Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I/Der Wolf und die sieben jungen Geißlein

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Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I (1913) von Johannes Bolte, Jiří Polívka
5. Der Wolf und die sieben jungen Geißlein
Der getreue Johannes
Für verschiedene Auflagen des Märchens der Brüder Grimm siehe Der Wolf und die sieben jungen Geißlein.

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5. Der Wolf und die sieben jungen Geißlein. 1856 S. 15.

1812 Nr. 5: aus der Maingegend. Später stilistisch umgeformt.

In Pommern soll es (nach dem wohl vor 1815 erhaltenen Bericht der Frau Henriette Hendel-Schütz. Steig, ZfdPh. 29, 204) von einem Kinde erzählt werden, das, als seine Mutter fortgegangen ist, von dem Kindergespenst, ähnlich dem Knecht Ruprecht, verschlungen wird. Aber die Steine, die es mit verschlingt, machen das Gespenst so schwer, daß es zur Erde fällt und das Kind unversehrt wieder herausspringt. In einer hessischen Sage[WS 1] aus Verna bei H. v. Pfister (Sagen und Aberglaube aus Hessen 1885 S. 58) ist es ein Werwolf, der abends an dem einsamen Häuschen anklopft, wo die sieben Kinder ihrer Mutter harren. Das älteste fragt, wer da sei, vernimmt aber keinen verständlichen Laut und verlangt die Hand zu sehen; da steckt der Werwolf unter der Tür seine dunkle Pfote herein. ‘Nein, das ist keine Hand’, sprechen die Kinder, ‘eine Hand ist ja weiß’. Nun läuft der Werwolf zur Mühle und wälzt sich im Mehle, findet im Häuschen Einlaß, verschlingt sechs Kinder und schläft ermattet ein. Die heimkehrende Mutter hört von dem übriggebliebenen Kinde, was geschehen, und schneidet dem Unholde [38] den Bauch auf. – Eine lebendige Erzählung der siebenbürgischen Sachsen bei Haltrich, M. nr. 83 ‘Die Geis mit ihren zehn Zicklein und der Bär’ = Haltrich-Wolf S. 80 und 522. Elsässisch in Stöbers Volksbüchlein 1842 S. 100 ‘Die sieben Geißlein’ = Revue des trad. pop. 3, 292 = Beckstein 1845 S. 187 = 1874 S. 252. Aus der Oberpfalz bei Birlinger, Nimm mich mit S. 237 ‘Das Hedl und der Wolf’. Aus Frankfurt a. M. bei Firmenich 2, 64 ‘Vom Fräche, deß die Gäsercher hat gehåt’ und 71 (hier ist eine Frau an Stelle der Ziege getreten, und der Wolf wendet keine besondere List an). Jüdischdeutsch aus der Bukowina bei B. Schaffer, Urquell n. F. 1, 13 (ein Großmütterchen und sechs Kindlein; der Bär läßt sich beim Schmied den Hintern beschlagen und rennt die Türe ein; er frißt fünf Kinder und legt sich aufs Kanapee; die Großmutter laust ihn und schneidet ihm den Bauch mit der Schere auf).

Niederländisch bei Lehembre nr. 33 ‘Van de geleerde geitjes’. Boekenoogen, Volkskunde 15, 110 ‘Oud-Bovetje’ (Frau und Kinder. Wolf erbricht die Tür). Joos 3, 85 nr. 28 ‘Van Knolleken’ (dreimal versteckt die Mutter ihr Kind vor dem Wolf, der es zuletzt findet). De Mont-de Cock, Wondersprookjes S. 19 ‘Smoutebolleken’ (desgleichen vor der Hexe). – Gälisch: Campbell² 3, 103 nr. 62 ‘How the fox took a turn out of the goat’ (Fuchs und Geißlein). – Französisch: Cosquin nr. 66 ‘La bique et ses petits’ (zum Schluß klettert der Wolf aufs Dach und springt durch den Schornstein in den siedenden Milchkessel). Rolland, Faune populaire 1, 131. Dardy 2, 341. Sébillot, Litt. orale p. 242 ‘La chèvre’. Sébillot, Contes 2, 339 nr. 68 ‘La biquette et ses petits biquets’ (statt des Wolfes erscheint ein böser Gutsherr, den dann eine Fee in einen Esel verwandelt). Sébillot, Joyeuses histoires de Bretagne p. 224 ‘Les petits biquets’. Arnaudin p. 105 ‘Le chevreaux et le loup’. Carnoy, C. français p. 13 ‘Le loup et les biquets’. Tradition 3, 111 ‘Le loup, la gade et les petits gadelots’. Pineau, Contes p. 187 ‘La chèvre, le renard et le loup’. Revue des trad. pop. 15, 424 ‘La chèvre’. 19, 102 ‘Le loup et les petits cabris’. Wallonia 1, 60 ‘La chèvre et ses biquets’. 4, 13. 6, 92. Gittée-Lemoine p. 143 ‘Le loup et les sept biquets’ und 147 ‘La mère gatte et ses petits gattes’. – Italienisch: Coronedi-Berti nr. 21 (Propugnatore 9, 2, 379) ‘La fola dla vôulp’. – Spanisch: Maspons, Rondallayre 3, 134 ‘La cabreta’. F. Caballero, Cuadros de costumbres 1858 p. 231 ‘El carlango’ = Cuentos inf. [39] 1878 p. 50 (F. Wolf, Jb. f. rom. Lit. 3, 210³. Die Geiß rettet ihre Jungen vor dem Popanz durch die Hilfe einer Biene wie im Märchen vom Zaunkönig und Bären, unten nr. 102). – Griechisch: Hahn 2, 90 nr. 85 (Füchsin stößt den Wolf in den Wasserkessel). Politis, Deltion 1, 278. – Rumänisch: Şăinénu p. 945. Staufe, Von der Ziege (Zs. f. d. Mythol. 1, 469 = Birlinger, Nimm mich mit S. 235). – Serbokroatisch aus Slavonien bei Krauß 1, 50 nr. 17 (vgl. S. XXVII; das Mütterchen schlitzt dem schlafenden Wolf den Bauch auf, holt ihre sechs Knaben heraus und legt ein Stück Salz hinein. Der erwachte Wolf springt, seinen Durst zu löschen, in den Brunnen), bei Wuk nr. 50 (der Fuchs verlockt den Wolf, der sein Junges gefressen, über einen spitzen Pfahl zu springen). – Slovakisch bei Dobšinský 8, 93 (wie Grimm bis auf das Zunähen). – Čechisch bei Nĕmcová 2, 359 (Fuchs statt Wolf, Geißlein nicht gerettet), in der Slavia 1, 3, 28 aus Strakonitz (Geißbock statt Wolf, Geißlein nicht gerettet. Verbunden mit dem Märchen von der geschundenen Ziege), aus Čechtice in Pohádky S. 2 nr. 2 (Kinder vom Wolf gefressen, dem die Großmutter den Bauch aufschneidet), aus Mähren bei Václavek 1898 S. 66 (Frau mit zwei Geißlein), bei Vrána 1, nr. 8 (Wolf frißt Kinder, springt über den Zaun und reißt sich den Leib auf) und nr. 26 (Schaf schneidet dem Wolf die zwei Lämmer aus und näht ihm Steine ein; er springt über die Zäune und läßt sich vom Fuchse flicken). – Großrussisch aus dem Gouv. Tambov bei Afanasjev³ 1, 38 nr. 23 b = Brandt 1, 119 = Ralston p. 165 = Gubernatis, Die Tiere S. 316 (Die Ziege befreit ihre Jungen nicht, sondern rächt sich am Wolf, den sie mit dem Fuchs zum Mahl eingeladen; sie fordert die Gäste auf, über eine Öffnung im Fußboden zu springen; der Wolf fällt hindurch und ins Feuer); aus dem Gouv. Saratov ebd. 1, 37 nr. 23 a = Gubernatis S. 317 = Brandt 1, 119 (ähnlich; doch ist die Grube im Walde; dem hineinstürzenden Wolfe platzt der Bauch, und die Geißlein kommen heraus). – Weißrussisch aus dem Gouv. Grodno bei Federowski 2, nr. 6 (Wolf frißt Zicklein, Schluß fehlt) und nr. 12 (die Füchslein überlisten den Bären und sperren ihn in den Backofen). – Finnisch in Aarnes Register nr. 123. – Aus dem Kaukasus im Sbornik mater. kavkaz. 14, 2, 188 und 32, 2, 134: Der Wolf flieht mit einem Zicklein in den Wald, die beiden andern wollen aus Angst nicht einmal ihrer Mutter auftun; umsonst ruft diese das geraubte Zicklein, ihre Augen sprühen Funken. – [40] Wotjakisch, Zs. f. vgl. Litgesch. 6, 399 = Dähnhardt 4, 277 (Wolf und junge Hasen). – Kurdisch: Globus 96, 187[WS 2]. – Aus Marokko bei Socin und Stumme, Houwāra nr. 4 (Abh. der sächs. Ges. der Wiss. 36, 93. 1895): ‘Die Ziege und ihre Kleinen’.

Die glückliche Lösung durch Aufschneiden des Wolfsbauches, aus dem die verschluckten Tiere lebendig wiederkehren, erinnert an die Erzählung von Rotkäppchen (unten nr. 26). So wird auch im antiken Märchen das von der Lamia gefressene Kind lebend aus ihrem Leibe herausgezogen, vgl. Horaz, Ars poet. 340: ‘Neu pransae Lamiae vivum puerum extrahat alvo’. Im dänischen Märchen bei Kristensen, Dyrefabler nr. 126 ‘Ulven’ frißt ein Wolf den Hirtenjungen, die Elster, den Hasen, den Fuchs, den Bauern mit seinen Ochsen und den Soldaten; der Soldat aber schneidet ihm den Leib auf. Bei Grundtvig, Minder 2 nr. 322 ‘Det stumphalede føl’, Skattegraveren 7, 194 und Madsen S. 41 ‘Ulven’ tötet eine Katze den Wolf; in andern Varianten ist nicht ein Wolf, sondern eine Katze oder ein Bär das gefräßige Ungeheuer: Grundtvig, Minder 3, 77 ‘Katten’; Grundtvigs hsl. Register nr. 84 ‘Slughalsen’; Skattegraveren 2, 167 ‘De tre små sorte kalve’; 7, 183. 193 ‘Den slugne kat’; 11, 187 ‘Den grådige kat’; Efterslæt p. 182 ‘Den slugne kælling’; Kristensen, Dyrefabler nr. 119–125 ‘Den slugne kat’. Schwedisch: Bondeson, Sv. folksagor nr. 19 ‘Mor Fasta’ und 20 ‘Undantagskäringen’. Aberg nr. 186 ‘Gu moron mór! Vart ska ni fara rén i moron?’ Hackmans Register nr. 333. Norwegisch: Asbjörnsen nr. 102 ‘Kjætten, som var saa fæl til at æde’. Finnisch: Aarnes Register nr. 333. Vgl. noch Erben, Sto prost. poh. S. 21 nr. 5 = Naaké p. 226 (ein aus Holz geschnitztes gefräßiges Kind) Radostov³ S. 710, Ončukov S. 317 nr. 130, Zap. Krasnojarsk. 1, 34 nr. 11, Anikin S. 59 nr. 10 und Clouston 1, 403 ‘Men swallowed by monster fish’; vgl. Macculloch p. 49.

Zum Einnähen der Steine verweisen die Brüder Grimm auf die fernliegende Geschichte Ovids (Metamorphosen 11, 365) von der Versteinerung des Wolfes, den die Nereide Psamathe auf Peleus und Telamons Herden entsandt hatte.

Der Wolf klettert übers Dach in den Kamin und fällt in die Heugabel oder in den siedenden Kessel in französischen Märchen bei Carnoy, C. français p. 9 ‘Les chèvres et le loup’, Gittée-Lemoine p. 150 ‘Le loup pélerin’ und in der Erzählung von den drei Ferkelchen, die sich drei Häuser erbauen, von denen der Wolf nur zwei zu erbrechen vermag: Halliwell, Nursery rhymes nr. 55 [41] ‘The three little pigs’ = Jacobs 1, 68 nr. 14 = Brueyre p. 351. Cosquin nr. 76 ‘Le loup et les petits cochons’. Revue des langues romanes 42, 114 ‘Les trois petits cochonnets’. Negermärchen ‘Tiny Pig’ in Lippincott’s Magazine, Dec. 1877 p. 753. Jekyll, Jamaica nr. 26. Dafür drei Lämmer bei Caballero, Cuentos inf. p. 53; drei Hühnchen bei Sébillot, C. 2, 325 nr. 63 und Revue des langues romanes 31, 528; drei Gänse bei Schneller nr. 42 und Bernoni, Tradiz. p. 65 = Crane p. 267; Hase, Gans, Ferkel bei Birlinger, Nimm mich mit S. 230 (Oberpfalz); drei Mädchen bei Visentini nr. 31 ‘Il lupo’; drei Männer bei De Mont en de Cock, Vert. p. 109 ‘Boer Bezemen, boer Blâren en boer Ijzer’ und Revue des trad. pop. 16, 176 ‘H’adidouan et l’ogresse’ (vgl. unten zu nr. 15).

Die älteste und einfachste Form finden wir in der lateinischen Fabel des Romulus 2, 10 ed. Oesterley, deren verschiedene Fassungen bei Hervieux (Fabulistes latins 2², 153. 208. 253. 330. 358. 390. 416. 430. 465. 487. 611) gesammelt sind. Die Ziege warnt ihr Kind vor dem Wolfe, den es auch, als er mit verstellter Stimme herankommt, nicht einläßt, weil es ihn durch eine Türspalte blickend erkennt. Deutsch in Steinhöwels Aesop S. 121 ed. Oesterley 1873 und in Kirchhofs Wendunmut 7, 40; gereimt in Grimms Reinhart Fuchs S. 346 ‘Der wolf und daz kitze’, bei Boner nr. 33, Eichhorn, Mitteldeutsche Fabeln nr. 28 (Progr. Meiningen 1897), Alberus, Fabeln nr. 12, Waldis, Esopus 1, 24, Eyring, Proverbia 1, 470 (1601). Französisch bei Marie de France, Fables ed. Warnke nr. 90 und Lafontaine, Fables 4, 15 ‘Le loup, la chèvre et le chevreau’. Fernere Nachweise gibt Oesterley zu Kirchhof. Aber schon 1646 kennt J. C. Dannhauer (Catechismus-Milch 3, 170 = Alemannia 13, 135) eine weiter ausgebildete Gestalt: ‘Daß mehrmal der Wolff an Schaafstall angeklopfft vnd, wie die Kinder ihr Mährlein erzehlen, gesungen:

Lieben Kindlein, laßt mich hinein!
Ich bring euch ein gutes Düttelein[1]

[42] aber Mord und Tod ist darauff erfolgt’. Lafontaine gedenkt des Umstands mit der weißen Pfote, die das Geißlein zu sehen verlangt wie in unserm Märchen: ‘Montrez-moi patte blanche!’ Und die Brüder Grimm entsannen sich (1812 S. VI) eines Bruchstückes aus einem französischen Kindermärchen: Der Wolf geht zum Müller, reicht ihm die graue Pfote hin und spricht: ‘Meunier, meunier, trempe-moi ma patte dans ta farine blanche!’ ‘Non non, non non.’ ‘Alors je te mange’. Da tut es der Müller aus Furcht.

In russischen Märchen läßt sich eine Hexe, die den im Kahne fischenden Knaben mit ihrer heiseren Stimme nicht ans Ufer locken kann, vom Schmiede ihre Zunge so dünn schmieden, daß der Knabe sie bei Nacht für seine Mutter hält und ihr folgt: Großrussisch Afanasjev³ nr. 62 a. d, nr. 63; Chudjakov 2, 60 nr. 52. Živaja starina 13, 405. 20, 98. 99. 100. 102. Kleinrussisch Afanasjev³ nr. 62 c; Kuliš 2, 17; Rudčenko 2, 38 nr. 15 (Drache statt Hexe); D. Mordovcev, Malorus. literat. sbornik p. 366; Čubinskij 2, 406 nr. 116; Dragomanov S. 353 nr. 32; Malinka S. 272, 10. Mater. antropol.-archeol. i etnograf. 2, 2, 72 nr. 42; Weißrussisch Afanasjev³ nr. 62 b. Romanov 3, 268 nr. 49 a–b. Mater. język. 2, 137. Ähnlich litauisch: Dowojna Sylwestrowicz 1, 111. Bulgarisch im Sbornik nar. umotv. 4, 158 (Bär und Kind des wilden Weibes). Sartisch bei Ostroumov 2, 142. In einem Zulumärchen bei Callaway p. 144 ‘The girl and the cannibals’ verstellt ein Menschenfresser seine Stimme, als er bei dem einsamen Mädchen Einlaß begehrt.


  1. Vgl. die Verse in französischen Fassungen (Cosquin 2, 248. Sébillot, Litt. or. p. 242. Gittée p. 143):

    Ouvrez-moi la porte, mes petits biquignons!
    J’ai du laiton plein mes tetons
    Et plein mes cornes de broussaillons

    und im Katalanischen (Maspons, Rondallayre 3, 134):

    Obrin, obrin, cabretas!
    Porto llet, á las mamelletas,
    Porto brots á las banyetas.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Lage
  2. Vorlage: 1S7
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