Aus amerikanischen Gerichtssälen/4. Eine Versicherungsgeschichte

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Autor: Louis Lübkert
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Titel: Aus amerikanischen Gerichtssälen
4. Eine Versicherungs-
geschichte
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 610–613
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Aus amerikanischen Gerichtssälen.


4. Eine Versicherungsgeschichte.


Im südöstlichen Theile Pennsylvaniens, in einer Gegend, wo man von dem riesenhaften Aufschwunge der Vereinigten Staaten wenig oder gar nichts merkt, liegt das Städtchen Westchester. Es sah vor vielen Jahren nicht anders aus als heute; seine Einwohnerzahl nimmt weder zu noch ab, und nach Verlauf von fünfzig oder hundert Jahren wird dieselbe kaum größer sein als jetzt. In manchen der östlichen Staaten, von denen sich der Strom der Einwanderung abgelenkt und den westlicher gelegenen zugewendet, findet man gar häufig kleinere Städte, die in einen traumhaften Schlummer versenkt zu sein scheinen. Im Winter [611] liegen sie halb im Schnee und halb im Schmutz vergraben, im Sommer aber hängt der einförmig blaue Himmel wie eine bleierne Decke darüber, und die Sonne sendet ihre sengenden Strahlen auf die weißgetünchten Holzwände der Häuser nieder. Und weißgetüncht ist in solchem Neste Alles, jede Wand, jeder Pfahl, jede Planke, ja selbst die Stämme der Bäume. In den schlecht oder gar nicht gepflasterten Straßen herrscht wenig Leben, und nur am Sonntage, wenn die unvermeidlichen vier oder sechs Kirchen, die auch die kleinste Stadt aufzuweisen hat, ihre Glocken ertönen lassen und die schläfrigen Bewohner schlaftrunken nach den Gotteshäusern gehen, um bei den Worten des Predigers nur noch schläfriger zu werden, sieht man Menschen in größerer Anzahl durch die Straßen wandeln. Fremde kommen nach diesen Orten nur bei besonderen Gelegenheiten und Ereignissen, da von Anziehungspunkten und Sehenswürdigkeiten dort keine Rede sein kann.

Solch eine besondere Gelegenheit mußte auch am 28. October 1873 für Westchester hereingebrochen sein, denn Hunderte von Fremden strömten am Morgen jenes Tages von allen Seiten und Richtungen in das Städtchen. Uebrigens schien dieses Ereigniß keinem der Ortsbewohner besonders aufzufallen, denn Jeder vermochte sich dasselbe zu erklären. Sollte doch an dem genannten Tage der Proceß gegen den berüchtigten William E. Udderzook begannen, welcher der Ermordung seines Schwagers Winfield Scott Goß angeklagt war, und wer die Geschichte dieses Verbrechens kannte, das vor wenigen Monaten so große Sensation in den östlichen Staaten der Union wachgerufen, verwunderte sich nicht über das zahlreiche Erscheinen der Fremden an dem Orte, in dessen Gerichtsgebäude der Mörder den Anfang seines Processes erwartete.

Bevor wir aber in das Gebäude treten, wo ein neuer Act in einem blutigen Drama beginnen soll, wird es Zeit, den Leser mit der Geschichte dieses Verbrechens bekannt zu machen.

An der York-Road, einer von Baltimore sich abzweigenden Landstraße, stand noch vor wenigen Jahren ein hölzernes Häuschen. Es sah recht unscheinbar und armselig aus, und selbst die äußere Erscheinung mehrerer nahe gelegenen Negerhütten stach noch vortheilhaft von der des Häuschens ab. In dem letzteren lebte ein Mann, Namens Winfield Scott Goß, der sich den Ruf eines Sonderlings erworben hatte. Er besaß eine junge, schöne Frau, die in einer der fashionablen Straßen Baltimores wohnte, und obgleich er diese häufig aufsuchte, so hielt er sich doch selten lange bei ihr auf. Während des größten Theiles seiner Zeit hockte er einsam in seiner baufälligen Hütte, ohne daß man eigentlich erfuhr, was er dort trieb und weshalb er sich von aller Welt zurückzog. Fragte man ihn, womit er sich beschäftige, so entgegnete er, daß er in seinem Laboratorium (anders nannte er seine Hütte nie) experimentire, um ein Substitut für „India Rubber“, auf welches er später ein Patent zu erlangen wünsche, herzustellen. Am Abende des 2. Februars 1872 brannte das Häuschen nieder, und kurz darauf fand man unter den Brandtrümmern die bis zur Unkenntlichkeit entstellten Ueberreste eines menschlichen Wesens. Da ausreichende Beweise vorlagen, daß Goß sich kurz vor dem Brande in dem Hause befunden, und zwei Männer, ein Deutscher, Namens Engel, und ein Schwager des angeblich Verunglückten, ein gewisser William E. Udderzook, aussagten, daß sie Goß kurz vor dem Brande verlassen, so nahm die bei der Leichenschau fungirende Jury keinen Anstand, den Wahrspruch abzugeben, daß Goß bei dem Brande um’s Leben gekommen sei.

Einige Tage lebte dieses Ereigniß im Munde der Baltimorer Bevölkerung fort, dann wurde es vergessen und der Name des Sonderlings nur im Kreise seiner Bekannten vielleicht dann und wann noch einmal erwähnt. Plötzlich aber ward die Aufmerksamkeit des Publicums auf’s Neue auf diesen Vorfall gelenkt, und derselbe gewann mit einem Male ein größeres Interesse. Nachdem nämlich mehrere Monate nach dem Feuer an der York-Road verstrichen waren, stellte sich heraus, daß Goß Policen zum Betrage von fünfundzwanzigtausend Dollars in vier Lebensversicherungs-Gesellschaften besaß. Als jedoch seine Gattin ihre Rechte geltend machte und den vollen Werth der Policen beanspruchte, verweigerten die Assecuranz-Compagnien die Zahlung und zwar auf den Grund hin, daß Betrug im Spiele sei. Die Compagnien stellten sogar die Behauptung auf, daß Goß noch lebe und in Gemeinschaft mit seinem Schwager Udderzook eine Leiche in dem Hause versteckt und dasselbe angezündet habe, während Alexander Campbell Goß, ein Bruder des angeblich Verbrannten, den Letzteren mit einem in der Nachbarschaft bereit gehaltenen Fuhrwerk in Sicherheit gebracht habe.

Im Mai 1873 wurde Frau Goß vor dem Bundesbezirksgerichte in Baltimore klagbar, um die Assecuranzsumme zu bekommen. Die vorgeblichen Ueberreste von Goß wurden nochmals ärztlich geprüft, aber die Leiche war dermaßen entstellt, daß von einer Identfication keine Rede sein konnte. Nur die Zähne waren noch erhalten; diese aber sahen sehr schlecht aus und stimmten durchaus nicht mit dem prächtigen Gebisse überein, welches Jeder, der den sonderbaren Menschen gekannt, an demselben bewundert hatte.

Auf diesen Umstand stützte sich hauptsächlich die Vertheidigung, unterließ es aber, Frau Goß mit irgend einer Absicht des Betruges in Verbindung zu bringen. Ihr Betragen bei der ersten Besichtigung der Leiche, kurz nach dem Brande, war geeignet, jeden Verdacht von ihr abzulenken; sie hatte sich damals auf die entseelten Ueberreste geworfen und ihren Schmerz in einer Weise geäußert, die nach dem Urtheile aller Augenzeugen jeder Verstellung fremd war. Und doch mußte jeder Unbefangene sich die Frage stellen, was Goß und seine Complicen dabei gewinnen konnten, wenn Frau Goß nicht zu dem Complot gehörte. Das Ende des Processes war übrigens, daß das Gericht einen Urtheilsspruch zu Gunsten der Frau Goß abgab. Die Assecuranz-Compagnien beantragten einen neuen Proceß und blieben inzwischen im Besitze des Geldes.

Am 11. Juli desselben Jahres wurden in einem einsamen Gehölze zwischen Cochranville und Penningtonville, zwei kleinen Orten in Chester-County, Pennsylvanien, die schrecklich verstümmelten Ueberreste eines Mannes gefunden und zwar auf eine seltsame Weise. Ein Farmer fuhr auf dem Newporter Landwege von seiner Farm nach Cochranville, und als er an dem erwähnten Gehölze vorbeikam, wurde seine Aufmerksamkeit durch mehrere Bussarde und Aasgeier erregt, die über einem gewissen Punkte des Waldes hin- und herflogen. Als er von Cochranville zurückkehrte, sah er die Vögel noch über derselben Stelle schweben. Er verließ sein Fuhrwerk, ging in das Gehölz und fand den Leichnam. Die Arme und Beine waren von dem Rumpfe getrennt und das Gesicht so entstellt, daß es kaum zu erkennen war. Der Mörder, dessen Opfer auf diese Weise gefunden wurde, mußte ein besonderes Interesse daran gehabt haben, das prächtige, weiße Gebiß des Leichnams zu zerstören, denn mehrere Zähne waren aus den Kiefern gebrochen, und zwar konnte dies erst geschehen sein, nachdem der Unglückliche bereits sein Leben ausgehaucht.

Man stellte Nachforschungen an, wer der Todte sei, woher er gekommen und von wessen Händen er gefallen. Diese Nachforschungen brachten folgende Thatsachen an’s Licht. Am 30. Juni kamen zwei Männer nach Jennerville in Pennsylvanien und übernachteten in dem dortigen Hôtel. Der Eine dieser Beiden war Udderzook, der Andere angeblich ein reisender Agent aus Kentucky oder Tennessee. Der Letztere machte den Eindruck eines höchst sonderbaren Menschen; scheu wich er jeder Begegnung mit anderen Personen aus, fortwährend schien er sich in gedrückter Stimmung zu befinden. Am seltsamsten aber war sein Benehmen gegenüber seinem Begleiter. Wenn er denselben anschaute, so konnte man kaum sagen, ob der Blick Vertrauen oder Furcht ausdrückte. Vielleicht war es ein Gemisch von beidem, was in diesen Blicken lag. Am Morgen nach der Ankunft in Jennerville begab Udderzook sich nach Penningtonville und miethete daselbst ein Gefährt, mit dem er Nachmittags nach dem ersteren Orte zurückkehrte. Abends zwischen sechs und sieben Uhr stieg er mit dem Agenten in das kleine Fuhrwerk und verließ das Hôtel. Gegen Mitternacht langte er wieder in Penningtonville an und lieferte das Gefährt ab. Er saß zu dieser Zeit allein in dem Wagen, welcher Spuren rücksichtslosen Gebrauches aufwies. Das Wachstuch des Fußbodens war zerrissen; an den Sitzen befanden sich große Blutflecken, und zwei Decken, die der Wagenverleiher ihm am Nachmittage mitgegeben, fehlten gänzlich. Kaum waren diese Thatsachen bekannt geworden, als sich der Verdacht des Mordes auf Udderzook richtete und man zu dessen Verhaftung schritt. Er wurde in Baltimore, wo er mit seiner Frau und [612] seinen Kindern wohnte, festgenommen und nach Westchester, dem Hauptorte des Countys, in dem der Mord begangen wurde, gebracht und im dortigen Gefängnisse eingekerkert. Mittlerweile wurde über den aufgefundenen Todten eine Leichenschau abgehalten, und die Untersuchung stellte fest, daß der Ermordete kein reisender Agent, sondern der angeblich bei dem Brande an der York-Road um’s Leben gekommene Winfield Scott Goß war.

Kehren wir jetzt nach Westchester zurück und folgen den Fremden, die soeben den Weg nach dem Gerichtsgebäude eingeschlagen haben. Unter diesen sind besonders die Agenten der bei diesem Processe in so hohem Grade interessirten Versicherungsgesellschaften vertreten, aber auch die Berichterstatter der New-Yorker, Philadelphier und Baltimorer Zeitungen hatten sich in bedeutender Anzahl eingefunden. War doch dieser Proceß mit seinen dunklen Geheimnissen ein prächtiges Thema für die Blätter, die ihre Spalten so gern mit jenen Sensationsberichten füllen, welche von der Masse des Volks mit wahrem Heißhunger verschlungen werden.

Endlich sind wir in den Gerichtssaal eingetreten. Der für die Zuhörer bestimmte Raum ist bereits bis auf den letzten Platz gefüllt, aber wir wissen uns durch die Menge hindurchzudrängen und nehmen Platz an dem für die Berichterstatter der Presse reservirten Tische. Oberrichter Butler hat seinen Sitz auf der Richterbank bereits eingenommen, während der Bezirksanwalt Wanger und Herr Wm. Hayne, welche die Anklagebehörde vertreten, sowie die Herren W. Mac Veagh und J. Perdue, die Vertheidiger des Angeklagten, in einem leisen Gespräche begriffen sind, von dessen Inhalte kein Wort an unser Ohr dringt. Präcise zehn Uhr öffnet sich eine kleine Thür, die unseren Blicken bis dahin entgangen, und William E. Udderzook, der Angeklagte, tritt aus derselben heraus und wird von dem Sheriff nach der Anklagebank geführt. Es ist ein großer, starkgebauter Mann mit gesunder Gesichtsfarbe, scharf markirten Zügen, dunkelrothem Haar, kleinen grauen, etwas zurückstehenden Augen, langer Nase, großem Munde, hoher Stirn und langem Schnurr- und Kinnbarte von röthlicher Farbe.

Kaum hat Udderzook sich auf die Anklagebank niedergelassen, als sich allmählich eine seltsame Gruppe um ihn bildet. Eine alte schwächliche Frau kommt dahergewankt, wirft einen nicht zu beschreibenden Blick auf das Gesicht des Angeklagten und setzt sich darauf zu demselben. Es ist seine Mutter, die laut erklärt, sie will bis zum letzten Augenblicke bei ihrem Sohne ausharren. Jetzt naht sich dem Angeklagten eine zweite Gestalt, seine Gattin; diese trägt ein acht Monate altes Kind auf dem Arme und führt ihr Erstgeborenes, ein kleines Mädchen, an der Hand. In ihrem Gesichte malt sich der Ausdruck der schrecklichsten und folterndsten Angst um das Schicksal dessen, dem sie einst angetraut wurde. Während das kleine Mädchen auf das Knie des Vaters klettert, tritt eine dritte Person in dessen Nähe; es ist seine und auch zugleich die Schwiegermutter des Opfers, die Mutter seiner Frau und die Mutter jener leidend, aber dadurch nur noch um so interessanter aussehenden Dame, die soeben eingetreten und in einiger Entfernung von der obigen Gruppe Platz genommen, diese zuletzt Angekommene ist keine Andere als Frau Goß, die Wittwe des Ermordeten. Sie hat die Reise von Baltimore nach Westchester angetreten, um als Entlastungszeugin für Udderzook zu erscheinen.

Nachdem die Jury eingeschworen worden und die Anwälte ihre Eröffnungsansprachen gehalten, begann das Zeugenverhör, welches neun Tage währte und die seltsamsten Enthüllungen ergab. In den wenigen Monaten, die zwischen der Festnahme Udderzook’s und dem Beginne des Processes lagen, waren die Versicherungsagenten ununterbrochen thätig gewesen, um die Spur aufzufinden, welcher Goß nach dem Brande seines Hauses an der York-Road gefolgt war und die ihn endlich nach dem einsamen Gehölze geführt, wo er unter den Händen eines Mörders sein Leben endete. Es war ihnen auch gelungen, diese Spur aufzufinden, und aus den Aussagen der von den Agenten aufgesuchten und nach Westchester gebrachten Zeugen erhellte Folgendes.

Winfield Scott Goß und Udderzook hatten schon lange Zeit die Absicht gehegt, in den Besitz der Summen zu gelangen, für welche das Leben des Ersteren versichert war. Um dieses zu bewerkstelligen, verschaffte Udderzook sich in einem New-Yorker Spitale einen Leichnam und ließ denselben, in einer Kiste verpackt, nach Baltimore kommen, wo er ihn nach dem sogenannten Laboratorium brachte. Dieser Leichnam mußte Goß’ Stelle vertreten und wurde unter den Brandtrümmern gefunden, während Goß, sobald die ersten Flammen aus dem Dache des Hauses emporstiegen, sich auf und davon machte und mit dem nächsten Bahnzuge von Baltimore nach Wilmington in Delaware fuhr. Dort hielt er sich mehrere Tage auf und nahm den Namen A. C. Wilson an. Später empfing sein Bruder Alexander Campbell Goß einen Brief von ihm, welcher in Saratoga im Staate New-York geschrieben war. Von Saratoga wandte sich Goß nach Canada und von dort über Michigan nach Memphis in Tennessee; alsdann reiste er über Baltimore nach Cooperstown in Pennsylvanien. Auf seiner Durchreise durch Baltimore war er kühn genug, in einem dortigen Hôtel abzusteigen und seinen Namen als A. C. Wilson im Fremdenbuche einzutragen.

Während dieser Irrfahrten stand er, wie mehrere aufgefundene Briefe nachweisen, mit seinem Bruder und Udderzook in fortwährendem Briefwechsel. Die Letzteren mußten ihm die Gelder liefern, welche er zu seinen Reisen und für seinen Lebensunterhalt brauchte. Schickten sie ihm nicht genügende Summen, so drohte er, das ganze Netz ihrer Pläne zu zerstören, und die beiden Verschworenen in Baltimore hatten wohl Ursache zu fürchten, daß er seine Drohung wahr machen werde, denn Beide wußten recht gut, daß er nicht zu den Männern gehörte, auf die man unter allen Umständen bauen kann. In Cooperstown, einem kleinen stillen Orte, der so recht als Versteck für Jemanden geeignet war, welcher die Augen der Welt zu meiden hatte, hielt Goß sich mehrere Monate auf und begab sich im November desselben Jahres nach Newark in New-Jersey, wo er bis zum Juni 1873 verblieb. Dann suchte er Jennerville auf, traf dort mit Udderzook zusammen und fand in des Letzteren Händen seinen Tod.

Diese und viele andere seltsame Enthüllungen förderte das Zeugenverhör zu Tage, und als dasselbe sein Ende erreicht, war Jeder überzeugt, daß Udderzook für diese Welt verloren sei. Freilich machte der Vertheidiger, Herr Mac Veagh, in seinem Schlußplaidoyer noch gewaltige Anstrengungen, seinen Clienten zu retten, und seine Worte blieben auch nicht ohne Eindruck auf die Geschworenen. Er verwies die Jury auf Diejenigen, welche dem Angeklagten als Gegner gegenüber ständen. Derselbe habe mit reichen Corporationen, einer Presse, die ihre Spalten mit Sensationsgeschichten zu füllen wünsche, und einem vom Vorurtheil befangenen Publicum zu kämpfen. Höchst ungerecht und tadelnswerth sei namentlich das Verfahren der Lebensversicherungsgesellschaften. Durch ein derartiges Handeln reicher Corporationen gewinne der Tod nur einen neuen Schrecken, indem Jeder die Befürchtung hegen müsse, daß seine Familie nach seinem Ableben den größten Entbehrungen ausgesetzt sei, falls es einer Compagnie belieben sollte, die Auszahlung des Geldes zu verweigern. Verstand Herr Mac Veagh aber auch für den Augenblick einen tiefen Eindruck auf die Geschworenen zu machen und in den Herzen dieser Männer ein Gefühl für Udderzook wachzurufen, so schwand dieses Gefühl doch bald, nachdem sich die Jury zur Berathung zurückgezogen und sich überzeugt hatte, daß die Beweise von der Schuld Udderzook’s klar und unumstößlich seien. Trotzdem hielten sich die Geschworenen drei volle Tage in ihrem Berathungszimmer auf, bevor sie dem Oberrichter die Anzeige machten, daß sie sich geeinigt. Der Gerichtshof wurde sofort zusammenberufen und der Angeklagte in den Saal geführt. Wenige Minuten später traten die Mitglieder der Jury ein und gaben ihren Wahrspruch ab. Derselbe lautete: Schuldig des Mordes im ersten Grade.

Udderzook bekundete, als ihm diese Worte zu Ohren drangen, nicht die geringste Erregung; er starrte nur, ohne mit den Augen zu zucken auf die Geschworenen, als diese der Reihe nach den Wahrspruch bejahten. So ruhig war er auch während des ganzen Processes geblieben. Sein Verhalten war das eines Mannes, welcher versteht, seine Gefühle zu verbergen und sich in einer Weise zu beherrschen, die Nichts von dem verräth, was im Innern vorgeht. Nur solch ein Mann war im Stande, seinen Freund, Gefährten, Schwager und Mitwisser zu ermorden und den Leichnam mit kaltem Blute in die Erde zu verscharren. Keine Muskel zuckte in dem Antlitz des Mörders, als ein Zeuge nach dem andern auf dem Zeugenstand erschien und neue überwältigende [613] und vernichtende Aussagen laut werden ließ. Und als er, nachdem er den Wahrspruch der Jury vernommen, in seine einsame Gefängnißzelle zurückgeführt wurde und seine Frau ihm jammernd um den Hals fiel, auch da blieb er vollkommen gefaßt und ruhig.

So schloß wieder ein Act in diesem schauerlichen Drama. Der letzte steht noch bevor – es ist der Augenblick, wo der Galgen seine Arbeit zu verrichten und der Mörder diese Welt zu verlassen hat.

Und wenn der Leser fragt: „Was geschieht mit Alexander Campbell Goß, dem Dritten unter den Verschworenen?“ – so können wir darauf nur entgegnen, daß die Lebensversicherungsgesellschaften demnächst einen Proceß wegen beabsichtigten Betruges gegen ihn einleiten werden. Das Resultat dieses Processes müssen wir vorläufig noch abwarten.

Und Frau Goß, die Wittwe des Ermordeten? Sie lebt nach wie vor in ihrem elegant eingerichteten Hause. Ob sie um das Complot der Verschworenen gewußt hat oder nicht – wir wollen und können nicht darüber entscheiden; aber Eins bleibt gewiß: wäre sie ein Weib gewesen, welches ihren Mann von ganzer Seele geliebt, so wäre sie während des Processes in Westchester nicht als Entlastungszeugin für den Mörder ihres Gatten, sondern als furchtbare Anklägerin gegen denselben aufgetreten.

Der Keim zu den oben erzählten Verbrechen ist auch in diesem Falle, wie ist so vielen anderen, nur in den trostlosen Zuständen des amerikanischen Familienlebens zu suchen. Die Liebe zwischen Mann und Weib muß dem Gelddurste weichen; die Frau umgiebt sich mit Pracht und Glanz, und der Mann jagt nach dem Dollar. Daß diese Jagd zuweilen zu entsetzlichen Verbrechen und Gräuelthaten führt, davon liefert das oben erzählte Beispiel den besten Beweis.

Louis Lübkert.