ADB:Raumer, Rudolf von

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Raumer, Rudolf von“ von Elias von Steinmeyer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 423–429, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Raumer,_Rudolf_von&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 23:30 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Raumer, Karl von
Nächster>>>
Raupach, Bernhard
Band 27 (1888), S. 423–429 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Rudolf von Raumer in der Wikipedia
Rudolf von Raumer in Wikidata
GND-Nummer 118787969
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|27|423|429|Raumer, Rudolf von|Elias von Steinmeyer|ADB:Raumer, Rudolf von}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118787969}}    

Raumer: Rudolf Heinrich Georg v. R., deutscher Sprachforscher, wurde als der älteste Sohn Karl’s v. R. (s. den Art.) am 14. April 1815 zu Breslau geboren. Vorgebildet auf dem Nürnberger Gymnasium, später auf dem von Döderlein geleiteten zu Erlangen, bezog er 1832 die Universität dieser Stadt, um sich der classischen und der orientalischen Philologie zu widmen. Im Herbst 1834 übersiedelte er nach Göttingen. Dort setzte er unter Dissen, Ewald und O. Müller die bisher betriebenen Studien fort, hörte daneben aber auch bei Dahlmann historische Vorträge und ließ sich von den Brüdern Grimm, die seiner Familie durch langjährige Freundschaft verbunden waren, in die altgermanischen Sprachen einführen. Das Sommersemester 1836 endlich brachte er in München zu, angezogen durch Schelling’s Philosophie und in regem persönlichem Austausch mit Maßmann und Schmeller. Nachdem er während der nächsten Jahre theils im elterlichen Hause, theils bei seinem Schwager Heller in Kleinheubach privatisirt und am 12. Februar 1839 von der Erlanger philosophischen Facultät auf Grund einer verfassungsgeschichtlichen Dissertation: „De Servii Tullii censu“ die Doctorwürde in absentia erworben hatte, habilitirte er sich anfangs 1840 zu Erlangen und begann im folgenden Winter daselbst seine Lehrthätigkeit, welche nicht nur die germanischen Sprachen, sondern auch (bis 1864) die allgemeine und die deutsche Geschichte in ihren Bereich zog. [424] Obgleich der akademische Senat mehrfach seine Beförderung beantragte, wurde ihm ein Extraordinariat erst am 30. April 1846 zu Theil, als er auf eine Professur der mittleren und neueren Geschichte, welche ihm von Halle aus angeboten war, verzichtet hatte. 1847 vermählte er sich mit Marie Schröder aus Fürth. Dieser Ehe entsprangen acht Kinder von denen vier in zartem Alter starben. Weitere Rufe nach Basel und Prag lehnte R. ebenfalls ab; infolge dessen errichtete die Regierung eine ordentliche Professur der deutschen Sprache und Litteratur in Erlangen und übertrug ihm dieselbe mit Decret vom 4. April 1852. Diese Stelle bekleidete er bis an seinen Tod, welcher in den Morgenstunden des 30. August 1876, ohne daß eine Krankheit vorangegangen wäre, eintrat: eine Pancreasblutung hatte das plötzliche Ende herbeigeführt. Zwei Tage später fand unter allgemeinster Theilnahme das Begräbniß statt.

Schlicht und in sich geschlossen wie der äußere Lebenslauf war auch das Wesen des Mannes. Strenge Religiosität vereint mit patriotischem Sinne herrschte in seinem Vaterhause und wachte über seiner Jugend; derselbe Geist, welcher nach den Freiheitskriegen die deutsche Burschenschaft hervorrief und beseelte, erfüllte auch ihn zeitlebens. Die christlich-germanische Weltanschauung trieb ihn zur Wissenschaft, trieb ihn zur Schriftstellerei: an der Hand der Geschichte wollte er seine Fundamentalansichten prüfen und, wenn er sie bewährt erfunden, auch andere dafür gewinnen. Auf culturhistorische Resultate zielte er also ab. Aber die älteste Emanation des deutschen Geistes ist die deutsche Sprache: von ihrer Erkenntniß mußte ausgegangen werden. Sämmtliche germanische Mundarten unterscheiden sich von den stammverwandten indoeuropäischen Sprachen durch einen höchst merkwürdigen Wandel der stummen Consonanten; und ein ganz ähnlicher Unterschied des Consonantismus waltet wieder ob zwischen dem Hochdeutschen auf der einen Seite, den übrigen germanischen Dialekten auf der anderen. Die Gesetzmäßigkeit beider Vorgänge war von Jacob Grimm entdeckt und 1822 in der zweiten Auflage des ersten Bandes seiner „Deutschen Grammatik“ dargelegt worden; er hatte die erste Lautverschiebung, diejenige, welche den Consonantenstand aller germanischen Sprachen dem der verwandten gegenüber nach festen Regeln umänderte, gewissermaßen als den Geburtsact der deutschen Nationalität erwiesen. Indessen war damit doch nur eine Thatsache von weitreichender Bedeutung auf inductivem Wege über allen Zweifel erhoben worden, erklärt aber war sie nicht, obwohl ihre scheinbaren Widersprüche eine Lösung gebieterisch erheischten. Denn wie sollte man es sich vorstellen, daß innerhalb des gleichen Proceßes, welcher die Stummlaute verhärtete, d zu t und t zur Aspirata th verschob. die Aspirata th wiederum sich zur Media d erweichte? Hier setzte R. mit seiner Erstlingsschrift von 1837: „Die Aspiration und die Lautverschiebung“ ein. Während Grimm, höchst charakteristisch, die erste Hälfte seines Werkes, die Lautlehre, überschrieben hatte: „von den Buchstaben“, unterschied R. scharf zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache und gelangte mittelst eindringender Erörterungen zu den Sätzen: die deutsche Lautverschiebung beruht auf zwei sich ergänzenden, aber differenten Acten. Der erste besteht in dem Steigern der einfachen Stummlaute, der zweite in dem Absterben nachhallender Hauchlaute. Wo beide sich wechselseitig bedingen, da bleiben die Wörter geschieden, nie kann ein Laut den andern einholen. – Die zweite Lautverschiebung sonderte das Althochdeutsche von den übrigen germanischen Sprachen. Dies Althochdeutsche, das Idiom der Ahnen des heutigen deutschen Volkes, besitzt eine umfängliche Litteratur, welche fast ausnahmslos religiösen und Bildungszwecken dient und auf das engste mit der Christianisirung der hochdeutschen Stämme zusammenhängt. Durch das Christenthum entsteht erst eine deutsche Schriftsprache: es lag also nahe, die Frage nach [425] dem Einfluße aufzuwerfen, welchen die neue Lehre auf die Volkssprache ausgeübt habe. Mit ihr beschäftigte sich Raumer’s Werk: „Die Einwirkung des Christenthums auf die althochdeutsche Sprache“, Stuttgart 1845 (neue Titelausgabe Berlin 1851). Wurde hier festgestellt, daß der hochdeutsche Sprachschatz durch das christliche Element wesentlich bereichert worden sei, und anerkannt, daß die Verbindung, welche das deutsche Volk damals mit dem Christenthum eingegangen, sich nicht wieder werde zerreißen lassen, so verfolgte die Schrift „Vom deutschen Geiste. Drei Bücher geschichtlicher Ergebnisse“ (1848, 2. Aufl. 1850) den Zweck, ein etwaiges Mißverständniß zu beseitigen. In dieser unter dem Eindrucke der Debatten des Frankfurter Parlaments abgefaßten Broschüre, welche Raumer’s Sinnesart vielleicht am klarsten wiederspiegelt, wird nämlich auseinandergesetzt, daß die Deutschen keineswegs ihre ganze Cultur dem Christenthume verdanken, daß vielmehr eine Reihe ihrer vorzüglichsten Eigenschaften, ihre Vaterlandsliebe, ihre staatenbildende Kraft, ihr Sinn für Kunst und Wissenschaft aus einer unabhängigen Wurzel erwachsen seien, aus der altgermanischen Naturanlage. Aber erst die harmonische Vereinigung und gegenseitige Durchdringung beider Factoren habe die Nation zu ihrer welthistorischen Rolle befähigt, und nur sie verbürge ihre Zukunft. – In ein drittes Stadium tritt das deutsche Geistesleben mit der Reformation, und abermals geht dem geschichtlichen Einschnitte eine sprachliche Neuschöpfung zur Seite: denn die neuhochdeutsche Schriftsprache, deren erster Classiker Luther und deren hervorragendstes Denkmal seine Bibelübersetzung ist, setzt nicht direct die alt- und mittelhochdeutsche fort. Daher galten die nächsten Arbeiten Raumer’s der Revision der Bibelübersetzung, der richtigen Erkenntniß des Ursprungs und der Entwickelung der neuhochdeutschen Schriftsprache, endlich dem Mittel, durch welches sie, eben als eine Schriftsprache, allein tradirt wird und werden kann, dem deutschen Unterricht. Bei diesem kommt der Orthographie besondere Wichtigkeit zu. Aber die Principien der deutschen Rechtschreibung waren gerade in den fünfziger Jahren vielumstrittene. Die germanistischen Fachgelehrten, Jacob Grimm an der Spitze, nahmen an der Inconsequenz der Orthographie, an dem unnützen Ueberfluß von Consonanten und Vocalen, an den großen Anfangsbuchstaben Anstoß; aber sie wünschten zugleich thunlichst die Scheidewand zwischen Vergangenheit und Gegenwart entfernt und demgemäß die neuhochdeutsche Schreibung nach dem Lautbestande des Mittelhochdeutschen geregelt: sie verlangten also beispielsweise, daß Leffel (cochlear), Eräugnis, Küssen (pulvinar)[WS 1] geschrieben würde, daß ie und das dehnende h nur dort erhalten blieben, wo sie historisch berechtigt wären, d. h. wo das erstere einen Diphthongen, letzteres den gutturalen Spiranten ursprünglich repräsentirte. Ein begabter Anhänger dieser Richtung, Karl Weinhold in Graz, erwarb sich das Verdienst, die Vorschläge und Wünsche der historischen Schule gemeinverständlich zusammenzufassen; sie gipfelten in der Regel: „schreibe, wie es die geschichtliche Fortentwickelung des neuhochdeutschen verlangt“. Sein Aufsatz, im Jahrgang 1852 der Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien abgedruckt, rief den Widerspruch Raumer’s hervor. In einer Folge von Abhandlungen und Recensionen wies er aufs bündigste nach, daß von jeher der Grundcharakter unserer Schrift ein phonetischer, kein historischer gewesen sei und daß der Cardinalsatz der deutschen Rechtschreibung laute: „bringe deine Aussprache mit der Schrift in Einklang“. Gleichzeitig legte er dar, daß jene angeblich historische Orthographie thatsächlich eine unhistorische genannt werden müsse, weil sie das Wesen der neuhochdeutschen Sprache verkenne und nicht nur das Zeichen, sondern auch den Laut und die Aussprache ändern wolle. Der Einsicht, daß unsere Schreibung besserungsbedürftig sei, verschloß er sich nicht im mindesten, aber er empfahl vorsichtigen Fortschritt auf [426] der bisher innegehaltenen Bahn. Raumer’s Ansichten verschafften sich allmählich in immer weiteren Kreisen Beifall und fanden auch Eingang in die Praxis. Als daher das preußische Cultusministerium im Einvernehmen mit den Regierungen der anderen deutschen Bundesstaaten eine einheitliche Regelung der Orthographie anstrebte, bildete ein in seinem Auftrage durch R. ausgearbeiteter Entwurf die Basis für die Berathungen der sogenannten orthographischen Conferenz, welche im Januar 1876 zu Berlin tagte. Sie bestand aus einer Reihe von Gelehrten und Schulmännern, die den Grundsätzen Raumer’s nicht principiell feindlich gesinnt waren; je ein Vertreter des Buchhandels und des Druckergewerbes gesellte sich ihnen bei. Obwohl auf diesem Wege kein Resultat erzielt wurde, welches alle Parteien befriedigt hätte, geschweige denn ein solches, das für den Schulunterricht anwendbar gewesen wäre – denn vielfach hatten in wichtigen Fragen zufällige Majoritäten entschieden –, so bahnte doch die Conferenz bessere Verhältnisse an: 1879 erschien in Baiern, 1880 in Preußen von Amtswegen ein orthographisches Regelbuch, beide fußend auf Raumer’s Entwurf und nur in Nebendingen von einander abweichend. Heute haben so ziemlich alle deutschen Staaten Raumer’s Principien adoptirt. – Als die historische Commission bei der Münchener Akademie für das von ihr herausgegebene Unternehmen: „Geschichte der Wissenschaften in Deutschland“ Umschau hielt nach einem Bearbeiter der Geschichte der deutschen Philologie, konnte unter den Lebenden ihr Niemand zu dieser Aufgabe geschickter erscheinen als R. Denn kein anderer hatte sich gleich ihm mit allen Perioden unserer Sprachgeschichte erfolgreich beschäftigt, und keiner besaß in dem Grade wie er die erforderlichen Vorkenntnisse. Bereitwillig unterzog er sich dem Auftrage; Ende 1870 kam sein Werk heraus. – Die Sammlung seiner sprachwissenschaftlichen Aufsätze, welche er 1863 veranstaltete, hatte R. angespornt, das Problem der Lautverschiebung neuerdings zu durchdenken. Dabei glaubte er entdeckt zu haben, daß ein analoger Consonantenwechsel auch zwischen den semitischen und den indoeuropäischen Sprachen gesetzmäßig stattfinde, in der Weise, daß die semitische Media durch eine indoeuropäische Tenuis reflectirt werde. Hieraus sowol wie auf Grund der Annahme, daß das semitische Futurum ähnlich dem indoeuropäischen aus der Composition der Wurzel mit einem Verbalstamm, welcher „sein“ bedeute, hervorgegangen sei, schloß er auf die einstmalige Existenz einer arisch-semitischen Ursprache. An dieser Hypothese hat er, trotzdem sie weder bei den Semitisten noch bei den occidentalischen Sprachforschern Beifall erntete, bis zu seinem Tode mit zäher Beharrlichkeit festgehalten und ihrer Vertheidigung nach und nach ein volles halbes Dutzend kleiner Streitschriften gewidmet.

Der einheitliche Ursprung und innere Zusammenhang der litterarischen Wirksamkeit Raumer’s erklärt auch ihre äußere Form. Nicht um ihrer selbst willen betrieb er wissenschaftliche Studien, sondern damit sie dem Leben dienten. Die Wege, welche das deutsche Volk in der Vergangenheit eingeschlagen hatte, in der Gegenwart einzuschlagen sich anschickte, sollten auf ihre historische Berechtigung hin geprüft werden. Daher wandte er sich weit weniger an das fachmännische Publicum als an die breite Masse der Gebildeten. Indem er aber popularisirende Tendenzen verfolgte, mußte er auch populär schreiben. Das verstand er im allgemeinen vortrefflich. Sein Styl war correct, flüssig und ohne jede Manier, sein Ausdruck klar und unzweideutig: stets ängstlich darauf bedacht, Mißverständnissen vorzubeugen, hat er fast alle seine Arbeiten, größere wie kleinere, in Capitel und Paragraphen eingetheilt, damit der Gedankengang übersichtlich hervorträte und die Schlüsse auch äußerlich in wahrnehmbarem Bezug zu ihren Prämissen stünden, und sie mit verdeutlichenden oder einschränkenden Noten begleitet. Freilich den Klippen, welche jedem Gelehrten drohen, der zum [427] großen Publicum redet, daß er nämlich entweder zu viel oder zu wenig voraussetzt und demgemäß bald zu knapp, bald zu weitläufig sich ausdrückt, hat auch er nicht zu entgehen vermocht. Während es zur Zeit der leidige Stolz vieler namhaften Gelehrten ist, in precieusen, anspielungsreichen Aussprüchen, deren Werth und Zweck den meisten Lesern verhüllt bleibt, zu glänzen, setzte R. bei seinen Deductionen höchstens den Bildungsgrad voraus, welchen der Besuch eines Gymnasiums zu verleihen pflegt. Durchweg beginnt er seine Erörterungen ab ovo, entwickelt bekannte oder selbstverständliche Dinge ausführlich, wiederholt oder resumirt, was er früher über den Gegenstand vorgebracht hat: von dem Vorwurfe der Breite läßt sich somit seine Darstellungsweise nicht freisprechen. Allerdings hat diese Weitschweifigkeit noch eine andere Ursache. Raumer’s Einzelansichten flossen mit strenger Folgerichtigkeit aus seiner Grundanschauung über Wesen und Mission des deutschen Volkes. Veröffentlichte er eine Arbeit, was niemals voreilig geschah, so war sie stets so fertig und abgeschlossen, daß er nichts mehr hinzuzufügen oder fortzunehmen hatte. Als er im Jahre 1863, gleichsam zum 25jährigen Jubiläum seiner schriftstellerischen Thätigkeit, seine sprachwissenschaftlichen Aufsätze zusammenstellte, konnte er dieselben, sporadische und unerhebliche Nachträge abgerechnet, unverändert in der Gestalt wieder vorlegen, welche sie bei ihrem erstmaligen Erscheinen besessen hatten: sicherlich ein Beweis dafür, daß die ursprünglichen Fassungen nach wie vor ihm genügten. Wenn daher R. die Forschungen über die deutsche Orthographie, über die Natur der Aspiraten, über die semitisch-arische Sprachgemeinschaft zu verschiedenen Zeiten wieder aufnahm, so that er das nicht, weil er neues von Belang zu sagen hatte, sondern weil er Einwürfe, die ihm gemacht waren, widerlegen, weil er falschen Interpretationen seiner Worte begegnen, kurz weil er seinen Standpunkt wahren wollte. Naturgemäß blieb dann der Inhalt der alte, nur das äußere Kleid wechselte. Hält man hierzu, daß R. so ziemlich alle seine kleineren Schriften zweimal hat drucken lassen, zuerst einzeln, dann gesammelt theils in den „Deutschen Versuchen“ (1861), theils in den „Sprachwissenschaftlichen Abhandlungen“, so begreift es sich, daß die Summe der von ihm ausgegangenen neuen Gedanken in keinem Verhältniß zu der Bogenzahl seiner Publicationen steht. Fruchtbringend hat sich erstlich sein Buch über Aspiration und Lautverschiebung, zweifellos das hervorragendste Erzeugniß seiner Feder, erwiesen: ist auch die Lösung des Problems, welche R. vorschlug, seit Scherer’s epochemachendem Werke: „Zur Geschichte der deutschen Sprache“ hinfällig geworden, so bezeichnet doch der hier zum ersten Male scharf formulirte Unterschied zwischen Spirans und Aspirata einen sicheren Gewinn, die Trennung der gesprochenen von der geschriebenen Sprache und der Gebrauch der Physiologie zum Behufe intimen Verständnisses lautlicher Vorgänge einen dauernd wirksamen Fortschritt für die Wissenschaft. Das andere wesentliche Verdienst Raumer’s besteht darin, daß er die Discussion der orthographischen Frage in rationielle Bahnen gelenkt und die Erkenntniß des Ursprungs der neuhochdeutschen Schriftsprache sowol berichtigt als vertieft hat. In der Hauptsache übten also unter seinen Arbeiten nur die, welche in den „Gesammelten sprachwissenschaftlichen Abhandlungen“ vereinigt vorliegen, einen positiv fördernden Einfluß aus.

Es fällt nicht schwer, das zu erklären. R. war Culturhistoriker, speciell culturhistorischer Sprachforscher, aber er war kein Philologe. Dem Philologen steht überall die Litteratur im Mittelpunkte des Interesses, in ihr erblickt er den vollendetsten Spiegel des Volkslebens; Religion, Sprache, Kunst, Verfassung kommen für ihn nur soweit in Betracht, als sie dem allseitigen Verständniß der Litteraturdenkmäler zu dienen vermögen. Der Philologe hat es immer mit dem Individuellen zu thun, mit dem Allgemeinen nur insofern, als dasselbe den [428] nothwendigen Hintergrund bildet, von welchem das Einzelwesen sich abhebt. Vergangene Existenzen, vergangene Zustände will er reproduciren: zu dem Ende muß er absoluter Objectivität sich befleißigen. Von jeder persönlichen Voreingenommenheit für oder wider abstrahiren und die Dinge ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit ihrer Consequenzen treu beobachten. Bei R. hing aber, wie oben auseinandergesetzt wurde, Wissenschaft und Leben viel zu eng zusammen, sein Denken und Trachten gehörte viel zu sehr der unmittelbaren Gegenwart, als daß er Philologe hätte sein können. Niemals hat er denn auch ein Probestück specifisch philologischer Natur geliefert, und es ist recht significant, daß er zwar die Geschichte der neuesten deutschen Litteratur seit Lessing häufig, zeitweise Jahr für Jahr, in akademischen Vorträgen behandelte, hingegen nur ein einziges Mal zu Anfang seiner Docentenlaufbahn über ältere deutsche Litteraturgeschichte las. Darum stehen diejenigen seiner Schriften, welche das rein philologische Gebiet näher berühren, diejenigen, bei welchen es auf individuelle Charakteristik, auf scharfe Kritik ankam, entschieden hinter den allgemein sprachwissenschaftlichen zurück. Dies Urtheil gilt namentlich dem in theologischen Kreisen maßlos gerühmten Werke über die Einwirkung des Christenthums. Denn seine beiden ersten Capitel, die ausschließlich aus der Vorrede zu Graff’s Sprachschatz geschöpfte Uebersicht der althochdeutschen Denkmäler und der Abriß der Bekehrungsgeschichte der deutschen Stämme, erheben sich nirgends über den Stand damaligen Wissens, und sein drittes Capitel, das Verzeichniß der christlichen Termini der althochdeutschen Sprache, bietet nur eine mechanische, äußerliche und gleichfalls ganz von Graff abhängige Zusammenstellung ohne höhere Gesichtspunkte und ohne Kritik im Detail. Der Grundfehler des Buches, welcher freilich durch dessen früher erörterte Genesis bedingt war, liegt in der Beschränkung auf das Althochdeutsche: vielmehr hätten die übrigen germanischen Sprachen in den Plan einbezogen werden müssen. Auf vergleichendem Wege würde sich eine Chronologie der christlichen Nomenclatur bei den Germanen haben feststellen lassen, welche noch immer fehlt und welche die von R. kaum gewürdigten Verdienste der angelsächsischen Glaubensboten in helles Licht zu setzen verspräche. Wenn R. sein Buch sowol auf dem Titel als auch in der 1852 ihm nachgesandten Rechtfertigungschrift ausdrücklich einen „Beitrag zur Geschichte der deutschen Kirche“ nannte, so geht daraus zwar hervor, daß er es nicht als eine philologische Leistung angesehen wissen wollte; um so mehr fällt aber auf, daß er trotzdem später im 6. Bande der Zeitschrift für deutsches Alterthum einige wenige gothische Worte solcher comparativen Betrachtungsweise zu unterwerfen versuchte. Nicht minder läßt vielfach die „Geschichte der deutschen Philologie“ die nöthige Kritik vermissen: statt scharfer Umrisse und prägnanter Charakteristiken begnügt sie sich nicht selten mit breitspurigen, ermüdenden Excerpten oder trockenen Namenlisten, und häufig beschleicht den Leser der Verdacht, daß er mehr das Resultat der Empfindungen als der Untersuchungen des Autors vor sich habe. Entwirft auch das Buch von dem Werdegange der Disciplin ein Bild, dessen Hauptzüge kaum erheblich in Zukunft sich modificiren dürften, und bietet es ein brauchbares Fachwerk dar, in welches der weitere Zuwachs des Wissens bequem eingeordnet werden kann, so ist auf der anderen Seite zu berücksichtigen, daß gerade diese Hauptzüge bereits 1865 von Scherer in seinen Essays über Jacob Grimm gezeichnet worden waren.

Zu den Philologen zählte also R. nicht. Er fand deßhalb keinen Anlaß, sich in die philologischen Kämpfe einzumischen, welche während der fünfziger und sechziger Jahre die Vertreter der Germanistik in zwei feindliche Lager sonderten. Weil er aber keiner Partei sich anschloß noch anzuschließen brauchte, erfreute er sich bei jeder hohen Ansehens und blieb von dem Lärm des Streites [429] unbehelligt. Indessen, wäre er auch an den Fehdeobjecten intensiver interessirt gewesen, so würde ihn die animose persönliche Polemik, welche mehr und mehr die Oberhand über fachliche Discussion gewann, von activem Eingreifen abgehalten haben. Denn in allen seinen Aufsätzen und Recensionen herrscht ein höchst urbaner Ton und selbst heftiger Opposition gegenüber stets leidenschaftslose Besonnenheit. Die ernste Ruhe, die große Klarheit und nachsichtige Milde des Urtheils, welche ihn jeder Zeit auszeichneten, ließen ihn der Körperschaft, deren Mitglied er war, besonders werthvoll erscheinen: zweimal (1858 u. 1866) wählte ihn die Hochschule Erlangen zu ihrem Prorector, und fast ununterbrochen betraute sie ihn mit der Sorge für ihre Verwaltungsgeschäfte. Auch um das Gedeihen des Germanischen Museums in Nürnberg hat er sich hochverdient gemacht.

Gedächtnißrede für Herrn Dr. Rudolf v. R., gehalten am 16. December 1876 im Auftrag des Kgl. akademischen Senats von Dr. Carl Heyder, Erlangen 1877 (im Anhange ein fast vollständiges Schriftenverzeichniß). – Acten der Universität Erlangen.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Löffel, Ereignis, Kissen.