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ADB:Stäudlin, Carl Friedrich

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Artikel „Stäudlin, Karl Friedrich“ von Paul Tschackert in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 35 (1893), S. 516–520, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:St%C3%A4udlin,_Carl_Friedrich&oldid=- (Version vom 30. Dezember 2024, 18:55 Uhr UTC)
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Stäudlin: Karl Friedrich St., protestantischer Theologe, † 1826, einer der gelehrten Schwaben, der aber seine Lebensarbeit in Göttingen that. St. wurde am 25. Juli 1761 zu Stuttgart als Bruder von Gotthold Friedr. St. (s. o. S. 514) geboren. In seinem Elternhause lebte strenge Rechtlichkeit und ehrliche Frömmigkeit. Seine Vorbildung empfing der Knabe auf dem Stuttgarter Stadtgymnasium. Vom Vater nicht zum Theologen bestimmt, wählte er sich doch diesen Beruf, da er durch den Religionsunterricht eines Spenerisch gesinnten Geistlichen und durch eigene Lectüre erbaulicher Schriften religiös angeregt worden war. Von 1779 an studirte er daher im Theologischen Stifte zu Tübingen, wo er in fünf Jahren die dort üblichen Uebungen und Prüfungen durchlief. Nach dem im J. 1784 zu Stuttgart bestandenen Consistorialexamen privatisirte er daselbst, übte sich im Predigen und schrieb schon damals achtungswerthe wissenschaftliche Arbeiten. 1785 erschienen von ihm (in Gemeinschaft mit seinem Freunde Conz herausgegeben) „Beiträge zur Erläuterung der biblischen Propheten und zur Geschichte ihrer Auslegung. I. Theil.“ (Tübingen 8°.) Die Fortsetzung dieses weit angelegten Werkes, das sich hauptsächlich mit Hoseas beschäftigt, wurde aber unterbrochen, als St. 1786 auf wissenschaftliche Reisen ging; er begleitete einige Zöglinge durch Deutschland, Frankreich, England und die Schweiz, verlebte zwei Jahre im Waadtlande und fast ein Jahr in England. Als er sich 1790 hier in London aufhielt, traf ihn ein durch seinen Landsmann Spittler vermittelter Ruf als ordentlicher Professor nach Göttingen, wo 1789 durch J. P. Miller’s Tod eine Vacanz eingetreten war. St. nahm den Ruf an und wirkte von da an fast 36 Jahre, bis an seinen Tod, an der Georg-Augusts-Universität, eng verbunden mit seinem um zehn Jahre älteren Collegen und [517] Landsmann Jakob Planck – der ihn noch um sieben Jahre überleben sollte. 1792 wurde St. Doctor der Theologie und 1803 Consistorialrath. Seine Vorlesungen erstreckten sich fast auf alle theologischen Disciplinen, eine Zeit lang hatte er auch in der Universitätskirche zu predigen. Doch meint Henke, daß er als Docent unter den damals nach Göttingen berufenen Schwaben wohl der mindest hervorragende und durch seine eintönigen, in stark schwäbischem Dialecte vorgetragenen Dictate wenig anregend gewesen sei. Hervorragender wirkte St. dagegen durch seine zahlreichen Schriften, in welchen er große Belesenheit, kritischen Sinn und aufrichtig religiöses Interesse zeigte; das rationale Element, welches er vertrat, scheint bei ihm gepaart mit den Bedürfnissen eines gläubigen Gemüthes, und dazu war er ein geschichtlicher Forscher von unbestechlichem Wahrheitssinne und erstaunlichem Fleiße. Hatte er schon im Anfange seiner Göttinger Wirksamkeit seinen Standpunkt als den eines vernünftigen Offenbarungsglaubens bezeichnet, so äußerte er gegen Ende seines Lebens gewissermaßen testamentarisch: „Ich bekenne offen und freimüthig, daß mir das Christenthum nur als vereinigter Rationalismus und Supranaturalismus begründet und haltbar zu sein scheint; es dringt auf den Gebrauch der Vernunft und aller unserer Geistes- und Seelenkräfte für Religions- und Sittenlehre, aber auf einen gemäßigten, bescheidenen und demüthigen, und zugleich auf den Glauben an die übernatürliche, durch den Sohn Gottes geschehene Offenbarung, wozu wir auch Gründe genug in und außer uns finden.“ (Geschichte des Rationalismus und Supernaturalismus, Göttingen 1826. S. 468.) Auf diesem Standpunkte besonnenen Vermittelns zwischen Vernunft und Glauben behandelte St. selbst seine heftigsten Gegner mit Schonung und Milde, in seinem Wandel ein durchaus christlicher Charakter, gelassen und geduldig auch im Leiden, das er mit Ergebung trug. Seine litterarische Thätigkeit erscheint außerordentlich vielseitig, doch wiegt in seinen Leistungen die Fülle seiner historischen Arbeiten vor, und in dieser Hinsicht, als historisch-kritische Berichterstattung, sind ihrer mehrere noch heute werthvoll.

Eine seiner ersten Göttinger Schriften waren seine „Ideen zur Kritik des Systems der christlichen Religion“ (1791), in denen er von dem eben charakterisirten Standpunkte aus die Principien und Methoden der wissenschaftlichen Behandlung der Dogmatik besprach. 1794 folgte in zwei Bänden „Geschichte und Geist des Skepticismus, vorzüglich in Rücksicht auf Moral und Religion“, ein Werk, in welchem er den Skepticismus, welcher ihn selbst ehedem angefochten hatte, für sich und andere überwinden wollte. Jahre lang hatte er dazu Vorstudien gemacht und besonders während seines Aufenthaltes in England sich dazu mit Hume eingehend beschäftigt, weshalb diese Schrift gerade über dessen Leben, Schriften und Philosophie ausführlich handelt. Unterließ er es gleichzeitig nicht, exegetische Arbeiten, zumal über alttestamentliche Gegenstände zu liefern (1791 Neue Beiträge zu den biblischen Propheten, über Daniel, Jesaia 53, das Hohelied u. s. w.), so wandte er sich doch in Vorträgen und Schriften je länger desto entschiedener der historischen und systematischen Theologie zu. Lange Zeit las er täglich vier Stunden, um 7, 8, 11 und 2 Uhr, Dogmatik, Dogmengeschichte, Moral und Kirchengeschichte, und da er das Bedürfniß fühlte, seine Vorlesungen nach eigenen Compendien vorzutragen, so erschien 1798–1800 sein „Grundriß der Tugend- und Religionslehre zu akademischen Vorlesungen für zukünftige Lehrer in der christlichen Kirche“. Hatte er in diesem Werke der Kantischen Philosophie einen starken Einfluß auf die wissenschaftliche Gestaltung der Tugendlehre eingeräumt, so milderte er ihn selbst alsbald herab in dem 1800 veröffentlichten kürzeren Lehrbuche, welchem er den Titel gab „Grundsätze der Moral zu akademischen Vorlesungen“, worin er, wie er selbst berichtet, [518] manches besser geordnet und schärfer bestimmt, anderes berichtigt oder auch ausgetilgt habe, was in dem früheren Buche anstößig gewesen sei. 1805 folgte eine „philosophische und biblische Moral“, in welcher er auf philosophischem Gebiete eklektisch verfuhr, dagegen eine vollständige biblische Moral bot und einen fortgehenden Beweis der Göttlichkeit der Sittenlehre Jesu zu erbringen suchte. Noch deutlicher und entschiedener diente diesem apologetisch-systematischen Zwecke sein „Neues Lehrbuch der Moral für Theologen“ (1. Aufl. 1815, 2. Aufl. 1817; 3. Aufl. 1825), in welchem er erklärte, „daß er ein absolut höchstes Princip der Moral nicht für nothwendig und möglich halte, dagegen die Wahrheit und Göttlichkeit der Sittenlehre Jesu auch in ihren positiven und historischen Theilen rette“. Aus der Tendenz dieser Schriften ersieht man in der geistigen Entwicklung Stäudlin’s einen Fortgang von der Speculation zur Erfahrung, vom Kriticismus zum Positivismus. (Vgl. seine Schrift „Jesus der göttliche Prophet.“ Göttingen 1824.) Dem entspricht seine Neigung, sich des in der Moral zu behandelnden Stoffes geschichtlich zu bemächtigen. Er wurde so geradezu der Schöpfer einer neuen Zweigwissenschaft, der Geschichte der Moral. Hatte er sich lange Zeit mit dem Gedanken beschäftigt, eine allgemeine Geschichte aller Religionen zu liefern und zu diesem Zwecke 1797–1799 eine neue Zeitschrift in fünf Bänden unter dem Titel „Beiträge zur Philosophie und Geschichte der Religions- und Sittenlehre überhaupt“ und 1801 bis 1806 in vier Bänden (mit Carus) ein „Magazin für Religions-, Moral- und Kirchengeschichte“ herausgegeben, so richtete er sein Hauptaugenmerk doch auf eine Bearbeitung der Geschichte der christlichen Sittenlehre im weitesten Umfange des Wortes. Seine beiden Hauptwerke auf diesem Gebiete sind die „Geschichte der Sittenlehre Jesu“ 1799–1823 in 4 Bänden (die beiden letzten Bände auch unter dem Titel: J. D. Michaelis, Geschichte der Moral. Des III. Bandes 3. und 4. Theil) und die „Geschichte der christlichen Moral seit dem Wiederaufleben der Wissenschaften“ (Göttingen 1808). Dieses Werk bildet einen Theil der von G. Eichhorn begründeten Göttinger Geschichte der Wissenschaften und Künste. Neben diesen beiden Hauptwerken aber erschien eine stattliche Reihe moralgeschichtlicher Programme, Abhandlungen und Monographieen, von denen manche noch in der Gegenwart Beachtung verdienen. So veröffentlichte St. 1796 ein „Programma de patrum ecclesiae doctrina morali“ (4°); 1798 „Progr. de prophetarum Ebraeorum doctrina morali“ (4°); 1800 „Progr. Commentatio de Scriptis patrum quos vocant apostolicorum veris et supposititiis, historiae disciplinae morum christianae antiquioris fontibus et documentis insignibus“ (4°); 1805 „Progr. Historia jurisjurandi biblica“; 1806 „Geschichte der philosophischen, ebräischen und christlichen Moral im Grundrisse“ (8°, Hannover); 1808 „Progr. de Joannis Valentini Andreae, Theologi olim Wirtembergensis, consilio et doctrina morali“ (4°); 1811 „Progr. de usu vocis syneidesis in Novo Testamento“ (4°); 1812 „Progr. de theologia morali Scholasticorum“ (4°); 1823 „Geschichte der Moralphilosophie“ (Hannover, 8°); 1823 „Geschichte der Vorstellungen von der Sittlichkeit des Schauspiels“ (Göttingen, 8°); 1824 „Geschichte und Vorstellungen der Lehre vom Selbstmorde“ (Ebendas., 8°); „Geschichte der Lehren vom Eide“ (Ebendas., 8°); „Geschichte der Vorstellungen und Lehren vom Gebete“ (Ebendas., 8°); „Geschichte der Lehre vom Gewissen“ (Halle, 8°); 1825 „Geschichte der Vorstellungen und Lehren von der Ehe“ (Ebendas., 8°); 1826 „Geschichte der Lehre von der Freundschaft“ (Hannover, 8°). – Wegen der vielerlei interessanten Nachrichten, welche er in diesen zahlreichen Einzelarbeiten zur Geschichte der Ethik beibrachte, wird noch jetzt nicht ungern auf sie zurückgegangen.

Daneben bearbeitete St. die Kirchengeschichte, welche er neben Planck an [519] der Universität regelmäßig in Vorlesungen vertrat. Im Jahre 1806 erschien aus seiner Feder eine „Universalgeschichte der christlichen Kirche“ (Hannover, 8°), welche eine zweite bis fünfte Auflage erlebte (1816, 1821, 1825 und die fünfte, nach Stäudlin’s Tode von Holzhausen fortgesetzt und herausgegeben, 1835), nachdem schon 1804 eine „Kirchliche Geographie und Statistik“ (8°) vorangegangen war. 1810–1811 folgte eine „Geschichte der theologischen Wissenschaften seit der Ausbreitung der alten Literatur“ (2 Theile in 8°, auch unter dem Titel „J. G. Eichhorn’s Geschichte der Literatur von ihrem Anfange bis auf die neuesten Zeiten: sechsten Bandes 1. und 2. Abtheilg.)“ Von 1813 bis 1820 gab er gemeinschaftlich mit H. G. Tzschirner ein „Archiv für alte und neue Kirchengeschichte“ (Leipzig, 4 Bände 8°) heraus; 1819 folgte seine „Allgemeine Kirchengeschichte von Großbritannien“ (Göttingen, 2 Theile, gr. 8°); 1823 noch einmal ein „Kirchenhistorisches Archiv“ (gemeinschaftlich mit Tzschirner und Vater herausgegeben, 1. Band, 1.–4. Heft. Halle, 8°); 1826 seine „Geschichte des Rationalismus und Supernaturalismus, vornehmlich in Beziehung auf das Christenthum. Nebst ungedruckten Briefen von Kant“ (Göttingen 1826, gr. 8°) – ein Werk, dessen Bedeutung für die innere Entwicklung Stäudlin’s schon oben gewürdigt ist; 1827, von Hemsen hrsg., seine „Geschichte und Litteratur der Kirchengeschichte“ (Hannover 8°). – Außer diesen umfassenden Werken lieferte der rastlos thätige Mann auch auf dem historischen Gebiete noch eine Reihe werthvoller Einzelarbeiten, so vier lateinische Programme über Berengar von Tours: 1814 „Annuntiatur editio libri Berengarii Turonensis adversus Lanfrancum, simul omnino de Scriptis ejus agitur“ (Göttingen, 4°); 1815 „Progr. Exhibetur specimen libri inediti Berengarii Turonensis adversus Lanfrancum“ (ibid., 4°); 1821 und 1822 „Progr. Liber Berengarii de sacra coena adversus Lanfrancum ex codice manuscripto Guelpherbitano editus.“ Pars I et II, Gottingae, 4°). Kleinere Beiträge litterargeschichtlichen Inhalts lieferte St. außerdem für mancherlei Sammelwerke; so für Michaelis und Tychsen’s Orient. und exegetische Bibliothek, für die Göttinger gelehrten Anzeigen, für die Jenaer, Hallische, Leipziger Litteraturzeitung u. s. w. – In seinem „Lehrbuche der Encyklopädie, Methodologie und Geschichte der theologischen Wissenschaften“ (Hannover 1821, gr. 8°) sind ebenfalls die historischen Partieen, die Geschichte und Litteratur der einzelnen Zweigwissenschaften, das werthvollste. Nicht unerwähnt mag bleiben, daß auch Predigten unter dem Titel „Unsterblichkeit und öffentlicher Gottesdienst“ (Göttingen 1797) von ihm existiren.

„Bei der Menge dieser Schriften und der darin ausgebreiteten Belesenheit ist auf Form und Darstellung nicht eben viel Mühe verwandt. Aber Einfalt und Geradheit im Umgang und Urtheil, tiefes und theilnehmendes Religionsgefühl, Frömmigkeit und Biederkeit des Charakters, dabei eine seltene Anspruchslosigkeit und Friedensliebe werden von seinem Leichenprediger Ruperti wie von seinen Collegen und Schülern einstimmig ihm nachgerühmt, und rastlos arbeitsam blieb er fast bis zum Tage seines Todes. Am 1. Juli 1826 hielt er noch seine Vorlesungen, am 4. schrieb er die letzte Seite einer Abhandlung über ebräische Poesie, am 5. früh 5. Uhr starb er im 65. Lebensjahre.“ (Henke-Wagenmann, s. unten.)

Sein Leben hat St. selbst beschrieben. Es liegt vor in einer Schrift, welche unter dem Titel „Zur Erinnerung an D. Stäudlin etc.“ mit Zusätzen, Schriftenverzeichniß und der auf St. gehaltenen Gedächtnißpredigt Ruperti’s von J. T. Hemsen (Göttingen 1826, 8°) herausgegeben wurde. Außerdem ist zu vgl. Gradmann, Gel. Schwaben; Heinrich Doering, Die gelehrten Theologen Deutschlands u. s. w., IV. Bd. (1835), S. 287–299, wo sich ein Verzeichniß [520] von 65 Arbeiten Stäudlin’s findet; Saalfeld, Gesch; d. Univ. Göttingen (1820), § 108; Oesterley, Göttinger Gelehrten-Geschichte (1838), § 125 (die Fortsetzung Saalfeld’s); Gaß, Geschichte der protest. Dogmatik IV, 349; Frank, Geschichte d. protest. Theologie III, 292 ff.; Henke-Wagenmann, Art. in Herzog-Plitt-Hauck, Real-Encyklopädie für protest. Theol. und Kirche, XIV. Bd. (1884), S. 574–577.

Ein Bildniß Stäudlin’ findet sich vor Beyer’s Allg. Magazin f. Prediger, Bd. IX, St. 1 (1793) und in Bock’s Sammlungen von Bildnissen Gelehrter und Künstler (1800).