Allerlei Nahrung. V. Schildkröten

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Autor: Carl Vogt
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Titel: Allerlei Nahrung. V. Schildkröten
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 128–130
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[128]
Allerlei Nahrung.
Gastronomisch-naturwissenschaftliche Plaudereien. Von Carl Vogt.
V. [1]Schildkröten.

Wir speisten während der Sitzung des internationalen anthropologischen und prähistorischen Kongresses in Kopenhagen bei einem der Großhändler der dänischen Residenzstadt, beiläufig gesagt unendlich viel besser als bei „Königs“, wo wir Tags vorher eingeladen gewesen waren. Einem Kommerzienrathe, Finanzbarone stehen ganz andere kulinarische und gastronomische Hilfsquellen zu Gebote, als einer regierenden Majestät, die einen Hofmarschall für Dinge sorgen lassen muß, welche der Kommerzienrath, zumal wenn er Liebhaber ist (und das sind sie alle), selber besorgt. Die Tafel im königlichen Schlosse war gut und die Gäste bei aller Ehrfurcht heiter und ungezwungen; aber bei dem Kommerzienrath war man noch heiterer; denn es servirten keine Läufer in krebsrothen Röcken, die eben so viele Mühe hatten, ihre mit künstlichen, sehr verknitterten und abgeblaßten Blumen verzierten Kopfbedeckungen zu balanciren, welche den hohen Mützen der Grenadiere Friedrich’s des Großen glichen, als die großen silbernen Schüsseln zu hantiren, mit welchen sie kaum zwischen die Gäste einfahren konnten: so breit und wuchtig waren sie.

Ich saß bei Kommerzienraths (bei Königs war ich als Vicepräsident des Kongresses Respektsperson und Cavaliere servente einer Prinzessin) in der Nähe des großherzoglich mecklenburg-schwerinschen Geheimen Archivrathes Lisch, eines gemüthlichen alten Herrn, der große Sammlungen zusammengebracht und beschrieben hat und glücklicherweise der Hilfe einer Haushälterin oder Unterdirektorin seines Museums sich erfreuen konnte, die weniger Wissen und Enthusiasmus, aber mehr Kritik besaß, als ihr Herr und Meister. Lisch nahm alles unbedenklich für bare Münze an, was man ihm sagte, besonders wenn er bei Tische saß und durch Speise und Trank seine jovialen Lebensgeister erweckt hatte.

Es wurde Schildkrötensuppe aufgetragen, echte Schildkrötensuppe, nicht jenes apokryphe Gebräu aus Pfeffer, Kalbskopf und Ochsenschwanz, welches unter dem Namen „Mockturtle“ bekannt ist und sich zu der echten Schildkrötensuppe verhält wie Aepfelwein zu Traubenwein. Es soll dies keine Verunglimpfung sein; ein gut behandelter Hohenastheimer aus reifen Borsdorfer Aepfeln kann oft, meistens sogar besser munden als Grüneberger Schattenseite. Aber der Kommerzienrath hatte für eminent frische Schildkröten gesorgt und die Zubereitung war vorzüglich, ganz jenem Niveau entsprechend, das sich bei einer Gesellschaft herausbildet, die aus allen Kulturländern der Welt zusammengemischt ist.

Als Zeichen der Echtheit hatte man Fleischstücke mit Knochen in der Suppe gelassen, und so fand ich denn auf dem Grunde meines Tellers ein Stück des knöchernen Brustpanzers, der bei der eßbaren Seeschildkröte in fingerartige Fortsätze ausläuft und einem grobzinkigen Kamme nicht unähnlich sieht. Der Knochen war dunkelbraun mit glänzender Oberfläche, von der Farbe, welche im Torfe aufgefundene Gegenstände zeigen. Ich putzte ihn sauber und reichte ihn meinem Freunde Desor, der mir schräg gegenüber saß, mit den Worten: „Ein prähistorischer Kamm!“

Desor lachte, Lisch aber fuhr auf: „Was? Zeigen Sie! Woher haben Sie ihn?“

„Warum bringst Du den Knochen erst jetzt vor?“ sagte Desor, der sofort auf den Spaß einging, „Du nahmst ihn ja doch ausdrücklich mit, um ihn Lisch zu zeigen und seine Meinung darüber einzuholen! Wir sind im Streite,“ fuhr Desor fort, „Vogt und ich, über die Bedeutung dieses in der Pfahlbaute von Robenhausen gefundenen, offenbar von Menschenhand bearbeiteten Knochens. Vogt hält das Instrument für einen Kamm; ich bin der Meinung, daß es als Hechel gedient habe, um die Leinknotten, wie wir sie in der Wetterau nennen, von den Flachsstengeln abzureißen, aus welchen die Pfahlbauern der Steinzeit ihre Gewebe machten. Wenn sie Flachsbrecher und Webstühle hatten, müssen sie auch Flachshecheln gehabt haben. Was meinen Sie, Lisch? Entscheiden Sie!“

Lisch entschied zu meinen Gunsten; ich schenkte ihm zum Danke das Unikum, das er sorgfältig in Papier einwickelte und in der Brusttasche barg. Der gute Alte war selig bis zum andern Morgen, wo einige höchst ernsthafte Wissenschaftler beim [130] Katzenjammerhering seine Illusionen mit rauher Hand zerstörten und die Schildkröte in ihr Besitzrecht einsetzten.

Sogar in einer so berühmten Seestadt, wie Schwerin, war demnach die Schildkröte als Nahrungsmittel vollständig unbekannt im Anfange der siebziger Jahre. Ob sie seither bis dorthin vorgedrungen ist, darüber habe ich keine positiven Nachrichten erhalten können, möchte es aber bezweifeln; denn auch in Bremen und Hamburg, zwei Plätzen, die leckere Bissen bezahlen können, und selbst in Paris ist sie ein seltener Gast. Wer vollauf echte Schildkrötensuppe essen will, muß nach London oder New-York gehen, wo die großen Thiere ein gewöhnlicher Artikel auf dem Markte sind. Es ist mir schon vorgekommen, daß ich für die Arbeiten meiner Schüler in meinem Laboratorium für vergleichende Anatomie einige recht große Köpfe von Schildkröten nöthig hatte; ich ersuchte einen meiner Londoner Freunde, sich von dem Koche seines Klubs solche abgeschnittene Köpfe, die ohnedem weggeworfen werden, auszubitten und sie mir zu schicken. Es dauerte nicht lange und die gewünschten Köpfe kamen frisch und wohl erhalten an.

Bei uns wie in Nordamerika und in vielen anderen Küstenstädten kommt nur die außerordentlich weit verbreitete Suppenschildkröte (Chelonia midas) in Betracht, die über zwei Meter lang und bis zu tausend Pfund schwer werden kann, einzig das Meer bewohnt und nur zum Eierlegen auf seichte Sandplätze am Ufer kommt. Dort ist sie über alle Maßen täppisch, linkisch und unbeholfen; im Meere, in dem nassen Elemente, gleicht sie, den übrigen leichteren Meerschildkröten gegenüber, dem breitflügeligen Adler, der mit langsamen aber wuchtigen Schlägen seiner Fittige große Strecken ohne Anstrengung durcheilt.

Riesenexemplare von der angegebenen Größe sind äußerst selten und gelangen schließlich meist in die Museen; aber Thiere, die etwa zwei Centner wiegen und einen halben Centner Fleisch zur Suppe liefern, kommen häufig auf den Markt.

Aber wie wird der Markt versehen?

Einer auf dem Meer in wachem Zustande schwimmenden Schildkröte kommt kein Boot, kein Netz und keine Büchse bei. Sie ist äußerst vorsichtig und sinkt bei der leisesten Drohung von Gefahr in die Tiefe. Vielleicht wird die eine oder andere überrascht, wenn sie schlafend auf den Wellen treibt; aber ich glaube, offen gestanden, nicht an diese Fangweise; Fischer sind eben so erfinderisch wie Jäger. Zudem wäre dies nur ein Tropfen auf einen heißen Stein.

Die gütige Natur hat alles sehr weise eingerichtet und auch hier hat sie einen sprechenden Beweis ihrer Fürsorge für ihr Lieblingskind, den Menschen, gegeben. Andere weniger schmackhafte, ungenießbare oder selbst giftige Arten, deren Fleisch krank macht, wie z. B. die Karettschildkröte, welche das Schildpatt liefert, laichen nur einmal im Jahre und nur während einer kurzen Zeit; die Suppenschildkröte aber laicht öfter während mehrerer Monate, und da die Laichzeiten an den einzelnen, auf beiden Ufern des tropischen Meeres gelegenen Sandküsten auch verschieden sind, so ist die Zufuhr zum Markte um so mehr während des ganzen Jahres gesichert, als die Kommunikationen stets schneller werden und die Thiere ein sehr zähes Leben besitzen. In Brasilien legen die Suppenschildkröten ihre Eier im December, Januar und Februar; an den mittelamerikanischen Tortugasinseln, die ihrethalben benannt wurden, von April bis September, an der Goldküste zwischen September und Januar; so sind schon durch diese Küsten des atlantischen Oeeans allein sämmtliche Monate des Jahres mit Ausnahme des März besetzt. Gefangene Schildkröten sind aber, sozusagen, gar nicht umzubringen und können mit Leichtigkeit über alle Meere transportirt werden. New-York und England beziehen die meisten von den Antillen und für diese relativ kurze Reise bringt man sie nicht einmal in Becken mit Seewasser, sondern behandelt sie ähnlich wie Karpfen, die man in feuchten Kellern entsumpfen will. Man bindet die auf den Rücken gedrehten Schildkröten auf und in dem Schiffe fest, hüllt sie in Segeltuch, das von Zeit zu Zeit mit Wasser begossen wird, und wenn man ihnen besonders wohl will, steckt man ihnen in Seewasser getauchten Zwieback in den Schnabel: so leben sie Monate lang ganz gemüthlich fort, magern freilich etwas ab, behalten aber guten Geschmack.

Weder die Eier dieser und anderer Schildkröten, die massenweise abgelegt und gesammelt werden, noch das aus ihnen gepreßte Oel, das vortrefflich und sehr schmackhaft sein soll, kommen bis zu uns; sie sind nur Gegenstand der Lokalverzehrung.

Ganz ebenso verhält es sich mit den übrigen Meerschildkröten, den Fluß-, Sumpf- und Landschildkröten, welche in gewissen wärmeren Gegenden ein ebenso wichtiges Element der Ernährung bilden wie die Hühnervögel. In unseren Gegenden, wo nur die europäische Sumpfschildkröte hier und da in Morästen und Torfmooren vorkommt und bis in die russischen Ostseeprovinzen vordringt, sind freilich eingeborene Schildkröten zu selten, um eine Rolle in der Küche zu spielen; aber in Süditalien, Sicilien, Griechenland und Kleinasien kommen sie schon häufig auf den Markt, in Algerien sind sie, obgleich sie in allen Bächen und Tümpeln wimmeln, durch die unaufhörliche Jagd schon so schlau und gewitzigt, daß es arabischer Geduld bebarf, um ihrer habhaft zu werden.

In den südlichen Theilen der nordamerikanischen Freistaaten nehmen die Schildkröten, ebenso wie in Mexiko und weiter südlich, einen hervorragenden Platz in der Küche ein; an den Mündungen der großen Ströme, des Orinoko und Amazonenstromes liefern ihre zu Millionen in den Sandbänken der Deltas abgelegten Eier fast das einzige Speisenöl, das bei sorgfältiger Zubereitung dem besten Olivenöle gleichgeschätzt wird, und an manchen Uferorten des Amazonenstromes essen ganze Völkerschaften jahraus, jahrein kein anderes Fleisch als dasjenige der großen Flußschildkröten. Ein Gericht, das zubereitet wird, indem man das an dem Brustpanzer sitzende Fleisch in dem Panzer selbst wie in einer Schüssel brät, gilt als einer der feinsten Leckerbissen. Den neuen Ankömmlingen scheint anfangs das Schildkrötenfleisch vortrefflich, schmackhaft, zart, dem besten Hühnerfleische ähnlich; bei längerem Aufenthalte geht es ihnen aber damit, wie uns Gletscherbewohnern mit dem Schaffleische – wir konnten es nach zweimonatlichem Aufenthalte nicht mehr riechen, geschweige denn essen. Toujours perdrix! bewährt sich so oft.

Eine wissenschaftliche Frage von einiger Bedeutung knüpft sich an die Verzehrung einiger Landschildkröten. Der Mensch ist ohne Zweifel der ärgste und grausamste Vertilger; er hat den Auerochsen nach Lithauen, das Elch nach Ostpreußen, den Bison über das Felsengebirge zurückgejagt, den Walfisch in die äußersten Polarmeere, den Elefanten in das Innere des dunklen Welttheiles gebannt und er wird nach und nach alle diese Thiere ausrotten, wie er die Moas, die großen Laufvögel Neu-Seelands, den Dronte der Insel Mauritius, den flügellosen Alk, diesen Riesentaucher des Nordens, und das Borkenthier (Rhytine, eine Art Seekuh) der Küsten der Behringsstraße ausgerottet hat. Man hat sich vielfach und in fast gründlicher Weise mit diesen Ausrottungen beschäftigt, die nur das letzte Ende der tief eingreifenden Verändernden darstellen, welche das Thun und Treiben des Menschen bedingt, man hat dabei fast vergessen, daß riesige, auf Inseln eingeschlossene Landschildkröten demselben Schicksale entweder verfallen oder ernsthaft davon bedroht sind.

Darwin besuchte im Anfange der dreißiger Jahre die Galopagos-Inseln im Westen Südamerikas und machte dort Bekanntschaft mit riesigen Landschildkröten, die ihm anfangs wie antediluvianische Ungeheuer vorkamen, mit denen er aber bald so vertraut wurde, daß er sich häufig auf ihren Rücken setzte. „Wenn ich ihnen auf den hinteren Theil der Schale einige Schläge gab,“ sagt Darwin, „standen sie auf und gingen fort; ich fand es aber schwierig, das Gleichgewicht zu behaupten.“

Nun, diese oft sehr fetten Thiere, die bis zu zwei Centnern Fleisch liefern können, fanden sich früher in so großer Menge auf den Galopagos, daß die Schiffe dort anhielten, um sich mit leichter Mühe zu verproviantiren. Im Anfange unseres Jahrhunderts war man noch wählerisch; vor fünfzig Jahren begegnete Darwin noch immerhin einigen Spaziergängern bei seinen Ausflügen; heute ist es zweifelhaft, ob auf einer der kleinsten Inseln der Gruppe noch einige existiren.

Auf den Maskarenen-Inseln, Reunion, Mauritius, Rodriguez und Aldabra ging es ebenso. Im Jahre 1691 sah Leguat auf Rodriguez noch Herden von 2000 bis 3000 Stück zusammen; heute giebt es vielleicht noch einige auf Aldabra, aber keine mehr auf den anderen Inseln. Man kann den Schiffern keinen Vorwurf machen, daß sie die Schildkröten tödteten, um sich statt des Pökelfleisches frisches Fleisch zu verschaffen und so den Skorbut vom Leibe zu halten – aber ausgerottet sind die Thiere und es ist keine Hoffnung, das vortreffliche Fleisch für die Küche unserer Nachkommen zurückzuerobern!


  1. vergl. „Gartenlaube“ Jahrgang 1887, Seite 359.