Auf dem Berge Ararat

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Autor: Paul von Franken
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Titel: Auf dem Berge Ararat
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 203–205
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Gedanken zur Friedenskonferenz in Paris
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Auf dem Berge Ararat.

Wir stehen auf dem Berge Ararat in Armenien, um uns ganz Kleinasien, den Kriegsschauplatz, das gefallene Kars, die russisch-türkische Grenze, durch ein Fernrohr über das schwarze Meer hinweg, die Krim und das nun still gewordene, aus Ruinen rauchende Sebastopol, die ganze orientalische Frage und die Geschichte der alten Menschheit, die hier gleichsam ihre Denksäule in die Höhe streckt, 17,261 Fuß über dem Meeresspiegel und 10,000 Fuß über dem umliegenden Hochlande mit einem Panoramablicke anzusehen. Zunächst nehmen wir die noch ganz gut erhaltene Arche Noah in Augenschein, in welche er mit „all sündhaft Vieh und Menschenkind“ Sonntags am 30. November des Jahres 2349 vor Christi Geburt einzog, worauf es Sonntag am 7. December zu regnen anfing. Es regnete so arg, daß die Arche über den höchsten Bergen dahin schwamm, bis sie bekanntlich auf diesem Berge Ararat wieder festen Fuß faßte, und die neue Menschheit aus- und herabsteigen ließ. Die Arche ist 547 Fuß lang, 91 breit und 54 hoch. Sie faßt 72,625 Tonnen Gewicht. Noah lebte darin mit allem Zubehör 13 Monate und 18 Tage, da er erst am 18. December, Freitags, des folgenden Jahres, aussteigen konnte, nachdem die Arche Mittwochs, am 6. Mai, auf dem Berge Ararat stehen geblieben war. Die Erde war damals 1656 Jahre alt, denn sie war erst Sonntag den 23. Oktober des Jahres 4004 vor Christi Geburt fertig geworden, und steht deshalb jetzt im 5858sten Jahre. Was diese Daten und Jahreszahlen betrifft, so stehen sie wenigstens in England durch Parlamentsbeschluß als Dogma der Hochkirche fest, nachdem sie Bischof Wilkins, Schwager Oliver Cromwell’s, ausgerechnet hatte. Er wußte das revolutionäre Parlament so sehr von der Wahrheit dieser Forschungen zu überzeugen, daß es dieselben als Glaubensartikel der Hochkirche sanctionirte. Dieser Parlamentsbeschluß ist bis jetzt eben so wenig aufgehoben, wie der, daß Niemand übersponnene Knöpfe auf dem Rocke tragen, daß Niemand etwas von den Parlamentsverhandlungen veröffentlichen darf und tausend andere Parlamentsbeschlüsse, die noch gesetzliche Kraft haben, und an welche gleichwohl Niemand mehr zu denken wagt. Dies ist zugleich ein Beweis, daß Freiheit und Unfreiheit nicht durch Gesetze erzwungen werden können. Was es in England Freies giebt, ist durchweg gesetzlich verboten, aber das Freie lebt und schöpft aus dem Meere ringsum, aus dem alten germanischen Volkscharakter, und da es wirklich lebt, kann es durch pfiffige Gesetzgebung von Sonderinteressen, die England längst ruinirt haben würden, wenn es nach ihren Gesetzen ginge, nicht so leicht incommodirt, wenigstens nicht todt gemacht werden.

Die vom Bischof Wilkins gemessene und durch’s Gesetz des Parlaments in Länge, Höhe, Breite und Tonnengehalt genau bestimmte Arche Noäh steht noch wohlbehalten auf der Spitze des Berges Ararat. Dies ist wenigstens ein gesetzlicher Glaubensartikel der alten armenischen Bischöfe. Auch kann man ihn unten beim Volke als ausgemachte Sache hören. Die Engländer glaubten’s auch. Wenigstens las ich erst neulich in einem englischen Blatte, daß mehrere Besteigungen der höchsten Spitze des Ararat durch glaubwürdige Männer erwiesen hätten, die Arche Noäh sei nicht nur nicht noch wohlerhalten, sondern überhaupt gar nicht mehr da.

Ich denke bei dieser unserer abendländischen Schöpfungs-Mythologie an die morgenländische der alten Indier, die wenigstens den neuen geologischen Forschungen, nach welchen unsere Erde [204] mindestens schon ihre 25 Millionen Jahre um die Sonne herum marschirt ist, viel näher kommt. Alle Brahminen und Seher, deren Schriften auf Zeiten bis 12,000 Jahre vor Christi Geburt zurückführen, geben der von Menschen bewohnten Erde eine Zeit von 15 Millionen Jahren, die sie in 4 Perioden eintheilen. Die erste, das goldene Zeitalter, dauerte 1,728,000 Jahre. In dieser Zeit wurde Gott Brahma geboren, und die Menschen, alle von doppelter Goliathsgröße, wurden durchschnittlich 400 Jahre alt. Die zweite Periode dauerte 1,296,000 Jahre, während welcher die Rajah’s und verschiedene Laster geboren und von Menschen erzogen und gepflegt wurden, so daß sie es durchschnittlich nur noch bis auf 300 Jahre brachten. Die dritte Periode von 8,064,000jähriger Dauer brachte das Laster mehr zur Herrschaft und Größe und Tugend der Menschen, die nur noch 200 Jahre lebten, mehr in Verfall. Die letzte Periode, in der wir leben und von welcher schon 4,027,280 Jahre verflossen sind (wie wenigstens die Schüler der alten Brahma-Weisen behaupten) hat die Menschen durch Laster bis auf ein Viertel ihrer ehemaligen Größe und ihrer ursprünglichen Lebenszeit zurückgedrängt.

Der Berg Ararat.

Auf dem Berge Ararat erscheinen uns diese kolossalen indischen Perioden menschlicher und wahrscheinlicher, als unsere engherzigen Sagen, die wir von den alten Juden angenommen haben, da wir keine eigenen geltend machen konnten. Alles erscheint von hier aus dem nach keiner Seite eingeengten Blicke unendlich, und die ganze orientalische Frage mit ihren fünf Punkten unter dem Fragezeichen kaum als Fliegenkleckserei. Liegen doch hier seit Noah, selbst nach Calvisius, der in unsern Volkskalendern noch jedes Jahr genau angiebt, wie lange es her sei seit Erschaffung der Welt, wenigstens fünfzig Völker und Reiche begraben. Sie alle blühten neben und über einander empor, strahlten und thronten über die Erde und starben. Der nackte Araratgipfel sah ruhig zu, wie eins nach dem andern emporblühte um seinen Fuß herum, und sich ausbreitete, als wollt’ es die ganze Welt erobern, und wie es spurlos verschwand, ehe ihm, der nur von geologischen Jahren berührt wird, ein einziger Tag dahingegangen war. Er sah auch auf die blutigen Scenen, Donner- und Dampfwolken, die der Krieg neuerdings bis nach seinem erhabenen Haupte emporzuwirbeln suchte, unbewölkt und ungerührt herab, und um die Friedens-Konferenzen in Paris läßt er sich schon deshalb keine grauen Haare wachsen, weil er in seiner Jugend im Gram über das blutige Entstehen und Vergehen von Staaten um ihn her bereits ganz kahlköpfig geworden. Wollte er sich jetzt noch über die Diplomatie bekümmern, würden ihm allein durch den Fall von Kars alle Haare ausgefallen sein.

Nein, hier oben sind wir frei von den kleinlichen Listen und Ränken und Grausamkeiten der Civilisation und Barbarei, zwischen denen von einem so hohen Standpunkte aus gar kein Unterschied ist. Hier oben sieht man nur noch die Physiognomie der Erdoberfläche und deren Schönheitspflästerchen von Städten und Dörfern im Allgemeinen und in Totaleindrücken, nordöstlich die große Kette des Kaukasus, aus welchem sich sichtbar der Arax hervorschlängelt, die russisch-persische Grenze mit der Festung Erivan nordwestlich Gumri und Kars, ringsum Gebirgs- und Hügelwellen bald kahl, bald dicht bewaldet und überblüht, aber durchweg menschen- und kulturöde, nur daß uns das Fernrohr nach unten zuweilen einen vergoldeten, mit blauseidenen Vorhängen beschatteten, von Ochsen langsam über Stock und Stein gerumpelten Wagen zeigt, in welchem ein Stückchen Harem irgend eines blauen, weißbeturbanten Alttürken frische Luft zu schöpfen sucht.

Wir blicken noch einmal nach der russisch-persischen Grenze, wo der Gipfel des Zengui mit einem Festungsschlosse auf seiner Spitze einen um so anziehenderen Haltpunkt für das Auge bietet, als sich unten die russische Grenzfestung Erivan, alte Hauptstadt Georgiens, malerisch herumlagert. Inwendig bilden die schönsten Mädchen, die kostbarsten Perlen für türkische Harems, in ihrem eigenen und der Straßen Schmutze die pikantesten Contraste. Die Mädchen träumen von der großen Wäsche, der sie unterworfen werden, ehe sie auf den Markt kommen, und von dem Markte, auf dem sie verkauft werden, eben so süß und schwärmerisch, wie unsere holdesten Jungfrauen vom goldenen Ringe und der Haube, [205] unter welche sie sich sehnen. Zwar duldet die russische Regierung den Verkauf von Mädchen nicht, aber da die Eltern arm, die Mädchen schön, ihre Sehnsucht, verkauft zu werden, groß und der Preis, den der Agent von Trebisond, dem Ausfuhrhafen, für diese Georgerinnen, hoch ist, kann selbst das strenge russische Gesetz Geschäfte der Art nicht verhüten. Die Stadt Erivan ist ungemein schmutzig und enge, und die etwa 10,000 Einwohner leben zum Theil wahrhaft in Schmutzhaufen oder zwischen Ruinen, den Zeugen verschiedener Belagerungen und Bombardements, deren letzteres dem russischen General Godovitsch im Jahre 1808 die größere Hälfte seiner Armee kostete, ehe er auf dem Rückzüge Tiflis wieder erreichte. Die merkwürdigsten Zeugen der Vergangenheit in Erivan sind christliche Kirchen mit der Hälfte ihrer Schiffe unter der Erde, wo die ersten verfolgten Christen ihre Andacht verrichteten. Später, als das verfolgende Römerschwert und der noch grausamer verfolgende Halbmond gesunken waren, bauten die Christen auf ihren unterirdischen Andachtshöhlen offene Kirchen empor, ohne die alten Kellertempel zu zerstören. Man findet solche halb unterirdische Kirchen noch in verschiedenen andern Orten Kleinasiens, dieses Paradieses der Menschheit, wenn sie nicht immer Schwerter geschliffen hätte, um sich gegenseitig den Genuß desselben zu wehren.

Erivan mit der Bergfestung Zengui.

Kleinasien ist eine Ruine geworden, wie das Paradies der europäischen Türkei. Erst wenn der halbmondförmig gekrümmte Säbel sich vollends rundet zum schnurrenden Rade der Industrie, der Kultur, die lange Kosakenlanze sich zu Speichen einfügt und Bayonnett und Lauf sich niederlegen zur Schiene für den dampfbeschwingten Lauf des Friedens und der Einsicht, des Eintritts in den Völkerverband menschheitlicher Interessen, wenn das schmachbedeckte schöne Weib dieses Paradieses nicht mehr verkauft wird und sich nicht mehr sehnt, verkauft, sondern Herz gegen Herz, Liebe gegen Liebe, Anerkennung gegen Anerkennung des schönen, freien, gebildeten, fleißigen Menschen gewonnen zu werden, erst dann, wenn der Mann seine eigene Ehre und Würde wieder erkannt und sie verschönert in einem schönen Weibe, der Erzieherin der Zukunft, wiedergespiegelt findet, erst dann werden hier Friede und Freiheit, Lebensglück und Freudenquellen für die Menschheit sich wieder einfinden, nicht aber durch pariser Friedens-Konferenzen, wie sie auch ausfallen mögen. Die Diplomatie mit ihren Arsenalen von List und Gewalt kann wohl viel ruiniren, aber nichts schaffen. Das müssen und werden die Menschen selbst thun, wenn man sie nur nicht zu sehr für die Flinten- und Säbelpolitik ausbeutet und hinwegreißt vom Pfluge zum Fluche, vom Hause zum Zelte, vom Segen zum Degen, vom Steuer ihrer eigenen Angelegenheiten zu Steuermaschinen für unersättliche Kanonen. Hätte man die Million Menschen, die jetzt der orientalischen Frage geopfert wurden, leben gelassen, könnten sie allein durch ihren Fleiß das Kapital zur Lösung dieser Frage schaffen. Jetzt fehlt diese Million, und jetzt fehlen 100 Millionen von Geld, die es kostete, erstere todt zu machen. Der Friede aus Paris kann noch so glänzend ausfallen, er ist immer nur eine Quittung über diese vertilgten Millionen von Kapitalien und Köpfen.