Aus Briefen einer barmherzigen Schwester in Sebastopol

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Titel: Aus Briefen einer barmherzigen Schwester in Sebastopol
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 68
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[68] Aus Briefen einer barmherzigen Schwester in Sebastopol. In der Nacht vom Montag auf Dienstag wurden unsere Truppen beordert, neue Trancheen zu graben und Batterien aufzuwerfen, unter starker Bedeckung. Wir waren die ganze Nacht über bereit, doch die Nacht ging glücklich vorüber und der ganze Dienstag war still und ruhig. Abends wartete man wieder. Alles wird vorbereitet; Matratzen werden in mehreren Reihen auf den Boden gelegt; kleine Tische mit Papier, Tinte, Federn und Lichtern hingestellt. Auf einem Tisch legt man Haufen von Chapie, Compressen, Binden, kurze Stearinlichter, Arzneien. In einer Ecke steht ein großer Samowar (Theemaschine), der den Tag und die ganze Nacht kochen soll; daneben zwei Tischchen mit kleinen Theekesseln und Schalen. Auf der andern Seite ein Tisch mit Branntwein, Wein, saurer Limonade, Trink- und Weingläsern.

Zwischen 9 und 10 Uhr zuckt es wie ein Blitz an den Fenstern vorüber und es kracht plötzlich, daß die Fensterscheiben erzittern. Nach und nach und immer schneller und häufiger; man kann die einzelnen Schüsse nicht mehr unterscheiden. Alles dröhnt, die fünfte und sechste Bastion sind im Feuer. Die feindlichen Bomben fliegen nicht bis in die Stadt. Wir sitzen und horchen, immer in demselben; es vergeht eine Stunde ungefähr. Da erscheint eine Tragbahre, die zweite, die dritte – es hat begonnen. Die Lichter werden angezündet, die Leute laufen eilig hin und her, und bald ist dieser große Saal mit Menschen angefüllt; der Fußboden ist mit Verwundeten bedeckt – überall, wo man sitzen kann, sitzen deren, die sich selbst hergeschleppt haben. Wie sie schreien! Welch ein Lärm! Eine Hölle ist’s um uns her. Man hört den Kanonendonner nicht vor diesem Jammern und Stöhnen. Dieser schreit ohne Worte; jener ruft: „Rettet mich, Brüder, rettet!“ Ein Anderer erblickt den Branntwein auf dem Tische und bittet: „Sei mir eine gute Mutter, gieb mir einen Schnaps!“ In allen Richtungen hört man Stimmen, die zu den Aerzten, welche Wunden untersuchen, schreien: „Erw. Wohlgeboren, quält mich nicht!“ Und ich selbst gehe mit großer Mühe zwischen den Reihen der Tragbahren durch und rufe: „Hierher, Leute – tragt ihn in’s Gustsczinski’sche Haus (dorthin wurden die hoffnungslos Verwundeten gebracht), – den da in die Nikolajew’sche Batterie. – Legt diesen auf das Bett hier!“

Nun bringt man auch Offiziere. Das Operationszimmer ist ganz angefüllt mit Verwundeten; doch an Operationen ist jetzt nicht zu denken. Da bringt man einen Offizier, – sein Gesicht ist ganz mit Blut überströmt, – ich wasche es ihm, – unterdessen holt er, mühsam aus seinem Portemonnaie ein Trinkgeld heraus für die Soldaten, die ihn getragen haben. Ich knie auf den Fußboden, um dem Doctor zu leuchten; der Verwundete ist von einer Kugel in die Brust getroffen; um zu sehen, ob er nicht durch und durch geschossen, lege ich ihm die Hand unter den Rücken und untersuche die Wunde. – Du kannst Dir denken, wie er in seinem Blute schwimmt. Doch genug! Du würdest schaudern, wenn ich Dir alle Qualen und Leiden, die ich in jener Nacht nur gesehen – beschreiben wollte. Endlich dämmert es, das Geschützfeuer hört auf. – Wir haben einen kleinen Garten, denke, auch da lagen Verwundete. Ich nahm Branntwein mit und lief dahin – unter dem herrlichsten Sonnenaufgang über der Bucht – bei dem Gezwitscher der Vögel – im Schatten weißblühender Akazien – fand ich da ungefähr dreißig sehr schwer Verwundete, die meisten beinahe schon sterbend. Welch’ ein Gegensatz zu diesem Frühlingsmorgen. Ich bat zwei Einwohner von Sebastopol, welche die ganze Nacht über sehr eifrig geholfen hatten beim Tragen der Verwundeten, auch diese gleich in’s Hospital zu tragen. Gottlob, das Tragen hat ein Ende. Die Aerzte, welche um Tagesanbruch nach Hause gegangen waren, um auszuruhen, kamen wieder; diejenigen, welche geblieben waren, gehen fort.

Um sieben Uhr beginnen die Operationen auf’s Neue. Obgleich es nicht mein Dienstag war, entschloß ich mich auch da zu bleiben. Bis zwei Uhr dauern die Operationen. Zwischen fünf und sechs Uhr kommt Pirogoff wieder, und das Operiren dauert bis acht Uhr; doch war es dann vorbei, und um neun Uhr ging ich nach Hause. Die Kanonade dauerte aber immer fort und wurde gegen Morgen stärker; ich stand daher um sechs Uhr auf und meldete mich um sieben zum Dienst. Alles war in Ordnung – in dieser Nacht kaum hundert Verwundete. Freilich hatten wir drei Stunden lang Amputationen; doch mit dem Verbande war um ein Uhr Alles vorüber. Man brachte mir Dein Päckchen, ich machte es auf und fing sogleich an, aus Deiner Leinewand Compressen zu reißen. Man bringt mir mein Mittagsessen. Alles ist still. Heute giebt’s einen ruhigen Tag. Die Thüre geht auf und eine Tragbahre nach der andern erscheint. Was heißt, das? Wo, wie? Wann bist Du verwundet? – Noch seit jener Nacht haben wir da gelegen, – jetzt erst war Waffenstillstand. Denke Dir das Fürchterliche! Beinahe zwei Mal 24 Stunden hatten sie da gelegen; einige mitleidige Franzosen hatten ihnen Brot und Wasser gegeben. Wir wuschen gleich ihre Wunden, verbanden sie, gaben ihnen zu essen und zu trinken; natürlich waren sie Alle an den Füßen verwundet, einige nur leicht; – doch gab es wieder zwölf Operationen, und da Niemand diesen Zwischenfall erwartete, waren Dr. Chlebnikoff und ich beinahe allein an dem Operationstische. Die Nacht ging ruhig vorbei.