ADB:Schulze-Delitzsch, Hermann

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Artikel „Schulze, Hermann, genannt Schulze-Delitzsch“ von Karl Theodor von Eheberg in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 33 (1891), S. 18–29, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schulze-Delitzsch,_Hermann&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 05:39 Uhr UTC)
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Schulze: Franz Hermann S., genannt Schulze-Delitzsch, ist geboren am 29. August 1808 in Delitzsch, einer kleinen ehemals königlich sächsischen Stadt, die 1814 an Preußen fiel und eine der Kreisstädte der Provinz Sachsen wurde, † am 29. April 1883. Die Verbindung des Namens S. mit dem Orte Delitzsch stammt aus dem Jahre 1848, als S. von seinen Mitbürgern in Delitzsch als Abgeordneter zur Nationalversammlung gewählt worden war und dort mit mehreren Namenscollegen zusammensaß. Diese Namensverbindung erhielt sich auch, nachdem S. längst von Delitzsch weggezogen und Vertreter anderer Wahlkreise geworden war.

[19] Der Vater Schulze’s war ebenso wie eine Reihe seiner Vorfahren Bürgermeister und Richter in Delitzsch und blieb dies auch unter der preußischen Regierung. Er erfreute sich allgemeiner Beliebtheit und eines wohlgeordneten behäbigen Hauswesens. Von besonderem Einfluß auf Hermann S. scheint sein Großvater von mütterlicher Seite, Karl Gottlob Schmorl, gewesen zu sein, der kgl. sächsischer Generalaccise-Inspector und Stadtschreiber in der Stadt Prettin bei Torgau und später, als diese Stadt an Preußen kam, daselbst Justizcommissar und Notar war. Schmorl hatte schon im J. 1793, als er von seinem Wohnort als Abgeordneter in den Landtag nach Dresden geschickt wurde, wegen der Energie und Freimüthigkeit, mit der er die Schäden des Landes aufzudecken suchte, von sich reden gemacht. Vielfache Anregungen empfing S. in seinem Vaterhaus, in welchem Bildung, Gastlichkeit, Freude an der Musik herrschten. Das erzeugte in dem Knaben neben Frohsinn und Jugendlust und der Neigung zu Kunst und Poesie auch den ernsten Sinn zur Arbeit.

Im 13. Lebensjahre kam S. nach Leipzig in die Nicolaischule, um sich hier zum Uebertritt an die Universität vorzubereiten. Dann studirte er zwei Jahre an der Universität Leipzig und seit Ostern 1829 in Halle, vernachlässigte übrigens über dem Studium der Jurisprudenz und anderer Fächer die körperlichen Uebungen nicht, sondern war als flotter Corpsstudent auch im Fechten und Reiten wohlerfahren. Im J. 1830 machte er sein erstes juristisches Examen beim Oberlandesgericht zu Naumburg, wurde Auscultator und trat als solcher beim Landgericht in Torgau ein. Hier genügte er auch als einjährig Freiwilliger im 20. Linieninfanterieregiment der allgemeinen Wehrpflicht. Im J. 1833 bestand er bereits sein zweites Examen in Naumburg und bereitete sich ebenda nach vorübergehender Beschäftigung in Wittenberg während der Jahre 1834/35 zum dritten Examen vor. Auch der längere Aufenthalt in Naumburg mit seiner hübschen landschaftlichen Umgebung und seinem gesellschaftlichen und geistig anregenden Leben war zweifelsohne von Einfluß auf seine Neigungen und Bestrebungen.

Die schwere Erkrankung des inzwischen zum Justizrath ernannten Vaters rief den Sohn zur Stellvertretung desselben nach Delitzsch. Dort längere Zeit als Patrimonialrichter thätig, in einer halb verwaltenden, halb richterlichen Thätigkeit, hatte er Gelegenheit, sich in allen Zweigen des Rechts und der Verwaltung auszubilden und die Bedürfnisse und Regungen breiter Volksschichten, namentlich des kleinbürgerlichen Standes, kennen zu lernen. Im J. 1837/38 machte er das dritte Examen und erhielt das Patent als Oberlandesgerichtsassessor. Diese Jahre der Arbeit hatten ihm aber doch so viel Muße gelassen, daß er auch seinen poetischen Neigungen entgegen zu kommen und Ausdruck zu geben vermochte: im J. 1838 erschien bei Brockhaus in Leipzig sein „Wanderbuch, ein Gedicht in Scenen und Liedern“, leichtflüssige Strophen, nicht ohne wirklich dichterisches Empfinden. Das Jahr 1840 trifft ihn wieder in Delitzsch, wo er zunächst die Patrimonialgerichtsstelle des Justitiar Hildebrandt verweste und seit dessen Tode 1841 definitiv übernahm. Die nunmehr gesicherte Stellung gestattete ihm, seine Reiselust und seine künstlerischen Anlagen zu befriedigen. So reiste er 1841 nach Tirol und Salzburg, 1842 zu längerem Aufenthalt nach München, wo er viel in Künstlerkreisen verkehrte, 1843 nach Schweden und Norwegen, 1844 nach Italien. Seine Tagebücher beweisen, freilich in etwas überschwänglicher Form, mit welchem Genuß er zu reisen verstand.

Von der letzten Reise in die Heimath zurückgekehrt, erfüllte ihn der Hauch der politischen Regungen, die um das Jahr 1845 sich zu verstärken begannen. Daß ihn schon damals die wirthschaftlichen Fragen beschäftigten, beweist seine energische und nützliche Thätigkeit, um die durch schlechte Ernteverhältnisse allenthalben [20] ausgebrochene Noth in seinem Wohnorte zu mildern. Es ist bekannt, wie die freiheitliche Bewegung in den 40er Jahren sich im Vereinsleben, namentlich in Turn- und Gesangvereinen, Luft machte; auch in Delitzsch bot ein von S. mitbegründeter und geleiteter Gesangverein die Gelegenheit, um Gefühle und Bestrebungen zum Ausdruck zu bringen, für welche eine andere Gelegenheit nicht vorhanden war. Die in weiten Kreisen des Volkes aufdämmernde, von den Führern eifrig geschürte Bewegung war bekanntlich vermehrt worden durch die Erfolglosigkeit des vereinigten Landtages von 1847. Sie führte zur Wahl solcher Männer, von welchen man annehmen konnte, daß sie dieser Bewegung ausdrucksvolle Worte leihen würden. Und so wurde auch S., der lange schon in diesem Sinne thätig war, im Wahlkreis Delitzsch zum Vertreter in die preußische Nationalversammlung gewählt. So trat er mit seinem 40. Jahre aus dem engen landstädtischen Leben in das größere parlamentarische ein. Ebenso nahm er, als im November 1848 die octroyirte Verfassung gegeben war, einen Sitz in der zweiten Kammer ein. Hier wie dort trat er auch auf Seite der Linken entschieden als Redner auf, hier in einer Rede zu gunsten der Annahme der deutschen Kaiserkrone durch Preußen, dort als Befürworter der Steuerverweigerung.

Als dann am 2. Januar 1849 die alte Patrimonialgerichtsbarkeit in Preußen aufgehoben wurde, wurde S. von seiner Stelle entsetzt, ohne sogleich eine andere Richterstelle zu erhalten, da gegen ihn und 41 Genossen des Landtags wegen der von ihnen ausgesprochenen Steuerverweigerung ein Proceß vor dem Geschworenengericht anhängig war. Nachdem dieser zu Gunsten der Angeklagten ausgegangen war, wurde er 1850 als Kreisrichter nach der kleinen Stadt Wreschen in der Provinz Posen versetzt, was wohl richtig als eine Strafversetzung aufgefaßt worden ist. Aber es kam bald zu einem Conflict zwischen ihm und der höchsten Justizbehörde. Im J. 1851 sollte ihm auf Weisung des Justizministers Simons der Urlaub nur unter der Bedingung ertheilt werden, daß er nicht nach Delitzsch sich begebe, weil man dort lärmende Kundgebungen befürchtete. Als er nun doch nach Delitzsch reiste und dafür durch Abzug eines Monatsgehaltes disciplinär gestraft werden sollte, forderte und erhielt er seinen Abschied. Im October 1851 siedelte er wieder nach Delitzsch über und lebte theils von den Zinsen des Vermögens, das seine Frau eingebracht hatte, theils von dem, was er durch Rechtsgutachten u. s. w. verdiente.

Hier entstand nun zunächst im Stillen und in bescheidenen Anfängen jene Thätigkeit, welche den dauernden Ruhm Schulze’s begründete. Das Problem der socialen Frage, welches damals die Gemüther zu bewegen begann, suchte er durch auf Selbsthilfe gegründete Vereine zu lösen. Unzweifelhaft anknüpfend an englische Vorbilder, zum Theil vielleicht an vereinzelte Anläufe, die da und dort in Deutschland gemacht worden waren, setzte er den Gedanken der Association ins Leben.

Bereits im Sommer 1849 war unter seiner Leitung eine Kranken- und Sterbecasse und die Rohstoffassociation der Schuhmacher in Delitzsch entstanden, 1850 folgte der erste Vorschußverein. In demselben Jahre erschien auch seine Schrift „Mittheilung über gewerbliche und Arbeiterassociationen“ (Leipzig, Keil, 1850). Allein er erkannte auch, daß nur das Einsetzen der Persönlichkeit und die rein persönliche Einwirkung auf einen zunächst kleinen Kreis auf diesem Gebiete Erfolge erzielen könne. Und er verstand durch unermüdliche, hingebende Thätigkeit die Keime zu entwickeln und seine Vereine auf die Nachbarstädte auszudehnen. Im J. 1852 folgte seine Schrift über „Die Magazinirung. Grundzüge eines auf Gegenseitigkeit zwischen Produzenten und Konsumenten gegründeten neuen Aufspeicherungssystems“ (2. Ausg. Leipzig 1852); im J. 1853 [21] veröffentlichte er ein Buch, das nicht nur über seine Versuche unterrichtete, sondern auch das ganze System des Genossenschaftswesens in allen seinen Zweigen beleuchtete, nämlich das ebenfalls bei Keil erschienene „Assoziationsbuch für deutsche Handwerker und Arbeiter“. Seit 1854 hatte er in der „Deutschen Gewerbe-Zeitung“ von G. Wieck in Leipzig ein Preßorgan gefunden, das ihm in einem besonderen Theil unter dem Titel „Die Innung der Zukunft“ für seine Genossenschaften zu wirken gestattete. Seit 1861 gab er selbständig die „Blätter für Genossenschaftswesen“ heraus.

Von den Schulze’schen Genossenschaften entwickelten sich nun die Vorschußvereine am raschesten und besten. In seiner 1858 bei G. Mayer in Leipzig erschienenen Schrift „Die arbeitenden Klassen und das Assoziationswesen in Deutschland“ konnte S. bereits eine Tabelle von 25 Vereinen aufstellen und von der demnächstigen Gründung mehrerer anderer berichten. Schon ein Jahr darauf war das Genossenschaftswesen so weit entwickelt, daß S. in Weimar den ersten Genossenschaftstag abhalten und die Gründung eines Centralcorrespondenzbureaus der deutschen Vorschuß- und Creditvereine veranlassen konnte, welches bestimmt sein sollte, einerseits eine geschäftliche Verbindung unter denselben herbeizuführen, andererseits einen Meinungsaustausch und eine Verständigung bei Verfolgung gemeinsamer Interessen zu ermöglichen. Damit im Zusammenhange entstand 1861 die Anwaltschaft der deutschen Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften, welche S. gegen ein bescheidenes Honorar übernahm.

Auch die Politik zog ihn bald wieder mächtig an, um ihn bis an sein Lebensende nicht mehr los zu lassen. Bei Gelegenheit der oben erwähnten Genossenschaftsversammlung in Weimar im J. 1859 entstand bei ihm und andern gleichgesinnten Männern der Gedanke, angesichts der nach ihrer Ansicht günstigen politischen Constellation, d. h. vornehmlich der Demüthigung Oesterreichs im italienischen Kriege, die sogenannte deutsche Frage wieder anzuregen. Aus diesen Besprechungen entstand dann der deutsche Nationalverein, dessen eifriges Mitglied S. war. Im J. 1861 trat er bei einer Nachwahl zum Landtag in Berlin als Candidat auf, wurde gewählt und schloß sich zunächst dem kleinen Häuflein demokratischer Abgeordneter an, die sich als Jung-Litthauer bezeichneten, später der unter seiner Mitwirkung begründeten deutschen Fortschrittspartei, von deren hauptsächlichsten Rednern er einer war, deren Ideen er besonders während der Conflictszeit in schroffer Weise verfocht.

Da er nun in seiner Eigenschaft als Mitglied des Abgeordnetenhauses gezwungen war, längere Zeit in der Hauptstadt zuzubringen, so siedelte er im J. 1862 von Delitzsch nach Potsdam über. Dort erschien am 4. October 1863 eine Anzahl seiner Freunde in seiner Wohnung und überreichte ihm in Anerkennung seiner Verdienste um das politische und wirthschaftlich-sociale Leben ein Ehrengeschenk von rund 50 000 Thalern. S. nahm das Geschenk an, jedoch mit der Maßgabe, daß er nur einen kleinen Theil desselben zur Erbauung eines Wohnhauses für sich und die Zinsen zur Bestreitung der ihm durch das Genossenschaftswesen erwachsenen Bureaukosten, Reisekosten u. s. w. verwendete. Daß er das Geschenk nicht zu seinem persönlichen Vortheil, wie es gemeint war, verwenden wollte, motivirte er mit den Worten, daß derjenige, der dem Volke die Selbstverantwortlichkeit für die eigene Existenz, das Stehen auf eigener Kraft als die Grundbedingung wirthschaftlicher Selbständigkeit und bürgerlicher Freiheit predige, diese Principien auch im eigenen Leben darzustellen habe. Das Capital selbst bestimmte er zu einer Stiftung, „deren Zinsen nach seinem Rücktritt zur Besoldung solcher Männer verwendet werden sollten, deren Wirken und Thatkraft man in der öffentlichen Sache zum Besten des gesammten Vaterlandes in nationaler, politischer oder socialer Hinsicht in Anspruch nimmt“.

[22] Im Mai desselben Jahres hatte er im Berliner Arbeiterverein sechs Vorträge über Gegenstände der Volkswirthschaftslehre gehalten, die gegen die bedrohliche Agitation Lassalle’s in den Arbeiterkreisen gerichtet waren und die er in demselben Jahre noch unter dem Titel „Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus“ (bei Keil, Leipzig) dem Drucke übergab.

In der folgenden Zeit handelte es sich für S. hauptsächlich darum, einen Plan zu verwirklichen, der bereits auf dem Vereinstage in Potsdam im J. 1862 zur Sprache gebracht worden war, nämlich um eine wirksame Gliederung der Genossenschaften. Zwischen die Centralstelle und die einzelnen Vereine sollten in den kleineren Staaten und in den einzelnen Provinzen der großen „Unterverbände“ gesetzt werden, welche den benachbarten Vereinen eine leichtere Gelegenheit zur Verständigung und zum Austausch ihrer Erfahrungen bieten sollten. Es war dem Anwalt bei der wachsenden Zahl der Vereine unmöglich geworden, die einzelnen Vereine zu besuchen und zu berathen; eine solche Antheilnahme ließ sich nur mehr bei jenen Zusammenkünften bethätigen, zu denen die Unterverbände in Gruppen, die „Landes- oder Provinzialunterverbände“, zusammengefaßt, zusammentraten. Es gelang S. auf dem Genossenschaftstage in Mainz 1864 ein organisches Statut in diesem Sinne aufzustellen, in welchem die Functionen der einzelnen Organe geregelt und den Unterverbänden ihre Stellung anwiesen wurde.

Eine zweite wichtige Aufgabe jener Zeit bestand in der Gründung eines Bankinstituts, das den einzelnen Genossenschaften die Unterbringung wie die Beschaffung von Capitalien auf die vortheilhafteste Weise ermöglichte und besonders ihren Großbankverkehr erleichterte. Im J. 1865 schon trat dieses Institut als eine Actienunternehmung unter dem Titel „Deutsche Genossenschaftsbank“ mit einem Capital von 275 000 Thlrn. in Berlin ins Leben.

Wie diese ganze Organisation, so war auch die Genossenschaftsgesetzgebung in der Hauptsache das Werk Schulze’s. Nachdem die gesetzliche Regelung schon 1860 auf einem Genossenschaftstag besprochen worden war, reichte S. einen Entwurf eines Gesetzes im J. 1863 dem Abgeordnetenhause ein, der aber trotz der Anerkennung des Bedürfnisses seitens der Regierung nicht zu einem Gesetze führte, weil die Regierung und S. sich bezüglich der Modalitäten der Eintragung sowie bezüglich der Behörden, denen die Genehmigung, beziehungsweise die Eintragung überlassen werden sollte, nicht einigen konnten. So kam erst am 27. März 1867 das preußische Genossenschaftsgesetz zu stande, welches am 4. Juli 1868 auf den Norddeutschen Bund und später auf das Reich ausgedehnt wurde. Auch an den Versuchen zu einer Reform der Genossenschaftsgesetzgebung im Mai 1881 war S. noch betheiligt, ohne daß dieselben damals Erfolg gehabt hätten. Da man bald in den anderen deutschen Staaten, das Beispiel des Norddeutschen Bundes nachahmend, den Anfang zu einer Genossenschaftsgesetzgebung machte, und nun Mitglieder der verschiedenen Kammern an S. sich um Rath und Aufklärung wandten, so behandelte S. das Thema in einer ausführlichen, mehrfach aufgelegten Schrift unter dem Titel „Die Gesetzgebung über die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften mit besonderer Rücksicht auf die Haftpflicht bei kommerziellen Gesellschaften“ (Berlin 1869). In dieser Schrift setzte er nicht nur die juristischen Grundsätze des Gesetzes auseinander, sondern er verglich dasselbe auch mit den entsprechenden Gesetzen Englands und Frankreichs.

Damit war in der Hauptsache die Arbeit seines Lebens gethan. Aber es darf nicht unerwähnt bleiben, daß er in der Thätigkeit für die Genossenschaften niemals erlahmte, daß er in vielen Artikeln und auch in kleineren selbständigen Arbeiten sie zu vertiefen und auszubreiten bestrebt war. Auch sonst ermüdete [23] er trotz der vielen Arbeiten und Reisen, die seine Anwaltschaft ihm auflegte, nicht, für die Bildung des Volkes und für Verbreitung seiner wirthschaftlichen Ueberzeugung thätig zu sein. Wie er mit zu den Gründern des volkswirthschaftlichen Congresses gehört hat, so half er im Frühjahr 1871 eine Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung ins Leben rufen und als erster Vorsitzender derselben organisiren. Er war Reichstagsmitglied zuerst für Berlin, später für Wiesbaden und entzog sich auch hier keiner Last, die das Mandat mit sich brachte. So war er fast bis zu seinem am 29. April 1883 erfolgten Tode in rastloser Arbeit thätig.

Wie sein Tod eine ungewöhnliche Theilnahme hervorgerufen hat, so war auch sein Leben nicht arm an Anerkennungen. Wir erwähnen nur neben der oben besprochenen Ehrengabe, daß ihn im J. 1873 die juristische Facultät der Universität Heidelberg zum Ehrendoctor ernannte, daß aus England und Frankreich, Holland, Belgien, Italien und Amerika Ehrendiplome und Anerkennungsschriften kamen, daß er zum Ehrenmitglied des Cobden-Clubbs, der Academia Fisico-Statistica in Mailand, der lombardischen Società di Economia politica und der Academia Lynceorum (späteren R. Academia dei Lincei) ernannt wurde, daß seine Schriften in Amsterdam 1869 und Brüssel 1876 erste Preise für Leistungen im Genossenschaftswesen erhielten. Im J. 1874 hat der Pariser Nationalökonom B. Rampal in einem zweibändigen Werk mit theilweise wörtlichen Uebersetzungen Schulze’scher Schriften dem französischen Publicum die Bedeutung Schulze’s nahe gelegt und nicht wenige ausländische Zeitungen haben ihm ihre Anerkennung ausgesprochen.

Nachdem wir so einen kurzen Abriß seiner Lebensgeschichte gegeben, versuchen wir ein Bild seiner geschichtlichen Bedeutung zu zeichnen. Um ihm vollauf gerecht werden zu können, scheint es das beste, seine Thätigkeit für das Genossenschaftswesen, seine Stellung zu den wirthschaftlichen und politischen Fragen und seine rein persönlichen Eigenschaften getrennt zu behandeln.

Wir beginnen mit seiner Thätigkeit für die Genossenschaften. In seinem oben erwähnten Associationsbuch für deutsche Handwerker und Arbeiter (1853) hat er eine praktische Anleitung zur Gründung verschiedener Genossenschaften gegeben. Neben den Rohstoffvereinen und Magazingenossenschaften erscheinen die Consumvereine, die Krankenvereine, die Vorschußvereine und die Productivgenossenschaften. Die größte Entwicklung gewannen von diesen die Vorschußvereine, denen er auch ganz besonders sich widmete. Aufgewachsen in den kleinstädtischen Verhältnissen von Delitzsch mit seiner vornehmlich Handwerk treibenden Bevölkerung, in steter Berührung mit diesen Classen, lernte er besonders ihre Klagen und Wünsche kennen. Er erkannte die Gefahren richtig, die dem kleinen Mann durch die Entwicklung der Großindustrie drohten. Er glaubte, daß sie beseitigt werden könnten, wenn den Gewerbetreibenden selbst die Mittel geboten würden, sich die günstigen Bedingungen der Großindustrie zu verschaffen. Den zu Ende der 40er Jahre besonders in Preußen auftretenden Bestrebungen zur Wiederherstellung der Zünfte setzte er den zeitgemäßen Gedanken der Association entgegen, die er auf das entschiedenste auf Grundlage der Selbsthilfe und Selbstverantwortlichkeit begründet wissen wollte. War dies in der Hauptsache die Aufgabe der Rohstoff- und Magazingenossenschaften, so sollten die Vorschußvereine den Handwerkern den nöthigen Credit verschaffen oder verbilligen. Die Handwerker sollten durch Aufbringung eines kleinen eigenen Vereinsvermögens und durch solidarische Haftung sich selbst creditfähig machen; dazu sollten sie durch Gewährung höheren Zinsfußes als die Sparkassen fremde Capitalien, freilich nicht in zu großem Umfange, anziehen und dadurch ihre Mittel verstärken. Den Mitgliedern des Vereines sollte aus diesen Capitalien [24] nach genauer Erwägung ihrer persönlichen Eigenschaften und ihrer Geschäftsverhältnisse kurzfristiger Credit in verschiedener Form und zu solchem Zinse gewährt werden, daß der Verein noch eine erhebliche Dividende zahlen und durch sie zum Beitritt anlocken könnte. Von vornherein wies S. alle Geschenke oder zinslosen Anlehen zurück; denn die Vereine sollten nach ihm nur auf dem Grundsatze der Selbsthilfe und der Leistung und Gegenleistung beruhen.

Daß S. besonders mit der Schaffung der Creditgenossenschaften Großes geleistet hat, wird man unbedingt anerkennen, wenn man weiß, wie der Credit bis dahin, trotz vereinzelter Versuche zur Besserung, eigentlich nur den nach Stand und Vermögen bevorzugten Classen zur Verfügung stand, wie er in den mittleren und unteren Schichten entweder ganz fehlte oder nur auf eine Weise erlangt werden konnte, welche nicht selten zur Ausbeutung und zum Ruin des Creditnehmers führte. Schulze’s großes Verdienst ist die Diffusion des Credits in doppelter Beziehung, einmal indem er denselben eben diesen bis dahin fast ausgeschlossenen Kreisen der kleinen Gewerbetreibenden zugänglich machte, dann, indem es ihm gelang, seine Genossenschaften in rastloser Arbeit allmählich über ganz Deutschland und selbst darüber hinaus zu verbreiten. Er hat es fertig gebracht, den untern und mittleren Classen solide Creditorgane zu geben und sie zum richtigen Gebrauch der modernen Creditformen zu erziehen. Die besten Worte der Anerkennung über diese Seite der Schulze’schen Thätigkeit scheint Schmoller gefunden zu haben, wenn er meint, daß S. auf derselben Bahn, auf der vor 300 Jahren die Franciscaner die montes pietatis, die kirchlichen und öffentlichen Leihhäuser schufen, auf der in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts das Sparkassenwesen erstand, einen gewichtigen, man könnte fast sagen weltgeschichtlich bedeutungsvollen Schritt vorwärts gethan habe; mit der Solidarhaft, mit dem Sparzwange und den anderen bekannten strengen Grundsätzen einer kaufmännischen Creditgewährung habe er in den Kreisen des Mittelstandes jene große Zahl Volksbanken geschaffen, die auf der einen Seite ebenso sehr zu solider strenger Geschäftsmäßigkeit anregten, wie sie auf der anderen von einem idealen Zuge genossenschaftlicher Bruderliebe beseelt waren. S. hat sich auch nicht wie andere Socialpolitiker vor ihm und nach ihm mit litterarischen Hinweisen und theoretischen Belehrungen begnügt, sondern mit warmer Begeisterung für die Sache die praktischen Anleitungen gegeben und mit der Arbeit im Kleinen begonnen. Seine Kenntniß des praktischen Lebens in jenen Kreisen, für welche seine Organisationen bestimmt waren, wurde glücklich ergänzt durch seine Kenntnisse im positiven Recht und in den Formen des Creditwesens und der kaufmännischen Geschäfts- und Buchführung. Daß er dabei oft große Schwierigkeiten zu überwinden hatte, kann nicht Wunder nehmen. Es mag dies schon daraus erhellen, daß er mit seinen Genossenschaften Organisationen ins Leben rief, für welche kein geeignetes Vorbild vorhanden war. Es war nicht nur mit der Verschiedenheit der gesetzlichen Bestimmungen in den verschiedenen deutschen Staaten zu rechnen, sondern auch mit der Verschiedenheit der herrschenden Anschauungen in der Verwaltung. Er hatte nicht nur gegen die Hemmnisse zu kämpfen, die man da und dort seinen Vereinen bereitete, sondern auch gegen die Uebertreibungen seiner Anhänger. Er mußte vor falschen Wegen und Verkennung der Ziele warnen, locale Verhältnisse und specielle Bedürfnisse berücksichtigen, er mußte unablässig in Briefen, auf Verbandstagen, in der Presse belehren, berathen, kritisiren, dann und wann verwickelte Processe führen. Dazu war er unablässig thätig, seinen Genossenschaften eine gesetzliche Basis zu schaffen, ihnen die Rechte der juristischen Persönlichkeit, den Schutz des Gesetzes zu schaffen und in wohlgeordneten statistischen Jahresberichten über den Zustand des Genossenschaftswesens zu berichten. Er blieb bis zu seinem Lebensende der Mittelpunkt der [25] zahlreichen Verbände, die in den Ländern und Provinzen sich fanden, und was alltäglich in Angelegenheiten der Genossenschaften bei ihm an Anfragen, Anträgen, Mittheilungen einging, das reichte aus, um die rüstigste Kraft ausschließlich in Anspruch zu nehmen. Es muß constatirt werden, daß er diese mit reichem Nutzen verbundene Thätigkeit um eine verhältnißmäßig bescheidene Vergütung, nämlich 2000 Thaler, später 2500 und 2800 Thaler jährlich besorgte.

Der Erfolg entsprach auch seinen Bemühungen; in dem letzten Jahresbericht vor seinem Tode (vom Jahre 1882), um die späteren zu übergehen, sind 905 Vereine aufgeführt, die der Anwaltschaft specialisirte Geschäftsberichte eingesandt hatten; vielleicht noch mal so viele waren vorhanden. Diese Genossenschaften mögen zusammen 6–700 000 Mitglieder gezählt und jährlich ca. 2 Milliarden Mark Vorschüsse gewährt haben. Die oben erwähnte deutsche Genossenschaftsbank, die im J. 1865 mit einem Capital von 275 000 Thalern gegründet worden war, mußte zu Anfang der 80er Jahre ihr Capital nahezu verzehnfachen. Freilich haben sich manche Vorschußvereine, was S. oft hat hören müssen, rasch zu gewöhnlichen Banken verbildet, manche haben sich in Actiengesellschaften verwandelt, wieder andere, in denen Kaufleute und Fabrikanten die erste Rolle spielen, sind ihren ursprünglichen Zwecken entfremdet worden; es ist auch richtig, daß von den oben angeführten Mitgliedern vielleicht nur der dritte Theil denjenigen Classen angehört, für welche die Organisation ursprünglich bestimmt war, den Handwerksmeistern, daß viele selbständige Landwirthe und viele Personen unter denselben sich finden, die nur wegen der Dividenden und der höheren Sparkassenzinsen Mitglieder geworden sind, daß die Zinsen oft für die Creditbedürftigen hoch bemessen sind; aber das alles vermag die Thatsache nicht aufzuheben, daß die Schulze’schen Genossenschaften den Credit demokratisirt, tausende von kleinen Meistern und Geschäftsleuten creditfähig gemacht und in der Hauptsache auch auf die Erhaltung und Hebung der in ihrem Bestande schwer bedrohten Mittelclassen auf das vortheilhafteste eingewirkt haben. Man wird dies Verdienst noch bereitwilliger anerkennen, wenn man berücksichtigt, daß zu der Zeit, als S. durch den Tod aus seiner Wirksamkeit genommen wurde, neben den oben erwähnten Creditgenossenschaften noch 954 Rohstoff-, Magazin-, Werk-, Productivgenossenschaften, 621 Consumvereine und 35 Baugenossenschaften vorhanden waren, die alle den Anregungen Schulze’s ihre Entstehung verdankten. Er hat es verstanden, den des Aufrüttelns höchst bedürftigen kleineren Bürger- und Handwerkerstand zur Arbeit an seiner eigenen Verbesserung heranzuziehen, ihm den Muth des erneuten Vorwärtsstrebens, der unter den ungünstigen Verhältnissen jener Zeit schwer gelitten hatte, wieder zu geben, seine Gedanken von der unfruchtbaren Sehnsucht nach den längst überwundenen Einrichtungen vergangener Zeiten abzuwenden und auf zeitgemäße Ideen zu richten. Mögen seinen und seiner Anhänger Eifer auch, besonders in späteren Zeiten, politische Motive geschürt haben, das Bestreben nämlich, die Classen, denen er die Vortheile seiner Genossenschaften zuwendete, auch für diejenigen politischen Ziele zu erwärmen, die er während seines Lebens niemals außer Augen gelassen hat, so bleibt seine Leistung nichtsdestoweniger dauernder und überzeugter Anerkennung sicher.

Wenden wir uns zu seiner allgemeinen wirthschaftlichen und politischen Anschauung, so gebietet eine unbefangene Beurtheilung den Ausspruch, daß dieselbe nicht auf der Höhe seiner praktischen Thätigkeit stand. Zweifelsohne hat er auch auf politischem Gebiete seine bedeutenden Verdienste. Die übermäßige Ausbildung des Polizeistaates in Preußen, der sich umsonst bemühte, Zustände und Einrichtungen festzuhalten, die in das moderne Wirthschaftsleben nicht mehr [26] paßten, die theilweise völlig beseitigt werden mußten, ehe neue, den veränderten Verhältnissen angepaßte Organisationen entstehen konnten, forderte zur Bekämpfung heraus. Nicht nur die radicaleren Elemente, sondern besonnene regierungsfreundliche Kreise widmeten sich dieser Aufgabe. S. aber stand ganz besonders im Banne der Strömung, welche seit den 40er Jahren den deutschen Mittelstand beherrschte. Mit einem gewissen überschwänglichen Idealismus und Liberalismus erwartete er wie die Anderen von dem Erlaß einer constitutionellen Verfassung und von der Gewährung der verschiedenen durch die englische Nationalökonomie empfohlenen Freiheiten, als da sind: Gewerbefreiheit, Vereinsfreiheit, Freiheit der Presse, der Kirche, des Unterrichts, der Gemeinden u. s. w., die Befreiung von allen Klagen und Leiden jener Zeit. Aus allen seinen Reden und Schriften spricht die unbedingte Anerkennung der Volkssouveränität, wenn er auch freilich wieder zögerte, das allgemeine Wahlrecht in entschiedener Weise zu fordern, da das bestehende Dreiclassensystem sich der Entwicklung seiner Partei so günstig erwiesen hatte. Es war sein gutes Recht, für das Budgetrecht der Abgeordneten zu kämpfen, Uebergriffe der Behörden zurückzuweisen, er war ebenso im Recht, als er verschiedene Freiheitspostulate verfocht, allein es kann nicht übersehen werden, daß er in dieser wesentlich negativen Richtung auch noch stehen blieb, nachdem die Freiheit des Volkes garantirt war und ein positiver Aufbau an vielen Stellen zur Nothwendigkeit wurde, und ebenso wenig, daß er in seinem oppositionellen Verhalten gegenüber der Staatsgewalt oft weniger durch die Nothwendigkeit eines solchen als durch doctrinäre Principienfestigkeit bestimmt wurde. Es ist wahrscheinlich, daß ähnlich wie in Fr. List nach dessen eigenem Geständniß die reichsstädtische Luft seiner Geburtsstadt zeit seines Lebens in der Lust zum Räsonniren nachwirkte, so auch bei S. der sächsische Particularismus eine unbefangene Betrachtung der preußischen Staatszustände trübte. Wie wäre es sonst möglich, daß ein Mann des Fortschritts, ein Gegner des Feudalismus und der „Reaction“, ein Vertreter des Rechtsstaates, als der er sich rühmte, das moderne Richterwesen so verkennen und ihm gegenüber die – Patrimonialgerichtsbarkeit rühmen konnte, wie er dies in der Rede that, die er zum 50jährigen Amtsjubiläum seines Vaters am 2. November 1852 gehalten hat! Es läßt sich dieser Widerspruch nur aus seinen unangenehmen persönlichen Erfahrungen und aus seiner Abneigung gegen den preußischen Staat erklären. Nicht daß er den Liberalismus so schroff vertrat, kann ihm vorgeworfen werden, aber die Nachwelt wird es nicht begreiflich finden, wie er lediglich von Grundsätzen und Principien geleitet, über den vormärzlichen Liberalismus eigentlich nicht hinausgekommen ist. Es ist bekannt, daß er der Roon’schen Armeeorganisation, auf welcher neben der genialen Führung die Siege der preußischen Armee beruhten, eine auf Turnerei gestützte Landwehr entgegenstellte, daß er seine Opposition eben in den Tagen am intensivsten entwickelte, da Preußen zu dem entscheidenden Kampfe sich vorbereiten mußte und der geschlossenen Kraft mehr als je bedurfte, daß er im J. 1867 aus Gründen, die zur Wichtigkeit der Sache in keinem Verhältnisse standen, gegen die Verfassung des Norddeutschen Bundes stimmte. Was seine Stärke war, bildete auch seine Schwäche. Eingenommen von dem Erfolge seiner Genossenschaften, ganz erfüllt von dem Princip der Selbsthilfe und den Vortheilen des Vereinswesens, überschätzte er die Einsicht und Wirksamkeit der Individuen und der freien Gesellschaft ebenso sehr, als er die der öffentlichen Behörden unterschätzte.

Daraus ergibt sich dann auch seine Stellung zu den wirthschaftlichen Dingen, die S. theils in seinen zahlreichen öffentlichen Reden, theils in seinen Schriften, besonders in seinem Buch: „Die arbeitenden Klassen und das Assoziationswesen in Deutschland“ und in den „Capiteln zu einem deutschen Arbeiterkatechismus“ [27] niedergelegt hat. In der erstgenannten Schrift entwickelt er ungefähr folgenden Gedankengang: Der Großbetrieb mit seiner unaufhaltsamen, siegreichen Entwicklung hat zur Folge, daß wenige große Unternehmer und Capitalisten einer großen Schaar von Arbeitern gegenüberstehen. Durch Zunftgesetze, Almosen, Hilfscassen, Arbeiterversicherungen sei hier nicht zu helfen. Nur Associationen und Productivgenossenschaften der Arbeiter könnten helfen. Durch sie sei es den Arbeitern möglich, das Monopol der Unternehmer zu durchbrechen, die ungünstigen Folgen der Arbeitstheilung aufzuheben, ihre Intelligenz zu erhöhen und einen nachhaltigen Einfluß auf die Lohnhöhe zu gewinnen. Ohne Zweifel übersah S., anfangs wenigstens, die mißliche Lage der eigentlichen Arbeiter nicht, und daß sie es waren, welche am meisten der Hülfe bedurften. Sicherlich sollten die Vorschuß-, Rohstoff- und Magazingenossenschaften nur eine Vorschule für das höhere Ziel der Productivgenossenschaft sein. „In der Productivassociation“, sagt er selbst, „begrüßen wir den Gipfelpunkt des Systems und sie hatten wir hauptsächlich bei der schwierigen Frage, mit welcher wir uns beschäftigen, im Sinn“. Aber er ließ sie doch bald fallen und wandte seine Aufmerksamkeit in dieser Beziehung fast ausschließlich dem kleinen Handwerkerstande zu.

Freilich ließ er die große Masse der Arbeiter, die der Fortschrittspartei den breiten Hintergrund geben sollte und die sich von derselben auch leiten ließ, solange sie der selbständigen Führung entbehrte, nicht aus den Augen. Die oben genannten „Capitel“ waren aus sechs Vorträgen entstanden, die S. vor dem Berliner Arbeiterverein im J. 1863 gehalten hatte; er machte damit den Versuch, den Arbeitern die individualistische Nationalökonomie zu verdolmetschen und mundgerecht zu machen. Diese Vorträge behandeln der Reihe nach die Arbeit, das Capital und dessen Verhältniß zur Arbeit, die Lehre von Tausch, Werth und freier Concurrenz, endlich die praktischen Mittel und Wege zur Hebung der arbeitenden Classen. Diese Vorträge, die übrigens nach Form und Inhalt sehr geschickt auf die arbeitenden Classen berechnet waren, geben in populärer Weise, ungefähr in der Art von Bastiat’s Harmonielehre, eine Quintessenz der englisch-deutschen individualistischen Nationalökonomie, nicht frei von bedenklichen Anklängen an die Einseitigkeit des Manchesterthums. Es ist dabei interessant zu bemerken, wie sein gesunder praktischer Sinn durch seine Thätigkeit für das Genossenschaftswesen so vielfach in thatsächlichen Widerspruch zu seiner volkswirthschaftlichen Dogmatik gerieth. Und auch das unterscheidet ihn immer vortheilhaft von den reinen Theoretikern des Manchesterthums, daß er anknüpfend an seine Organisationen, in dem Handwerkerstand immer wieder die Pflicht der Sparsamkeit und des Fleißes, das Gefühl des Selbstbewußtseins und Selbstvertrauens, den Trieb eines lebendigen Idealismus zu erzeugen verstand. Wie seine Gesinnungsgenossen hatte freilich auch S. von der Bedeutung des Staates keine Vorstellung. Er will vom Staate nur, wie er den Arbeitern auseinandersetzt: Rechtsschutz, Sicherheit, Frieden, etwa noch gleichheitliche Vertheilung der Staatslasten und Förderung der Volksschule; er will „keinen büreaukratischen Staat, der die Staatsmittel übermäßig in Anspruch nimmt für ein unnützes Beamtenheer, das in der Vielregiererei und Hemmung der freien Bewegung der Bürger Beruf und Geltung sucht“. Ging doch seine Abneigung gegen jede Staatseinmischung in das wirthschaftliche Leben so weit, daß er in den Fabrikinspectoren nur eine Art verschlimmerter Landräthe erblicken konnte, daß er selbst jene Schranken nicht zu billigen vermochte, die im Rahmen des Gewerbegesetzes für Leben und Gesundheit der Arbeiter, für die nothwendige Ordnung und Sicherheit zu sorgen bestimmt waren. Hand in Hand mit dieser Unterschätzung der Culturaufgaben der Gesellschaft und der öffentlichen Körperschaften [28] geht bei S. die Ueberschätzung des Genossenschaftswesens und der Selbsthülfe. Sie verführte ihn, dieselbe auch da zu empfehlen, wo sie ein leerer Schall blieben. Ohne Zweifel lagen ihm die Bedürfnisse des Fabrikarbeiters ferner als jene der politisch brauchbareren kleinen Meister und Geschäftsleute. So kam es, daß er keine Genossenschaftsform fand und zu empfehlen wußte, die diese Classen, da und solange an Productivgenossenschaften nicht zu denken war, befähigt hätte, im Kampfe um den Lohn und die Arbeitsbedingungen den Unternehmern als gleichwerthige Kräfte gegenüber zu treten. Ja noch mehr: in seiner Abneigung gegen alle Einrichtungen, deren Ursprung auf die Initiative des Staates zurückführte, ließ er sich verleiten eben von jenen Instituten, welche dem Arbeiterstande damals allein einige Erleichterung bringen konnten, nämlich von den Kranken-, Invaliden- und Altersversorgungscassen zu behaupten, daß sie in gewisser Hinsicht von der Lösung der Arbeiterfrage abhielten. „Indem die von Arbeitern einzuzahlenden Prämien jeden mühsam ersparten Groschen in Anspruch nehmen, rauben sie den Leuten die Aussicht, durch Ansammlung eines kleinen Capitals jemals zu geschäftlicher Selbständigkeit zu gelangen und wird die Garantie, in alten und schwachen Tagen nicht der öffentlichen Mildthätigkeit anheimzufallen, nur durch das Opfer jeder nachhaltigen Verbesserung der Lage, jedes Aufschwungs in der socialen Stellung erkauft“. Das ist, wie Schmoller mit Recht hervorhebt, eine gründliche Verwechselung der Bedürfnisse des Fabrikarbeiters mit denen des Kleinmeisters. So kam es schließlich, daß er, der seinen Gegnern so gerne den Gebrauch der Phrase vorwarf, auch nichts anderes mehr vorbringen konnte zur Lösung der Arbeiterfrage als eine Phrase; so, wenn er unter dem Beifall seiner Partei in einer Rede im Abgeordnetenhause (1865) die Behauptung aufstellte: „Die Lösung der socialen, der Arbeiterfrage, die Hebung der arbeitenden Classen in ihrer individuellen Lebenshaltung und gesellschaftlichen Stellung liegt nur in der steigenden Civilisation“. Man wird die Art und Weise nicht billigen, wie Ferd. Lassalle in seinem Buche: „Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian oder Kapital und Arbeit“ (Berlin 1864), das sich hauptsächlich gegen die individualistischen Lehren des Arbeiterkatechismus wendet, mit S. umspringt; aber die Gerechtigkeit gebietet es zu sagen, daß Lassalle die Frage der Zeit in dieser Hinsicht richtiger erkannte als sein Gegner.

Werfen wir schließlich noch einen Blick auf die Person Schulze’s. Er erklärt die Beliebtheit, deren S. sich in den Kreisen seiner Anhänger, die Achtung, die er weit darüber hinaus genoß. Sie beruhten zunächst auf der Thatsache, daß er Zeit seines Lebens die Lehren, die er seinen Anhängern gab, die Tugenden, die er von diesen forderte, selbst übte. Sein Leben ging dahin in angestrengter Arbeit für die Ziele, die er für die richtigen erkannt zu haben glaubte; er wies in stolzer Bescheidenheit die Gabe zurück, die die begeisterte Anerkennung der Freunde ihm geboten hatte; er wollte auch im Privatleben die Lehre von der Selbsthülfe und Selbstverantwortlichkeit zur Wahrheit machen. Eine makellose Ehrlichkeit des Lebens macht auf die weitesten Kreise einen erhebenden Eindruck nicht minder wie die Unbestechlichkeit der Gesinnung, der Muth und die Unwandelbarkeit der Ueberzeugung. Mag die letztere politisch ein Fehler sein, rein menschlich betrachtet ist sie doch das Merkmal einer starken, in sich geschlossenen Natur. S. war ein beliebter Redner; seine breitschultrige, kräftige Erscheinung, seine sympathische Stimme unterstützte die Macht seiner Worte. Ueber seinen Reden wie Schriften liegt ein Hauch des Idealismus, der besonders die mittleren Schichten der Bevölkerung anheimelt und besticht; sie sind formgewandt und eindringlich. Deshalb lag wohl auch seine Hauptwirksamkeit [29] als Redner nicht im Parlamente, sondern in den Volksversammlungen. Es war eine populäre Beredsamkeit, die sich geschickt der Stimmung, dem Ideenkreise der Zuhörer anzupassen wußte, die besonders auf die kleinen Leute um so tiefer wirken mußte, als er ihnen nicht nur Worte, sondern sein aufrichtig und ehrlich von dem Wunsche beseeltes Herz entgegenbrachte, ihnen ein Berather, Helfer, Führer zu sein. Wir dürfen endlich auch nicht vergessen, daß er ein Mann war, der sein Vaterland hoch hielt und liebte, ein deutscher Patriot, vielleicht in einem etwas einseitigen Sinne, aber stets bereit, die Ehre und Unverletztheit des Vaterlandes nach außen zu wahren. Als er im J. 1867 zu einem Friedenscongreß nach Genf, den einige französische Politiker veranstaltet hatten, eingeladen wurde, da bedauerte er, an demselben nicht Theil nehmen zu können, da die Mittheilungen zuverlässiger Freunde aus Frankreich in ihm die Ueberzeugung erweckt hätten, daß Deutschland dem Angriffe Frankreichs in nächster Zeit ausgesetzt sein werde. „Soweit ist“, schreibt er, „der nationale Geist bei uns erstarkt, daß wir die Einmischung des Auslandes in unsere inneren Angelegenheiten unter keinen Umständen dulden.“ Und weiter: „Vielleicht mag es gerade für die Friedensagitation in Frankreich mit in das Gewicht fallen, wenn man sich überzeugt, daß ein Angriff auf Deutschland und dessen führende Macht, Preußen, einen Volkskrieg bei uns entzündet, dessen Tragweite über den Gesichtskreis der Anstifter weit hinausreicht.“

Die Nachwelt wird die Schwächen der Politik und Nationalökonomie Schulze’s übersehen über der Stärke solcher Gesinnung und wird ihn mit Recht anerkennen als den Wohlthäter der kleineren Geschäftsleute und der Handwerker, als den Schöpfer des deutschen Genossenschaftswesens.

A. Bernstein, Schulze-Delitzsch’ Leben und Wirken. (4. Aufl.) Berlin, Druck und Verlag von M. Bading, o. J. – G. Schmoller, Hermann Schulze-Delitzsch und Eduard Lasker. Im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft, 1884, S. 595. Siehe auch mehrere Artikel über Schulze-Delitzsch in „Blätter für Genossenschaftswesen“ Jahrgang 1883 und 1884.