Anacharsis oder von der Gymnastik

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Autor: Lukian von Samosata
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Titel: Anacharsis oder von der Gymnastik
Untertitel:
aus: Lucian’s Werke, übersetzt von August Friedrich Pauly, Zehntes Bändchen, Seite 1185–1218
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 2. Jahrhundert
Erscheinungsdatum: 1829
Verlag: J. B. Metzler
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Erscheinungsort: Stuttgart
Übersetzer: August Friedrich Pauly
Originaltitel: Ἀνάχαρσις ἢ Περὶ Γυμνασίων
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
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Kurzbeschreibung:
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[1185]
Anacharsis
oder
von der Gymnastik.
Anacharsis und Solon.

1. Anacharsis. Aber sage mir doch, Solon, Was wollen die Jünglinge da? Die Einen umschlingen einander, und unterschlagen Einer dem Andern ein Bein; Andere würgen einander und winden sich und wälzen sich mit einander im Kothe herum, wie die Schweine. Und doch sah ich, wie sie sich Anfangs, gleich nachdem sie sich entkleidet hatten, mit Oehl einsalbten, und wie da der Reihe nach Einer den Andern ganz friedlich einrieb. Darauf aber weiß ich nicht, Was sie anwandelte: denn auf Einmal rennen sie mit gebückten Köpfen gegen einander und stoßen die Stirnen zusammen, wie die Böcke. Und siehe, Einer hebt den Andern bei den Beinen empor, und läßt ihn zu Boden fallen; dann wirft er sich auf ihn, und läßt ihn nicht emporkommen, sondern drückt ihn noch tiefer in den Koth hinein; endlich schlingt er die Beine um seinen Leib, den Arm drückt er ihm an die Kehle, und würgt ihn erbärmlich. Dieser aber klopft ihm auf die Schulter und bittet, wie ich glaube, ihn doch nicht vollends ganz zu ersticken. Des Oehls ungeachtet besudeln sie sich so, [1186] daß man gar nicht mehr sieht, daß sie sich gesalbt haben. Und lächerlich ist es, zu sehen, wie sie, mit Koth und Schweiß überzogen, wie Aale sich aus den Händen schlüpfen.

2. Wieder Andere thun Dasselbe im Freien des Hofes, jedoch hier ohne Koth. Sie haben nämlich eine Menge Sand in jene Grube geworfen, womit sie sich wechselseitig bestreuen, und sich selbst freiwillig bewerfen, wie scharrende Hähne, ohne Zweifel, um im Ringkampfe desto weniger entschlüpfen zu können, indem der Sand das Schlüpfrige benimmt, und ein festeres Anfassen des trockenen Körpers gestattet.

3. Und die aufrecht Stehenden dort sind gleichfalls eingestäubt, und schlagen auf einander los, und stoßen mit den Füßen. Da, siehst du, ist Einer mit der Faust an die Kinnlade geschlagen worden, so daß er den Mund voll Sand und Blut hat, und fast noch die Zähne mit ausspuckt, der arme Tropf. Dennoch bringt sie auch sogar der Archon[1] dort nicht aus einander, um dem Streite ein Ende zu machen; ich schließe wenigstens aus dem Purpurkleide, daß er Einer der Archonten ist.

4. Vielmehr hetzt er sie noch auf, und lobt Den, der so zugeschlagen hat. Auf jener andern Seite tummeln sich Alle zusammen: sie laufen an, als ob sie davon rennen wollten, und bleiben doch auf derselben Stelle, springen in die Höhe, und schlagen mit den Füßen in die Luft.

5. Da möchte ich nun doch wissen, für Was das Alles gut seyn soll; mir wenigstens scheint dieß Treiben eher dem [1187] Benehmen der Wahnsinnigen gleich zu sehen, und man wird mir es nicht so leicht ausreden, daß diese Leute nicht ganz richtig im Kopfe sind.

6. Solon. Natürlich muß dir Alles, was hier vorgeht, ganz sonderbar und von Scythischen Sitten abweichend erscheinen, mein Anacharsis; wie denn auch ihr gewiß viele Uebungen und Beschäftigungen habt, die einem Griechen ganz fremdartig vorkommen müßten, wenn er so, wie du jetzt, mitten dazu käme. Allein laß dich Das nicht anfechten, mein Lieber. Was du da siehst, ist nicht Wirkung des Wahnsinns, und auch nicht aus Muthwillen schlagen sie auf einander, und wälzen sich im Kothe, und bestreuen sich mit Staub: sondern die Sache hat ihren erfreulichen Nutzen, und macht die Körper der Jünglinge nicht wenig kräftig. Und wenn du, Was ich hoffe, länger in Griechenland verweilen wirst, so bist du in Kurzem wohl selbst Einer von diesen Besudelten und Bestäubten: so nützlich und angenehm werden dir diese Uebungen vorkommen.

Anacharsis. Das sey ferne, o Solon! Mögen euch immer diese Dinge nützlich und angenehm seyn. Mit mir aber soll einmal Einer von euch so umgehen, so wird er bald fühlen, daß wir Scythen unsere Säbel nicht umsonst an der Seite tragen.

7. Aber sage mir, was habt ihr diesem Wesen da für einen Namen gegeben, oder Was sollen wir sagen, daß sie treiben?

Solon. Der Platz selbst heißt Gymnasium, mein Freund, und ist ein Heiligthum des Lycischen Apollo. Du siehst dort sein Bild, wie er sich auf eine Säule stützt, mit der Linken [1188] den Bogen hält, und den rechten Arm über das Haupt gelegt hat. Das ganze Bild zeigt den Gott ruhend nach langem Kampfe.

8. Von jenen Kampfübungen aber heißt die, welche im Kothe vorgeht, Ringkampf, und eben so sind auch diese Bestäubten da Ringer. Das Faustschlagen aber in aufrechter Stellung nennen wir den Hauptkampf.[2] Noch haben wir andere Gattungen, den Faustkampf (mit dem Riemenhandschuh), das Werfen der Scheibe und das Ueberspringen. In allen diesen Uebungen werden Wettkämpfe angestellt, und der Siegende gilt für den Ersten unter seinen Genossen, und trägt die Kampfpreise davon.

9. Anacharsis. Kampfpreise? Was habt ihr denn für welche?

Solon. In Olympia einen Kranz, geflochten von Oehlzweigen, auf dem Isthmus von Fichten, in Nemea von Eppich, in Potho[3] etliche von den heiligen Aepfeln des Gottes, bei uns in den Panathenäen das Oehl von dem Baume der Minerva. Warum lachst du, Anacharsis? Scheinen dir diese Preise zu unbedeutend?

Anacharsis. Nein! Vielmehr hast du höchst ehrenwerthe Preise genannt, mein Solon, die es verdienen, daß Die, welche sie aussetzen, sich auf ihre glänzenden Spenden was Rechtes einbilden, und daß die Kämpfer sich gewaltige Mühe geben um die Erwerbung solcher Herrlichkeiten. Da ist es denn schon der Mühe werth, um Aepfel und Eppich [1189] sich vorher so abzuarbeiten, solche Gefahren zu bestehen, sich würgen und die Glieder verdrehen zu lassen, als ob nicht ohne alle Mühe Jeder, der Lust hat, Aepfel genug haben, oder mit Eppich oder Fichtenzweigen sich bekränzen könnte, ohne zuvor sich mit Koth das Gesicht beschmieren, oder sich von seinen Gegnern auf den Bauch stampfen lassen zu müssen.

10. Solon. Mein Bester, nicht auf die Gaben an und für sich sehen wir. Diese sind nur die Zeichen des Sieges, und die Merkmale Derer, die gewonnen haben. Der Ruhm aber, der sich an jene Gaben knüpft, ist es, Was den Siegern über Alles gilt. Um seiner willen auch Stöße auszuhalten, steht Denen gut an, die in den Kämpfen nach einem schönen Namen jagen. Denn mühelos ist dieser nicht zu haben: sondern Wer darnach strebt, muß zuvor des Lästigen vieles erdulden, und darf dann erst Gewinn und süße Frucht von seinen Kämpfen erwarten.

Anacharsis. Das nennst du Gewinn und süße Frucht, Solon, wenn alle Leute sie bekränzt sehen, und nun wegen ihres Sieges sie preisen, ohngeachtet Dieselben sie früher der Schläge wegen gewiß innig bemitleidet hatten? Wie? und die Leute werden sie glücklich nennen, wenn sie für alle ihre Anstrengung Nichts als Aepfel und Eppich haben?

Solon. Du bist, meine ich, noch wenig bekannt mit unsern Gebräuchen. Bald aber wirst du auf eine andere Meinung kommen, wenn du die Festversammlungen besuchen und sehen wirst, welche Menschenmasse zusammenkommt, um diese Kämpfe zu schauen, wie die Schauplätze mit Tausenden gefüllt sind, und wie die Kämpfer gepriesen, ihre Sieger aber göttergleich geachtet werden.

[1190] 11. Anacharsis. Gerade Dieß ist das Kläglichste, Solon, daß sie nicht im Angesichte Weniger, sondern vor so vielen Zuschauern und Zeugen solche Schmach erleiden. Ja, Diese werden sie wohl glücklich preisen, wenn sie so von Blute triefen, und gewürgt werden von ihren Gegnern. Denn Dieß ist das ganze Glück, das ihnen ihr Sieg einträgt. Bei uns Scythen aber, mein Freund, wenn da Einer einen Bürger schlägt, oder anfällt und zu Boden wirft, oder das Gewand ihm zerreißt, dem legen die Aeltesten eine gewaltige Strafe auf, wenn auch nur Wenige Zeugen dieser Behandlung waren, geschweige aber, wenn es auf Schauplätzen geschähe, wie du eben genannt hast, auf dem Isthmus, in Olympia. Wirklich, ich bedauere diese Kämpfer wegen ihrer Mühseligkeiten. Wundern aber muß ich mich über die Zuschauer, über die wackern Bürger, die, wie du sagst, von allen Seiten zu den Festversammlungen herbeikommen, ihre nothwendigsten Geschäfte liegen lassen, und sich die Zeit mit solchen Dingen vertreiben. Denn ich kann nicht begreifen, was Das für ein Genuß für sie seyn kann, Leute zu sehen, die sich schlagen, raufen, zu Boden werfen und durchwalken.

12. Solon. Wenn jetzt gerade, mein Anacharsis, die Zeit der Olympischen, Isthmischen oder Panathenischen Spielt wäre, so würde, Was dort geschieht, selbst dich belehren, daß wir auf diese Dinge keinen vergeblichen Fleiß verwenden. Denn mit bloßen Worten wird man dir schwerlich das Vergnügen an jenen Wettkämpfen beibringen, welches du empfinden würdest, wenn du selbst mitten unter den Zuschauern säßest, und betrachtetest den Muth der jungen Männer, die Schönheit der Leiber und die bewundernswürdige Wohlgestalt, [1191] die ungemeinen Fertigkeiten, die unbekämpfbare Kraft und Kühnheit und Ehrliebe und unbezwungene Gesinnung und unermüdlichen Eifer für den Sieg. Denn ich weiß wohl, daß du da nicht aufhören würdest, zu loben, zu rufen und zu klatschen.

13. Anacharsis. Ja, bei’m Zeus! und obendrein, mein Solon, würde ich lachen und mich lustig machen. Denn alles Das, was du so eben aufzähltest, den Muth, die Wohlgestalt, die Schönheit, die Kühnheit, sehe ich hier um keines großen Zweckes willen verbraucht werden, und ohne daß das Vaterland in Gefahr wäre, oder die Fluren verheert, oder Freunde und Verwandte gemißhandelt würden. Um so lächerlicher würde es also mir vorkommen, daß nutzlos die Edelsten, wie du sagst, solche Mühen sich gefallen lassen, sich abarbeiten, und mit Sand und blauen Flecken diese schönen und prächtigen Körper verunzieren, bloß um zugleich mit dem Siege eines Apfels oder eines Oehlzweiges habhaft zu werden. Denn es macht mir Spaß, immer wieder jener Preise zu erwähnen, weil sie so stattlich sind. Aber sage mir, werden sie allen Kämpfern zu Theil?

Solon. Keineswegs, sondern Einem von Allen, dem Ueberwinder.

Anacharsis. Wie? also auf einen ungewissen Sieg hin zerarbeiten sie sich, da sie doch wissen, daß durchaus nur Einer Sieger seyn wird, und daß alle die vielen Ueberwundenen umsonst erbärmlich Schläge, Etliche auch Wunden davon tragen?

14. Solon. Du scheinst mir noch nie über die rechte Art der Staatsverfassung nachgedacht zu haben, sonst würdest [1192] du nicht die schönste aller Einrichtungen tadelnswerth finden. Sollte dir aber einmal daran liegen, zu wissen, wie eine Stadt am besten verwaltet werden, und wie man die wackersten Bürger ziehen könne, dann wirst du auch diese Uebungen loben, und die Ehrliebe, mit der wir sie treiben, und wirst erfahren, daß sich des Nützlichen vieles mit diesen Anstrengungen paart, wenn dir für jetzt auch unsere Jünglinge vergebliche Mühe sich zu geben scheinen.

Anacharsis. Ich bin ja, mein Solon, aus keiner andern Absicht aus Scythien zu euch gekommen, und habe eine so große Länderstrecke durchwandert, und den weiten und stürmischen Euxinus durchschifft, als um die Gesetze und Sitten der Griechen kennen zu lernen, und mich über die beste Staatsverfassung gründlich zu unterrichten. Darum habe ich auch unter allen Athenern vornehmlich dich deines Ruhmes wegen zum Vertrauten und Gastfreunde mir ausersehen. Denn ich vernahm, du habest Gesetze gegeben, die löblichsten Gebräuche aufgebracht, nützliche Einrichtungen eingeführt, überhaupt die Verfassung des Staates geordnet. Und so beginne denn, mich zu lehren und zu deinem Schüler zu machen: ich werde nicht säumen, mich an deine Seite zu setzen, und mit größter Begierde zu vernehmen, Was du über Verfassung und Gesetze sprechen wirst, ja auf Speise und Trank gerne verzichten, um dich so lange zu hören, als du nur selbst zu reden wirst ausdauern können.

15. Solon. In kurzer Zeit das Ganze aus einander zu setzen, ist wohl nicht leicht, mein Freund! sondern in’s Einzelne gehend wirst du nach und nach Alles erfahren, was uns in Beziehung auf die Götter, die Eltern, die Ehe und [1193] die übrigen Verhältnisse festzustellen gut geschienen hat. Unsere Ansicht aber von der Jugend, und wie wir sie behandeln, sobald sie begonnen hat, zu verstehen, Was ihr frommt, und am Körper männlich zu erstarken, und den Anstrengungen gewachsen zu seyn – Dieß werde ich dir nun sagen, damit du wissest, weßwegen wir diese Uebungen ihnen vorschreiben, und sie nöthigen, ihre Körper durchzuarbeiten. Nicht allein um der Kampfspiele willen geschieht Dieß, um dort die Siegerpreise davon tragen zu können. Denn zu diesen können nur ganz Wenige von Allen gelangen. Sondern ein größeres Gut erwerben sie dadurch dem ganzen Staate und sich selbst. Denn es ist noch um einen andern, gemeinsamen Wettkampf aller guten Bürger zu thun, und um einen Kranz, nicht von Fichten- oder Oehlzweigen und Eppich, sondern der die ganze Glückseligkeit der Sterblichen in sich begreift: ich meine die Freiheit des Einzelnen und die gemeinsame des ganzen Vaterlandes, und Wohlstand, und Ruhm, und der heimischen Feste Frohgenuß, und der Angehörigen Sicherheit; mit Einem Worte: das Schönste von Allem, was wir von den Göttern uns erbitten können. All Dieses ist in jenem Kranze zusammengeflochten, und wird errungen in jenem Wettkampfe. Und zu solchem Ziele führen diese Uebungen und Mühen.

16. Anacharsis. Wie, du sonderbarer Solon, von so herrlichen Siegerpreisen hast du zu erzählen, und nanntest mir vorhin nur Aepfel und Eppich und Oehl- und Fichtenzweige?

Solon. Und dennoch, mein Anacharsis, werden auch diese dir nimmer so ärmlich erscheinen, wenn du recht gefaßt haben wirst, Was ich dir weiter sage. Denn alle diese Dinge [1194] sind aus derselben Gesinnung entstanden, und sind nur kleine Theile jenes großen Wettkampfes und des allbeseligenden Kranzes, von dem ich eben sprach. Vorhin bin ich nämlich unvermerkt etwas aus der Ordnung gerathen, und habe jener Isthmischen, Olympischen und Nemeischen Dinge zu bald erwähnt. Nun aber wollen wir, da wir Muße haben, und du Lust bezeigst, weiter zu hören, auf Das zurückkommen, womit wir hätten anfangen sollen, auf jenen gemeinsamen Wettkampf, um dessen willen dieses Alles getrieben wird.

Anacharsis. Schön: so wird dein Unterricht geordneter von Statten gehen, und vielleicht bald werde ich mich bereden lassen, nicht mehr zu lachen, wenn ich Einen von jenen Fichten- oder Eppichbekränzten ein so feierliches Gesicht machen sehe. Wenn es dir aber gefällt, so wollen wir unter jenen Schatten gehen, und uns dort auf die Bänke setzen, um durch dieses Geschrei nicht gestört zu werden. Ueberdieß – es muß nun schon heraus – kann ich die Sonne nicht recht ertragen, die so stechend mir auf den bloßen Kopf brennt. Denn meinen Hut wollte ich zu Hause lassen, um nicht allein in einem so fremden Aufzuge zu erscheinen.[4] Es ist ja die heisseste Jahrszeit, wo der Hundsstern, wie ihr ihn nennet, eine Glühhitze bringt, die Alles versengt, und den Luftraum austrocknet und entzündet; und jetzt, da es Mittag ist, steht die Sonne über unsern Häuptern, und verursacht eine dem Körper unerträgliche Wärme; so daß ich mich über dich wundern muß, wie du, schon ein Greis, bei [1195] der Hitze weder schwitzest, wie ich, noch überhaupt von ihr belästigt scheinst, und nicht einmal nach einem Schatten dich umsiehst, um unterzutreten, sondern ohne Beschwerde die Sonne aushältst.

Solon. Diese nutzlosen Arbeiten da, mein Lieber, dieses beständige Umwälzen in dem Kothe und die Mühseligkeiten im Sande unter freiem Himmel gewähren uns diese Schutzwehr gegen die Geschosse der Sonne, und wir bedürfen keines Hutes mehr, um den Strahl abzuhalten, daß er unser Haupt nicht treffe. Jedoch laß uns dort hin gehen.

17. Glaube aber nicht, auf meine Worte wie auf Gesetze merken, und deine Zustimmung Allem ohne Unterschied schenken zu müssen; sondern wo ich dir etwas Unrichtiges gesagt zu haben scheine, widersprich mir sogleich und berichtige meine Worte. Denn so kann uns von zwei Vortheilen der eine nicht entgehen; entweder gewinnst du um so festere Ueberzeugung, wenn du zuvor alles Dessen dich entledigt hast, was du glaubst, dagegen sagen zu können; oder ich werde zur Einsicht gebracht, daß ich bisher nicht die rechte Vorstellung von diesen Dingen hatte. Und im letztern Falle würde die gesammte Stadt der Athener nicht säumen, dir ihren Dank zu bezeugen. Denn mit jeder Belehrung und Zurechtweisung, die du mir ertheilst, wirst du auch der Stadt die größte Wohlthat erwiesen haben, indem ich ihr Nichts verheimlichen, sondern, Was du mir gesagt, sogleich vor die Gemeine bringen werde: ich werde auf der Pnyx auftreten, und also zu sämmtlichen Bürgern sprechen: „Ihr Männer von Athen! ich habe euch zwar Gesetze verfaßt, wie ich glaubte, daß sie dem gemeinen Wesen am zuträglichsten seyen; allein [1196] dieser fremde Mann da (und dabei werde ich auf dich deuten), ein Scythe, aber ein gar gescheidter Mann, hat mich eines Bessern belehrt, und mir andere weit vorzüglichere Beschäftigungen und Gegenstände des Unterrichts gezeigt. Und so soll er denn als euer Wohlthäter[5] öffentlich erklärt, und seine eherne Bildsäule entweder in der Stadt bei den Eponymen[6], oder auf der Burg bei’m Heiligthume der Athene aufgestellt werden.“ Und wisse, daß die Athener sich gar nicht schämen würden, von einem Nicht-Griechen das Nützliche zu erlernen.

18. Anacharsis. Nun Das ist’s ja, was ich immer von euch Athenern habe sagen hören, daß ihr die Ironie in euren Reden liebet. Wie soll denn ich dazu kommen, ein Nomade und unstäter Mensch, auf dem Wagen erzogen, einen Landstrich immer mit einem andern vertauschend, der ich nie eine Stadt bewohnt, ja außer dieser nie eine gesehen habe – wie soll ich von Staatseinrichtung sprechen, und erdentsprossene[7] Männer belehren können, welche diese uralte Stadt schon so lange Zeit her in bester Ordnung verwalten? [1197] wie vor Allen dich, mein Solon, der von jeher gerade Das zu seinem Studium gemacht haben soll, zu untersuchen, wie eine Stadt am besten verwaltet werden und bei welchen Gesetzen sie am glücklichsten seyn könne? Dessen ungeachtet soll dir auch hierin als einem Gesetzgeber Folge geleistet werden: und ich will dir einreden, wo du mir nicht richtig gesprochen zu haben scheinst, aber nur, um dich desto gründlicher zu verstehen. – Siehe, jetzt sind wir ja der Sonne entgangen und unter einem Schattendache. Auch ist ein sehr angenehmer und willkommener Sitz auf dem kühlen Steine hier. So sage mir nun Alles von Anfang an, wie ihr eure Söhne in den Kinderjahren schon sich zerarbeiten lasset, und wie sie als treffliche Männer aus dem Kothe und diesen Uebungen euch hervorgehen, und Was der Staub und das Kopfüberschlagen ihnen zur Tugend helfen soll. Dieß verlangte mich eigentlich gleich Anfangs zu erfahren. Ueber das Uebrige wirst du mich später einmal zu gelegener Zeit einzeln belehren. Allein Das vergiß nie in deinem Vortrage, mein Freund, daß du zu einem ungebildeten Ausländer sprichst. Ich sage dir Dieß, damit du nicht so sehr in einander verflechtest, Was du zu sagen hast, noch es auch zu sehr ausdehnest. Denn ich fürchte, den Anfang zu vergessen, ob der strömenden Fülle der Ausführung.

19. Solon. Du selbst, mein Freund, wirst am besten beobachten können, wo dir meine Worte nicht ganz deutlich sind, oder wo der Fluß der Rede sich aus seinem Bette verirrt und gesetzlos daher strömt. Unterbreche mich alsdann, wie du willst, und schneide die überflüssige Länge ab. Ist aber, Was ich vorbringe, zur Sache nicht ungehörig, und nicht zu ferne vom Ziele abliegend, so wird es, glaube ich, [1198] Nichts schaden, wenn es auch weiter ausgeführt werden sollte. Beobachtet ja auch der Areopag, der bei uns über Tod und Leben richtet, eben Dasselbe von den Vätern her. Denn wenn diese Versammlung zusammenkommt und sich niedersetzt, um über einen Mord, oder eine absichtliche Verwundung oder Brandstiftung zu richten, so wird jedem von beiden Theilen das Wort gestattet. Und nun sprechen nach einander der Kläger und der Beklagte entweder selbst, oder sie stellen Redner auf, die für sie das Wort führen. So lange nun Diese über ihren Gegenstand sprechen, hört das Gericht sie in Ruhe an. Sobald aber Einer seinem Vortrage einen Eingang voranschickt, womit er die Zuhörer für sich gewinnen will, oder der Sache durch Nebendinge noch mehr Mitleid- oder Haßerregendes leihet – Kunstgriffe, deren die Redner vom Handwerke sich oft gegen die Richter bedienen – so tritt sogleich der Herold auf und gebietet Stillschweigen, indem man kein leeres Wortemachen vor jener Versammlung und kein rednerisches Bemänteln des Gegenstandes duldet, sondern die nackte That vor dem Gerichte erscheinen lassen will. So mache ich jetzt auch dich, mein Anacharsis, zum Areopagiten: höre mich nach dem Brauche dieses Gerichtes an und heiße mich schweigen, wenn du merkst, daß ich dich beschwatzen will. So lange ich aber bei der Sache bleibe, so laß mich immer ausführlich werden. Wir stehen ja nicht mehr unter der Sonne, wo es verdrießlich wäre, wenn meine Rede sich in die Länge zöge: sondern hier haben wir dichten Schatten und Muße genug.

Anacharsis. Du meinst es recht gut, mein Solon: auch dafür weiß ich dir keinen geringen Dank, daß du mich [1199] im Vorbeigehen von dem Areopag unterrichtet hast: wahrlich eine bewundernswürdige Einrichtung, würdig der wackern Berather, die ihre Stimme nur nach der Wahrheit geben. So sprich nun, und ich, der Areopagite (denn dazu hast du mich ja gemacht), will dir nach der Regel jenes Gerichtes zuhören.

20. Solon. Vorerst mußt du kürzlich unsere Ansicht von Stadt und Bürgern vernehmen. Unter der Stadt denken wir uns nicht bloß die Gebäude, die Mauern, die Tempel, die Zeughäuser; alles Dieses gilt uns bloß für einen dauerhaften festen Körper, bestimmt zur Aufnahme und Sicherung der Inwohnenden: sondern das eigentliche Wesen der Stadt setzen wir in die Bürger. Diese beleben, ordnen, vollenden das Ganze, und verwahren es. Sie sind, Was in uns die Seele ist. Von dieser Ansicht ausgehend, sorgen wir zwar, wie du siehst, auch für den Körper, die Stadt; wir schmücken sie aus und machen sie so schön als möglich, versehen sie mit schönen Gebäuden, und umgürten sie von außen mit diesen Ringmauern da auf’s Sicherste. Am meisten aber und hauptsächlich sinnen wir darauf, wie die Bürger edel im Gemüthe, und stark am Körper werden möchten. Solche erst werden, im bürgerlichen Verbande zusammenlebend, sich gut berathen in Friedenszeit, im Kriege aber die Vaterstadt retten und Freiheit und Wohlstand beschützen. Ihre erste Erziehung nun überlassen wir den Müttern, Wärterinnen und Lehrern, um sie durch Erziehungsmittel, würdig der Freigeborenen, heranzubilden. Sobald sie aber zur Einsicht des Schönen und Guten gelangt sind, und Ehrgefühl und Sittsamkeit, Scheue und Begierde nach dem Rühmlichen in ihnen aufkeimt, wenn [1200] ihre Körper fester geworden und kräftiger zusammengedrungen, den Anstrengungen gewachsen scheinen, alsdann übernehmen wir ihren Unterricht, geben ihnen Beschäftigung und Uebungen des Geistes, und gewöhnen ihre Körper zu Anstrengungen. Denn es ist uns nicht genug, Jeden dem Leibe und der Seele nach so zu lassen, wie ihn die Natur geschaffen, sondern wir bedürfen für Jeden der Bildung und des Unterrichts, damit das von Natur schon glücklich Geschaffene noch um Vieles besser, die schlechte Anlage aber veredelt werde. Unsere Muster sind hierin die Landleute, welche die Pflanzen, so lange sie klein und zart sind, schützen und umzäunen, daß sie nicht von den Winden verletzt werden. Wenn aber der Sprößling erstarkt ist, schneiden sie das überflüssig Auskeimende ab, und indem sie den Baum den Winden zu bewegen und zu schütteln preisgeben, machen sie ihn fruchtbarer.

21. Den Geist wecken wir vorerst mit der Ton- und Zahlenlehre, und lehren die Knaben schreiben und deutlich lesen. Wenn sie weiter vorgerückt sind, tragen wir ihnen die Sprüche weiser Männer, die Thaten des Alterthums, und fruchtbare Gedanken vor, und umkleiden dieses Alles mit dem Reize des Sylbenmaßes, damit sie es um so leichter im Gedächtnisse behalten. Und während sie von Heldenthaten und Werken hören, die im Gesange leben, regt es sich allmählig selbst in ihnen, und treibt sie zur Nachahmung, damit auch sie einst besungen und bewundert werden möchten von ihren Nachkommen. Solcher Thaten viele haben uns Hesiodus und Homerus besungen. Wenn sie nun dem Zeitpunkte sich nähern, wo sie Theil an Besorgung öffentlicher Angelegenheiten nehmen sollen – jedoch Dieß liegt wohl [1201] außerhalb unsers Kreises: denn nicht, wie wir ihre Seelen üben, habe ich hier zu sagen, sondern wozu wir mit solchen Anstrengungen sie tüchtig zu machen glauben. Und so lege ich mir selbst Stillschweigen auf, ohne auf den Herold oder auf dich, den Areopagiten, zu warten, der aus Bescheidenheit vielleicht mich so lange zur Sache Ungehöriges hat schwatzen lassen.

Anacharsis. Sage mir, Solon, hat man auf dem Areopag keine Strafe Denjenigen zugedacht, welche das Nothwendigste nicht sagen, sondern verschweigen?

Solon. Warum fragst du mich Das? Ich verstehe dich nicht.

Anacharsis. Weil du das Schönste, wovon ich am liebsten reden höre, die Geistesbildung, hier unberührt lassen, und von dem minder Nothwendigen sprechen willst, von den Uebungen und Durcharbeitungen der Leiber.

Solon. Ich erinnerte mich deiner Warnungen, mein Lieber, und wollte also in meiner Rede nicht abschweifen, um dich nicht zu verwirren mit dem Zuströmen des Mannichfaltigen. Jedoch auch hierüber will ich dir, so viel möglich in der Kürze, Auskunft geben. Das Genauere über diesen Gegenstand gehört für eine andere Gelegenheit.

22. Wir stimmen nämlich die Gemüther unserer Jünglinge zur Harmonie des Ganzen, indem wir sie mit den gemeinsamen Gesetzen gründlich bekannt machen, welche, mit großen Buchstaben geschrieben, öffentlich für Jeden zum Lesen aufgestellt sind, und Jeden anweisen, Was er zu thun und zu lassen habe. Wir bringen sie in den Umgang mit edeln Männern, von denen sie passend reden und rechtschaffen handeln, [1202] des Unwürdigen nicht begehren, sondern streben nach dem Guten und roher Gewalt sich enthalten lernen. Diese Männer heißen bei uns Weltweise. Auch führen wir sie in das Schauspiel, und bilden sie gemeinsam durch Komödien und Tragödien, damit sie, die Tugenden vergangener Menschen und der Leute Schlechtigkeit betrachtend, von Diesen sich abwenden und Jenen nachstreben. Den Komöden gestatten wir, die Bürger zu verspotten und zu schmähen, deren Betragen unsittlich und Athens unwürdig ist. Und Dieß geschieht sowohl um Dieser selbst willen, um sie durch diese öffentliche Rüge zu bessern, als auch die übrigen Alle zu warnen, sich keinem ähnlichen Vorwurfe auszusetzen.

23. Anacharsis. Ich habe die Tragöden und Komöden gesehen, von denen du sprichst, wenn es anders Dieselben sind. Sie hatten schwere und hohe Bundstiefel[8] an, mit goldenen Streifen verzierte Gewänder, gar lächerliche Masken[9] mit weit aufgesperrten Mäulern, aus denen sie gewaltig lärmten; auch schritten sie nicht am sichersten einher auf ihren hohen Schuhen. Dem Dionysus, wenn ich nicht irre, feierte damals die Stadt ein Fest. Die Komöden aber sind nicht so hoch als Jene, sondern gehen auf dem ebenen Boden, sie sehen menschlicher aus, und schreien auch nicht so sehr; aber ihre Masken sind noch viel lächerlicher, und die Zuschauer insgesammt mußten über sie lachen, während sie [1203] jenen Hochbeinigten immer mit betrübten Gesichtern zuhorchten, aus Mitleiden vielleicht, weil sie so schwere Fußfesseln einherschleppen mußten.

Solon. Nicht Diese selbst bedauerten sie, mein Lieber: sondern der Dichter hatte wahrscheinlich eine tragische Begebenheit aus dem Alterthume den Zuschauern dargestellt, und rührende Stellen im feierlichen Tone des Trauerspiels vortragen lassen, wodurch die Zuhörer bis zu Thränen gebracht wurden. Ohne Zweifel hast du damals auch Flötende gesehen, und wieder Andere, die im Kreise herumstanden und sangen.[10] Auch dieses Singen und Flötenspiel ist nicht ohne Zweck, mein Anacharsis. Denn durch Dieses und Aehnliches regen wir ihre Gemüther wohlthätig an und veredeln sie.

24. Die Leiber aber, und Das verlangtest du ja hauptsächlich zu hören, üben wir also: Wir entkleiden sie, wie ich sagte, wenn sie nicht mehr zart sind und festere Muskeln haben, und suchen sie zuerst an die Luft zu gewöhnen, indem wir sie vertraut machen mit jeglicher Jahrszeit, so daß sie weder die Hitze drückt, noch sie auch dem Froste erliegen; sodann salben wir sie mit Oehl und erweichen sie, damit sie dehnbarer werden. Denn seltsam ist es, wenn wir zwar meinen, daß das Leder, mit Oehl durchgeweicht, schwerer zu zerreißen sey und viel länger dauere, das doch schon todt ist, uns aber nicht überzeugen können, daß der Leib, welcher noch des Lebens theilhaftig ist, durch das Oehl nicht besser eingerichtet werden sollte. Sofort haben wir mannichfaltige Uebungen ersonnen, und Lehrer für jegliche derselben aufgestellt: [1204] Einige lassen wir das Faustkämpfen lernen, Andere das Hauptkämpfen, damit sie in Anstrengungen ausdauern lernen und den Schlagenden entgegen gehen, nicht aber weichen aus Furcht vor den Schmerzen. Und Dieß erwirbt uns für sie zwei Hauptvortheile, den einen, daß sie muthvoll in Gefahren und schonungslos gegen ihre Körper, den andern, daß sie kräftiger und dauerhafter werden. Jene aber, welche mit gebücktem Körper ringen, lernen ohne Schaden fallen und mit Leichtigkeit wieder aufstehen, mit dem Einengen des Gegners, mit Verschlingungen und gewandten Wendungen umgehen, den Gegner würgen oder in die Höhe emporheben; und auch Diese betreiben keine nutzlose Uebung, sondern sie haben davon für’s erste den großen Gewinn, daß ihre so durchgearbeiteten Körper weniger empfindlich und dauerhafter werden; zweitens (und auch Dieß ist kein geringer Vortheil) besitzen sie Gewandtheit, wenn sie einmal in den Fall kommen, im Kriege von diesen Uebungen Gebrauch machen zu müssen. Denn offenbar wird Einer von diesen Geübten auch dann, wenn er mit einem Feinde im Ringkampfe verflochten ist, Diesen schnell zu Fall bringen, oder, wenn er selbst gefallen ist, leicht wieder aufzustehen wissen. Ueberhaupt alles Dieses, mein Anacharsis, ist auf den Kampf in den Waffen berechnet: und da, glauben wir, werden uns die also Geübten viel bessere Dienste leisten, als alle Andern, da wir zuvor ihre nackten Leiber durcharbeiteten und geschmeidiger, kraftvoller, streitbarer, behender, schnellkräftiger, und eben darum dem Feinde furchtbarer machten.

25. Du begreifst wohl, denke ich, wie sie mit den Waffen seyn müssen, welche selbst nackt den Feind erschrecken [1205] könnten, nicht zeigend die träge und weiße Wohlbeleibtheit, oder Magerkeit mit Blässe, wie die Körper der Frauen, im Schatten verkommen, zitternd, gleich von vielem Schweiße zerfließend, oder keuchend unter dem Helme, zumal wenn, wie jetzt, die Mittagssonne aufbrennt. Was soll man mit Menschen anfangen, die alsdann dürsten, den Staub nicht ertragen können, und wenn sie Blut sehen, gleich erschrecken und vorher sterben, ehe sie in die Schußweite kommen, oder mit dem Feinde handgemein werden? Die Unsern aber sind röthlich, und von der Sonne in’s Braune gefärbt, mannhaft von Ansehen, und zeigen die Fülle des Belebten, Warmen und Männlichen; sie genießen der besten Gesundheit, sind weder steif, noch dürr, noch von belastender Fülle, sondern ebenmäßig gebaut. Denn das Unnütze und Uebermäßige der Beleibtheit ist durch den Schweiß ausgetrieben, Was aber Kraft und Spannung gewährt, behalten sie, unvermischt mit schlechtem Stoffe, zurück, und bewahren es kräftig. Wie nämlich Diejenigen, welche den Waizen werfeln, so thun unsere Gymnasien mit den Leibern. Die Spreu und die Hülsen blasen sie weg, die reine Frucht scheiden sie aus und bringen sie zu Haufen.

26. Hievon ist Gesundheit nothwendige Folge und langes Aushalten in den Arbeiten. Nicht sobald wird ein Solcher in Schweiß gerathen, und selten wird man ihn ermattet sehen. Wenn du Feuer unter den Waizen selbst und unter dessen Hülsen und Spreu bringst (um bei meinem vorigen Gleichnisse zu bleiben), so wird die Spreu, meine ich, weit schneller in Flammen aufgehen, der Waizen selbst aber allmählig, ohne große Flamme und nicht in Einem Auflodern, [1206] sondern, nach und nach verglimmend, spät erst gänzlich verzehrt werden. Eben so wird Anstrengung oder Krankheit, wenn sie einen solchen Körper befällt, ihn nicht leicht zu Schanden machen oder überwältigen. Denn im Innern ist er zu wohl beschaffen, und von außen zu stark verwahrt gegen jene Uebel, als daß sie in’s Innere dringen, oder daß Hitze und Frost verderblich auf den Körper einwirken könnten. Und wenn ihre Kräfte unter der Anstrengung nachlassen wollen, strömt jene stärkende Lebenswärme, die im Innern bereitet und für den nöthigen Gebrauch aufbewahrt ist, alsbald in Fülle herzu und tränkt mit neuer Kraft die Glieder und macht sie beinahe unermüdlich. Denn vielfach vorher sich abmühen und vorher arbeiten erzeugt keine Erschöpfung, sondern Vermehrung der Kraft, die, aufgeregt, um so völliger wird.

27. Auch im Laufe üben wir sie, indem wir sie gewöhnen, eine lange Strecke auszuhalten, oder in einem kurzen Raume sich eine möglichst schnelle Bewegung zu geben. Und der Lauf geschieht nicht auf einem harten und widerstehenden Boden, sondern in tiefem Sande, wo man nicht fest fußen und sich aufstemmen kann, weil der Fuß im nachgiebigen Sande zurückweicht. Eben so auch im Springen über einen Graben oder über sonst ein Hinderniß auf dem Wege werden sie uns geübt, indem sie noch Bleimassen, so groß sie sie fassen können, in den Händen halten. Ferner wetteifern sie im Wurfspießwerfen in die Weite. Sodann hast du im Gymnasium ein rundes, einem kleinen Schilde ähnliches Stück Erz[11] [1207] gesehen, das aber weder Handhabe noch Riemen hat. Es lag gerade vor dir; deswegen versuchtest du dich daran: es schien dir aber zu schwer und wegen seiner Glätte nicht leicht zu fassen. Diese Scheibe nun werfen sie in die Höhe und in die Ferne, und setzen eine Ehre darein, sie am weitesten zu bringen und die Andern zu übertreffen. Diese Arbeit stärkt ihre Schultern und vermehrt die Spannkraft in den Vorderfüßen.

28. Auch der Koth und Staub, womit der Boden bedeckt ist, kam dir anfangs so lächerlich vor: höre nun, warum Dieß geschieht. Für’s erste, damit sie nicht zu hart, sondern auf den weichen Boden sicherer fallen möchten: sodann müssen die schwitzenden Körper im Schlamme um so schlüpfriger werden, daß sie Aalen gleichen, wie du vorhin selbst sagtest. Dieß ist nun weder nutzlos, noch lächerlich; sondern es vermehrt nicht wenig die Stärke und Schnellkraft, wenn sie angehalten werden, in diesem Zustande einander derb zu packen und die schlüpfrigen Leiber festzuhalten. Denn glaube nur, daß es nichts Kleines ist, Einen zu halten, der mit Oehl, Koth und Schweiß überzogen ist, und sich bemüht, dir zu entfallen und aus den Händen zu entschlüpfen. Und alles Dieß hat, wie gesagt, seinen Nutzen im Kriege, wenn es gilt, einen verwundeten Freund mit Leichtigkeit aufzuheben und aus dem Getümmel zu tragen, oder einen Feind schnell zu ergreifen und ihn auf den Schultern daher zu bringen. Eben darum üben wir sie so angestrengt, und geben ihnen so schwierige Aufgaben, damit sie das Leichtere um so gewandter bestehen möchten. Der Sand hingegen dient uns, das Entschlüpfen bei’m Ringen zu verhindern. Denn während sie im [1208] Kothe geübt werden, das Schlüpfrige und Entwischende fest zu halten, lernen sie selbst Dem aus den Händen schlüpfen, der sie fassen will, auch wenn sie ganz in der Enge sind. Ferner scheint der Sand, auf die Haut gestreut, den zu heftigen Schweiß zu hemmen, und so die Kräfte dauernder zu machen, und hält die Winde ab, daß sie nicht, auf die geöffnete Haut wehend, dem Körper schaden möchten. Außerdem streift er den Schmutz heraus und macht den Mann glänzender. Auch möchte ich dir gern Einen der Weißen und im Schatten Auferzogenen nahe herstellen, und Welchen du immer aus den im Lyceum Geübten herausgreifen willst, nachdem er sich den Sand und Koth abgewaschen, darneben, um dich zu fragen, Welchem von Beiden du wünschen würdest gleich zu seyn. Denn ich weiß, daß du gleich auf den ersten Anblick, auch ohne Jeden der Beiden in Thaten zu versuchen, lieber wolltest der Feste und Gedrungene, als so verzärtelt, schlaff und weiß seyn aus Mangel und Flucht des Blutes nach den innern Theilen.

29. Diese Uebungen sind es, mein Anacharsis, die wir mit unsern Jünglingen in der Hoffnung vornehmen, an ihnen Wächter unserer Stadt zu bekommen, und, von ihnen beschützt, im Genusse der Freiheit zu leben. Durch sie siegen wir, wenn Feinde nahen, und sind furchtbar unsern Nachbarn, so daß sie Nichts wagen gegen uns, und die Meisten von ihnen uns Tribut entrichten. Aber auch für das Leben des Friedens werden sie uns so viel trefflicher gebildet; sie setzen ihre Ehre nicht in das Gemeine, kein Müßiggang verleitet sie zu übermüthigem Muthwillen, sondern jene Wettstreite beschäftigen sie rastlos. Und das gemeinsame Gut, [1209] wovon ich sprach, das höchste Glück des Staates ist, wenn für Krieg und Frieden die Jugend auf’s Beste herangebildet, nur immer nach dem Edelsten strebt.

30. Anacharsis. Also, mein Solon, wenn einmal die Feinde im Anzuge sind, so ziehet ihr ihnen mit Oehl gesalbt und eingestäubt entgegen, und weiset ihnen Nichts als eure Fäuste? Die werden sich dann ducken vor euch, und den Reißaus nehmen, damit ihr ihnen keinen Sand in’s Maul werfet, wenn sie’s zufällig offen haben, oder ihnen nicht auf den Rücken springet, die Schenkel ihnen um den Bauch, die Arme unter dem Helme herumschlinget und sie erwürget. Oder sie werden zwar, will’s Gott, Pfeile schießen und Wurfspieße werfen, aber sie werden euch, wie die Bildsäulen, nicht verwunden; ihr seyd ja an der Sonne gebräunt und habt gar viel Blut im Vorrathe: ihr seyd nicht wie Spreu und Hülsen, daß ihr so bald unter den Wunden erläget, sondern spät erst, wenn ihr von tiefen Wunden recht durchschnitten seyd, entfließt euch ein Bischen Blut. Denn Das wolltest du sagen, wenn ich anders dein Gleichniß nicht mißverstanden habe.

31. Oder vielleicht ergreift ihr alsdann jene Rüstung der Komöden und Tragöden: und wenn ihr einen Ausfall machen sollt, so setzet ihr jene Maskenhelme mit den weiten Rachen auf, um den Feinden desto schrecklicher zu seyn, und sie mit diesen Mummereien in Angst zu jagen. Natürlich, auch jene hohen Schuhe leget ihr an: denn mit ihnen könnt ihr leicht durchgehen, wenn es seyn muß; wollt ihr aber den Feind verfolgen, so kann er euch nicht entlaufen, wenn ihr mit so großen Schritten hintendrein kommt. Aber ich fürchte, [1210] mein Freund, alle diese Herrlichkeiten sind eitel Narrenpossen und Kindereien, und ein leerer Zeitvertreib für junge Bürschchen, die Nichts arbeiten, sondern in den Tag hinein leben wollen. Wollet ihr wirklich frei und glücklich leben, so habt ihr anderer Gymnasien von Nöthen und ernsthafter Uebungen in den Waffen: ein wahrer Wettkampf soll es seyn, gegen Feinde, nicht zwischen Freunden zum Scherze, um in den Gefahren den Muth zu lernen. Lasset also Staub und Oehl bei Seite, und lehret eure Jünglinge Pfeile schießen und Spieße werfen; gebet ihnen aber keine so leichten Wurfspieße, die der Wind entführt, sondern ihre Waffen seyen eine gewichtige Lanze, die im Schwunge durch die Luft pfeift, ein handvölliger Stein, ein zweischneidiges Schwert, ein Schild aus Flechtwerk in der Linken, ein Harnisch und ein Helm.

32. Wie ihr aber jetzt seyd, so scheint euch nur das Wohlwollen der Götter bis jetzt erhalten zu haben, daß ihr noch nicht dem Angriffe etlicher Weniger, auch nur leicht Bewaffneter, unterlegen seyd. Siehe, wenn ich jetzt nur das kleine Säbelchen zöge, das da an meinem Gürtel hängt, und wenn ich allein auf alle eure Jungen dort insgesammt losginge – mit Einem Streiche würde ich das Gymnasium erobern, Alle müßten fliehen, und Keiner hätte den Muth, meinem Eisen das Gesicht zuzukehren. Um wie[WS 1] Bilder würden sie herumstehen und sich hinter die Säulen verstecken; und ich müßte lachen, sie dann heulen und zittern zu sehen. Da würdest du keinen so schön rothen Körper mehr sehen, wie sie jetzt haben, sondern blaß würden plötzlich Alle werden, so würde die Angst sie entfärben. So weit hat euch der tiefe Frieden gebracht, daß ihr nun nicht einmal einen [1211] feindlichen Helmbusch mehr ohne Schrecken würdet erblicken können.

33. Solon. Das sagten die Thracier nicht, die einst mit Eumolpus[12] gegen uns zu Felde zogen, noch auch eure Weiber, die Amazonen, die unter der Hippolyte unsere Stadt angriffen, noch überhaupt irgend ein Volk, das uns mit den Waffen versuchte. Denn wenn wir unsere Jünglinge sich nackt üben lassen, so führen wir sie deßwegen nicht wehrlos in den Kampf. Sondern wenn sie erst an und für sich selbst tüchtig sich ausgebildet haben, werden sie sofort in den Waffen geübt, und, so beschaffen, werden sie um so besser damit umzugehen wissen.

Anacharsis. Und wo habt ihr denn euer Waffenübungshaus? Ich habe wenigstens noch Nichts dergleichen in der Stadt gesehen, und bin doch schon ganz in ihr herumgekommen.

Solon. Du wirst es sehen, mein Freund, wenn du noch länger bei uns verweilen wirst; du wirst die Waffen sehen, deren Jeder viele hat, und deren wir uns bedienen, wenn es nöthig ist, und die Helmzierden und den Reiterschmuck und die Rosse, und fast den vierten Theil der Bürger als Reiter. Nur für beständig Waffen zu tragen, und einen Säbel an der Seite zu haben, Das scheint uns im Frieden überflüssig. Es ist sogar eine Strafe darauf gesetzt, [1212] wenn Einer in der Stadt bewehrt geht ohne Noth, oder Waffen in eine öffentliche Versammlung bringt. Euch ist es freilich nicht zu verdenken, die ihr beständig unter den Waffen leben müßt. Denn da ihr durch keine Mauern geschützt seyd, so ist es leicht, euch zu überfallen. Ihr habt viele Feinde und wisset nie, wenn Einer plötzlich erscheint, und den Andern schlafend von seinem Wagen herunterzieht und niedermacht. Da ihr nach Willkühr und ohne Gesetze zusammenlebt, so macht das wechselseitige Mißtrauen[13] das Schwert unentbehrlich, um sogleich eine Schutzwehr gegen Gewaltthat bei der Hand zu haben.

34. Anacharsis. Wie, Solon, also Waffen tragen, wenn keine Noth zwingt, scheint euch überflüssig? Ihr schonet eure Waffen, und bewahret sie sorgfältig auf, damit sie durch das beständige Handhaben nicht verdorben werden, in der Meinung, ihr werdet sie schon zu gebrauchen wissen, wenn die Noth an Mann geht: die Körper eurer Söhne aber lasset ihr, ohngeachtet keine Gefahr nöthigt, zerarbeiten, zerschlagen, und im Schweiße sich verbrauchen; und statt ihre Kräfte auf den Nothfall zu sparen, vergeudet ihr sie leichtsinnig im Kothe und Staube?

Solon. Du scheinst mir, mein Lieber, eine Vorstellung von der Kraft zu haben, als ob sie etwas dem Weine oder Wasser oder irgend einer Flüssigkeit Aehnliches wäre. Da fürchtest du nun, sie möchte, wie aus einem irdenen Gefäße, unter den Anstrengungen nach und nach entschwinden, und [1213] am Ende den Körper, der von Innen keinen Zufluß bekomme, trocken und leer lassen. So ist es nicht. Je mehr die Kraft erschöpft wird durch Arbeiten, desto reichlicher strömt sie zu; wie dort in der Fabel der Hydra, wenn sie dir bekannt ist, anstatt eines abgehauenen Kopfes immer zwei neue wuchsen. Bleibt sie aber ungeübt und unangestrengt, und hat sie keinen zureichenden Vorrath hinterlegt, so könnten die Anstrengungen ihr verderblich werden, und sie aufzehren. Es ist damit, wie mit dem Feuer und dem Lampendochte. Mit einem gleich starken Anblasen kannst du das Feuer anfachen und auf Einmal größer machen, indem du es mit deinem Hauche belebst; und kannst das Lichtlein ausblasen, wenn es nicht genugsamen Lebensstoff hat, um deinen Hauch aushalten zu können, Das heißt, wenn der Docht zu schwach ist, aus dem es flammt.

35. Anacharsis. Das verstehe ich nicht ganz, mein Solon; es ist zu subtil für mich und bedarf genauern Nachdenkens und feinern Scharfsinnes. Aber Das erkläre mir doch deutlich, warum ihr auch nicht einmal in den Olympischen, Isthmischen, Pythischen und andern Spielen, wo doch, wie du sagst, so viele Zuschauer um der jungen Kämpfer willen zusammenkommen, einen Wettkampf mit Waffen anstellet, sondern sie nackt vor die Menge führet, und zeiget, wie sie sich treten und schlagen können, dem Sieger aber nur Aepfel und Oehlzweige ertheilet. Denn es wird sich wohl verlohnen, zu wissen, warum ihr Das thut?

Solon. Wir meinen nämlich, der Eifer für die Leibesübungen werde um so größer bei ihnen, wenn sie sehen, daß, Die sich darin auszeichnen, geehrt, und daß ihre Namen [1214] verkündigt werden in Mitten sämmtlicher Hellenen. Und weil dort die Jünglinge sich vor einer so großen Menge entkleiden müssen, so, glauben wir, werden sie für ihre Wohlgestalt Sorge tragen, daß sie sich nicht zu schämen haben, nackt zu erscheinen, und ein Jeder sich zum Siegeswürdigsten mache. Die Belohnungen aber sind, wie gesagt, nicht gering: der Sieger wird gepriesen von allen Zuschauern, ist der Glorreichste unter Allen; man zeigt mit Fingern auf ihn, und erklärt ihn für den Edelsten unter seines Gleichen. Und so gehen viele Zuschauer, denen ihr Alter dergleichen Uebungen noch gestattet, von dannen, und nehmen keinen geringen Eifer mit, durch Arbeit tüchtig zu werden. Würde aber Jemand diese Liebe zum Ruhme aus dem Leben verbannen, Was würde der Gewinn davon seyn, mein Freund? Wer würde da noch Lust haben, eine glänzende That zu verrichten? Nun aber kannst du daraus abnehmen, wie Diejenigen im Kampfe für Vaterland, Weib, Kinder und Heiligthum sich zeigen werden, die um Aepfel und einen Oehlzweig nackt mit so feuriger Siegesbegierde kämpfen.

36. Was würdest du aber erst sagen, wenn du unsere Wachtel- und Hahnengefechte sähest, und die ernste Aufmerksamkeit, die wir ihnen schenken? Du würdest uns auslachen, zumal wenn du hörtest, daß sie in Folge eines Gesetzes gehalten werden, welches allen Erwachsenen befiehlt, dabei zugegen zu seyn, und zu sehen, wie diese Thiere bis zur äußersten Ermüdung mit einander kämpfen. Und doch ist auch darin nichts Lächerliches. Denn unvermerkt wird in den Gemüthern der Trieb rege, jeder Gefahr zu trotzen, um sich nicht an stolzem Muthe und Kühnheit von Hähnen übertreffen, [1215] und sich weder von Wunden, noch von Erschöpfung, noch von irgend einer andern Schwierigkeit zu längerem Widerstande untüchtig machen zu lassen. Daß wir aber unsere Jünglinge in Waffen versuchen, und sie bluten sehen sollten, Das sey ferne! Es wäre unmenschlich und gänzlich verkehrt, um Nichts und wieder Nichts unsere besten jungen Bürger abzuschlachten, die wir weit besser gegen unsere Feinde gebrauchen könnten.

37. Uebrigens, mein Anacharsis, da du, wie du sagst gesonnen bist, das ganze Griechenland zu durchwandern, so nimm dich in Acht, wenn du nach Lacedämon kommen wirst, nicht auch sie auszulachen, und ihr Treiben für nutzlos zu halten, wenn sie auf dem Schauplatze, um einen Ball sich reißend[14], gewaltig auf einander losschlagen, oder wenn sie, in zwei Haufen getheilt, deren einer der Herculische, der andere der Lycurgische heißt, ebenfalls nackt, auf einem von Wasser umschlossenen Platze sich feindlich anfallen und so lange mit einander kämpfen, bis entweder die Herculische Partei die Lycurgische, oder diese die erstere in’s Wasser hineingetrieben hat, worauf denn der Friede hergestellt ist, und Keiner dem Andern mehr einen Schlag geben darf; oder vollends, wenn du sehen wirst, wie sie vor dem Altare der Diana gegeißelt [1216] werden, daß das Blut von ihnen strömt, und wie die dabei stehenden Väter und Mütter, anstatt sich darüber zu betrüben, ihnen noch drohen, wenn sie die Schläge nicht aushalten wollen, und sie flehentlich bitten, in der grausamen Marter so lange, als nur immer möglich, auszudauern. Viele sind auch wirklich schon in diesem Wettstreite gestorben, weil sie von körperlichem Schmerze sich nicht überwinden lassen, und im Angesichte ihrer Verwandten nicht umsinken wollten, so lange noch ein Athem in ihnen war. Du wirst aber auch sehen, daß der Staat ihnen Bildsäulen gesetzt hat, die sehr in Ehren gehalten werden. Wenn du dieß Alles sehen wirst, so bilde dir nicht ein, die Spartaner seyen verrückt, und sage nicht, sie quälen sich ohne Noth, da ja kein Tyrann sie dazu nöthigt, noch auch ein Feind ihnen auf dem Nacken ist.[15] Denn ihr Gesetzgeber Lycurg würde dir viele sehr gute Gründe dafür angeben, warum er die Jünglinge so hart behandeln lasse, und daß es nicht aus feindseliger Abneigung gegen sie geschehe, noch auch, um den jungen Nachwuchs der Stadt nutzlos aufzureiben, sondern weil er wollte, daß, Die das Vaterland einst retten sollten, so stark als möglich, und jeglichem Ungemache überlegen seyen. Und wenn auch Lycurgus selbst Dieß dir nicht mehr sagen kann, so wirst du auch, glaube ich, ohne ihn einsehen, daß ein so Erzogener, würde er einmal im Kriege gefangen, auch gefoltert von seinen Feinden, kein Geheimniß Sparta’s verrathen, sondern mitten unter der Geißelung ihrer spotten, und seinen [1217] Peiniger herausfordern würde, Wer es am längsten aushalten könne.

38. Anacharsis. Ist wohl dieser Lycurgus selbst auch gepeitscht worden in seiner Jugend, oder hat er in einem Alter, wo er schon über die Wettkämpfe hinaus, also für sich gesichert war, eine so bübisch muthwillige Verordnung gemacht?

Solon. Lycurg war schon bei Jahren, als er bei seiner Zurückkunft von Kreta den Spartanern seine Gesetze gab: er war nämlich nach Kreta gereist, weil er gehört hatte, daß sie dort von ihrem Gesetzgeber Minos, dem Sohne des Zeus, die beste Verfassung erhalten hätten.

Anacharsis. Wie kommt es nun, Solon, daß du nun den Lycurg nicht auch nachahmst, und deine Jungen geißeln lässest, da es ja doch eine so schöne und eurer würdige Sache ist?

Solon. Weil wir an diesen unsern heimischen Uebungen genug haben, und keine große Lust tragen, Fremdes nachzuahmen.

Anacharsis. Nein, Freund, sondern weil du wohl fühlst, Was es sey, nackt mit emporgehobenen Armen durchgegeißelt zu werden, um keines Vortheils willen, weder für den Gegeißelten selbst, noch für die gesammte Stadt. Ich wenigstens, wenn ich gerade um die Zeit in Sparta anwesend seyn sollte, da sie Dieses vornehmen, besorge, auf der Stelle von ihnen insgesammt gesteinigt zu werden. Denn ich müßte über sie Alle lachen, wenn ich sie ihre Jünglinge wie Diebe, Straßenräuber und ähnliche Missethäter peitschen sähe. Kurz [1218] und gut! Nieswurz braucht eine Bürgerschaft, die sich selbst so alberne Dinge auferlegt.

39. Solon. Bilde dir nicht ein, mein Lieber, schon Recht in einer Sache zu haben, wo die andere Partei noch nicht zugegen ist, sondern du nur allein sprichst. Du wirst Leute in Sparta treffen, die dir auf alles Das gehörig antworten werden. – Allein jetzt, da ich dir über unsere Einrichtungen ausführliche Auskunft gegeben, du aber, wie es scheint, mit ihnen ganz und gar nicht zufrieden bist, so glaube ich nichts Unbilliges von dir zu verlangen, wenn ich dich bitte, mir nun auch gegenseitig der Reihe nach zu erzählen, wie ihr Scythen eure Knaben erziehet, zu welchen Uebungen ihr sie anhaltet, und wie ihr es angehet, um sie zu tüchtigen Männern zu bilden?

Anacharsis. Mit dem vollsten Rechte verlangst du Das, mein Solon. Ich werde dir die Gebräuche der Scythen schildern. Sie sind freilich nicht so vornehm, wie die eurigen, und überhaupt ganz anders. Denn wir haben nicht einmal das Herz, uns von Jemand auch nur einen einzigen Streich hinter die Ohren geben zu lassen: so feige sind wir. Doch, es sey, wie es wolle: du sollst es Alles erfahren. Nur wollen wir, wenn es dir gefällt, diese Unterredung auf morgen verschieben, daß ich über Das, was du mir sagtest, in der Stille noch weiter nachdenke, und auf Das, was ich selbst zu sagen habe, mich besinne, und es zusammen ordne. Für jetzt aber, da es schon Abend ist, laß uns nach Hause gehen.



  1. Der Gymnasiarch, eine angesehene obrigkeitliche Person, welche die Aufsicht über diese Uebungen führte.
  2. Hauptkampf oder Pancratium; sonst begriff man unter diesem Ausdrucke auch noch den Ringkampf.
  3. Bei den Delphischen Spielen.
  4. Die Athener waren bloß auf Reisen gewohnt, den Kopf zu bedecken.
  5. Verdiente Männer wurden durch förmliche Decrete als Euergeten oder Wohlthäter des Staates erklärt.
  6. Den zehen Heroen, von welchen die zehen Stämme oder Phylen der Attischen Republik ihre Namen hatten; ihre Bildsäulen standen im innern Ceramicus, einer Hauptstraße der Stadt. An sie schlossen sich die Statuen der Euergeten.
  7. Die Athener thaten sich viel auf das Mährchen zu gute, daß ihre Voreltern nirgends her eingewandert, sondern unmittelbar aus dem Boden, den sie bewohnten, uranfänglich entsprossen seyen. Das stolze Selbstgefühl ihrer geistigen Originalität mag nicht wenig dazu beigetragen haben.
  8. Den tragischen Cothurn.
  9. Die Larven, welche die Griechischen Schauspieler trugen, und welche nicht bloß das Gesicht, sondern den ganzen Kopf bedeckten. Im Grundtexte nennt sie Anacharsis deßwegen Helme.
  10. Den Chor nämlich.
  11. Den bei den Alten sogenannten Discus, oder den Wurfteller.
  12. Ein alter Thracischer König, der gegen Erechtheus zu Felde zog. – „Solon würde sich hier nicht auf Beispiele der heroischen Zeit berufen, wenn er nicht hundert Jahre vor den Siegen bei Marathon und Salamis gelebt hätte.“ Wieland.
  13. Mit Lehmann: ἀπιεία, αὐθαιρέτως, καὶ μὴ ἐν νόμῳ ξυμπολιτευομένων.
  14. Man nannte diese Art des Ballspiels Harpastum. Sie bestand darin, daß die Jünglinge sich in zwei Truppen theilten, deren jede sich des in die Mitte zwischen beide geworfenen Balles zu bemächtigen suchte. Jede Truppe hatte eine Grenzlinie um sich gezogen. Die Partei, die den gewichtigen Ball über die Grenzlinie der andern hinauswarf, hatte gesiegt.
  15. Nach der Vermuthung έπιτιθεμένων.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: die