ADB:Pott, August Friedrich

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Artikel „Pott, August Friedrich“ von Georg von der Gabelentz in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 26 (1888), S. 478–485, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Pott,_August_Friedrich&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 18:27 Uhr UTC)
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Pott: August Friedrich P., am 14. Nov. 1802 im Dorfe Nettelrede bei Münder im Hannöverschen als Sohn des dortigen Pfarrers geboren, † zu Halle a. S. am 5. Juli 1887. Sehr früh verlor er seinen Vater und die Mutter siedelte nun mit ihren vier Kindern nach dem Dorfe Oldendorf bei Elze über. Nach ihrem Tode fand der neunjährige Knabe Aufnahme im Hause des Pastors Lauenstein in [479] Ahdensen, dem er eine tüchtige Vorbildung für das Gymnasium verdanken sollte. Sprachstudien reizten schon den Knaben, die Classiker las er weit über die Schulpensa hinaus, um für die lateinischen und griechischen Wörterbücher Beispiele zu sammeln. In das Lyceum zu Hannover trat er als Secundaner ein, und Michaelis 1821 bezog er die Universität Göttingen. Er ließ sich als Student der Theologie immatriculiren, besuchte aber mit Vorliebe philologische und naturwissenschaftliche Vorlesungen. Von den Philologen regten ihn besonders Dissen, Otfried Müller und Benecke, dieser durch seine altdeutschen Forschungen, an; Arabisch hörte er bei Tychsen. Nach beendigten Studien, 1825, ward er als Collaborator und Lehrer der Quarta am Gymnasium zu Celle angestellt. Hier fand er Zeit, mit einer Abhandlung „De relationibus, quae praepositionibus in linguis denotantur“, Celle 1827, die Doctorwürde bei der philosophischen Facultät zu Göttingen zu erlangen.

Es steht nicht fest, wann er die ersten Anregungen von Seiten der eben begründeten Sprachwissenschaft empfangen hat, man möchte glauben, es sei dies erst während jener Collaboratur in Celle geschehen. Schon im J. 1827 gab er diese Stellung auf, um in Berlin Bopp’s Schüler zu werden. Es war ein kühner Schritt; der unbemittelte Mann opferte eine sichere Gegenwart einer ungewissen Zukunft. Von der Philologie nahm er Abschied auf Lebenszeit; selbst der Zauber der altindischen Litteratur vermochte ihn nicht dauernd zu fesseln, das Sanskrit galt ihm vorab als wichtigste Quelle zum Verständnisse des indogermanischen Sprachstammes. Und auch über diesen strebte sein universal angelegter Geist hinaus; einem Bopp mochte er sich bald gewachsen fühlen, Wilhelm v. Humboldt’s überlegene Größe und Tiefe hat er zeitlebens freudig anerkannt, mehr als einmal gegen Zweifler verfochten. Das Humboldt’sche Ideal einer allgemeinen Sprachwissenschaft wurde auch das seine, ihm wußte er auch die Indogermanistik dienstbar zu machen, der er sich fortan zuwandte.

Im J. 1830 habilitirte er sich als Privatdocent für allgemeine Sprachwissenschaft an der Berliner Universität, und schon im J. 1833 konnte er sein erstes epochemachendes Werk, den ersten Band seiner „Etymologischen Forschungen auf dem Gebiete der Indo-Germanischen Sprachen, mit besonderem Bezug auf die Lautumwandlung im Sanskrit, Griechischen, Lateinischen, Litauischen und Gothischen“, herausgeben, dem drei Jahre später der zweite Band folgen sollte (Lemgo 1833–36). Es war eine nothwendige, großartige Ergänzung zu Bopp’s eben erscheinender Vergleichender Grammatik, und die Anerkennung blieb nicht aus; noch im J. 1833 ward er als außerordentlicher Professor der allgemeinen Sprachwissenschaft an die Universität zu Halle berufen, 1838 wurde diese Professur in eine ordentliche verwandelt und er hat sie über ein halbes Jahrhundert lang inne gehabt. Der junge Professor hatte seiner burschenschaftlich liberalen Richtung kein Hehl und wurde ein Mitarbeiter der von Ruge und Echtermeyer gegründeten Deutschen Jahrbücher. Seine kräftige Natur mochte ihn dazu drängen, zeitweilig den Studiertisch zu verlassen, um sich an den Tagesfragen zu betheiligen. Praktische Folgen aber hatte dieser Theil seiner publicistischen Thätigkeit zunächst für ihn selbst; denn die preußische Regierung hat sie ihm lange Zeit übel nachgetragen. Sonst war ihm das friedliche Leben eines Gelehrten beschieden und er hat, unterstützt von einem ebenso empfänglichen wie productiven Geiste und einer kräftigen Gesundheit, eine erstaunlich reiche wissenschaftliche Thätigkeit entfaltet. Außer einer beträchtlichen Reihe selbständiger, zum Theil sehr umfänglicher Bücher und Aufsätze schrieb er für litterarische Zeitschriften zahlreiche gehaltvolle Kritiken; man hat berechnet, daß seine sämmtlichen Werke in die fünfzig starke Octavbände füllen würden. Daneben fand er Zeit für seine botanischen Liebhabereien und für die regelmäßige Lectüre wichtigerer [480] Tageserscheinungen. Ein glücklicher, behaglicher Hausstand, 1840 gegründet, that das Seine, um den Gelehrten in der freudigen Stimmung zu erhalten, die seinem Schaffen noth that. Kleine Verdrießlichkeiten und Hintansetzungen blieben freilich nicht aus; die üblichen Auszeichnungen von Regierungswegen ließen ungewöhnlich lange auf sich warten, zum Rector der Hochschule, deren Zierde er war, ist er nie gewählt worden, und zeitweise schien es, als würde sein Ruhm durch jüngere, kühnere Fachgenossen verdunkelt. Er hat dies Alles wohl empfunden und sich gelegentlich herb, sogar beißend darüber ausgesprochen. Dauernd aber konnte das seinem köstlichen Humor nichts anhaben, es schien, als würde seine Arbeitslust durch die kleinen Widerwärtigkeiten eher gereizt als gelähmt.

Uebersieht man Pott’s Arbeiten der Reihenfolge nach, so wird man vergebens nach einem einheitlichen Arbeitsplane suchen. Die Hauptrichtung freilich wurde durch die etymologischen Forschungen bestimmt; allein für den gewöhnlichen Entwickelungsgang der Gelehrten von der erreichbarsten Vielseitigkeit zu immer sich verengender Vorliebe für eine Specialität war Pott’s Natur nicht geschaffen. Der blieb der jugendliche Drang ins Weite bis tief hinein ins Greisenalter, und was die Zeiten Neues brachten, mußte in der Werkstatt dieses Geistes verarbeitet, oft auch in schneidiger Polemik zurückgewiesen werden. Manchmal genügten mittelmäßige Dilettantenversuche, die andere Gelehrte stillschweigend den wissenschaftlichen Curiositäten eingereiht hätten, um den Alten zur Abfassung inhaltschwerer Abhandlungen zu bestimmen. Nächst seinen Büchern soll im Folgenden nur ein Theil der in Zeitschriften und Sammelwerken veröffentlichten Aufsätze aufgezählt werden. Der Indogermanistik gehören außer den etymologischen Forschungen nachfolgende Arbeiten an: „De Lituano-Borussicae in slavicis letticisque linguis principatu“. 2 Theile, Halle 1837–41, 4°; der Artikel: „Indogermanischer Sprachstamm“, in Ersch und Gruber’s Allgem. Encyklop. II, XVIII, S. 1–112, 1840; „Das indogermanische Pronomen“ (Zeitschr. der Deutschen Morgenl. Ges. XXXIII). Sein Werk: „Die Zigeuner in Europa und Asien“, in zwei starken Bänden, Halle 1844–45, war wieder eines der epochemachenden. Es behandelt die Sprache der indischen Landstreicher, soweit sie damals bekannt oder von ihm selbst aus Zigeunermunde erlernt war, im großen, vergleichenden Stile. Hieran reihen sich die Aufsätze: „Ueber die Sprache der Zigeuner in Syrien“ (Höfer’s Zeitschr. I); „Die Zigeuner und ihre Sprache“ (Zeitschr. d. d. Morgenl. Ges. III, VII); „Bemerkungen über die Zigeuner in Persien“ (das. XI); „Zigeunerisches (in Gemeinschaft mit Mordtmann bearbeitet, das. XXIV). Das noch wenig bekannte Kurdische behandelte er in Höfer’s Zeitschr. II, 2 und dann mit Rödiger zusammen in der Zeitschr. f. d. Kunde des Morgenl. IV, V, VII. Höfer’s Zeitschrift III, 1 und 2 enthält auch eine Arbeit von ihm über die romanischen Elemente in der lex Salica.

Von seiner umfassenden Umschau außerhalb des indogermanischen Sprachgebietes legen wohl alle seine Arbeiten Zeugniß ab, und gelegentlich hat er fremde Sprachstämme und ihre Angehörigen zum Gegenstande besonderer Untersuchungen gemacht. Der Bantufamilie sind vier Aufsätze in der Zeitschr. d. d. Morgenl. Ges. gewidmet: „Ueber das verwandtschaftliche Verhältniß zwischen den Kaffer- und Kongo-Sprachen“ (II); „Ueber die Kihiau-Sprache“ (VI); „Die Sprachen Südafrikas“ (V) und „Sprachen aus Afrikas Innern und Westen“ (VIII). Dieselbe Zeitschrift, Band IV, enthält auch eine Arbeit von ihm über „Javanische Sprache und Litteratur“, und Band XII eine „Untersuchung über die japanische Sprache in ihren Verhältnissen zu anderen Asiatinnen.“

[481] Die etymologische Frage, das heißt die Frage nach den Vorstellungen, welche den Wörtern zu Grunde liegen, erstreckte er auch auf die Eigennamen. Das Ergebniß war sein großes Werk: „Die Personennamen, insbesondere die Familiennamen und ihre Entstehungsarten, auch unter Berücksichtigung der Ortsnamen“, Leipzig 1853, 2. Aufl. 1859. Verwandten Inhalts sind die Abhandlungen über „Altpersische Eigennamen“ (Zeitschr. d. d. Morgenl. Ges. XIII), „Eigennamen in ihrem Unterschiede von Appellativen und mit der Namengebung verbundener Glaube und Sitte“ (das. XXIV), endlich das Schriftchen: „Ueber vaskische Familiennamen“, Detmold 1875. Die Aufsätze „Ueber die Mannichfaltigkeit des sprachlichen Ausdrucks nach Laut und Begriff“ in Lazarus’[WS 1] und Steinthal’s Zeitschr. f. Sprachwiss. Bd. I ff. bilden eine Ergänzung zu seinen etymologischen Forschungen. In diesen werden die Wörter genetisch nach ihrer Herkunft und Bildung, jetzt werden sie synonymisch nach ihren Bedeutungen zusammengestellt, und die Etymologie soll zeigen, wie mannigfaltig der wortschaffende Geist verfahren ist, um derselben Idee Ausdruck zu geben. Schon in Höfer’s Zeitschr. II, 1 hatte Pott in diesem Sinne die Namen des Elephanten in verschiedenen Sprachen untersucht, und ähnliche Beiträge lieferte er der Kuhn-Schleicher’schen Zeitschrift. Immer wieder beschäftigte ihn die Frage: Wie stellt sich dieses oder jenes Stück der Welt im Lichte der verschiedenen Sprachen dar? Die etymologischen Forschungen selbst aber bearbeitete er ein zweites Mal in neun starken Bänden unter dem Titel: „Wurzelwörterbuch der indogermanischen Sprachen“, Detmold 1859–1876.

Es war Pott’s Art, überall wo sich die Gelegenheit dazu bot, die seelischen Mächte und Triebe, die die Sprachbildung beherrschen, durch die verschiedensten Sprachen hindurch zu verfolgen, und in diesem Sinne darf man vielleicht alle seine Werke der allgemeinen Sprachwissenschaft zurechnen. Er hat aber auch eine Reihe besonderer Arbeiten den Grundfragen und den letzten Problemen der Wissenschaft gewidmet. Dahin gehören: „Ueber die Eintheilung der Sprachwissenschaft“ (Jahrb. d. freien deutschen Akademie I, 1); „Zur Geschichte und Kritik der sogenannten allgemeinen Grammatik“ (Fichte’s Zeitschr. f. Philos. 1868); „Die Einleitung in die allgemeine Sprachwissenschaft“ in Techmer’s[WS 2] Zeitschrift hält zunächst Ausschau auf die verschiedenen Aufgaben und Richtungen der Sprachforschung und giebt dann eine familienweise geordnete Uebersicht der Sprachen mit reichen Litteraturnachweisen und gelegentlichen Excursen. Polemisch nach Anlaß und Inhalt sind: „Max Müller[WS 3] und die Kennzeichen der Sprachverwandtschaft“ (Zeitschr. d. d. Morgenl. Ges. IX); „Die Ungleichheit menschlicher Rassen, hauptsächlich vom sprachwissenschaftlichen Standpunkte, unter besonderer Berücksichtigung von des Grafen v. Gobineau[WS 4] gleichnamigem Werke. Mit einem Ueberblicke über die Sprachverhältnisse der Völker. Ein ethnologischer Versuch.“ Lemgo 1856; „Anti-Kaulen, oder mythische Vorstellungen vom Ursprunge der Völker und Sprachen. Nebst Beurtheilung der zwei sprachwissenschaftlichen Abhandlungen Heinrich v. Ewald’s“. Lemgo und Detmold 1863; endlich: „Allgemeine Sprachwissenschaft und Carl Abel’s[WS 5] Aegyptische Sprachstudien.“ Leipzig 1886. Von Humboldt’s Hauptwerke: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues veranstaltete er eine neue Ausgabe, der er eine fast ebenso umfängliche Abhandlung: „Wilhelm von Humboldt und die Sprachwissenschaft“, Berlin 1876, 2. Aufl. das. 1880, vorausschickte.

Humboldt hatte als nächste Aufgabe der allgemeinen Grammatik gefordert, es sollten die verschiedenen grammatischen Kategorieen durch alle Sprachen hindurch verfolgt werden. In diesem Sinne schrieb P. die große Abhandlung: „Grammatisches Geschlecht“ in Ersch und Gruber’s Allgem. Encyklop. I, XLII; [482] ferner: „Die quinäre und vigesimale Zählmethode bei Völkern aller Welttheile. Nebst ausführlichen Bemerkungen über die Zahlwörter indogermanischen Stammes und einem Anhange über Fingernamen.“ Halle 1847, und verwandten Inhalts: „Die Sprachverschiedenheit in Europa an den Zahlwörtern nachgewiesen“. Halle 1867. Die Frage nach der Classification der Sprachen hat ihn oft beschäftigt; in Band VI der Zeitschr. d. d. Morgenl. Ges. widmet er ihr einen besonderen Aufsatz.

Das uralte Problem: Wie kommt der Laut zur Bedeutung? lag Keinem so nahe wie ihm; aber er sah wohl, wie schwierig, in den meisten Einzelfällen unmöglich die Lösung sei. Darum ergriff er die Aufgabe zunächst an dem faßbarsten Punkte: „Doppelung (Reduplication, Gemination) als eines der wichtigsten Bildungsmittel der Sprache, beleuchtet aus Sprachen aller Welttheile.“ Lemgo und Detmold 1862; „Verschiedene Bezeichnung des Perfects und Symbolik“ (Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. XV). Auch sein gegen Carl Abel gerichtetes letztes Schriftchen behandelt verwandte Gegenstände; die Lautsymbolik hat ihn Jahrzehnte lang beschäftigt, und während seiner letzten Lebensjahre hat er an einem Werke über diesen Gegenstand gearbeitet.

Pott’s kernige Gesundheit erlitt einen ersten Stoß im J. 1877, als eine Lungenentzündung andauernde Kurzathmigkeit zurückließ. Die Last des Alters hat er erst in seinem 83. Jahre empfinden gelernt, da ihm der Tod die treue Lebensgefährtin Elise geb. Ebeling entriß. Die Frische seines Geistes blieb auch dann noch fast ungeschwächt bis tief in seine letzte Krankheit hinein. Anfang Mai 1887 wurde er von einer schweren Bronchitis befallen, die seine Kräfte langsam aufzehrte, und der er zwei Monate später, am 5. Juli, erlag.

Als Begründer der heutigen Sprachwissenschaft pflegt man Franz Bopp, Jacob Grimm, Wilhelm v. Humboldt und P. aufzuführen, – Rask[WS 6], der sich mit Grimm wohl messen darf, wird nur zu oft übergangen; P. war von Allen der Jüngste, und er ist der, dessen fast allseitiges Wirken sich am schwersten gerecht beurtheilen läßt. Man darf sagen: er vereinigte in sich die Strebensrichtungen seiner älteren Genossen. Die von Rask und Grimm auf beschränkten Gebieten angewandte lautvergleichende Methode hat er zuerst, Bopp ergänzend, auf den indogermanischen Sprachstamm ausgedehnt. Unter allen seinen Verdiensten ist dies das bekannteste und unbestrittenste, es war der Punkt, wo er in die Entwicklung der Indogermanistik eingriff. Ihm aber, der seine mächtigsten Anregungen von Humboldt empfangen, war doch der indogermanische Sprachstamm nichts mehr als eine, als die höchste Entfaltung des allgemein menschlichen Sprachvermögens, und seine Arbeit auf jenem Gebiete nichts weiter als ein Beitrag zur allgemeinen Sprachwissenschaft, in der er recht eigentlich seine Aufgabe erblickte.

Wir müssen hier etwas weiter ausholen. Das philosophische Jahrhundert hatte auch die Sprache in den Bereich ihrer Speculationen zu ziehen, in sogenannten allgemeinen oder philosophischen Grammatiken kühn, oft geistvoll a priori festzustellen versucht, was alles der menschlichen Sprache nöthig und möglich sei. Von den gleichzeitigen polyglottischen Sammelarbeiten Anderer blieb dieses selbstgenügsame Treiben so gut wie unberührt; man meinte aus der Natur der Sache folgern zu können und ahnte nicht, wie sehr man dabei von den muttersprachlichen Anschauungen abhängig war. Dem machte Humboldt ein Ende: Thatsachen lassen sich nicht aus dem Hirne des Denkers herausspinnen, sie wollen draußen in der Welt aufgesucht und gesammelt werden; die allgemeine Grammatik ist freilich ein Problem, das höchste Problem der Sprachwissenschaft; aber die erste Staffel zu seiner Lösung ist eine vergleichende Grammatik aller Sprachen in Rücksicht auf ihren Bau und auf ihre grammatischen Kategorien. Eine solche [483] Kategorie, den Dualis, hatte Humboldt durch die Sprachenwelt hindurch verfolgt, andere, die Zählmethoden, das grammatische Geschlecht u. s. w. bearbeitete P. Den Satz, daß jede Sprache eine Weltanschauung darstelle, hatte Humboldt, wenn nicht zuerst ausgesprochen, jedenfalls zuerst in tiefsinniger Weise an einzelnen Sprachtypen durchgeführt; er aber richtete sein Absehen in erster Linie auf den Sprachbau, das heißt auf die Grammatik. Unter dem gleichen Gesichtspunkte betrachtete P. den Sprachschatz: nach welchen Merkmalen haben die Dinge, die Vorstellungen und Begriffe, ihre Namen empfangen? Darauf hat die lexikalische Etymologie zu antworten. Etymologisiren heißt zurückführen auf Stämme und Wurzeln. Woher nun diese? Sind die Wurzeln, wie sie nach dem Vorbilde der indischen Grammatiker aufgestellt werden, wirklich die letzten erkennbaren Grundstoffe, oder sind auch sie zum Theile secundäre Gebilde? und dann: wie kommen diese Laute zu dieser Bedeutung? Man begreift, wie gerade Pott’s Geist mit seiner erstaunlichen Beweglichkeit und seinem umfassenden lexikalischen Wissen den Reiz solcher Fragen empfand. Man wird aber auch begreifen, warum seine hierauf abzielenden Forschungen nur mit sehr getheiltem Beifalle aufgenommen wurden. Es kam die Zeit, wo die Mehrzahl der Sprachforscher mit Männern wie Humboldt und P. nichts mehr anzufangen wußte.

Freilich, Schulen zu gründen war den Beiden nicht vergönnt, selbst wenn sie es gewollt hätten; denn Universalität und Genialität lassen sich nicht schulmäßig züchten. Die Zeit war da, wo man es lernte, in der Beschränkung Meisterschaft und Meisterrecht zu erringen; statt der menschlichen Sprache in ihrer schwindelerregenden Mannigfaltigkeit wählte man einen einzelnen Sprachstamm, statt auf das freie Walten des sprachbildenden Geistes richtete man sein Augenmerk auf den mechanischen Wandel der Laute. Diese Auffassung der Sprachwissenschaft war der materialistisch-atomistischen Weltanschauung ihrer Zeit verwandt, kein Wunder, daß einzelne ihrer Vertreter bei den Naturforschern collegiale Aufnahme suchten, nachdem sie das Ihrige gethan, um die Sprache zu entgeistigen. Man fühlte sich auf sicherstem Boden. Da schien Alles greifbar und natürlich, und man arbeitete mit einer sauberen Exactheit, die nicht hoch genug zu rühmen ist. Bald aber heischte der speculative Trieb auch hier seine Rechte: wie durch bunte Glasscheiben meinte man hinter den Sprachen der ältesten Schriftdenkmäler die Laute und Formen der indogermanischen Ursprache hindurch schimmern zu sehen, noch ein wenig Abstraction, und alles stand in ungetrübtem Lichte vor Augen, man hörte, wie unsre Altvordern vor vier oder fünf Jahrtausenden geredet hatten, erzählte ihnen ein Märchen in ihrer eigenen Sprache. Damit hielt man sich wenigstens noch innerhalb der Grenzen der eigenen Gemarkung; und wenn das ganze Spiel verfrüht war, so ist nicht zu vergessen, welche Anregungen wir Jüngeren ihm verdanken. Gerade in seiner Kühnheit war es ein heilsames Durchgangsstadium.

Nun aber überschritt man auch die Schranken, die man sich selbst gesteckt. Sprachforscher, die ihre Wissenschaft den Naturwissenschaften zugewiesen hatten, traten als Sprachphilosophen auf, solche, die eben einmal nach flüchtiger Touristenart sich jenseits des heimischen Sprachgebietes umgeschaut hatten, belehrten die Welt über die großen Fragen der allgemeinen Sprachwissenschaft – die genügsame Selbstbeschränkung schien in beschränkte Selbstgenügsamkeit ausarten zu wollen. Andere, bekanntlich selbst der große Bopp, suchten abenteuerliche Verwandtschaften von Sprachstamm zu Sprachstamm, erfanden neue, weitverbreitete Sprachsippen allen Regeln einer gesunden vergleichenden Methode zum Hohne. Auch fremde Mächte trieben ihr Wesen. Jetzt zerrte die Theologie [484] an der Linguistik, jetzt wieder machte der Linguist dieser oder jener naturwissenschaftlichen oder philosophischen Theorie den Hof. Das Alles, wenn es sich mit Geist und Geschmack zu geben wußte, war nun auch wieder sehr anregend und mag unserer Wissenschaft manchen vorzüglichen Rekruten geworben haben.

Pott’s ablehnendes Verhalten alledem gegenüber soll man nicht mißdeuten. Es war nicht der Greis, der nicht mitthun kann, sondern der überlegen erfahrene Mann, der aus guten Gründen nicht mitthun will. Auf dem Platze war er wie nur Einer; ihn reizte gerade der Gegensatz und seine Polemik ließ an Entschiedenheit nichts zu wünschen übrig. Läßt der Stil auf den Mann schließen, so gehörte P. zu den Naturen, die sich öfter von gegebenen Anlässen aus, als nach vorgesteckten Zielen hin zu bewegen scheinen; fremde Meinungen bewogen ihn am ersten zur Darlegung seiner eigenen. Diese in systemmäßigem Zusammenhange vorzutragen hat er schwerlich das Bedürfniß gefühlt, man muß sie zusammenlesen und wird dann selbst ihre innere Einheit entdecken. Dann wird man auch finden, wie oft ihm schon jetzt die Wissenschaft in ihrer Weiterentwickelung Recht gegeben hat. Dem freien Walten des Menschengeistes, das er unermüdlich betonte, trägt heute die Indogermanistik ganz anders Rechnung, als vor zwanzig, dreißig Jahren, und damit hängt es zusammen, daß die wunderliche Einreihung der Sprachwissenschaft in die Naturwissenschaften längst zu den abgethanen Dingen gehört. Ab- und Umwege sind in der Wissenschaft geradezu nothwendig, und wer eine Sackgasse sauber ausgefegt hat, dem soll man sein Theil Verdienst unbestritten lassen. Auch wird man ihm viel leichter gerecht, als jenem genialen Geiste, der ohne Ab- und Umwege vorwärts eilte und die Sackgasse links liegen ließ. Schleicher’s Problem der indogermanischen Ursprache ist geblieben, über seine Reconstructionen aber wird heute von seinen Nachfolgern kaum günstiger geurtheilt, als es P. von Anfang an gethan hat. Vorwitzige Versuche, auf unwissenschaftlichem Wege neue Sprachverwandtschaften zu entdecken, werden immer wieder auftauchen; sie haben auch ihren Werth als Beispiele, wie man es nicht machen muß. Der Mühe aber, der sich P. in ernster, gründlicher Polemik unterzogen, sind wir hinfort überhoben; den Uebereifrigen gebe man seine Abhandlung über die Kennzeichen der Sprachverwandtschaft und etwa den Anti-Kaulen in die Hände:

– – – – Mutato nomine de te
Fabula narratur !

Unter den Männern, die P. hin und wieder gegensätzlich anregten, war wohl der bedeutendste Heinrich Steinthal, gleich ihm einer der wärmsten Verehrer, aber ein weniger unbedingter Anhänger Humboldt’s. Die Erklärung dieses schwierigsten unter den sprachwissenschaftlichen Schriftstellern hat dabei viel gewonnen, und gerade bei diesen Erörterungen war P. ausgiebiger in der Entwickelung seiner eigenen sprachphilosophischen Anschauungen, als es scheinen könnte.

Wir müssen hier nochmals auf seinen Stil zu sprechen kommen. Der war unnachahmlich; denn nur ein Mann von solcher Fülle des Wissens, von so sprudelnder Frische des Geistes und von einer solchen Anlage zum springenden Spiele der Gedankenverknüpfungen konnte so schreiben. Nachahmenswerth ist aber seine Schreibweise keineswegs, ungegliedert, athemlos, oft kaum den Plan verrathend, – manchmal hat man das Gefühl, als führe man mit durchgehenden Pferden durch eine farbenreiche Wildniß Jean Paul’schen Geschmackes. Jetzt Citate, von denen man erst hinterdrein erfährt, ob sie die Meinung des Schriftstellers oder ihr Gegentheil ausdrücken sollen; dann wieder mitten auf dem Wege der Erörterungen fahrplanwidriger Aufenthalt mit Ausflügen oft in recht entlegene [485] Seitenthäler, eingestreute Monographien, die man überall sonst ebensogut suchen könnte, wie gerade hier. Und dies Alles oft in ganz eigenartigen Formen des Satzbaues mit Zwischensätzen und sonstigen Parenthesen oder ausrufartig ohne Verbum. Die Pietät erlaubt es nicht nur, nein, sie gebietet es geradezu, bei diesen formellen Schwächen des großen Mannes zu verweilen, denn sie vor Allem haben seine Wirksamkeit beeinträchtigt. Das Schicksal theilte er mit Humboldt. Muß man aber diesen möglichst in einem Zuge in sich aufzunehmen suchen, so wird P. am besten in kleinen Dosen genossen, die Feder in der Hand; kein besseres Mittel, um den Denker würdigen zu lernen.

Weniger als die meisten Sprachforscher war P. Philolog; sein unermeßliches sprachliches Wissen beruhte mehr auf den Wörterbüchern und Grammatiken, als auf jenen Erfahrungen, die sich nur aus dem lebendigen Verkehre mit den fremden Idiomen schöpfen lassen. Den etymologischen Untersuchungen, die er nun einmal bevorzugte, that dies wohl nur selten Eintrag, es sei denn, daß ihn hin und wieder sein sonst so glänzendes Gedächtniß oder ein mangelhaftes Quellenmaterial täuschte. Seine Lieblingsideen, die Wurzelanalyse und die Lautsymbolik, haben noch wenig Anklang gefunden; doch das will in der jungen, schnelllebigen Wissenschaft wenig besagen; universelle Geister wie der seine kommen wohl stückweise zur Geltung im Wechsel der Geschlechter.

Pott’s Temperament war überwiegend sanguinisch; das zeigte sich in der Eigenart seiner Arbeiten und nicht minder in seiner äußeren Erscheinung und in seinen Gesprächen. Denen, die ihn persönlich gekannt, ist das Bild eines ideal schönen Greises geblieben, mit gewaltiger, prächtig durchgearbeiteter Denkerstirn, edelem Profile, hellen, leuchtenden Augen unter buschigen weißen Brauen. Das war ein immer sprechendes Gesicht, manchmal mit dem bezaubernden Ausdrucke kindlicher Schalkhaftigkeit. Rasche Bewegungen, schnelle, lebhaft betonte Rede, geistsprudelnd und springend ganz wie der Pott’sche Stil, ein augenblickliches unverhohlenes Entzücken über das Neue: Alles deutete auf einen Geist von erstaunlicher Beweglichkeit im Empfangen sowol wie im Reagiren und Erzeugen. Von der gemüthlichen Wärme und Frische des seltenen Mannes aber wissen Alle zu reden, die das Glück hatten, ihm freundschaftlich näher zu treten.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Moritz Lazarus (1824–1903), Philosoph, Professor in Bern und Berlin
  2. Friedrich Heinrich Hermann Techmer (1843–nach 1891), Privatdozent für allgem. Sprachwissenschaft in Leipzig.
  3. Friedrich Max Müller (1823–1900); Indologe, deutscher Sprach- und Religionswissenschaftler
  4. Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882); französischer Diplomat und Schriftsteller
  5. Carl Kalonymos Abel (1837–1906); deutscher Altphilologe, Journalist und Übersetzer
  6. Rasmus Christian Rask (1787–1832); bedeutender dänischer Indogermanist und Polyglott, er sprach 25 Sprachen und Dialekte, mehr als 50 hatte er studiert