, daß auch das väterliche Haus ihm den Verlust der Mutter nicht ersetzen konnte. Umso inniger schloß sich P. der älteren Schwester an. Auch mit dem Unterricht war es, wie P. in seinen Lebenserinnerungen schreibt, „traurig genug bestellt“. „Doch verdanke ich“, so fährt er fort, „dem würdigen Vorsteher der Anstalt das Beste, was in mir ist. Er trug seine religiösen Ueberzeugungen mit einer Wärme vor, die sich dem kindlichen Gemüthe mittheilte, und predigte eine reine Moral, die er in aller Strenge täglich ausübte … Mein Christenthum ist oft erschüttert worden; aber der Glaube an eine positive Religion ist mir geblieben und meine Vernunft hat nur den Gott sich anzueignen gesucht, der ihr als ein den Vätern geoffenbarter gegeben worden ist.“ Der Vater hatte P. zum Kaufmann bestimmt und dies veranlaßte nach dem Tode desselben (1775) die Vormünder Poel’s, ihn, den noch nicht Sechzehnjährigen, der in seinen Pensionaten abgesondert von der Welt erzogen war und von der Welt und ihren Gefahren noch nichts kannte, in ein Handlungshaus nach Bordeaux zu schicken, „einer der verderbtesten Städte“. Vor seiner Abreise hatte sich die so geliebte Schwester Magdalene mit dem Kaufmann Adrian Wilhelm Pauli in Lübeck verheirathet, dem Vater des Oberappellationsgerichtsrathes Karl Wilhelm Pauli (s. A. D. B. XXV, 262). P. kam im Sommer 1776 in Bordeaux an und wohnte im Hause seines Handlungschefs, eines unverheiratheten Franzosen, der zum Glück ein sittlicher, rechtschaffener Mann war. Obgleich P. sich nicht für das Geschäftsleben eignete, fiel es ihm bei seiner Begabung für fremde Sprachen nicht schwer, bald die Correspondenz zu führen. Er lernte das französische Schauspiel kennen, hatte aber kaum näheren Umgang mit jungen Franzosen, deren frivoler Ton ihn abstieß. Durch einen jungen Böcking aus Trarbach, der auf demselben Comptoir arbeitete, und einen in Deutschland relegirten Studenten wurde P. erst jetzt mit Klopstock, Lessing und den übrigen Heroen der deutschen Litteratur bekannt. Poel’s Schwester hatte längst gewünscht, daß ihr Bruder den Gelehrtenstand ergreifen möchte und schon manches dazu in die Wege geleitet. Die Ansichten der Hamburger Vormünder kamen nicht mehr in Betracht, da [89] nach Realisierung des väterlichen Vermögens P. zwei Güter in Mecklenburg zugefallen waren und demnach Poel’s Vormundschaft auf zwei Herren in Schwerin übergegangen war, die gegen die Ergreifung eines anderen Berufes nichts einwandten. Nach zweijährigem Aufenthalt verließ P. Bordeaux und begab sich nach Genf, um sich dort auf den Besuch einer deutschen Universität vorzubereiten. Er war hier Zeuge, wie zwar die Formen, die Calvin der Stadtverfassung einst gegeben hatte, noch bestanden, aber die Ideen Rousseau’s selbst bei einem Theil der Geistlichen Eingang gefunden hatten, und die sogenannten Negatifs, die Vertreter der städtischen Aristokratie, mit den Neuerern, den „Representanten“, um die Herrschaft rangen. Mit dem Naturforscher und Philosophen Charles Bonnet († 1793) besprach P. seinen Studienplan: „Des täglichen Studiums lateinischer Classiker – die griechischen schienen für die diplomatische Laufbahn“, schreibt P., „welche ich zu verfolgen dachte, entbehrlicher – wie der Mathematik war keine Erwägung geschehen, weil es sich von selbst verstand“. Philosophische und naturwissenschaftliche Werke, die Bonnet ihm empfohlen hatte, das Studium der Geschichte und der Verfassungen nebst einigen juristischen Collegien förderten Poel’s Vorbereitung auf die erwählte Laufbahn. Im Herbst 1780 reiste er nach Deutschland zurück, um in Göttingen seine Studien fortzusetzen. Hier verweilte er drei Jahre mit geringen Unterbrechungen, die er zum Besuche seiner Schwester auf Zierow an der Ostsee verwandte. Bei den Professoren Schlözer, Friedrich Böhmer, Spittler, Blumenbach war er eingeführt. Es waren neben Heyne diejenigen, welche erheblich den Glanz der Georgia Augusta erhöhten und Studenten aus ganz Deutschland und neben diesen auch Engländer, Skandinavier und besonders Balten anzogen. P. gehörte dem Orden der sogenannten Z. N. an, dessen Vorsitzender Blumenbach war und dessen eigentlicher Zweck es war, dem Unwesen der Orden und Landsmannschaften entgegenzuwirken. Böhmer machte P., nachdem er im Anfang seines Studiums wegen eines Duells einige Monate Göttingen hatte verlassen müssen, den Antrag, sich in diesen Orden, der aus etwa zwölf bis vierzehn Studirenden, „jungen Leuten von feiner Sitte und unbescholtenem Rufe, die durch ihre Persönlichkeit Achtung einflößten“, aufnehmen zu lassen. Diesem Orden gehörten u. A. der nachmalige braunschweigische Staatsmann Graf v. d. Schulenburg-Wolfsburg (s. A. D. B. XXXII, 665, † 1818) und der Kurländer J. F. v. d. Recke (s. A. D. B. XXVII, 604, † 1846), Verfasser des Schriftsteller-Lexikons von Liv-, Esth- und Kurland, an. Mit beiden ist P. noch Jahrzehnte in brieflichem Verkehr geblieben. Poel’s vertrautester Freund und ihm am sympathischsten war aber der junge Marschalk v. Ostheim, der Bruder der bekannten Charlotte v. Kalb (s. A. D. B. XV, 11, † 1843). Nicht „in einer Art Zweikampf“, wie es in der angeführten Biographie der Schwester heißt, fand ihr Bruder, ein durch hohe geistige und sittliche Vorzüge ausgezeichneter Herr, der Letzte seines Geschlechts, sein Ende, sondern nach kaum dreitägiger Krankheit starb er an Darmverschlingung in Poel’s Armen. „Die Haare auf meinem Scheitel“, schreibt P. (s. Gustav Poel, Bilder aus vergangener Zeit, Th. I, Hamburg 1884, S. 323), „waren während einer vierundzwanzigstündigen ununterbrochenen, heftigen Gemüthsbewegung grau geworden.“ Zwei Briefe von Therese Heyne (a. a. O. S. 382, vgl. d. Artikel Th. Huber in A. D. B. XIII, 240), bezeugen, welcher Hochachtung sich beide in den Kreisen der Universität erfreuten.

Mit Schluß des Sommersemesters 1783 verließ P. Göttingen, nur ungern, da er noch ein Jahr länger Spittler’s Vorlesungen gehört und die Bibliothek benutzt hätte. Allein er mußte im Winter mit seinem Oheim van Brienen, [90] einem Archangeler Kaufmann, in Petersburg zusammentreffen. „Van Brienen galt für einen der einflußreichsten Kaufleute in Rußland, so daß nicht nur Leute seines Standes, sondern auch Staatsmänner ihn gern zu Rathe zogen, wenn sie sich über Gegenstände des Handels belehren wollten: auf manche Beschlüsse mag er Einfluß gehabt haben; einer der wichtigsten in seinen Folgen, der der bewaffneten Neutralität, ist wirklich durch ihn veranlaßt worden; denn er hatte den Nachtheil, welcher dem englisch-russischen Handel durch das willkürliche Verfahren der Engländer zugefügt wurde, den Ministern mit so lebhaften Farben geschildert, daß sie ihm Gelegenheit gaben, der Kaiserin unmittelbar seine Erfahrungen und Ansichten darüber mitzuteilen“ (G. Poel a. a. O. 384). Van Brienen hatte es übernommen, P., der in den russischen diplomatischen Dienst einzutreten beabsichtigte, in Petersburg einzuführen. Ehe nunmehr P. nach Rußland reiste, verkaufte er seine mecklenburgischen Güter Rasdorf und Naudien an einen Herrn v. Bülow und verlebte dann noch einige Monate auf Reisen im Harz und am Rhein mit seiner Schwester. In Petersburg angekommen, fand P. seinen Oheim noch nicht vor, der noch nicht von Archangel zurückgekehrt war, aber schon früher „bei dem Minister der äußern Angelegenheiten sein viel geltendes Fürwort eingelegt hatte“ (a. a. O. 360) Herr v. Alopäus d. Ae., den P. in Hamburg kennen gelernt hatte, als jener russischer Legationssecretär daselbst war, und der jetzt an der Spitze der Kanzlei des Vicekanzlers Ostermann stand, stellte P. diesem vor und nach einigen unbedeutenden Probearbeiten erhielt P. innerhalb von 14 Tagen seine Anstellung als Secrétaire interprète mit Capitänsrang in dem Colleg der auswärtigen Angelegenheiten. Poel’s Collegen waren meist Livländer oder Eingeborene ausländischer Abkunft und es gab keinen einzigen eigentlichen Russen darunter. „Oft vergingen mehrere Tage“, schreibt P., „ohne daß einer von uns bei unsern täglichen Zusammenkünften von 10 bis 2 Uhr auch nur eine Feder angesetzt hätte.“ Nennenswerthe Arbeiten in seinem Beruf wurden kaum von P. gefordert. Nur als während etwa zwei Monaten im englischen Parlamente vielfach russische Verhältnisse behandelt wurden, wurden P. und ein livländischer College englischer Abkunft, Pockenpol, beauftragt, die zwei Mal wöchentlich durch Couriere überbrachten Parlamentsberichte aus den englischen Zeitungen für die Kaiserin Katharina ins Französische zu übersetzen. Da dies Elaborat am Tage der Ankunft der Couriere der Kaiserin in Abschrift vorgelegt werden mußte, so mußten die beiden Secretäre die Nacht zur Vollendung ihrer Arbeit zu Hülfe nehmen. Allermeist wurde Poel’s Zeit durch Besuche und Festlichkeiten bei den Vorgesetzten und in den fremden Gesandtschaften in Anspruch genommen, anderer Gelage und hoher Spielparthien nicht zu gedenken. Er erkannte bald, daß das Petersburger Leben anhaltenden, geistigen Anstrengungen nicht förderlich sei. Die in Göttingen entworfenen Pläne zu historischen Studien konnte er nicht ausführen. So faßte er den Entschluß, auf die diplomatische Laufbahn in Rußland zu verzichten. Auf Alopäus’ Rath kam er nicht sogleich um seine Entlassung ein, sondern um Urlaub zu einer Reise nach Schweden. Ihm folgte nach wenigen Wochen ein Schwiegersohn van Brienen’s, der Franzose Peyron, der Chef eines Petersburger Handlungshauses und schwedischer Generalconsul in Petersburg. Diesem waren von Schweden sehr günstige Aussichten gemacht worden, im schwedischen Finanzfache eine höhere Stellung zu erhalten. Mit ihm theilte P. vom Spätherbst 1784 bis zum Herbst 1785 seinen Aufenthalt in Stockholm und anderen Städten Schwedens. In einem Rückblick auf die in Rußland für seine geistige Ausbildung verlorene Zeit sagt P., daß er „in dieser Hinsicht mindere Abneigung gegen eine Anstellung in Schweden haben konnte, [91] aber“, so fährt er fort, „meine Unabhängigkeit war mir theurer geworden, seitdem ich der Gefahr entronnen, sie auf immer einzubüßen, und schon schimmerte mir aus der Ferne in reinem Licht ein wünschenswerthes Vaterland, die stille Heimath meines Herzens, wo ich, ein Freier unter Freien, die edelsten Bedürfnisse meines Herzens befriedigen und in selbstgewählter Thätigkeit einem von fremder Gunst unabhängigen Ziele meines Ehrgeizes nachstreben konnte“ (a. a. O. S. 398). Von dieser Hoffnung beseelt hatte er, als er sich 1785 anschickte, Stockholm zu verlassen und nach Hamburg zu reisen, „jeden Gedanken an eine Anstellung in Schweden so gut wie aufgegeben“ (a. a. O. S. 449). P. wählte Hamburg zu seinem Wohnsitz, beschäftigte sich mit historischen und nationalökonomischen Studien und widmete seine Mußezeit seinen Freunden und Bekannten. Zu jenen gehörte besonders der Baron Voght (s. A. D. B. XL, 161). Durchreisende Gelehrte traf man damals nur bei dem Professor Joh. Georg Büsch (s. A. D. B. III, 642), bei Klopstock und J. A. H. Reimarus (s. A. D. B. XXVII, 704, † 1814), dem Sohne des Wolfenbüttler Fragmentisten. In diesen Kreisen verkehrte auch P. Im Frühjahr 1786 begleitete er Voght auf einer Reise nach Frankreich und England. P. hat über die Veränderung, die seit seinem ersten Aufenthalt in Frankreich in der gebildeten Welt dieses Landes eingetreten, u. a. bemerkt: „Der gebildete Theil der Nation fand mehr Geschmack an ernsten Dingen und an ernster Unterhaltung; der Geist freier Untersuchung, welchen man der Philosophie verdankte, hatte auf ihre eignen Mängel aufmerksam gemacht; Religionsspöttereien waren aus der Mode gekommen, sie galten für geschmacklos; … Rousseau war populärer geworden als Voltaire … Wie der abschreckende Unglaube der Philosophen die Religion, so hatten die Ausschweifungen des Hofes Ludwigs XV. die Sitten wieder zu Ehren gebracht; wenigsten wurde der Anstand besser beobachtet; man prunkte nicht mehr mit seiner Liederlichkeit … Man ahnte noch keine Revolution, aber Reformen erschienen ganz unvermeidlich“ (a. a. O. S. 31 f.). In Versailles besuchten die Reisenden den nachmaligen Maire von Straßburg P. F. v. Dietrich (s. A. D. B. XLVII, 687), der als secrétaire des commandemens mit einflußreichen Männern in Verbindung stehend, sie auf die erfreulichen, aber auch auf die bedenklichen Symptome der Gegenwart aufmerksam machte. Als Opfer der Verfolgungswuth Fouquier-Tinville’s endete Dietrich am 31. December 1793 unter der Guillotine. Das öffentliche Leben Frankreichs machte im ganzen einen unbefriedigenden Eindruck auf P., namentlich im Vergleich mit England. Das kräftige englische Gemeinwesen, wie es sich in allen Unternehmungen kundgab und besonders in den Parlamentssitzungen zum Ausdruck kam, erregte Poel’s Bewunderung. Hier hatte er auch „das außerordentliche Vergnügen, die beiden großen Parlamentsredner Pitt und Fox, deren allzugroße Suade ihm in Petersburg manche schlaflose Nacht verursacht hatte, gegeneinander auftreten zu sehen“ (S. 41).

Im J. 1787 verheirathete sich P. mit Friederike, der ältesten Tochter des Professor Büsch und 1793 erwarb er mit Georg Heinr. Sieveking (siehe A. D. B. XXXIV, 220), und Joh. Conr. Matthiessen, einem reichen Hamburger Kaufmann, den schönen Landsitz in Neumühlen an der Elbe, der jetzt als Donner’scher Garten bekannt ist. Sehr bald ging dieser Landsitz in das ausschließliche Eigenthum Sieveking’s über, „aber die Wirthschaft wurde den Sommer über für gemeinschaftliche Rechnung Poel’s und Sieveking’s und dergestalt geführt, daß die beiden Hausfrauen derselben in wöchentlichem Wechsel vorstanden, ein Verhältnis wohl einzig in seiner Art, welches aber auf rückhaltlosem gegenseitigen Vertrauen und liebevoller Hingebung begründet, während der 17 Jahre, die es bestanden, niemals auch nur [92] den leisesten Hauch der Trübung erfahren hat“ (S. 46). Als die beiden befreundeten Familien sich in Neumühlen niedergelassen hatten, hatte sich schon der Strom der französischen Emigranten auch nach Hamburg ergossen, die bei P. und Sieveking die gastlichste Aufnahme fanden. Vielfach waren unter ihnen Männer, auch aus den bisher höchstgestellten Familien, die augenblicklich von allen Mitteln entblößt waren. P. wurde Secretär eines Vereins, der sich zur Unterstützung verarmter Emigranten gebildet hatte und sich wöchentlich in seinem Stadthause versammelte. Außer den Franzosen waren es deutsche Gelehrte und Künstler, wie beispielsweise Joh. Heinr. Voß, Friedrich Heinrich Jacobi, der Capellmeister Reichardt, die sich dort zu Besuchen einfanden neben den auswärtigen Geschäftsfreunden Sieveking’s. Die alten Freunde wurden nicht vergessen: Klopstock feierte jeden Geburtstag, auch den letzten, in Neumühlen. P. hatte die Freude, daß sein Schwager Pauli sich 1794 in Altona niedergelassen hatte und Poel’s Schwester, von dem ganzen Kreise hoch geschätzt, ihm näher war. Gustav Poel (s. unten), der Herausgeber der Lebenserinnerungen seines Vaters, hat wohl Recht, wenn er dieselben mit der Betrachtung einleitet, daß die genannten Familien gleichsam nur eine unter sich harmonisch verbundene Familie bildeten, deren Beziehung damals noch inniger durch verwandtschaftliche Bande wurde: in Neumühlen fand in jener Zeit die Hochzeit des damaligen französischen Consuls in Hamburg K. F. Reinhard (s. A. D. B. XXVIII, 44) mit Christine Reimarus statt; sein Bruder Phil. Christian Reimarus, Professor in Moskau, heirathete eine Schwester von Poel’s Frau.

Als infolge der Continentalsperre der Handel Hamburgs die schwersten Bedrückungen erlitt und um 1811 viele große Handlungshäuser ihre Geschäfte auflösten, andere im Auslande sich niederließen, war auch die Witwe Sieveking – ihr Mann war 1799 gestorben – genöthigt, ihren Landsitz in Neumühlen aufzugeben. P. zog nach Flottbeck, wo sein Freund Voght den schönen Park – jetzt Jenisch’s Park –, angelegt hatte und sich mit landwirthschaftlichen Neuerungen beschäftigte. In der Nähe siedelte sich P. an. Ein Schwager Poel’s hatte auch sein kaufmännisches Geschäft in Hamburg liquidirt und war nach Petersburg übergesiedelt. Seine in Hamburg zurückgelassenen heranwachsenden Knaben übergab er P. zur Erziehung. Zu Poel’s eigenen Söhnen kam auch noch sein Neffe L. Reinhard (1850–1865 württembergischer Bundestagsgesandter, † 1866) hinzu, dessen Eltern bei der Flucht aus Moskau 1812 elendiglich umgekommen waren. Durch die Fürsorge des edlen Fürsten Dolgorucky war der Knabe vor Verwahrlosung geschützt worden. In der Leitung dieses erweiterten Familienkreises stand dem Hausvater treulich seine Gattin zur Seite, „eine edle Persönlichkeit, auch nach ihrer äußern Erscheinung, die mit lebendiger Empfänglichkeit die Tugenden einer vollendeten Hausfrau nach jeder Richtung verband, und durch unbestechliche Wahrheitsliebe, welche im Verkehr mit andern doch nie den feinen Takt eines warmen Herzens vermissen ließ, sie zu einem Gegenstande allgemeiner Verehrung gemacht hatte“ (Gust. Poel, Bilder aus Karl Sieveking’s Leben. Abth. II, S. 17 f. Hamburg 1888). Nach zweitägiger Krankheit der geliebten Frau löste der Tod am 18. October 1821 die glückliche Ehe. Vier Jahre später, 1825, eilte P. nach Bückeburg, wo damals die Familie Pauli lebte, um seine ihm so theure Schwester Magdalene, die schwer erkrankt war, noch einmal zu sehen. Er traf sie nicht mehr am Leben. Von nun an beschränkte er seinen täglichen Umgang auf den Verkehr mit den an- und abwesenden Kindern, deren sieben ihm die Gattin geschenkt hatte, und mit seinen nächsten Freunden, besonders [93] mit Voght und dem dänischen Diplomaten Joh. Georg Rist (s. A. D. B. XXVIII, 651), der von 1815 bis 1834 in Hamburg-Altona lebte.

Im J. 1836 war ein Schwächezustand Poel’s eingetreten, der deutlich das Versiegen einer Kraft erkennen ließ, von der einst so viel Leben ausgeströmt war. Am 3. October 1837 verschied der 77jährige Greis. Es mögen hier noch die Worte einen Platz finden, die Rist in Veranlassung dieses Todes aus Schleswig an den ältesten Sohn des Verstorbenen, Wilhelm Poel in Amsterdam, richtete: „Also hat das schöne Leben, das so viel Licht verbreitete, nun geendet. Wir fühlen, was wir verloren haben und nicht ersetzt werden kann; wir haben es gehabt, es lange besessen und es bleibt unser. Und ich mußte fern sein, konnte den treusten und teuersten meiner Freunde nicht mit Ihnen zum Grabe geleiten, konnte nicht Trost und Beruhigung geben und nehmen durch die Gegenwart, durch das Bewußtsein gleicher Gedanken und Empfindungen. Er hat seinen Freunden ein schönes Vorbild hinterlassen, den freien, frommen Sinn, den unerschöpflichen Quell von Wohlwollen und Liebe, die mich in so manchen Stunden meines Lebens erquickt, gehoben und gestärkt haben. Wie habe ich mich noch diesen Sommer gefreut an den unzweideutigen Zeichen des immer warmen Lebens, die von Zeit zu Zeit die Krankheit unterbrachen. Ich höre, sein Ende ist ein schönes und leichtes gewesen; die Leiche ein freundliches Bild (G. Poel, … aus Sieveking’s Leben, a. a. O. S. 155 f.).

Erst in dem Trauerjahr 1825 hatte Piter Poel mit Aufzeichnungen aus seinem Leben begonnen und sie bis in die dreißiger Jahre fortgesetzt. Sie reichen bis zum Beginne der französischen Revolution. Für die Veröffentlichung waren sie nicht bestimmt, obwohl „viele einsichtsvolle Männer“ ihn dazu aufgefordert hatten. „Aber ich habe“, so schreibt er, „von jeher eine unüberwindliche Abneigung gehabt, die Zahl der unnützen Bücher zu vermehren, und unnütz mußten auch diese nach wenigen Jahren werden,“ … da er voraussah, daß sehr bald eine Unzahl von Memoiren erscheinen würde. Erst 1835 gab P. im Altonaer Merkur einige Bruchstücke aus seinen Lebenserinnerungen heraus. Eine längere Abhandlung Poel’s über die Wiederbesetzung Hamburgs durch die Franzosen im J. 1813 unter der Ueberschrift „Hamburgs Untergang“ hat Professor Wurm (s. A. D. B. XLIV, 326) im J. 1858 in der Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte Bd. IV herausgegeben zugleich mit Rist’s „Denkschrift über das Verhältniß Dänemarks zu Hamburg im Frühjahr 1813“. Die für die Veröffentlichung geeigneten Aufzeichnungen Piter Poel’s sind als „Lebensbilder aus vergangener Zeit“ in zwei Theilen Hamburg 1883–1887 erschienen. Ihr Bearbeiter und Herausgeber ist der Sohn Piter Poel’s:

Gustav P., geboren am 17. November 1804 in Altona, † am 16. April 1895 auf Trenthorst in Holstein. Nach dem Unterricht im elterlichen Hause besuchte er das Gymnasium in Altona und bezog dann die Universitäten Göttingen, Berlin und Kiel, um Jura zu studiren. Ungefähr ein Jahr lang war er Advocat in Altona und trat 1827 gleich anderen Schleswig-Holsteinern, die sich auf die höhere Beamtenlaufbahn vorbereiteten, in die Schleswig-Holstein-Lauenburgische Kanzlei zu Kopenhagen ein. Des dortigen anregenden Umgangs mit Staatsbeamten und Collegen hat er sich stets gern erinnert. Zu letzteren gehörte auch Uwe Jens Lornsen (s. A. D. B. XIX, 201 f.), wenn sich auch beide nicht näher befreundeten. Im J. 1834 etwa kehrte P. nach Holstein zurück, zum Polizeimeister in Itzehoe ernannt. Hier gründete er seinen eigenen Heerd, indem er am 27. Mai 1837 mit M. Sophie W. v. Rumohr, einer Bruderstochter des bekannten Kunstkenners Karl v. Rumohr (s. Poel’s [94] Biographie desselben A. D. B. XXIX, 657) den Ehebund schloß. Sie und zwei Schwestern besaßen die schönen Güter Trenthorst und Wulmenau im holsteinischen Travethal bei Reinfeld, die nach dem Tode der beiden Schwägerinnen in Poel’s Besitz gelangten. Hier hielt sich die Familie zeitweilig im Sommer auf. Die Nähe des adligen Fräuleinklosters, dessen Aebtissin mehrfach der königlichen oder einer der herzoglichen Familien des Landes angehörte, brachte es mit sich, daß Itzehoe oft von den Gutsbesitzern in der Nähe, dem „Verbitter“ des Klosters, der die Klostergüter zu leiten hatte, und anderen Beamten besucht wurde, während andere dort ihren Ruhestand zubrachten. Gleich seinem Vater war P. ein Freund der Geselligkeit, ein geistreicher Mann, der noch im vorgerücktem Alter die Unterhaltung durch Witz und Humor zu beleben wußte. Voll Interesse für die höheren Lebensideale wandte er sein Studium besonders der Politik, der Geschichte und den kirchlichen Angelegenheiten zu. In der Politik, für welche P. sich bis an sein Ende lebhaft interessirte, ist er öffentlich nie hervorgetreten, obwohl er im gegebenem Falle nicht zurückhielt. Im J. 1849 zogen auch in Itzehoe die sonst so besonnenen Bürger, die „framen Holsten“ in den Volks- und Bürgerversammlungen, wie es nicht anders zu erwarten, die Politik in ihre Discussion. Monarchisch und conservativ, wie P. gesinnt war, bestritt er einst einer solchen Versammlung das Recht, den König von Dänemark als Herzog von Holstein des Thrones verlustig zu erklären. Die Folge seines mannhaften Auftretens war, daß sein Haus demolirt wurde und er sein Amt als Polizeimeister niederlegte. Nach Beendigung des Krieges wurde er Bürgermeister von Itzehoe und erhielt dann im Anfange der fünfziger Jahre den Titel des Justizraths. Obwohl ein Conservativer, verschloß P. sich doch nicht der Nothwendigkeit zeitgemäßer Neuerungen. Zu diesen rechnete er aber weder die modernen, verwässerten englischen Verfassungen, noch die Uniformirung der Verwaltung nach preußischem Muster. Der gab vielmehr den ständischen Verfassungen den Vorzug und hoffte, daß zu den berechtigten Eigenthümlichkeiten, deren Erhaltung den neu erworbenen Landestheilen durch königliche Proclamation zugesagt wurde, auch die Selbstverwaltung gezählt würde, wie sie sich in manchen Bezirken der Herzogthümer herausgebildet hatte. Seine Ansichten über die Staatsverfassung und über die Verwaltung im engern Sinne gründeten sich auf seine ungewöhnlich genaue Kenntniß der Geschichte, mit welcher er sich von jeher eingehend beschäftigt hatte, und auf seine aus langjähriger Praxis gewonnene Erfahrung über die Bedürfnisse des öffentlichen Lebens. Er ließ sich dabei leiten von dem Worte der heiligen Schrift: „Der Buchstabe tödtet, aber der Geist macht lebendig“. Als nach dem Tode König’s Friedrich VII. von Dänemark (15. November 1863) die Frage an P. herantrat, für welche Partei er sich entscheiden solle, gehörte er mit dem nachmaligen Oberpräsidenten Scheel-Plessen u. A. zu den Anhängern des „Gesammtstaates“ mit ausgesprochener deutscher Gesinnung und verweigerte, dem König Christian IX. den Homagialeid zu leisten. Er konnte sich aber auch nicht für den Herzog von Augustenburg erklären, da er dessen Ansprüche nicht für zweifelsfrei hielt, und wurde, wenn ihm auch die preußische Verwaltung weniger zusagte, ein loyaler Preuße. Im J. 1869 legte er sein Amt als Bürgermeister von Itzehoe nieder und zog darauf ganz nach Trenthorst, hier sich seiner Familie, drei Söhnen und zwei Töchtern, und seinen Studien widmend. Beschäftigte er sich auch noch ferner mit den neueren und neuesten Werken aus der Geschichte, so füllten doch auch kirchliche und selbst theologisch-wissenschaftliche Fragen einen erheblichen Theil seiner Muße aus. P. war ein überzeugter evangelischer Christ und hielt an den sogenannten Grundwahrheiten [95] des Christenthums fest, ohne auf die confessionellen Unterschiede großes Gewicht zu legen. Von Hause aus der reformirten Kirche angehörend, hat er niemals Bedenken gehegt, das heilige Abendmahl in der lutherischen Kirche zu nehmen und zu bekennen, daß die Eine heilige Kirche im Sinne des dritten Artikels sich aus den Mitgliedern aller christlichen Bekenntnisse zusammensetze. Die Werke der inneren und äußeren Mission nahmen vielfach seine Theilnahme in Anspruch. Als in den späteren Lebensjahren die Schwäche seiner Augen zunahm, weilten in seinem Hause öfter junge Theologen, um ihm vorzulesen, welche er durch seine Kenntnisse in der Theologie in Erstaunen setzte. Auch seine reichhaltige Bibliothek, die noch einen ganzen Bestand aus der Bibliothek seines Großvaters Büsch enthielt, zeugte von Poel’s Studium in den neuesten theologischen Werken. Seine Ideen teilte er gern in Gesprächen seinen Freunden mit, die ihn häufig besuchten und gastlich aufgenommen wurden. Das Leben auf Trenthorst war wohl als patriarchalisch zu bezeichnen: von den Gutsangehörigen wurde P. geachtet und verehrt; eine früh verstorbene Tochter nahm sich der Alten und Kranken unter ihnen mit aufopfernder Liebe an; die Landwirtschaft besorgte der jüngste Sohn, dessen Kinder ins Haus des Großvaters jugendliches Leben brachten. Viele Veränderungen in der Landwirtschaft ließ P. nicht zu. In dem schönen, mit einem guten Rehstand besetzten Thiergarten durften keine Bäume gefällt werden so wenig, wie, trotz der Bitte des Ackervogtes, die alten Eichen an den Landwegen gestutzt werden durften, an deren Aesten gar manche Aehre beim Einfahren des Getreides hängen blieb. In Poel’s letztem Lebensjahre verschied nach 57jähriger Ehe im 88. Lebensjahre die treue Gattin, die bis ins hohe Alter sich ein ausgezeichnet treues Gedächtniß und ein sehr klares, selbständiges Urtheil bewahrt hatte. Ihr folgte am 16. April 1895 ihr Gatte nach wenigen Tagen leichten Unwohlseins, ohne seine geistigen und körperlichen Kräfte vorher eingebüßt zu haben. Wie der Vater mit seiner Schwester in inniger geschwisterlicher Liebe verbunden war, so unterhielt auch Gustav Poel mit seiner Schwester Emma Poel in Altona jahrelang einen fast täglichen Briefwechsel. Sie nahm in Altona eine ähnliche Stellung ein wie ihre Freundin Amalie Sieveking (s. A. D. B. XXXIV, 217) in Hamburg, deren Biographie sie auch verfaßt hat.

Gustav P. ist der Verfasser folgender Schriften: „J. G. Hamann, der Magus im Norden. Sein Leben und Mittheilungen aus seinen Schriften“, 2 Bde., Hamburg 1876; „Nachträgliches zu J. G. Hamann“, 38 S., Hamburg 1877; „Joh. Georg Rist’s Lebenserinnerungen“, Th. 1 u. 2, Gotha 1880, Th. 3, Gotha 1888; „Bilder aus vergangener Zeit“, Th. 1 (Piter Poel und seine Freunde), Hamburg 1884; Th. 2 (Bilder aus Karl Sieveking’s Leben), Hamburg 1887 [„Altes und Neues aus der Briefmappe“, 1885, Hamburg; in Commission bei Luc. Gräfe, 61 S., enthält Aphorismen Gustav Poel’s;] im 4. Band der Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte 1881: G. Poel, „Carl Wilhelm Pauli, ein Lebensbild“, 101 S.

Nach Familiennachrichten nebst Selbsterlebtem.