ADB:Reuter, Paul Julius Freiherr von

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Artikel „Reuter, Paul Julius Freiherr von“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 319–321, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reuter,_Paul_Julius_Freiherr_von&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 10:26 Uhr UTC)
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Reuter: Paul Julius Freiherr von R., journalistisch-industrieller Unternehmer, wurde am 21. Juli 1816 (unrichtig das übliche 1821) zu Kassel aus israelitischer Familie (Josaphat) geboren. 13jährig, trat er in der Geburtsstadt ins Geschäft seines Oheims, vor 1833 als Lehrling in ein Bankhaus zu Göttingen, endlich 1847 in eine Buchhandlung in Berlin. Früh beschäftigten ihn elektrische Experimente, und er sah rasch die culturelle Bedeutung des Telegraphen ein, dessen genauere Kenntniß ihm sein Verkehr mit dem großen Mathematiker K. Fr. Gauß in Göttingen brachte. Das nöthige Capital scheint R. durch die Heirath mit Ida, Tochter von S. M. Magnus in Berlin, erlangt zu haben (1845). Als trotzdem in Berlin seine Verhältnisse nicht vorwärts wollten, legten ihm die Ereignisse von 1848 den Gedanken nahe, so oder so der General- und Oberreporter der Weltpresse zu werden. Als nun 1849, da R. eben in Paris eine lithographirte Nachrichten-Correspondenz begründet hatte, die erste Berliner Drahtleitung bis Aachen zu arbeiten begann und die preußische Regierung diese Linie für den Privatverkehr freigab, faßte er in Aachen Posto und richtete von da, um die Pariser und Londoner Neuigkeiten sofort zu erhalten, eine Brieftaubenpost bis Brüssel ein, in letzterer Stadt selbst aber ein Nachrichtenbureau, um den Zwecken des Transitgeschäfts, des Bankverkehrs und der Zeitungen unter die Arme zu greifen. So kam er gar bald als Vermittler neuester Nachrichten mit hervorragendsten Tagesblättern und Banken, zunächst Deutschlands und Belgiens, in Verbindung. „Da überall Anschlüsse geschaffen werden mußten, war die damalige Organisation ein verzwicktes Ding. An den Zwischenstationen warteten Couriere auf die Depeschen; Extraposten nahmen Meldungen entgegen und brachten sie nach den entferntesten Gegenden. So entstand die gewaltige Organisation, deren Zweige heute über die ganze Erde sich erstrecken.“ Mit der folgenden schnellen Ausdehnung des Telegraphennetzes verlegte R. den Sitz seines Telegraphenbureaus nach dem nahen Verviers, dann nach Quiévrain, der Grenzstation der Brüssel-Pariser Eisenbahn. Nach der Anlage des Canalkabels von Calais nach Dover 1851 setzte sich R. mit seinem Unternehmen für immer in London fest, dessen centrale Wichtigkeit als Welthandelsplatz für seine Absichten ihm einleuchtete und sich glänzend bewähren sollte. Anfangs besorgte er die von allen Hauptpunkten des Festlandes beschafften [320] commerciellen und finanzellen Neuigkeiten bloß für Kaufleute und höchstens den einzelnen Journalisten. Nach einiger Zeit freilich entschloß sich R., nach erfolglosen Anerbietungen an die Londoner Redactionen, ihnen einen Monat die einlaufenden Depeschen gratis zu liefern. Telegrammüberraschungen hielt man nämlich damals meist für Schwindel und scheute auch den gleichen Wortlaut mit Concurrenzjournalen. Da sich eine dortige Zeitung nach der andern von der Richtigkeit der übermittelten Vorfälle überzeugte, traten sie allmählich fast sämmtlich in ein festes Verhältniß zu ihm, und als seit 1858 die meisten Londoner Morgenblätter seine Nachttelegramme vom Continent ohne Controlle einrückten, war Reuter’s politischer Einfluß besiegelt. Nun dehnte er seine Verbindungen reißend nach allen Richtungen aus und ward binnen kurzem fast der alleinige Versorger aller großen Zeitungen und Creditanstalten mit den jüngsten Nachrichteneinläufen. Das machte er möglich, indem er in aller Herren Länder Filialen errichtete, eigene Drahtlinien und Courierdienste schuf. Solche Zweigbureaues begründete R. nun in Belgien, den Niederlanden, Ostindien, Aegypten, China, den Küstenplätzen Afrikas, Canada und der Union, Westindien, Südamerika.

Den obersten Rang des Vertrauens erklomm Reuter’s Institut, als es, so zuerst 1859 nach Oberitalien (Napoleon III. war mit zuerst für sein Unternehmen gewonnen), wo sogar das stolze leitende Cityblatt Times sich gänzlich darauf verließ, Specialberichterstatter auf Kriegsschauplätze entsandte, die laufende Tagesdepeschen an das Londoner Hauptcontor einliefern mußten. R. scheute aber auch kein Opfer, seinen Nachrichtendienst zu verbessern. Während des nordamerikanischen Bürgerkriegs unterhielt er z. B. eine eigene Telegraphenlinie von Cork auf Irland nach Crookhaven. Damals bewies ein gelegentliches persönliches Nachhelfen seine Findigkeit. Als nämlich am 14. April 1865 in New York die Ermordung des Präsidenten Abraham Lincoln bekannt wurde, hatte der Postdampfer nach Europa gerade den Hafen verlassen. R. nicht faul, charterte flugs einen kleinen Schnelldampfer, schrieb auf diesem seinen Bericht und warf diesen, in eine Blechbüchse verpackt, an Bord des verfolgten Europafahrers, als er diesen erreichte; so ersetzte er das erst 1866 durch Field durchgeführte transatlantische Kabel in einem besonderen Falle durch Augenblicksenergie. Ebenfalls 1865, in demselben Jahre wie Wolff’s 1859 gegründete „Telegraphen-Agentur“ in Berlin, wurde das Institut in eine Actiengesellschaft, „Reuter’s Telegram Company (R. T. C.)“, umgewandelt, an deren Spitze nun schon seit Jahren Reuter’s ältester Sohn, Baron Herbert v. R., steht. Desgleichen 1865 ermächtigte der König von Hannover R., zwischen der Küste seines Landes und der englischen ein unterseeisches Kabel zu legen, und die preußische Regierung bestätigte nach der Occupation Hannovers diese ungemein einschneidende Genehmigung und nahm selbst die Weiterführung dieser Linie bis zur russischen Grenze auf sich. Wie „Reuter’s Bureau“ (so die übliche deutsche Bezeichnung) 1869 das erste oceanische Kabel zwischen Frankreich und Nordamerika legte, so ergänzte der überall einspringende Mann in Ostindien und China telegraphische Lücken, führte z. B. dort im fernen Morgenlande auch einen Courierdienst von Peking nach dem Handelsmittelpunkte Kiachta, dem Ziele des russischen Telegraphen nach Centralasien und Sibirien, ein: man denke, viertehalb Jahrzehnte vor dem russisch-japanischen Kriege! Ja, im J. 1872 bewilligte ihm der Schah von Persien das ausschließliche Recht, Eisenbahnen zu bauen, der Zollpacht und der Controlle der natürlichen Hülfsquellen des Landes; doch tauschte R. diese erstaunliche Gerechtsame gegen die Erlaubniß, die Persische Bank ins Leben zu rufen, ein. Den Schöpfer des längst den ganzen Erdball wie ein Gewebe umspannenden großartigen Instituts [321] erhob 1871, wohl auf englischen Antrieb, Herzog Ernst II. von Coburg-Gotha in den erblichen Freiherrenstand. Nachdem sich der Chef des Weltgeschäfts von der Leitung schon länger zurückgezogen, starb er am 25. Februar 1899 zu Nizza.

Längst versorgte „Reuter’s Telegraphen-Bureau“ in Großbritannien und Irland sammt allen englischen Colonien die gesammte Presse und zahllose Privatpersonen mit den Erdneuigkeiten, hingegen umgekehrt den Continent durch die tägliche „Allgemeine Correspondenz“ mit Nachrichten aus dem weiten britischen Weltreiche. Das Riesenunternehmen befaßte sich, wie die ältere französische Agence Havas, die erst 1879 Actiengesellschaft wurde, theilweise schon vorher, auch mit Annoncen, Reclamen, Commission, Agentur, Auskünften, Bankwesen, Export, Colonisation, Uebersetzen, Verlagsbuchhandel. In der Hauptsache aber widmete es sich, getreu den Gründungsintentionen seines Vaters, der eigentlichen Vermittlung actueller Nachrichten. „Reuter’s Bureau hat auch heute noch eine Art von Monopol für die Verbreitung von Zeitungsdepeschen, und jedenfalls ist der Theil, womit das Unternehmen begann, der Handelstheil, noch immer gut. Beschwerden sind namentlich in der deutschen Presse häufig wegen der politischen Nachrichten entstanden, die oft an einer auffälligen Einseitigkeit litten.“ Diese letztere kennzeichnete sich neuerdings meist als englisch-tendenziöse Färbung (mit dem 20. Jahrhundert etwas abgeblaßt) und brachte bis zur Gegenwart britisches Interesse streifende Angaben, die mit „Reuter-Meldung“ oder „Reuter kabelt“ eingeleitet sind, etwas in Mißcredit. Hatte übrigens R. selbst den Deutschen äußerlich ziemlich abgestreift, so war er doch nie zum Engländer geworden und so hat ihm denn auch die umfängliche „National Biography“ kein Plätzchen neben seinem Namensvetter aus dem 17. Jahrhundert eingeräumt, während O. Weise am Ende seiner hübschen Notizen über das Bedeutsame und fast Revolutionäre des Reuter-Systems („Schrift- und Buchwesen in alter und neuer Zeit“, 1899, S. 88, 2. Aufl., 1903, S. 83) ausruft: „So hatte sich ein ‚blinder Hesse‘ einmal als sehr weitsichtiger Mann gezeigt.“

Die kenntlich gemachten Sätze oben aus einem Londoner Nekrologe (nur darin Geburtsjahr 1816!) in den „Münchener Neuest. Nachr.“ Nr. 101, 2. März 1899, S. 2, wie in meiner Skizze im Biograph. Jhrbch. u. Dtsch. Nekrolog IV, 241 f., die hier zu Grunde liegt. Jahresdaten und Entwicklung liefert Meyer’s Conversationslexikon5, XIV (1896), S. 679, großentheils wörtlich im Artikel der Grande Encyclopédie, 28. Bd. (1900), S. 525 f., wo falsch hehauptet wird, Reuter’s Bureau habe die Entwicklung der Agence Havas „suivi parallèlement“. Knapper Brockhaus’ Conversationslex.14 XIII, 804, Jubiläumsausg. XIII (1903) 812. Meyer’s und Brockhaus’ Notizen bei Reuter’s Tode kritiklos in die meisten Tagesblätter übergegangen. Die oben eingeflochtene Mittheilung über R. in Persien ist nur in dem kurzen Artikel über ihn in The Encyclopedia Americana, Bd. XIII, s. v., belegt. Vgl. auch Ad. Kohut, Berühmte israelit. Männer und Frauen II (1900), S. 395. Wirkliche Aufklärung über Reuter’s israelitische Herkunft als Sohn des (1829 †) provisorischen Rabbiners zu Kassel, Josaphat, sowie Feststellung seines eigenen Knaben- und Jünglingsnamens Israel Beer Josaphat (Reuter nannte er sich erst seit der – wohl in Berlin vollzogenen – Taufe) lieferte erst ein (durch Dr. Erich Ebstein vermittelter) Auszug aus dem (1832er) Seelenregister der israelitischen Cultusgemeinde zu Kassel im Februar 1907. Vgl. „Das Neue Blatt“, 36. Jhrg. (1905), 47 S. 752; G. Karpeles i. d. Wiener „Zeit“ Nr. 314 (1903), danach „Liter. Echo“ V, 1698.