Aus der Reichshauptstadt

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Autor: Paul Lindenberg
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Titel: Aus der Reichshauptstadt
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7, 19, 25, 38, 50, S. 107–111, 313–317, 415–418, 632–638, 848–852
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Aus der Reichshauptstadt.
1. Im Herzen von Berlin.
Von Paul Lindenberg.       Mit Illustrationen von P. Bauer.

Denkmal des Großen Kurfürsten. Blick zur Kurfürstenbrücke. Das Königliche Schloß.

Die Menge von Fremden, welche in Berlin Einkehr hält und vor allem einen äußeren Eindruck des Lebens und Treibens in der neuen deutschen Kaiserstadt gewinnen will, sucht sicherlich zunächst die „Linden“ und die sie begrenzenden Straßentheile auf: Hier geht von früh bis spät der öffentliche Pulsschlag der so schnell zu Ruhm und Glanz gelangten Residenz am erregtesten; hier tritt, selbst während der Nacht, nur selten eine Ruhepause ein; hier scheint sich alles vereinigt zu haben, was einer modernen großen Stadt Ansehen und Prunk verleiht. Die „Linden“ sind in der Erinnerung schon untrennbar mit Berlin verknüpft; sie bilden mit ihrer näheren Umgebung das eigentliche Herz unserer Kaiserstadt, ihren Hauptnerv. Nicht nur aber für die Fremden allein, am meisten für die Berliner selbst! Mit einem unverkennbaren Gefühl des Stolzes spricht der geborene Spree-Athener von „seinen Linden“; den Inbegriff aller Vornehmheit und alles Aparten bildet für ihn diese Straße, der in seinen Augen ganz etwas Besonderes anzuhaften scheint, welcher er gar nichts Anderes an die Seite stellen kann. Und das neue Berlin hat doch noch andere hübsche und sehenswerthe Theile genug – die Leipziger-, die Friedrich-, die Wilhelmsstraße, aber nein, sie sind doch so ganz anders, es sind eben nicht die „Linden“, es sind nicht „unsere Linden“, deren Front das Heim des greisen Kaisers birgt, deren Paläste unsere siegreichen Krieger heimkehren sahen, deren Giebel an den hervorragenden Fest- und Freudentagen des deutschen Volkes in ein einziges weites, buntfarbiges Flaggen- und Fahnenmeer eingehüllt sind.

Dieser Berlin repräsentirende Charakter der Linden zeigt sich denn auch deutlich in ihrem äußeren Gewande, in dem täglich wiederkehrenden Bilde, welches sie uns gewähren, einem Bilde, voll Abwechslung, voll heiterer Mannigfaltigkeit und reizvoller Kontraste. Wenn die Sonne mit einem Flammenschleier die Siegesgöttin auf dem Brandenburger Thore umstrahlt, wenn in den blüthenbesäeten Zweigen der Lindenbäume, welche die Mittelpromenade einsäumen, die Spatzen lärmreiche Konferenzen abhalten und unten auf dem Erdboden sich jubelnde Kinderscharen umhertummeln, oder auch im Winter, wenn silberner Reif die Aeste und Stämme überzogen hat und von allen Seiten her lustiges Schlittengeläut erschallt: dann sind die Glanztage dieser vornehmsten Berliner Straße gekommen und sie zeigt sich alsdann würdig ihres Rufes. Wohin der Blick fällt, er trifft auf Bewegung, auf ein fortwährendes Hin und Her, ein stetes Durcheinander; die Trottoirs sind überfüllt, langsam nur schreitet man vorwärts; hier stehen Neugierige an den verlockend ausgeputzten Schaufenstern der Läden, dort treffen sich einige Bekannte und bleiben in kleinen Gruppen stehen; da werden mehrere Provinzialen von dem sie begleitenden kenntnißreichen Cicerone auf diese oder jene Berühmtheit, einen Minister, einen General, einen Künstler, eine gefeierte Sängerin aufmerksam gemacht und schauen den Vielgenannten mit Interesse nach; alle Klassen und Stände findet man vertreten; neben dem eleganten Bummler, der den hochmodern geformten Cylinder keck zurückgesetzt hat, sieht man

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Blick von der Schloßterrasse nach den Linden.

[109] in dürftigem Rocke den schmalwangigen Bureauarbeiter, neben dem Geistlichen aus den Reichslanden in würdigem schwarzen Gewande den schlanken Korpsburschen, der mit sichtlicher Genugthuung die frische Quart zur Schau trägt; neben einigen Arm in Arm daherschlendernden, eifrig plaudernden Attachés einer fremden Botschaft einen ganzen Trupp kleiner, gelbwangiger Japaner und Siamesen, die hier ihren verschiedentlichen Studien obliegen und durchaus nicht verlegen mehrere zierliche Backfische anblicken.

Nicht minder rege ist der Wagenverkehr auf den breiten, mit glattem Macadam versehenen Fahrstraßen; häufig genug müssen die berittenen Schutzleute eingreifen, um Verwirrungen schlimmer Art zu hindern; schwerfällige Lastwagen werden von leichten Kabriolets überholt, und schöngeschirrte Ponywägelchen rollen um die Wette mit seidenausgeschlagenen Equipagen dahin. Dazwischen schieben sich auffällige Geschäftswagen, mit muthigen Trabern bespannte Phaëtons, Droschken von zweifelhafter Schnelligkeit und behäbig rasselnde Omnibusse, von deren Verdeck behaglich die Passagiere auf das frohgemuthe Leben zu ihren Füßen herabschauen. Doch plötzlich scheint ein besonderer Zug in das ganze bewegliche Treiben zu kommen; die Schutzleute lenken ihre Pferde zur Seite und bewegen durch rasche Zeichen auch die nahen Gefährte dazu; die Spaziergänger eilen zum Straßendamm und sehen angestrengt nach derselben Richtung; die Besucher der Kranzler’schen Konditorei und des Café Bauer verlassen schleunig die marmornen Tischchen und stellen sich am Fahrwege auf; ein gewisses freudiges Zucken geht durch all die Hunderte und Tausende, und der Ruf: „Der Kaiser kommt, der Kaiser kommt!“ eilt von Mund zu Mund. In demselben Moment fährt schon der einfache Wagen vorbei, und der ehrwürdige Monarch erwiedert freundlich lächelnd die oft mit stürmischen Hochrufen verbundenen Grüße.

So erscheinen uns die Linden im Alltagsleben; ganz anders, viel freudiger, viel belebter ist der Trubel, wenn, wie der Berliner sagt, „etwas los“ ist, bei Truppeneinzügen, bei dem Besuch fremder Fürstlichkeiten, bei allen Festen, welche das preußische Königshaus betreffen, auch bei den großen, im Winter stattfindenden Hofbällen. Dann strömt es von überall her nach dieser Straße heran; wie aufgescheuchte schwarze Ameisenhaufen kribbeln und wimmeln die zahllosen Menschenscharen zwischen den hohen Häuserlinien dahin, bald in dichten Knäueln stockend, dann sich allmählich auflösend, um gleich wieder Halt zu machen, bis einzelne Kühne versuchen, sich mit Unterstützung der Ellenbogen vorwärts zu drängen. Vergebliche Müh’! Ein zehn-, zwölffacher Menschenwall säumt den Fahrweg ein, begrenzt von einer Schutzmannskette, die Niemand durchläßt. Jetzt denkt auch Keiner mehr daran; eingekeilt in drangvoll fürchterliche Enge behauptet Jeder sein Plätzchen und sucht den Hals noch höher zu recken als seine Vorderleute; denn die ersten Wagen mit ordenbesäeten Generalen, mit goldstrotzenden Kammerherren, mit Diplomaten und Gesandten, mit hohen Beamten und Admiralen, auch mit Damen in kostbaren Toiletten, funkelnde Brillantagraffen [110] im Haar, rollen vorbei; ihnen folgen in vornehmen Staatskarossen die Vertreter der auswärtigen Fürstlichkeiten; dann schwanken langsam die mächtigen, von Gold und Silber starrenden Galawagen der zum Besuch erschienenen Prinzen und Prinzessinnen heran, die sechs Rosse vorn mit blitzenden Schabracken, der Kutscher auf dem Bocke mit weißgepuderter Allongeperrücke, die überreich galonnirten Diener auf den Trittbrettern mit zierlichen Galanteriedegen und sauber gewickelten Haarbeuteln. Werden schon die Insassen dieser Wagen vielfach mit Hochs begrüßt, so schwellen die Rufe brausend an, wenn die wohlbekannten Berliner Hofgefährte auftauchen, von schnell und gleichmäßig ausgreifenden Rappen gezogen, Spitzenreiter in knappem, gold- und silberbordirtem Jockeykostüm voran, der Wagen leicht und elegant gebaut, mit farbiger Seide im Innern ausgeschlagen.

Ist die letzte Equipage verschwunden, ist das letzte Hoch verhallt, dann lösen sich auch die ungeheuren Menschenmauern auf; manch Weh und Ach über gedrückte und gequetschte Gliedmaßen wird laut; manch humpelnder Fuß, manch zerknittertes Gewand ist zu sehen, aber ganz gleich – allgemein ist man der Ansicht: „Hübsch war es doch!“ und das ist ja schließlich die Hauptsache!

An ganz besonders festlichen Tagen legen die Linden auch ihre besondere Festtoilette an. Unvergeßlich schöner Anblick die breite und lange Straße hinunter: Fahne an Fahne, Banner an Banner, Guirlanden von frischem Grün ziehen sich an den Häuserfronten entlang, hier die Büste des Kaisers umkränzend, dort seinen Namenszug bildend; buntfarbige Teppiche hängen aus den Fenstern herab und duftige Blumenspenden grüßen hernieder; überall Freude und Frohsinn, Leben und Bewegung. Abends aber leuchtet’s und flammt es auf; kein Fenster, hinter dem nicht Kerzenschein, kein Haus, von dessen Portal es nicht blitzt und flimmert von Tausenden kleiner Illuminationskörperchen; bunte Lampions schlingen sich zu gefälligen Arabesken, und aus einer Unzahl röthlicher Glühlichtchen strahlen weißschimmernde elektrische Sonnen hervor – in ein einziges Feuermeer scheint die Straße gehüllt zu sein, in ein einziges Freudenfeuer, welches einen schönen Wiederschein auf den Mienen der eng sich drängenden Menschenkarawanen findet.

Auch in dem baulichen Charakter der Linden macht sich ihr Einfluß auf die gesammte Stadt und ihre tief einschneidende Bedeutung so recht bemerkbar. Von dem hoheitsvollen Säulenportal des Brandenburger Thores angefangen, dessen Quadriga 1814 von den siegreichen Verbündeten nach Berlin zurückgeführt wurde, nachdem der Viktoria das eiserne Kreuz in den erzenen Lorbeerkranz geflochten war, repräsentirt fast jedes Haus ein Stückchen erinnerungsvoller Geschichte. Hier finden wir die Palais der fremdstaatlichen Botschafter und Gesandten; hier finden wir die Denkmäler der Männer, welche so viel zur Größe ihres engeren preußischen wie weiteren deutschen Vaterlandes beigetragen; die kriegführende Bellona veranschaulicht uns das Zeughaus mit seinen bluterkämpften Trophäen, und den Frieden verkörpert die Akademie der Wissenschaften und der Künste, in denen einst ein Leibniz, ein Schadow gelehrt. Und zwischen den beiden massigen Gebäuden streckt sich die Universität hin; häufig genug durchströmt von hinreißender Begeisterung, wenn es die Ehre des Staates, des Volkes galt, von jenen Tagen an, in denen Fichte seine mannhaften Reden hielt und so Manchen damit auf den Weg der opferfreudigen Pflicht zurückführte! An viele von Glanz und Frohsinn erfüllte Stunden mahnt uns sodann das Opernhaus, und an wahres Glück, auch aus Königsthronen, das benachbarte Schlößchen, jetzt vom Kronprinzen bewohnt, einst das Heim der edelsten und liebreizendsten Fürstin, die an einem heiterklaren Decembertage des Jahres 1793 hier ihren Einzug hielt und im Sturme sich die Herzen der jubelnden Berliner errang, von denen sie später wie eine gütige, lichtvolle Fee verehrt wurde.

Und ist es nicht, als ob jener weihevolle Schein, den einst begeisterte Liebe und treueste Hingebung um das Bild der theueren Herrscherin geschlungen, sich übertragen hätte auf das schmucklose Palais, vor dem jetzt tagtäglich Hunderte und Tausende von Menschen in dichtgedrängten Massen stehen, um dem greisen Sohne der Königin Luise ihre Huldigungen darzubringen? Wer könnte an jenem einfachen Gebäude vorbeigehen, ohne den Blick nach dem historischen Eckfenster zu richten, von dem aus oft genug während der Nacht die Lampe ihren matten Schimmer auf die einsame Straße geworfen, späten Wanderern verkündend, daß das Oberhaupt des Staates noch seiner ernsten Pflichterfüllung nachgehe. Hier war es ja auch, an dieser Stelle, an einem Januartage, wo stolz die Standarte emporrauschte, Berlin verkündend, daß es zur Kaiserstadt geworden!

Ja, sie haben viele Wandlungen durchgemacht, die „Linden“, von jenen Zeiten an, wo sie einst der Große Kurfürst bepflanzen ließ und damit die ursprüngliche über Charlottenburg nach Spandau führende Landstraße zu einer städtischen Promenade umgestaltete. Nicht weniger mannigfache Phasen erlebte der Ausgangs- oder, wie man es nehmen will, der Anfangspunkt unserer ruhmreichen Straße, dessen Name noch heute an seine einstige Bestimmung erinnert, ein lieblicher, angenehmer Name: der Lustgarten. Denn ein Lustgarten breitete sich hier auf dieser von den Spreearmen gebildeten kleinen Insel einst aus, und unter den wohlriechenden, seltenen Bäumen, aus deren dichtem Grün Statuen hervorleuchteten, gingen die in goldstrotzende Gewänder gekleideten Höflinge des ersten preußischen Königs auf und nieder, in zierlichen Redewendungen mit den feingepuderten Damen plaudernd, die auf ihren hohen Hackenschuhen kokett neben ihnen hertrippelten. Aber die seltenen Bäume verschwanden und auch die Höflinge sowie das Orangeriehaus, als Friedrich Wilhelm I. das Regiment in seine starken Hände nahm; was brauchte er einen Lustgarten? Er hatte einen Exercirplatz nöthig, und dort, wo noch wenige Jahre vorher das eleganteste Französisch erklungen war, ertönten nun die derben Kommandoworte der Korporale, welche die „lieben blauen Jungen“ des Königs eindrillten!

Er würde große und – wir möchten darauf schwören – zornige Augen machen, der soldatenfreundliche Herrscher, wenn er den Lustgarten in seiner heutigen Gestalt sehen würde; er würde die Schönheit desselben wenig empfinden. Aber wir empfinden sie glücklicher Weise und freuen uns derselben von Herzen; denn der Anblick, etwa von der Terrasse des Schlosses aus, ist ein ganz herrlicher: linker Hand die breite Schloßbrücke mit ihren glänzenden Marmorgruppen und dahinter in blauem Dust halb verschwimmend die Linden, rechts der altertümliche ehrwürdige Dom, vor uns prächtige Parkanlagen mit lauschigen Gebüschen und sammetnen Grasflächen, aus denen das imposante Bronzereiterbild Friedrich Wilhelm’s III. emporragt, und dahinter das Museum sowie die Nationalgalerie mit ihren wirksamen, an die Blüthezeit des klassischen Alterthums erinnernden Säulenkolonnaden.

Hätte er, der schönheitsbegeisterte Monarch Friedrich Wilhelm IV., dessen Statue die Treppenwange der Nationalgalerie schmückt, nicht so viele Entmuthigungen erlebt, der Platz würde jetzt noch ganz anders ausschauen; denn es war ein Lieblingsgedanke des verstorbenen Regenten, diese sogenannte Museumsinsel mit stolzen Kunsthallen zu bebauen; durch Säulengänge sollten sie mit einander verbunden werden und ihr Zweck darin bestehen, die an verschiedenen Stellen untergebrachten künstlerischen Sammlungen zu vereinigen. Als Mittelpunkt sollte sich in edler antiker Form, in Gestalt eines korinthischen Tempels, ein Gebäude erheben, dessen weite und hohe Räumlichkeiten zu prunkhaften Festsitzungen, zu kunstwissenschaftlichen Vorträgen, zu interessanten einzelnen Schaustellungen bestimmt waren. Mit dem Dom aber sollte ein Camposanto vereinigt werden, im Innern verziert durch Cornelius’ geistreiche Kompositionen, bestimmt, die letzte Ruhestätte der Hohenzollern zu bilden.

Wenn auch dieser Plan nicht ausgeführt wurde und wahrscheinlich auch nicht ausgeführt werden wird, so harrt doch ein anderer seiner Verwirklichung, und die kostbaren Olympia- und Pergamonfunde sowie die Erzeugnisse der neueren Kunst werden ihrer würdige Museen erhalten. Ebenso plant man mit den Linden nicht unbedeutende Veränderungen, welche sich namentlich auf die Verschönerung der einzelnen Wege, auf eine architektonisch eigenartige Einfassung derselben sowie auf gärtnerischen Schmuck erstrecken werden.

Unberührt vom Wandel der Zeiten ist bisher geblieben und wird es auch wohl ferner bleiben das majestätische preußische Königsschloß mit seinen weiten Höfen, seinen massigen Mauern, seinen prunkenden Sälen und Balkonen. Fest, trutzig, gewaltig ragt es empor und blickt erhaben über die angrenzenden Stadttheile hinweg, als wüßte es, daß von hier aus der Siegesadler

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seinen Flug genommen und den Lorbeer, welcher die Kaiserkrone umschlang, an seine Fittige geheftet. Hier, in den hallenden Gemächern, in den dunklen Gängen, den weiten Galerien haust noch ein gut Stück Romantik, welche auch von außen das Schloß umsponnen hat, besonders an der die Spree begrenzenden Seite. Epheu schlingt sich dort um die alters geschwärzten Mauern, von denen sich der ursprünglichste Theil des Schlosses, der einst zu Gefängnissen dienende grüne Thurm, scharf abhebt; schief und schmal sind die Fenster, verwittert und abgebröckelt das Gestein, verbogen die Zinnen und Erker, und wer hier Nachts weilt, wenn der Mond durch zerrissenes Gewölk lugt, wenn seine Strahlen über die sturmerprobten Jahrhunderte alten Zinnen und Erker huschen, wenn die Wellen der Spree an die hier zahlreich befindlichen Fischbehälter und Kähne plätschern und das Monument des Großen Kurfürsten seinen dunklen Schatten über den Wasserspiegel wirft, der kann sich wohl in jenes Berlin zurückversetzen, welches unter den Hauptstädten die mißachtetste und verspottetste Rolle spielte.

Freilich, das moderne, das kaiserliche Berlin kennt keine derartige Schwärmerei und Pietät: unmittelbar am Schloß vorüber und ihm sogar einen althistorischen Anbau, den der Schloßapotheke, raubend, spannen sich in mächtigen Bogen die gewaltigen Quadern der Kaiser-Wilhelm-Brücke und führen uns in die mit bewundernswerthen Prachtbauten eingesäumte, als Verlängerung der Linden dienende Kaiser-Wilhelm-Straße. Rücksichtslos bohrt sie sich in den ältesten Theil der Stadt als gewaltiger, zerstörungslustiger Keil ein; die niedrigen, auf Pfählen stehenden Häuschen, mit Schindeln bedeckt, mit wackeligen hölzernen Altanen versehen, fielen ebensogut der Spitzhacke und der Schaufel zum Opfer wie die ehrwürdigen Kaufmannshäuser mit ihren kunstvollen Thorbögen, den hallenden Fluren und breiten Wendeltreppen. In Staub und Schutt versanken diese historisch interessanten Gäßchen und Gassen, und fast über Nacht stieg daraus die neue, glänzende Straße empor, welche nun den direkten Verkehr vom äußersten Westen der Residenz bis zum innersten Centrum ermöglicht.

Mitten aber aus den noch übrig gebliebenen Partien der ehemals kurfürstlich brandenburgischen Stadt erhebt sich hoch und gewaltig das Rathhaus und blickt grüßend zu dem benachbarten Königsschlosse hinüber. Ist dort der Schauplatz fürstlicher Machtentfaltung, wurde dort die Krone mit Blut und Eisen geschmiedet: so ist hier der Raum für unermüdlichen bürgerlichen Fleiß; so ist hier das Feld, auf dem rastlos an der Größe der Stadt geschaffen wird. Wenn wir von der Plattform des Thurmes auf das meilenweit sich ausbreitende Dächermeer, auf das Gewirr der Straßen und Plätze, auf das nie rastende Leben und Treiben der Weltstadt hinunterblicken, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß vor fünfundzwanzig Jahren hier eine halbe Million Menschen lebte, deren Zahl heute fast das Dreifache beträgt: dann werden wir von Bewunderung erfaßt vor der Pflichterfüllung und vor der Arbeit, die Stunde für Stunde, Tag für Tag und Jahr für Jahr an diesem Platze, von dieser Stelle aus geleistet worden sind und noch geleistet werden, und mit herzlicher Freude erkennen wir an, daß sich der Bär, das Sinnbild des Berliner Magistrats, mit dem Adler der Hohenzollern zu ruhmbringender, erfolggekrönter Thätigkeit verbunden hat.

Ja, der Weg vom Brandenburger Thor bis zum Rathhause verkörpert uns mit seinen angrenzenden Theilen, mit den Querstraßen der Friedrichstraße bis zur Leipzigerstraße, mit dem wohlgepflegten Wilhelmplatze, an dessen Seiten sich still vornehme Palais erheben, und mit dem ehemaligen Gendarmenmarkt, dem jetzigen Schiller-Platze, der die beiden schönsten Kirchen Berlins, den deutschen und französischen Dom, sowie Schinkels genial-erhabenes Schauspielhaus umschließt, das schönste und bedeutungsvollste Stück der deutschen Kaiserstadt. Von hier aus hat sich in gewaltigen und immer gewaltigeren Kreisen die Residenz ausgestreckt und ausgereckt; von hier aus schoben sich die Häusermassen nach allen Seiten vor; hier vibrirt das öffentliche Leben am fieberhaftesten; von hier aus durchzucken die Nachrichten bedeutender Ereignisse die ganze Stadt und lassen die Bevölkerung nach diesem Viertel strömen, welches wahrlich würdig ist, Berlin zu repräsentiren, welches werth ist, das eigentliche Herz der Stadt zu bilden!

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2. Arbeit und Verkehr.
Von Paul Lindenberg.       Mit Illustrationen von P. Bauer u. A.

Potsdamer Platz mit Blick zur Leipzigerstraße.

Wenn jemals eine Stadt verstanden hat, plötzlichen Umwälzungen und Anforderungen, welche durch überraschende politische Ereignisse zu Werke gebracht wurden, gerecht zu werden, und zwar in verantwortungsreichster Weise, so ist es Berlin. Vor dem deutsch-französischen Kriege, der für Preußen und seine Bundesgenossen ungeahnte Folgen hatte, war Berlin eine Hauptstadt mit mehreren hunderttausend Einwohnern, wie es deren verschiedentlich, wenn auch nicht ganz so große, gab. Man legte der Residenz, die noch dazu in „des heiligen römischen Reiches Streusandbüchse“ lag, keine besondere Bedeutung bei; die Blicke sehr vieler innerhalb der schwarz-weiß-rothen und selbst der schwarz-weißen Grenzpfähle waren weit mehr und weit intessirter nach Paris, nach London und nach Wien gerichtet, als nach Berlin, dem man so wie so nicht recht gewogen war, welches man theils mit mißgünstigen, theils mit verächtlichen oder spöttischen Augen betrachtete. Viele verstanden absolut nicht, wie man auf die Dauer hier leben konnte, wie man sich hier wohl zu fühlen vermochte, und so manchem Beamten geschah durchaus kein Gefallen damit, wenn ihm seine Versetzung nach Berlin bekannt gemacht wurde.

Die gewaltigen Erfolge des deutsch-französischen Krieges zerstörten mit wuchtigen Schlägen den provinziellen Schlaf, der bisher Berlin umfangen hatte. Aus der preußischen Hauptstadt war mit einem Male eine deutsche Kaiserstadt geworden; auf hoch erhobenem Haupte trug Berolina das blutig errungene Kleinod der deutschen Einigkeit und zeigte sich würdig der so unversehens eingetretenen Aenderung. In jugendlichem, siegreichem Thatendrang reckte und streckte sich nun die Stadt aus; in ungeahntem Maße nahm die Bevölkerung zu und vermehrte sich in einem Jahrzehnt – von 1871 bis 1881 – um mehr als 330 000 Seelen; tausend und abertausend Hände regten sich unermüdlich, um das Gewand der Stadt zu verbessern und zu schmücken, ganze Straßentheile verschwanden und machten vornehmen Neubauten Platz, gewaltige Fabrikanlagen erwuchsen fast über Nacht; die Industrien aller Art nahmen glücklichen Aufschwung; das Kunstgewerbe blühte empor, für die Bildungsanstalten, für die gelehrten und künstlerischen Sammlungen wurde das Höchste gethan; immer mehr konzentrierte sich hier die Gelehrten-, die Schriftsteller-, die Künstlerwelt; ein flottes, frisch pulsirendes Leben, der Drang nach vollendeten Leistungen herrschte und herrscht noch allerorten und bildet für jeden aufmerksamen Beobachter einen merkwürdigen Reiz des längeren Berliner Aufenthaltes. Und auch mit Werken der Kunst schmückte sich die Stadt; neue Denkmäler gesellten sich zu den alten, und die Friedenssäule auf dem Belleallianceplatz (vergl. S. 316) wurde durch die Siegessäule am Königsplatz übertroffen.

Wodurch aber konnten diese weitgesteckten Ziele erreicht werden? Nur durch Arbeit, durch unablässige, unermüdliche Arbeit! Schwerlich trifft man auf dem gesammten Kontinente eine Stadt, wo derartig viel gearbeitet und gefördert wird wie in Berlin. Die in den anderen Weltstädten wohlbekannte Species der vornehmen Nichtsthuer findet man in Berlin nicht so häufig; das Pflaster scheint hier für den Müßiggang zu heiß zu [314] sein, man zeigt auch deutlich jedem Tagedieb, wie wenig man von ihm hält. Dieser allgemeine Drang nach Thätigkeit, nach Beschäftigung fällt stets den Berlin besuchenden Ausländern am meisten auf; sie fühlen sofort, welch frischer Pulsschlag hier herrscht, wie jeder Erfolg ausgenutzt wird, um auf ihm weiter zu bauen und nach neuen Vortheilen und Triumphen zu streben.

Wer nur von Zeit zu Zeit nach Berlin kommt, der wird immer wieder erstaunen über das Wachsthum des öffentlichen Verkehrs in den belebteren Gegenden, und wenn er noch das Berlin von 1870 kennt, jenes Berlin mit seiner die Stadt auf ebenem Boden durchkreuzenden Verbindungsbahn, jenes Berlin mit seinen weit von den Centralpunkten abliegenden Bahnhöfen und innerhalb der engeren Stadtgrenze noch absolut „pferdebahnlos“, der wird über die schleunige und vortheilhafte Metamorphose sein ehrliches Bewundern nicht verhehlen. Was ist das für ein emsiges Hasten und Treiben auf allen Straßen und Plätzen, ein ewiges Hin und Her , eine stete Unruhe, ein fortwährendes Drängen und Eilen, Menschenmassen, wohin der Blick fällt, hier vor den lockenden Schaufenstern sich stauend, dort bei den Straßenübergängen sich sammelnd, da neugierig in dichten Scharen wegen irgend einer Kleinigkeit – eines gefallenen Pferdes, eines zerbrochenen Wagens, eines arretirten Umhertreibers wegen – Posto fassend und nicht von der Stelle weichend, bis sich die Sache abgespielt hat!

Anhalter Bahnhof.

Ebenso lebhaft wie auf dem Trottoir ist der Verkehr auf dem Damme; unermüdlich rasseln und rollen die Wagen der mannigfachsten Art an einander vorüber, und oft genug müssen die in den frequentirteren Gegenden aufgestellten reitenden Schutzleute energisch eingreifen, um Verwirrungen zu hindern oder zu lösen.

Wenn wir einen kurzen Ueberblick des Berliner Verkehrs und seiner Entwicklung geben, so können wir unseren Ausgangspunkt vom Potsdamerplatz nehmen, auf welchem am 21. September 1838 ein reges Leben herrschte; denn von dem unscheinbaren kleinen Eisenbahngebäude aus, welches hier stand, sollte der erste Zug oder, nach damaligem Ausdrucke, der erste „Dampfwagen“ nach Zehlendorf – denn weiter ging die Berlin-Potsdamer Eisenbahn noch nicht – abgelassen werden. Freilich sah der Platz damals anders aus; nur die Schinkelschen Wachtgebäude standen schon da und bildeten gewissermaßen den Eingang in die Stadt, denn von hier ging die Chaussee nach Potsdam, zunächst durch Gartenanlagen, dann durch wüstes Feld, und auch nur von einer Art Vorstadt war absolut nicht die Rede: kleine Land- und Gartenhäuschen waren sichtbar, und die Berliner zogen auf Sommerwohnung dorthin, wo sich heute ein von Hunderttausenden bewohnter, vornehmer Stadttheil erstreckt Die Leipzigerstraße, heute zu den schönsten Berlins zählend, sah damals öde und nüchtern aus; denn sie war zumeist besetzt von den unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. errichteten soliden, aber monotonen Häusern.

Die Eröffnung der Potsdamer Bahn hatte zunächst keinen besonderen Aufschwung für die Stadt zur Folge, denn sie enttäuschte nicht unbeträchtlich die hochgespannten Erwartungen vieler, wie sich andere wieder schadenfroh dieses Mißerfolges freuten. Gab es doch genug gebildete Menschen in Berlin, welche auch nichts, gar nichts von dem neuen Unternehmen erhofften und ihm ein baldiges, seliges Ende prophezeiten. Zu diesen gehörte der Generalpostmeister von Nagler, welcher der Eisenbahn jegliche Rentabilität absprach und meinte: „Dummes Zeug! Ich lasse täglich diverse sechssitzige Posten nach Potsdam gehen, und es sitzt niemand drinnen! Wenn die Leute ihr Geld absolut loswerden wollen, so mögen sie es doch gleich lieber zum Fenster hinauswerfen, ehe sie es zu solchen unsinnigen Unternehmungen, wie zu einer Eisenbahn, hergeben.“

Der gute brave Oberpostmeister! Er würde sich recht wundern, wenn er heute mit uns durch Berlin spazierte und die kolossalen Bahnhofshallen, von deren schwindelnd hohen Decken des Abends und Nachts das elektrische Licht Tageshelle verbreitet, erblickte und dabei erführe, daß Berlin vierzehn derartige Bahnhöfe zählt, daß die Ringbahn wie ein eisernes Netz Berlin umgiebt und die Vororte in bequemer Weise mit einander verbindet, aber als einen Höllenspuk würde er es ansehen, wenn plötzlich an ihm oder über ihm rasselnd und donnernd die Züge der Stadtbahn wegbrausten und wir damit die Mittheilung verbänden, daß man aus dem Mittelpunkte Berlins jetzt in weniger als einer halben Stunde die schattenspendenden Hallen des Grunewalds oder die blauen Fluthen des Müggelsees erreichen kann.

Am Bahnhofe Alexanderplatz.

Ja, der Stadtbahn ist schnell eine der bedeutendsten Rollen im Berliner Verkehrsleben zugefallen; täglich verkehren nicht weniger als 450 Züge, deren Zahl an schönen, von der Witterung begünstigten Sonn- und Festtagen noch erheblich wächst. Man muß dann den Andrang zu den verschiedentlichen, schmuck ausschauenden Bahnhöfen sehen, das Gekribbel und Gewimmel auf den breiten, luftigen Perrons, den Lärm und die Unruhe; von der die nicht beneidenswerthen Beamten umtost werden! Und das geht von früh bis spät; unerschöpfliche Menschenkarawanen wollen in das Freie befördert werden, wollen den Bann der Stadt verlassen und sich von anstrengender Werktagsarbeit ungezwungen und fröhlich erholen und dieser ungeheure Andrang, besonders im Sommer, macht es uns begreiflich, daß allein während des letzten Jahres die Stadtbahn von etwa vierzehn Millionen Menschen benutzt wurde. Diese Zahl würde um das Fünffache steigen, wenn die Bahn eine wesentliche Ergänzung durch einen Nord-Süd-Ring – der jetzige geht nur von Osten nach Westen – erführe und damit ihr Schienennetz über ganz Berlin ausbreitete. Man hört so auch, daß einem derartigen Plan von zuständiger Seite bereits nahegetreten worden ist; die Mittheilung einer baldigen Verwirklichung würde jubelnde Aufnahme finden.

[315] In unvorhergesehener Weise entwickelte sich das Institut der Pferdebahnen, deren erste Linie, und zwar diejenige nach Charlottenburg, 1865 entstand. Kurz vorher noch hatten einige englische Unternehmer den Berliner Magistrat gebeten, ihnen eine Konzession zur Errichtung von Pferdebahnstrecken zu ertheilen – sie waren abschlägig beschieden worden, weil ein Bedürfniß dazu nicht vorhanden war! Nach dem Friedensschlusse 1871 nahm die neue Einrichtung einen zunächst nur allmählichen, dann aber plötzlich ganz gewaltigen Aufschwung; auch innerhalb der Stadt wurden nun die Geleise gelegt, deren Gesammtlänge nach zwei Jahren 12 000 Meter betrug.

Zettelankleber.

Ein Jahrzehnt später war diese Ziffer auf 200 000 Meter angewachsen, und seitdem hat sie von Jahr zu Jahr enorm zugenommen, denn die umfangreichen Mittel der einzelnen Gesellschaften, namentlich der Großen Berliner Pferdebahngesellschaft, deren Waggons täglich von etwa 180 000 Menschen benutzt werden mit einer regelmäßigen Einnahme von ungefähr 22 000 Mark, ermöglichen es ihnen, die Bedingungen der städtischen Verwaltung in jeglicher Weise zu erfüllen und materielle Schwierigkeiten überhaupt nicht kennen zu brauchen. Wohin man daher jetzt den Fuß in Berlin setzt, ob nach dem äußersten Norden oder dem entlegensten Süden: das Läuten der Pferdebahn wird stets zu vernehmen sein und die vielverschlungenen Linien gestatten uns schnell die Fahrt zu irgend einem anderen Punkte der Stadt.

Wenn aber die ganze Einwohnerschaft mit Freuden diese Ausbreitung der Pferdebahn begrüßte, einen Stand giebt es doch, der dieselbe mit stillem, oft auch mit lautem Haß und Neid verfolgt – es ist die ehrbare und ehrwürdige Kaste der Droschkenkutscher in Berlin, die ziemlich rein und unverfälscht unter ihren Genossen das Berlinerthum früherer Zeiten mit ungehobelter Derbheit, aber auch meist mit treffendem Witz bewahrt hat. Und wir begreifen diese gründliche Feindschaft, die sich häufig zu gehässigen Streitigkeiten verleiten läßt, recht wohl; denn die Pferdebahn macht ja den Droschken erhebliche Konkurrenz und mindert die Einnahmen der Kutscher um Beträchtliches herab, die wehmüthig auf jene Zeiten zurückschauen mögen, in denen sie allein das Regiment in Händen hatten, und die Passagiere von ihrer Gnade resp. Ungnade abhängig waren. 1816 tauchten in Berlin, wo es vorher nur gelbgestrichene Fiaker gegeben, die jedoch in den Kriegszeiten vollständig von der Bildfläche verschwunden waren, zuerst die Droschken auf, deren Bezeichnung dem Russischen entlehnt ist. Sie vermehrten sich beträchtlich, als die ersten Eisenbahnlinien mit Berlin verknüpft wurden und das Verkehrsleben dadurch einschneidende Veränderungen erhielt, erst in den letzten Jahren trat eine Verminderung ein, und große Hellseher wollen so auch das Jahrhundert bereits vorausbestimmen, wo gleich einer dunklen Sage nur noch das Gerücht von „Droschken zweiter Güte“ kündet und ein Exemplar derselben im Märkischen Museum lautes Staunen hervorruft. Vorläufig giebt es aber noch immer 4500 Droschken in Berlin, welche trotz aller Nebenbuhlerschaft im letzten Jahre an 15½ Millionen Personen beförderten.

Blumenverkäuferin.

Bald nach der Mündung verschiedentlicher Eisenbahnen in Berlin kamen auch die Omnibusse auf, welche den Wandel der Zeiten kaum miterlebt zu haben scheinen; denn, wenn sich alles um sie her veränderte, sie thaten es fast nicht und humpeln und schwanken noch heute in ziemlich derselben Gestalt über das Pflaster, wie vor zwanzig, vor dreißig Jahren. Dies ist wohl teilweise mit der Grund, daß sie sich nur in ganz bestimmten kleinbürgerlichen Volksschichten einiger Beliebtheit erfreuen und daß sie es niemals auch nur annähernd zu der Bedeutung gebracht haben, wie ihre Kollegen in Paris und London. Im Gegenteil: für viele Berliner gilt es durchaus nicht als „vornehm“, in einem Omnibus zu fahren und wenn man sie wirklich dabei ertappte, würde es ihnen gerade so fatal sein, als ob man sie bei irgend einem thörichten Streiche erwischt hätte. Die „Ableger“ der Omnibusse, die Thorwagen, sind fast ganz verschwunden; einige schöne Sonntage vielleicht rufen ihnen ihre frühere Blüthezeit ins Gedächtniß zurück, und auch den Kremsern wird es wahrscheinlich allmählich ebenso ergehen. Stadt-, Pferde- und Dampfbahn treten ihre Erbschaft an und führen die Ausflugslustigen viel rascher und bequemer nach ihren Zielen. Ob auch gemütlicher? – Das ist eine andere Frage; denn gemütlich waren sie doch, diese Kremserpartien, hinaus nach dem Grunewald, hin zu den Ufern der Oberspree, in dem rumpelnden Kasten dicht zusammengedrängt eine Menge vergnügter, fröhlicher Menschen mit gutem Berliner Humor und schlagfertigem Berliner Witz, mit großem Durst und dem ernsten Bestreben, die freien Stunden auszunutzen und sie in denkbarster Heiterkeit zu begehen! Diese Naturwüchsigkeit des Berliners, diese Ungenirtheit unter Hunderten und Tausenden fremder Menschen, wer weiß, ob sie nicht von den „modernen Allüren“ der Kaiserstadt verschlungen wird, ob der Berliner nach und nach nicht ganz in dem Weltstädter untergeht!

So bedeutend wie der kurz skizzirte Verkehr zu Lande ist nun freilich derjenige zu Wasser nicht, obgleich auch er beträchtlichen Umfang angenommen hat und in stetem, fortschreitendem Wachstum begriffen ist. Es ist eine auffällige Erscheinung, und jeglicher, der im Sommer nur einmal die Spree entlang fuhr, wird sie beobachtet haben – der Berliner hat eine merkwürdige Leidenschaft für das Wasser. Zu seinen höchsten Genüssen gehört es, auf einem kleinen Nachen, auf einem Segelboot, auf einem Dampfer die Fluthen der heimathlichen Gewässer zu durchfurchen, und so ist denn auch die Spree, besonders in der Gegend bei Treptow und Stralau, an schönen Tagen derart belebt, daß man glauben könnte, Berlin wäre Seestadt und jeder Berliner Junge führe schon früh,

Steinträger.

[316] wie der kleine Hydriot, „hinaus auf das stürmische Meer.“ Häufig können die Dampfer kaum die Scharen befördern, die nach den hübsch gelegenen Vergnügungsorten an der Spree gelangen wollen, und ein buntfarbiges, unterhaltendes Bild ist es dann, welches der Fluß mit seinem regen Leben darbietet. Aber auch der Lastverkehr ist weit größer, als man glaubt: haben doch im verflossenen Jahr an 50 000 beladene Schiffe Berlin durchkreuzt, wie so auch die Spree und die mit ihr verbundenen Kanäle allein fünf geräumige Häfen bilden, in denen einige hundert Fahrzeuge nebeneinander liegen und gelöscht werden können. Da geht es rührig Tag für Tag her; die Dampfkrähne pfeifen und kreischen und winden spielend viele Centner schwere Lasten empor, um sie in die harrenden Wagen zu befördern; auf schwanken Brettern werden in klobigen Karren Sand und Steine und Kohlen und Holz an das Land gebracht; Geschrei, Rufen, Lärmen herrscht stets ringsum; denn die Lastträger und Schiffer sind hitzige Leute und das lange Warten, wie es oft geboten ist, ist nicht ihre Sache. Zumeist freilich lassen sie es am Schreien genügen und nur selten kommt es zu Tätlichkeiten: sie wissen recht gut, wie flink die zierlichen Polizeidampfer nahen und wie wenig die heilige Hermandad zögert, energisch Ruhe herzustellen!

Wo und zu welcher Stunde wir auch in Berlin weilen mögen, geschäftiges Leben und Treiben umgiebt uns überall vom frühesten Morgen an bis in die sinkende Nacht hinein. Selbst Abends, Wenn die Bureaus und Komptoirs, die Werkstätten und Ateliers geschlossen werden, wenn immer neue Menschenströme sich aus den Querstraßen in die großen Verkehrsadern ergießen, wenn für Unzählige die kurze Zeit der Erholung anfängt und sie sich freudig in das Vergnügen stürzen, beginnt wiederum für viele die Zeit angestrengter Thätigkeit; denn eine eigentliche Ruhepause in dem unermüdlichen Kreislauf der Weltstadt giebt es nicht. Die letzten schwankend ihren Penaten zusteuernden Kneipgenies, die ersten zu den frühesten Morgenzügen eilenden Reisenden, sie stoßen schon auf Arbeit: bei loderndem Feuer werden die Pferdebahnschienen ausgebessert, bei sprühendem Fackellicht wird das Pflaster erneuert, eilig fertigzustellende Bauten werden bei elektrischem Licht gefördert; in langen Reihen treten die Reinigungsmannschaften an und ihre Besen fegen taktgemäß über den Asphalt. Die Zettelankleber reißen in langen Strähnen das Papier von den Anschlagsäulen und versehen dieselben für den folgenden Tag mit einer neuen Vergnügungsspeisekarte. Dann, wenn das Frühlicht langsam herauf dämmert, rollen von den umliegenden Ortschaften die Wagen mit Lebensmitteln aller Art heran und steuern den Markthallen zu; Bäckerjungen streichen pfeifend an den Häusern entlang, und zuerst einzeln, darauf in kleinen Trupps, schließlich in dichten Mengen tauchen die Arbeiterkolonnen auf, die Maurer und Zimmerleute mit ihrem Handwerksgeräth in der Hand voran, ihr schweres Tagewerk beginnt so am ehesten. Bald nun erschallt das erste helle Läuten der Pferdebahn, die auf vielen Linien besondere Frühwaggons eingerichtet hat, und jetzt tritt auch schon der Tag mit seinem vielgliedrigen Räderwerk in sein Recht und die aufgehende Sonne begrüßt in Berlin bereits ein Heer fleißiger Menschen.

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Die Erfolge dieses zielbewußten Strebens, dieser Anstrengung aller Kräfte und des muthigen, rastlosen Vorwärtsschreitens auf dem begonnenen Wege waren bisher große und glänzende und sie werden sicherlich auch fernerhin in ähnlicher Weise nicht ausbleiben. Stolze und schöne Worte sind es denn auch, welche der Berliner Magistrat seinem letzten Verwaltungsbericht vorangesetzt hat, welche eine ehrlich verdiente Anerkennung des allgemeinen Arbeitens und Ringens enthalten und die hier als Schlußstein unserer flüchtigen Betrachtung dienen mögen: „Wohl keine Stadt diesseit des Oceans hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren, im Verhältniß zu ihrer bisherigen Volkszahl, ein so staunenerregendes Wachsthum aufzuweisen. Die Lage Berlins, fast im Mittelpunkt von Deutschland und Europa, welche erst im Jahrhundert der Eisenbahnen voll zur Geltung kommen konnte, der Fleiß und die Genügsamkeit seiner aus einer Mischung verschiedenartiger Volkselemente hervorgegangenen Bewohnerschaft, endlich die günstigen politischen Gestaltungen der letzten Jahrzehnte haben in glücklicher Wechselwirkung zu dieser von der älteren Generation seiner Einwohner in ihren Jugendjahren nicht geahnten Entwickelung beigetragen. Berlin, die Hauptstadt des mächtigsten Gliedes der europäischen Staatengruppe, die Residenz eines auf dem ganzen Erdball bewunderten Fürsten, ist zugleich der bedeutendste Handels- und Börsenplatz des kontinentalen Europas geworden, auf dessen Wichtigkeit als Weltmarkt, als internationales Komptoir zur Regelung von Schulden und Anleihen auswärtiger Länder England nicht ohne Grund eifersüchtig zu werden begonnen hat.“

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3. Im Thiergarten.
Von Paul Lindenberg.       Mit Illustrationen von P. Bauer. u. a.

Am Brandenburger Thor. 

Berlin und der Thiergarten – für jeden, der nur die kürzeste Frist in der Hauptstadt zugebracht hat, ist dies ein untrennbarer Begriff. Berlin ohne den Thiergarten und umgekehrt, dieser ohne die kaiserliche Residenz: das ist thatsächlich undenkbar, es ist unmöglich, eine solche Idee ernsthaft weiterzuspinnen. Das fröhliche Lächeln von Berlin, ein Stückchen Poesie im rauschenden Trubel der nimmer rastenden Weltstadt: so erscheint uns stets dieser schöne Park, welcher in seinem Umfang und seinen Anlagen nicht so leicht seinesgleichen findet und dessen Werth ein großer Theil der Einwohnerschaft auch wohl zu würdigen weiß. Wie freut sich das ermüdete Auge, wie heben sich die vom Staub der Straßen bedrückten Lungen, wenn wir, von den Linden kommend, das Brandenburger Thor, jenen herrlichen, den atheniensischen Propyläen nachgebildeten Bau, durchschritten haben und sich nun die lockenden grünen Hallen des Thiergartens vor uns ausdehnen! Hinter uns liegt die Stadt, aus deren Häusermeer das neue Reichstagsgebäude fest emporstrebt und die Siegessäule, von goldenen Sonnenstrahlen umfluthet, aufragt – ein froheres, freieres Treiben umfängt uns hier. Freilich in diesem Frühjahr trug die Straße, die von hier aus nach Charlottenburg führt, ein anderes Gepräge. Das frohe Treiben des Alltags war ernsteren Aufzügen gewichen. Durch dieses Thor hinaus schritt der Trauerkondukt, der die sterbliche Hülle des großen Kaisers zu dem Mausoleum in dem weihevollen Schloßparke von Charlottenburg geleitete; auf dieser Straße wogten Volksmassen, um in Charlottenburg Kaiser Friedrich zu huldigen, hier standen sie dichtgedrängt und grüßten ihn mit lautem Jubel, da er nach einer schweren Krise endlich hinausfahren und in der Reichshauptstadt Berlin erscheinen durfte.

Dieser Platz vor dem Brandenburger Thor bildete nicht immer den Eingang zum Thiergarten, o nein; dieser erstreckte sich früher bis mitten in die heutige Stadt; aus den Fenstern des kurfürstlichen Schlosses an der Spree konnte man zu Anfang des 16. Jahrhunderts auf seine wogenden Baumwipfel herabsehen, und der weidlustige Kurfürst Joachim I. hatte es bequem, auf die Birsch zu gehen. Hirsche, Auerhähne, Fasanen und allerlei anderes jagdbares Gethier hielt sich in dem sorgsam umzäunten Wildpark auf, der jedoch, mit dem Wachsthum der Stadt, mehr und mehr zurückwich, zunächst bis zum jetzigen Zeughause, dann, zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, bis zur Wilhelmstraße, schließlich, nachdem in den Jahren 1789 bis 1793 der Baurath Langhans das Brandenburger Thor errichtet, bis zur heutigen Grenze. Die Berliner der früheren Zeiten haben sich herzlich wenig um den mit Morästen durchsetzten, schwer passirbaren Wald gekümmert; erst als Friedrich der Große sich seiner Pflege widmete und ihn durch seinen genialen Baumeister und Freund Knobelsdorff gänzlich umgestalten ließ, da fanden sie Geschmack an ihm und wandelten in hellen Scharen zu ihm hin. Zwei kolossale Statuen, der pythische Apoll mit dem Bogen und Herkules Musagetes mit der Leyer, hüteten damals den Eingang und gaben einzelnen prüden Gemüthern, die übrigens zu jener Zeit seltener waren als heute, Anlaß zu energischen Beschwerden. Jenseit des Thores hielten kleine Korbwagen, welche den schnellen Verkehr mit Charlottenburg vermittelten und die Person [416] für zwei Groschen dorthin beförderten. An schönen Tagen machten sie bedeutende Geschäfte; denn Charlottenburg war stets ein Lieblingsausflugspunkt der Berliner, und die Hauptstraße daselbst war dann zu beiden Seiten mit zahllosen Tischen und Stühlen besetzt; reichten letztere aber nicht mehr aus, so saßen die hauptstädtischen Gäste in einzelnen Gruppen auf Schemeln, Bänken und sogar auf altem Bauholz; sie tranken behaglich ihr Bier und ihren Kaffee und waren fröhlich und guter Dinge. An derartigen schönen Tagen zeigte auch der Eingang zum Thiergarten eine volkstümliche Physiognomie; unter den Bäumen wurden Semmeln, Pfefferkuchen, Würste und sogar gefüllte Branntweinflaschen feilgehalten; hier und da stand ein Invalide mit einem Guckkasten, oder ein mechanisches Kunstwerk, das Innere eines Bergwerkes, einer Schmiede etc. darstellend, wurde den staunenden Umstehenden gezeigt. Während rechts nach der Spree zu ein weiter Exerzierplatz lag, befand sich links vom Thiergarten eine Reihe von Landhäusern, welche von ihren Besitzern zu Sommerwohnungen benutzt wurden; „prachtvoll schön“ erschienen sie einem zeitgenössischen Schilderer, wenige von ihnen haben sich bis heute erhalten und zwischen den prunkenden Palais der stolzen Thiergartenstraße dünken sie uns arm und kümmerlich, aber trotzdem geht von ihnen etwas ungemein Behagliches und Gemütliches aus.

Wie wir erwähnt, hatte Knobelsdorff den Park ganz umgeschaffen; von ihm stammen auch die „Labyrinthwege“, die uns jetzt noch immer das Zurechtfinden erschweren, von ihm auch überall die ehemaligen zahllosen Götter- und Götterinnenstatuen, zwölf allein auf dem „Großen Stern“, den deshalb die Berliner nie anders wie Puppenplatz nannten. Da dieser damals als einer der entlegensten Spaziergänge galt, so entstand daraus der Ausdruck „bis in die Puppen“, gleichbedeutend mit „zu weit“. Das Hauptrendez-vous für die große Welt war von hohen Ulmen und Eichen eingefaßte „Zirkel“ mit gegenüberliegenden Zelten, einigen Kaffeewirthschaften, die ihren Namen von Zelten, die sich früher hier befanden und gleichfalls der Erholung dienten, führten und ebenso noch jetzt führen. Im „Zirkel“ versammelte sich alles, was zur guten Berliner Gesellschaft gehörte; in den Nachmittag- und Abendstunden war er häufig überfüllt. Zwischen den Beamten in steifer Haltung, zwischen den wohlhabenden Bürgern mit sorgsamst gepudertem Haarbeutel und schneeweißem Spitzenjabot stolzirten die Offiziere der vornehmen Kavallerieregimenter, wie der Garde du Corps, der Gendarmen und Zietenschen Husaren, umher. Sie sagten den schönen Damen viele Schmeicheleien und erzählten von den Thaten des großen Friedrich und ihren zukünftigen eigenen. Auf den Alleen umher tummelten Reiter kokett ihre muthigen Rosse und medisirten mit den Insassen der offenen Gefährte; in eleganten, von allen Seiten mit Glasscheiben versehenen Karossen, an deren Schlägen Pagen und Heiducken standen, erschienen die Prinzessinnen des königlichen Hofes und erfreuten sich an dem frohsinnigen Durcheinander. Dann aber verödete mit einem Male der „Zirkel“; verhallt waren die Radotagen der Offiziere, verweht die gesuchten Aperçus der holden Damen, traurig und verödet lag das nahe Schloß Bellevue da, dessen ritterlicher Besitzer, Prinz Louis Ferdinand, den Heldentod gestorben. Napoleons Stern glänzte heller als je und von der mit Fridericianischem Lorbeer umkränzt gewesenen preußischen Armee waren nur noch demoralisirte Bruchtheile vorhanden. Und eines Morgens, da war die Quadriga vom Brandenburger Thor verschwunden und hatte den Weg nach Paris angetreten; die Berliner aber sagten, der Sieg ist aus unseren Thoren gefahren, denn die Göttin hatte ehedem ihr Angesicht dem Thiergarten zugekehrt.

Heute blickt sie nach der entgegengesetzten Richtung und zwar auf die Linden herab; wie einst wallfahrten in dichten gedrängten Scharen Tausende und Abertausende an heiteren Tagen heran und ergießen sich durch das hoheitsvolle Säulenportal in die grünen Laubhallen des Parkes. Welch fröhliches Gewimmel, besonders an Fest- und Feiertagen! Wer es möglich machen kann, verläßt das steinerne Häusermeer und pilgert mit Kind und Kegel hierher. Wohl giebt es ja noch verschiedene andere Parkanlagen in der Stadt, so den Humboldt- und den Friedrichshain, aber wagt diese nur einmal mit dem Thiergarten zu vergleichen, ihr würdet bei den Berlinern schön ankommen! Das wäre gerade so, als ob ihr die Frankfurterallee, die auch hübsch und breit und

[417] mit Bäumen bepflanzt ist, den Linden an die Seite stelltet! Thiergarten bleibt Thiergarten, damit basta; hier ist immer etwas und meistens Neues zu sehen, zumal wenn auf dem endlosen Rennplatze bei Westend jenseit Charlottenburg die sonntäglichen Hindernißrennen stattfinden. Da zieht sich auf der Chaussee eine undurchdringliche Wagenkette dahin; alle Gefährte sind vertreten, von der seidenausgeschlagenen, von echtem Vollblute gezogenen fürstlichen Equipage bis zu dem berüchtigten „Hammelwagen“, der sonst zum Viehtransport dient, heute jedoch von den scherzenden und lachenden Verwandten des dicken Schlächtermeisters, der wie ein Prinz auf dem Bocke thront, besetzt ist, von der mit Offizieren in leuchtenden Uniformen geradezu besäeten, schwankenden, die Baumäste streifenden Mail-Coach bis zu der klappernden Droschke „zweiter Güte“, deren Rosinante philosophische Betrachtungen über die Entfernung zwischen Berlin und Charlottenburg anzustellen und darüber das Gehen – denn Laufen zu sagen wäre eine ungeheuerliche Uebertreibung – zu vergessen scheint. Ein menschenüberfüllter Pferdebahnwagen folgt dem andern; dichtbelebt von Reitern sind die Nebenwege, und flink wie Eidechsen schießen die Velocipedisten in ihren kleidsamen Trachten an uns vorbei. Die Mehrzahl freilich benutzt Schusters Rappen, eine sehr billige Gelegenheit zum Vorwärtsgelangen und nicht minder dazu geeignet, die vorüberhastenden Reitenden und Fahrenden zu kritisiren und zu bespötteln – man weiß ja, wie wohlfeil und kostenlos diese Waare in der deutschen Kaiserstadt ist.

Auf dem Reitweg.

Wer an diesen Tagen nicht selbst zur Rennbahn hinauspilgert, um auf seinem Fünfzigpfennigplatz sich derart sportgemäß zu benehmen, als ob er mindestens zehn Rennpferde im Stall hätte, wer nicht dem weihe- und stimmungsvollen Charlottenburger Schloßpark, in welchem uns ernst und feierlich aus dunklem Grün das Mausoleum grüßt, einen kurzen Besuch abstattet: der läßt sich den Korso, der im Frühling und Hochsommer sich den Rennen anschließt, nicht entgehen. Ein entzückendes , farbenreiches Bild bietet sich uns dann in der Hofjägerallee dar, die den Thiergarten quer durchschneidet: auf und nieder rollen die eleganten Gefährte – nur den herrschaftlichen ist die Zufuhr von der Polizei gestattet – mit ihren ebenso eleganten Besitzern und Besitzerinnen, letztere in den modernsten sommerlichen Toiletten; nebenher sprengen die Reiter und auch schlanke Amazonen; duftige Blumensträuße fliegen herüber und hinüber, und wir wetten: oft hat sie Amor gebunden und lenkt ihren Flug zum richtigen Ziel. Die Blüthe der Jugend und die Blüthe des Adels ist hier vertreten, jene Kreise, die im Winter auf dem Hofparkett zu finden sind, wohlbekannte, weitberühmte Namen, die unter den Zuschauern, welche schwarz zu beiden Seiten die Allee einsäumen, von Mund zu Munde schwirren. Dazu die flotten Weisen der in den Gebüschen aufgestellten Militärkapellen, das vergnügte Leben ringsum, der wolkenlos blaue Himmel hoch über uns – man darf sich nicht wundern, nirgends ein mürrisches Gesicht zu sehen.

Ist der Korso vorüber, sind die Wagen und Reiter verschwunden, hat das Auge sich genug gesättigt, dann kommt auch der Magen und dabei wieder vor allem der Durst zu seinem Recht. Der Hauptstrom wendet sich, ganz wie früher, den Zelten zu; man weiß zwar, daß sie schon gefüllt sind; aber man versucht es doch und findet auch sein Plätzchen in den kleinen, dicht mit Männern, Frauen, Kindern vollgepfropften Vorgärtchen. Wie das möglich ist und wie sich die Kellner mit ihren speisenbesetzten Tablets durchzudrängen vermögen, das wird selbst den aufmerksamsten Beobachtern ein Räthsel bleiben. Bricht die Dunkelheit herein, flammen im benachbarten Krollschen Garten die sich zu den niedlichsten Arabesken, Kronen und Lauben verschlingenden Illuminationsguirlanden auf, dann wird es hier leerer und die dunklen Massen wälzen sich wieder dem Brandenburger Thore zu. So mancher von ihnen hegt sicher im Innern ein stilles Dankgefühl gegen den Thiergarten, und sein abendliches Rauschen läßt die schwere Arbeit, welche die neue Woche in Fülle bringen wird, in besserem Licht erscheinen; horch, jetzt setzt auch noch der Stelzfuß dort am Damme die Kurbel seines Leierkastens in Bewegung; einige Stimmen fallen leise, schüchtern ein; andere schließen sich an und die Melodie wird von Hunderten gesurrt und gesummt, bis es ganz laut und vernehmlich im Chor erschallt: „Wer hat dich, du schöner Wald“ – und unter diesem Wald, was könnten die Berliner darunter anderes verstehen als ihren Thiergarten!

Uns, wenn wir offen sein sollen, ist er allerdings am Alltage lieber, besonders wenn mit duftigen Schwingen der Lenz nahte oder diesem mit goldiger Sonnenfluth der Sommer folgte. Dann am frühen Morgen im Thiergarten – es ist wirklich ein Stückchen reiner, frischer Natur, welches dort seinen ganzen unbeschreiblichen Zauber auf uns einwirken läßt. Die weiten Rasenflächen, die dichten Gebüsche, die Zweige und Kronen der Bäume, die Blumen, welche an vielen Stellen zu zierlichen Beeten vereint sind, schimmern von Millionen Perlen Thaus, und wenn die ersten Sonnenstrahlen darüber huschen, scheint ein Diamantenregen niedergefallen zu sein. Aus dem dichten Grün leuchten die marmornen Statuen der Königin Luise, ihres Gemahls und des Dichterkönigs Goethe, alle drei von Meisterhand geschaffen, hervor; ein kräftiger, würziger Erdgeruch umfängt uns; zitternde Reflexe fallen durch die Wipfel der mächtigen Buchen und Eichen auf die sorgsam gesäuberten Wege, über welche in munteren Sprüngen Eichhörnchen huschen, während Fink, Amsel und Drossel ihre Morgenkonzerte beginnen und von fernher die süßen Töne der Nachtigall herüberschallen. In den Straßen der Stadt ist es noch still und öde; hier aber beginnt, früher als dort, das erste Leben; mit sorgsamen Schritten nahen die Brunnentrinker, welche den vorgeschriebenen Weg mit denkbarster Genauigkeit zurücklegen, einige poetische Gemüther schwärmen ganz in dem Morgengenuß und blicken mit deutlicher Verachtung auf den schlanken jungen Künstler, der, die Skizzenmappe unter dem Arm, mit sichtlichem Behagen die bläulichen Ringel seiner Cigarre in die klare Luft hinaufsteigen läßt; mehrere junge Damen, denen wir begegnen, haben schöne, rothgebundene Bücher mit Goldschnitt unter dem Arm; verstohlen werfen sie hin und wieder einen Blick hinein, ja, es ist doch ganz anders, Heine und Lenau und Rückert hier zu lesen, als in den engen vier Wänden!

Mit jeder Stunde nimmt das Leben zu. Lange Arbeiterkolonnen, welche in entfernten Stadttheilen wohnen, durchkreuzen den Park; ihnen folgen zahlreiche Schülerscharen, dieser und jener noch einmal den Homer oder Cicero memorirend; dann wird auch das Läuten der Pferdebahnen vernehmbar, übertönt alsbald von rauschender Militärmusik, denn die Truppen ziehen zum Tempelhofer Felde hinaus. Frohes Jubeln und Scherzen erklingt aus den mit Fahnen und Bannern geschmückten Kremsern, welche die dreikäsehohen Angehörigen der unteren Klassen einer Schule zum Grunewald hinausbefördern, während zu Fuß die herangewachseneren Schüler demselben Ziele zustreben; nachdem sie längst verschwunden, [418] hallt ihr Gesang noch zu uns herüber: „Alles neu macht der Mai, macht die Herzen froh und frei“, und die so lange nicht gehörte Melodie zaubert auch uns schöne Jugenderinnerungen hervor. Der Jugend speciell gehört ja in den Vormittagsstunden der Thiergarten, von allen Seiten kommen sie angetrippelt, die Kleinen und Kleinsten, Buben und Mädchen, Arme und Reiche, behütet von der Wärterin, der Schwester oder gar von einem Diener, der sich in seiner Rolle sichtlich höchst ungemüthlich fühlt. Ueberall sind Spielplätze errichtet, und nun solltet ihr einmal sehen, wie eifrig alsbald die Arbeit begonnen wird; mit Schaufel und Harke und Hacke wird gebuddelt und gegraben und gebaut; hier entsteht eine Festung, dort ein Kanal, da eine Gärtnerei, die Wangen glühen und die Augen blitzen, ein helles Jubeln vor Lust und Freude, vor Wonne und Genuß – und wer da zuschaut, dem geht das Herz weit auf und er wünscht nur ein Mal, nur ein einziges Mal noch so sorglos und glücklich zu sein!

Wenn wir wieder allein sein wollen, müssen wir die entfernteren Partien des Thiergartens aufsuchen; vorbei an der bronzenen Löwengruppe von Wolff, dem blumenumwobenen Denkmal der Königin Luise gelangen wir zur lauschigen Rousseauinsel und von dort über die Löwenbrücke zum Neuen See. Das ist hier doch das schönste und idyllischeste Fleckchen in der näheren Umgebung Berlins! Still und ruhig liegt der Wasserspiegel vor uns, Schwäne durchfurchen ihn langsam und majestätisch, ein Zug Enten rudert schnatternd daher und verschwindet in dem hohen Schilf und Binsenrohr am Ufer, das hellere Grün der Linde hebt sich von dem dunkleren des Ahorn ab, Eiche und Kastanie machen die Schattirungen noch mannigfaltiger; in schweren Dolden steht der Flieder in Blüthe und sein süßer Duft scheint sich mit dem nah und immer näher ertönenden Locken und Schluchzen der Nachtigall zu einem unnennbaren Ganzen zu verschmelzen, welches unsere Sinne umfängt und uns die Weihe der Natur aufs innigste empfinden läßt. Verhältnißmäßig selten suchen Spaziergänger diesen Punkt auf, erst wenn sich gen Charlottenburg hin der Himmel mit goldigem Schimmer überzieht und noch einmal in purpurne Gluth die Wipfel der Bäume und einzelne Theile des Sees getaucht erscheinen, dann wird es auch hier etwas lebhafter. Von dem mit Fahnen umflatterten schmalen Hafen, in dem einzelne phantastisch kostümirte Matrosen eifrig herumhantiren, lösen sich die kleinen, schwankenden Nachen los und werden mit kräftigen Ruderschlägen auf den See hinausgetrieben. Fast jede dieser Nußschalen beherbergt zwei Menschenkinder, deren Herzen sich gefunden; häufig genug wird das Ruder eingezogen und dann vereinen sich die Hände zu sanftem Druck, während der Mund heimlich leise Liebesworte flüstert. Abgebrochen trägt der Wind die Klänge des Konzerts im Zoologischen Garten herüber, das Wasser plätschert eintönig an den Bug des Schiffleins und schmelzender als je erzittert das Lied der Nachtigall – dann packt der kleine geflügelte Gott, der gern hier in dem dichten Buschwerk, durch welches säuselnd der Abendwind flüstert, lauscht und späht, die Pfeile in den Köcher und hängt den Bogen über die Schulter, um mit leichtem Flug nach einem anderen Ort zu schwirren – hier ist seine Anwesenheit nicht mehr von nöthen!

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Bei Kroll im Berliner Thiergarten.
Originalzeichnung von O. Gerlach.

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4. Das lustige Berlin.
Von Paul Lindenberg.       Mit Illustrationen von O. Gerlach, P. Bauer. u. a.

Im „Sternecker“. 

Ob Sommer oder Winter, ob Frühling oder Herbst, wer sich die Zeit in Berlin verkürzen will, der braucht nicht darauf zu achten, ob die ersten Schneeglöckchen schüchtern im Thiergarten emporsprießen, ob die Linden auf der nach ihnen benannten stolzen Straße süßen Duft ausströmen oder ob lustiges Schlittengeläut erschallt und dem ahnungslosen Passanten aus sicherem Versteck ein festgefügter Schneeball nachgesandt wird. Die Auswahl der Vergnügungen ist allerdings mehr oder minder eine andere, jegliche Saison hat ihre besonderen Lockungen, und fast jeder Monat bietet seine „Specialität“, die häufig grundverschieden von der vorangegangenen ist; aber gerade diese bunte Abwechslung enthält eine große Anziehungskraft und zeigt die lustige Seite der Weltstadt im mannigfachsten Licht.

Natürlich üben die einzelnen Jahreszeiten einen wesentlichen Einfluß auf den Charakter der Belustigungen aus, sie vermindern sie nicht, aber sie prägen ihnen eine bestimmtere Individualität auf und umgeben verschiedene von ihnen mit doppeltem Glanz.

Betrachten wir uns Berlin von dieser Seite im Sommer, so lenken wir wohl zunächst unsere Schritte nach dem Zoologischen Garten, auf den die Kaiserstadt mit vollstem Recht stolz sein darf Das weite Terrain mit seinem prächtigen Baumwuchs gehörte einst zum Thiergarten, bis kurz vor Mitte des vergangenen Jahrhunderts auf Veranlassung Friedrichs des Großen hier eine Fasanerie eingerichtet wurde. Als man letztere 1842 nach dem idyllischen Charlottenhof bei Potsdam übersiedelte, bat der Naturforscher Lichtenstein den König Friedrich Wilhelm IV., daß an dieser Stelle ein zoologischer Garten angelegt werden möchte. Der Herrscher war diesem Plane sehr geneigt und unterstützte das neue Unternehmen noch dadurch, daß er ihm eine beträchtliche Zahl bisher auf der von der Havel umspülten Pfaueninsel gefangen gewesener fremder Thiere überwies und auf diese Weise sogleich einen sicheren Bestand schuf. Im Sommer 1844 wurde der Garten, der damals vollständig außerhalb der Stadt lag, zum ersten Male dem Publikum geöffnet, und wenn er auch zunächst nur langsame Fortschritte machte, so blühte er unter sachverständiger Leitung und im Besitze einer kapitalsfähigen Aktiengesellschaft desto kräftiger in den siebziger Jahren sowie in diesem Jahrzehnt auf und beansprucht gegenwärtig den Rang als eines der bedeutendsten und angesehensten derartigen Institute in ganz Europa.

Es ist aber auch ein seltener Genuß, an einem schönen Vormittage hier entlang zu wandeln, ohne besonderen Zweck und ohne specielles Ziel; schmetternder Vogelgesang ertönt aus den breitästigen Baumkronen, silberner Thau liegt aus Gräsern und Halmen, goldene Sonnenstrahlen huschen über Weg und Steg und mit munterem Geschnatter ziehen in kleinen Zügen die Entenscharen durch die von künstlichem Felsgeröll und schattigen Weiden umrahmten Teiche. Wer Lust hat, kann in diesen Stunden am besten die Thiere betrachten und studiren, denn der Besuch ist nicht sehr zahlreich und stört uns nirgends. Zwar treffen wir zuweilen auf lange Kinderkarawanen, bestehend aus Schülern und Schülerinnen dieser oder jener Gemeindeschulen, aber wie könnten sie uns stören, diese Scharen kleiner Blond- und Schwarzköpfe, die mit ausgelassenem Jubel die Affenkäfige umdrängen und sich nicht satt sehen können an den drolligen Sprüngen der langgeschwänzten Vierfüßer, die mit scheuer Ehrfurcht das stattliche Löwenpaar betrachten und furchtsam sich zusammenducken, wenn der Wüstenkönig seine dröhnende Stimme erhebt, und welche die letzten Krumen ihres spärlichen Frühstücksbrotes den Rehen reichen, die bereits an die gutmüthigen Geber gewöhnt sind und sich zutraulich nähern. Sonst bilden um diese Zeit Fremde den Hauptbesuchertheil, einzelne Brunnentrinker ferner wandeln gemessen die vorgeschriebene Frist ab, auf ihren von Jasmin und Flieder überschatteten Lieblingsplätzchen sitzen empfindungsvolle Damen, ein Buch des erkorenen Autors in der Hand, und auf den Spielplätzen die, ebenso wie im Thiergarten, auch hier vorhanden sind, tummeln sich in froher Ungebundenheit Knaben und Mädchen durch einander, Kinder von Eltern, die im Besitze einer allen Familienmitgliedern freien Eintritt gewährenden Aktie sind.

Nachmittags schaut es allerdings anders im Zoologischen Garten aus, da kommen mehr die Menschen als die Thiere zur

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Der Neptunteich im Berliner zoologischen Garten.

[634] Geltung, denn der schöne Park ersetzt vielen, welche aus irgend einem Grunde die heißen Monate in Berlin zubringen müssen, einen Badeaufenthalt. Wer aus bestimmten gesellschaftlichen Kreisen es ermöglichen kann, wendet sich dann hierher, Stadt- und Pferdebahn vermitteln den Verkehr aus dem Innern der Residenz, und daneben rollen unaufhörlich Droschken und Equipagen an den weitgeöffneten Portalen vor; sichtlich gern giebt sich hier die elegante Welt ein Rendezvous. Und man kann es ihr nicht verdenken, denn der Aufenthalt, namentlich vor dem großen Restaurant mit seinen verschiedentlichen breiten Plateaus, ist ein ganz allerliebster und gewährt den Augen eine Fülle anregender Eindrücke. Das ist auf der Promenade dort am Neptunteich, in den sich rauschende Kaskaden ergießen und dessen Wasserspiegel durch allerlei ausländisches kriechendes und fliegendes Gethier belebt ist, ein stetes Hin- und Herwogen lachender, schwatzender, plaudernder Menschen, ein unaufhörliches Kommen und Gehen, ein fortwährendes Bilden und Auflösen kleinerer Gruppen, die sich hier und da scharf von dem Gesammtbilde abheben – dort eine Schar junger Mädchen in hochmodernen, luftigen, hellen Toiletten, da ein Trupp Offiziere, herumspazierend, säbelrasselnd, hier eine Schar buntbemützter Studenten, sichtlich von einem recht ausgedehnten Frühschoppen kommend, und überall Fremde, jeglicher Nationalität angehörend und jegliche Sprache redend, Franzosen, Engländer, Italiener, Amerikaner, Türken – es ist kaum ein civilisirter Staat nicht vertreten. Dazu die flotteste Militärmusik von zwei sich ablösenden Kapellen, der blaue Himmel über uns – wahrlich, man trennt sich schwer von diesem Fleckchen Erde, zumal wenn sich eine laue Sommernacht herniedersenkt und mit einem Male die elektrischen Flammen ihr magisches Licht verbreiten, während stimmungsvoll der Wagnersche Tannhäusermarsch von dem Podium herniederrauscht und seine tönenden Weisen das Echo der friedlichen, stillen Natur erwecken.

Und nun – als Gegenstück – der erste Sonntag eines Monats! Ist das noch derselbe Zoologische Garten, der Alltags eine gewisse aristokratische Vornehmheit aufweist? Man sollte es kaum glauben. Eine wahre Völkerwanderung ergießt sich dann von den frühen Morgenstunden an hierher, an den Kassen herrscht ein fast lebensgefährliches Drängen und Schieben, Tausende und Abertausende begehren Einlaß, der an diesen Sonntagen nur 25 Pfennig kostet und der dieselben zu richtigen Volksfesten stempelt; daneben aber auch zu langdauernden, denn die zuerst Erschienenen machen nicht etwa den später Kommenden Platz, o nein, dieser Tag wird vollständig ausgenutzt. Proviant bergen ja die rundbauchigen Körbe, welche fürsorglich „Mutter“ mitgenommen, Bier giebt es aller Ecken und Enden, denn da die Restaurationsräumlichkeiten bei weitem nicht ausreichen, wird überall das „Bayerische“ frisch vom Faß verzapft, hier bei den Tigern und da bei den Giraffen und dort bei den Elefanten. Jetzt kommen auch die Thiere wieder zu ihrem Recht, und wenn sie nur ein klein bißchen Verstand hätten, sie würden stolz sein über ein derartiges Anstaunen und Bewundern, aber sie würden noch öfter Einspruch erheben gegen derartige, laut werdende kühne zoologische und geographische Kombinationen! Fortgewischt sind die sonst hier zu treffenden eleganten Gestalten der Fremden und Einheimischen; das echte Berlinerthum hat an diesem Tage Besitz vom „Zapperlotschen Garten“ genommen, und wo das erst der Fall ist, da bleiben die ungezählten Scharen fest und unentwegt bis in die Nacht hinein und schieben die Heimkehr bis zur letzten Minute auf, mit dem festen Vorsatze scheidend: auf Wiedersehen am nächsten Ersten!

Weist der Zoologische Garten nur einmal in vier Wochen an solches Volksleben auf, so kann man dies dafür an jedem Tage, mit bedeutender Verstärkung aber Sonntags, in der Hasenhaide beobachten. Hasenhaide – armer Fremdling, der du dir bei diesem Namen einen schattigen Wald mit freundlichen Ruheplätzchen und Lichtungen vorstellst, welch bittere Enttäuschung harrt deiner, wenn du nach diesem Paradiese zahlloser Berliner hinauspilgerst! Die Hasen sind ebenso verschwunden wie es die Haide ist; wo noch einige spindeldürre Tannen stehen, hat der Militärfiskus Schießplätze für die Berliner Garnison angelegt, und die strengsten Bestimmungen warnen vor dem Betreten dieses Terrains. Einst lag dasselbe weit von der Stadt entfernt, in jenen Jahren, wo hier „Vater Jahn“ den ersten Berliner Turnplatz anlegte und wo die heldenmüthigen Männer, welche in den Schlachten von Großbeeren, Dennewitz und Hagelsberg den Tod für das bedrängte Vaterland starben, hier ihre letzte Ruhe fanden. Heute strecken sich die steinernen Arme der Weltstadt bereits bis zur Hasenhaide aus und umschlingen sie an einzelnen Stellen; wer weiß, wie lange es dauert, daß nur noch dunkle Sagen von dieser sogenannten Haide und ihrem lustigen Volkstrubel künden!

Gegenwärtig ist letzterer noch in seiner ganzen Ursprünglichkeit und Ausdehnung dort zu finden. Ein Sonntagnachmittag in der Hasenhaide – ihr Götter, beschützt unsere Ohren und unsere Lungen! Staub und Lärm und Lärm und Staub – das ist der erste überwältigende Eindruck, den wir, den breiten sandigen Weg entlang schreitend, erhalten. Allmählich nur unterscheiden wir das brüllende Schreien der Ausrufer, das Quieken der Karousselmusik, das Klappern der Würfelbuden, die donnernde Ankündigung der Sehenswürdigkeiten – hier „Menschenfresser aus Aegypten“, dort eine „elektrische Jungfrau“, daneben ein „unübertreffliches Raritätenkabinet“ u. dgl. m. – das Fiedeln der Tanzkapellen, den Spektakel der Kinderinstrumente, das Knallen in den Schießständen; und mitten in dem Lärm wandeln sie zu Tausenden herum, die hier von harter Wochenarbeit Erholung suchen und merkwürdigerweise auch finden, kleine Beamte, Handwerker, Arbeiter und Soldaten, mit ihnen in traulichem Bunde junge Arbeiterinnen, Laden- und Nähmamsells, Dienstmädchen, Kinderwärterinnen, nun eben alle die, welche sich hier mit innigem Behagen wohl fühlen, und deren giebt es nicht wenige in Berlin! Das zeigen uns die den Weg einsäumenden Vergnügungslokale, theils „Kaffeeküchen“ in des alten Berliner Wortes Bedeutung, theils Ausschankstätten der angesehensten Berliner Brauereien mit gewaltigen Gärten und in diesen wieder ein selbständiger Vergnügungsapparat: Schaukeln, Karoussel, Kegelbahn, Tanzsaal, Skatingrink, Kraftmesser, Turngeräthe, und so in bunter Folge fort. Sie sind häufig schon nachmittags überfüllt und weisen gegen Abend kaum ein leeres Plätzchen auf; selbst das umfangreichste Etablissement, die „Neue Welt“, scheint dann in einen wimmelnden Menschenhaufen verwandelt zu sein, und wer sich nicht höchst eigenbeinig und eigenhändig um sein Bier und sein Essen kümmert, der muß häufig durstig und hungrig den Heimweg antreten.

Etwas mehr Natur, wenn man überhaupt davon in der Hasenhaide sprechen kann, findet man nun doch in dem Vororte Berlins, Weißensee, wo ein thätiger Unternehmer ein ebenso amüsantes wie kolossales Vergnügungslokal, „den Sternecker“, nach dem Vorbilde des Kopenhagener Tivoli, geschaffen hat. Hier trifft man vor allem auf einen wirklich schönen Park mit prächtigen Partien kerniger Bäume und seltener Sträucher, mit sorgsam gepflegten Bosketts und sauber gehaltenen, überall lauschige Ruheplätzchen darbietenden Pfaden mit sehr geschickt gemachten künstlichen Grotten und zierlichen Borkenhäuschen, sogar mit einer hübschen Aussicht auf einen miniaturartigen See, den ein ebenso miniaturartiger Dampfer befährt.

Und was ist daneben alles für die Unterhaltung gethan! Elektrische Bahn, Reitschule, Lachkabinet, Rutschbahn, Panorama, Cirkus, Theater, Chansonettengesang, Schnellphotographie – das ist nur ein geringer Theil der Auswahl, die hier den Besuchern für ein sehr kleines Entree tagtäglich geboten wird. Und gerne lassen sie es sich bieten, die Berliner und Berlinerinnen, welche in hellen Scharen per Pferde- und Stadtbahn, per Kremser und Thorwagen, per Droschke und – sehr stark – per pedes apostolorum hier hinausströmen, zumal wenn der Abend hereinbricht. Dann bietet der große Park einen bezaubernden Anblick dar, überall flackern und funkeln Glühlichtflämmchen auf, aus den Springbrunnen, den Blumenbeeten und den Gebüschen, aus den Rasenflächen, den Grotten und Lauben, sie umzüngeln die Orchester, von denen schmetternde Musik erschallt, und ziehen sich wie Irrlichtchen am Ufer des Sees entlang. Der scheint aber mit einem Male in ein Flammenmeer verwandelt zu sein, von allen Seiten knistert’s, sprüht es, glüht es auf, strahlende Feuergarben schießen zum Himmel empor, ein Regen schimmernder Leuchtkugeln gießt sich herab – das Feuerwerk hat begonnen, die Freude und der Jubel der Besucher haben ihren Höhepunkt erreicht.

Natürlich kann man die sommerlichen Abende auch sehr gut in Berlin selbst verbringen. Wer nicht die zumeist in den Vorstädten liegenden Volksgärten besuchen, wer sich nicht in das bunte

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Im Nachmittagskonzert.

Gewimmel, welches im Ausstellungspark herrscht, stürzen will, der wird sicherlich seine Rechnung in einem der Sommertheater finden. Kroll- und Belle-Alliance-Theater, zu denen sich neuerdings auch die Friedrich-Wilhelmstädtische Bühne gesellt, haben bisher siegreich jede Konkurrenz zu schlagen gewußt; sie gehören eigentlich zu Berlin wie die Siegessäule und das Brandenburger Thor. Zwar sucht man sie weniger auf, um sich an ihren theatralischen Genüssen zu erfreuen, obgleich diese – bei Kroll die Oper mit berühmten Gästen, im Belle-Alliance-Theater ein wirkungsvolles Volksstück oder ein heiterer Schwank, im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater die Operette – häufig sehr gute sind, sondern mehr wegen des flotten Lebens, welches sich in ihren bestrickenden Konzertgärten entwickelt. In kühnen Bogen, in hübschen Arabesken ziehen sich aus buntfarbigen Lampions gebildete Guirlanden von einem Theil des Gartens zum anderen, die bei den Klängen der Musik umherpromenirenden Besucher mit tageshellem Licht übergießend. Auch hier lächelt uns das Leben nur von seiner freundlichen Seite an; wohin wir hören, Scherzen und Plaudern, Vergnügen und Lachen; wer aber näher prüfen würde, der könnte sich überzeugen, daß unter der strahlenden Oberfläche auch viel Häßliches und Trauriges sich verbirgt! – – –

Die Belustigungen des Winters, die sich der Mehrzahl nach auf die berühmten „vier Wände“, welche allerdings fast immer sehr weit aus einander stehen beschränken, beginnen schon ziemlich frühzeitig. Wenn noch goldiger, wärmender Septembersonnenschein über die Straßen und das Dächermeer dahinfluthet, öffnen bereits die sogenannten „Specialitätenbühnen“ mit Gummimenschen, Wasserköniginnen, dressirten Seehunden etc. ihre Pforten. Auch das „Americain-Theater“, dieses originellste Berliner Etablissement, versammelt wieder zahlreiche Liebhaber derben Scherzes in seinen stets überfüllten Räumlichkeiten und giebt zumeist schon um diese Zeit das Witzwort für die ganze Saison aus; auf dieser Stätte begannen ja „Hirsch in der Tanzstunde“, der „Geschundene Raubritter“ und ähnliche Erzeugnisse des Blödsinns ihre – „ruhmvolle“ Wanderung. Die vielen „Tingeltangels“ schließen sich dem Vergnügungsreigen an. Die bessere Gesellschaft hält sich denselben natürlich fern. Aber auch sie finden ihr Publikum, und je nach der Zugkraft der neuen Sängerinnen sind sie bald bis auf den letzten Platz besetzt, bald nur spärlich besucht. – Einige Wochen später schwingt auch wieder im Konzerthause an Stelle Bilses der Dirigent einer ganz vorzüglichen Kapelle den Taktstock, und ebenso hat Altmeister Renz von neuem mit seinen zwei- und vierbeinigen Künstlern den Einzug in Berlin gehalten und führt unter dem Jubel der Cirkusbesucher die herrlichen sechs arabischen Hengste in die Manège. Dann ist auch der November gekommen und in seiner Gefolgschaft eine wahre Fluth von Premièren und Konzerten, von Matinéen und Soiréen, von Wohlthätigkeitsbazaren und den ersten vorläufig nur schüchtern auftretenden thés dansants – kurz, von allen nur möglichen einzelnen Theilen des brausenden hauptstädtischen Vergnügungsprogrammes.

Naht allmählich das Weihnachtsfest, so füllen sich die Schaufenster der großen Modemagazine mit den lockendsten Dingen, mit ganzen Tüll- und Gazewogen, mit schimmernden Seiden- und prunkenden Sammetstoffen, mit einem Heer zierlicher Schuhe und Stiefelchen, mit kleidsamem Kopfputz und täuschend angefertigten künstlichen Blumen, kurz, mit jenen hunderterlei Sachen und Sächelchen, welche die Mädchen- und Frauenherzen höher schlagen machen und welche zum Sturm gegen die verhärtetsten Junggesellen gebraucht werden.

Kinderwärterin aus dem Spreewalde.

Dieser Sturm aber, der natürlich auch ebenso muthig von der anderen Seite aus unternommen wird, beginnt kurz nachdem die letzten Weihnachtskerzen herniedergebrannt sind. Dann kann man selbst in den entlegensten Straßen bis in die späteste Nacht hinein die Fensterreihen einzelner Stockwerte hell erleuchtet sehen, an den Vorhängen zeichnen sich die Schatten tanzender Paare ab und hin und wieder wird auch die „Hauskapelle“, gewöhnlich aus einem gemietheten Klavierspieler bestehend, deutlich vernehmbar. Die gesellschaftliche Saison ist in Berlin eine ausgeprägt lebhafte und neben den Beinen kommt auch der Magen zu seinem Recht, denn die einst gefürchtete „geheimräthliche Berliner Gastfreundschaft“ „mit Butterbrötchen eingestippt in heißes Wasser mit Peccosaft“ ist an vielen Stellen durch einen häufig sogar zu weit getriebenen gastronomischen Luxus ersetzt worden.

Ist der Januar schon reich an Diners und Soupers und allerhand anderen privaten Festlichkeiten, so hat der Februar eine Ueberfülle im Gefolge, denn er erscheint neben anderem mit dem „schweren Geschütz“, mit einer Reihe großer offizieller und öffentlicher Bälle, unter denen wiederum die vom Hofe ausgehenden den ersten Rang einnehmen. Sie vereinigen die Crême der Gesellschaft auf dem glatten Parkett der stolzen Säle im altersergrauten Königsschlosse; alle Würdenträger und fremden Gesandten, die hohen Beamten und Offiziere, die in Berlin anwesenden Fürstlichkeiten und der bevorzugte Adel erscheinen da und haben das Glück, die Mitglieder der Herrscherfamilie in ihrem Kreise zu sehen. Allerdings ist dieses auch noch auf einem anderen Feste der Fall, und zwar auf dem stets im Opernhause abgehaltenen Subskriptionsballe. Hier treffen wir neben den eben erwähnten Kreisen die gute bürgerliche Gesellschaft der Residenz und zugleich mit ihr sehr viele aus allen Landestheilen

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Der „Sternecker“ in Weißensee bei Berlin.
Originalzeichnung von O. Günther-Naumburg.

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Die Hasenhaide.

erschienene Fremde. Er hinterläßt einen tiefen und unverlöschlichen Eindruck, dieser Ball, denn es ist ein berauschend schönes Schauspiel, von einer der Logen auf dieses unter uns befindliche Meer von Jugend und Schönheit, Pracht und Reichthum herabzublicken; denn was Berlin davon aufzuweisen hat, es hat sich an diesem Abend hier zusammengefunden. Und dieses Chaos von strahlenden Uniformen und wehenden Helmbüschen, von flimmernden Ordenssternen und blitzenden Kreuzen, von funkelnden Diamantagraffen und kostbaren Perlenketten, von weißen Schultern und farbenprächtigen Toiletten, es ist in einen buntbewegten Rahmen eingefaßt, denn das ganze herrliche, gold in weiß gehaltene Haus ist bis auf den obersten Tribünenplatz mit einer festlich gekleideten Menge besetzt, welche, weil sie nicht unten an dem Trubel theilnehmen konnte oder wollte, ihn sich nun doch wenigstens aus der Vogelschau betrachtet.

Gegen neun Uhr tritt der Hof in seine Logen ein und unter dem Vorantritt des Herrscherpaares unternehmen Prinzen und Prinzessinnen alsbald den gemeinsamen Umzug durch den Saal, freundlich die ehrfurchtsvollen Grüße erwidernd; sind sie in ihre Logen zurückgekehrt, so beginnt, obwohl man es als ein Wunder in diesem fabelhaften Gedränge bezeichnen muß, der Tanz, und war es zuerst mit unglaublichen Schwierigkeiten verknüpft, das kleinste, freie Plätzchen dafür zu erringen, so wird doch allmählich der Kreis ein etwas größerer, denn während sich die junge Welt im Walzertakte dreht, erfrischt die ältere ihre bei der Hitze und der Fülle mattgewordenen Lebensgeister in den benachbarten Sälen an einigen Gläschen Sekt und einer leckeren Fasanenpastete. Ganz findige Geister entdecken sogar in schwer zu erklimmenden Räumlichkeiten, wo sich an profanen Abenden die Primadonnen oder Heldentenöre umzukleiden pflegen, einen kühlen Schoppen Bier und daneben, was mancher den Pasteten vorzieht, ein richtiges Butterbrot mit Schinken oder Wurst belegt!

Dem Subskriptionsballe schließen sich die übrigen größeren Festlichkeiten an, deren Zahl natürlich nur eine beschränkte ist, auf denen man aber dafür auch „ganz Berlin“ findet, mit anderen Worten alle jene Gesellschaftsklassen, die unter einander eine gewisse Fühlung haben. Die außerordentlich rasche Vermehrung der Einwohnerschaft hat mehr und mehr eine Absonderung der einzelnen Kreise und damit auch eine Specialisirung der Vergnügungen herbeigeführt, eine Einrichtung, die in dem früheren Berlin gänzlich unbekannt war.

Die Millioneneinwohnerschaft läßt nur noch selten allgemeine Festlichkeiten zu Stande kommen, und das ganze Wesen derselben nebst den nicht unbeträchtlichen Kosten ermöglicht auch nur ganz bestimmten, allerdings den verschiedensten Berufszweigen angehörenden Klassen die Theilnahme. Dieses Zusammenfinden und Zusammengehören vermitteln seit einer Reihe von Jahren speciell die vom „Verein Berliner Künstler“ und vom „Verein Berliner Presse“ veranstalteten Bälle, welche gewöhnlich im „Wintergarten“ stattfinden und eine besondere Anziehung ausüben. Einen zwar ähnlichen, aber doch wieder anderen Charakter tragen die an derselben Stelle veranstalteten Schauspielerbälle, die sich gleichfalls großer Beliebtheit erfreuen. Und diesen größeren Festlichkeiten schließen sich dann insbesondere diejenigen an, welche von den zahlreichen Vereinen veranstaltet werden, zu denen aber meist nur die Vereinsmitglieder und eine kleine Anzahl von geladenen Freunden Zutritt haben.

Neben dem „lustigen Berlin“ gelangt in den Wintermonaten auch das „leichtlebige Berlin“ mehr zum Durchbruch und findet einen weiten Anhängerkreis. Es ist ein bezeichnender Zug in der Kaiserstadt, daß sich diese beiden Arten von Festlichkeiten scharf abgrenzen und sich niemals zu einem übermüthigen Ganzen verschmelzen, wie dies an anderen Orten vorübergehend wohl zur Karnevalszeit der Fall ist. Aber mit der tollen Herrschaft des ausgelassenen Prinzen ist es eine eigene Sache in Berlin – er ist da und ist doch nicht da; man hört das Klappern seiner Schelle, aber bekommt ihn nie selbst zu Gesicht. Vor mehreren Jahren war der Versuch gemacht worden, seinen Thron officiell in Berlin zu errichten – man arrangirte einen großen öffentlichen Maskenzug, er wurde ausgelacht und verspottet; man versteht eben den harmlosen Humor an der Spree nicht zu würdigen, hier muß jeder Scherz, jede Satire eine scharfe Spitze haben.

[638] So koncentrirt sich denn jetzt der Berliner Fasching in einer Ueberzahl der verschiedenartigsten Bälle, welche in den mehr oder weniger bekannten Vergnügungsorten, die sämmtlich von einem leichtfertigen Stern bestrahlt werden, stattfinden. Sie tragen zwar die pomphaftesten Namen und werden stets als „erste Sehenswürdigkeit der Residenz“ angekündigt; aber ob wir dem „Einzug der Rosenkönigin“ beiwohnen oder gar dem „Triumph der Königin Pomare“, ob wir uns die „Feenquadrillen“ ansehen oder den „Velocipedencontre“, der Eindruck ist fast immer derselbe: ein Trupp leichtgeschürzter Dämchen, umgeben von oft sehr alten und oft noch sehr jungen Herren, alle sich bemühend, die ungemein Amüsirten zu spielen, und gerade dadurch zeigend, wie sehr sie sich langweilen. Ein häßlicher Anblick!

Da geht es denn doch auf dem Corps de Ballet-Ball, der bei Kroll abgehalten wird, noch erfreulicher zu; auch dort ist die Gesellschaft meist eine recht „gemischte“, aber es herrscht doch noch wirkliche Lebenslust vor, man sieht den Einfluß der rauschenden Musik auf die dicht durch einander wogende Menge, die reich an graziösen und anziehenden Erscheinungen ist – zierliche Pagen, niedliche Blumenmädchen, schöngeputzte Tscherkessinnen, zumeist aber schlanke Dominos, die Gesichter durch die Seidenlarve oder den Spitzenshawl verhüllt, trotzdem oder vielleicht gerade deshalb dem Tanze mit Leidenschaft huldigend, dem sich hier sogar die Herren mit Eifer hingeben. Wir nehmen beim Verlassen des Ortes den Eindruck mit, daß auch in Berlin der Freudenbecher überschäumt und daß die Residenz auch darin „Weltstadt“ geworden ist!

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5. Das gastliche Berlin.
Von Paul Lindenberg.       Mit Illustrationen von P. Bauer, O. Gerlach und Fr. Stahl.

Im Volkskaffeehaus.

Als Berlin nach den gewaltigen politischen Umwälzungen, welche der deutsch-französische Krieg zu Stande gebracht, plötzlich aus der preußischen Residenz zur deutschen Kaiserstadt erhoben worden war, bemerkten vielleicht zuerst die seltsame und überraschende Metamorphose, die sich für Berlin mit den erwähnten Ereignissen verband, die zahllosen Fremdenscharen welche herbeieilten, um die von Ruhm und Sieg umstrahlte Stadt in ihrem neuen verjüngenden Lichte zu schauen. Eher als die spreegetauften Einwohner selbst sahen sie, welche bedeutenden und tief einschneidenden Veränderungen sich theils schon vollzogen hatten, theils erst vorbereiteten, wie sich die Stadt in ihrem Innern sowohl wie auch nach außen hin reckte und streckte, wie sie sich in kürzester Frist verschönte und den Rang, der ihr unversehens zuertheilt worden war, vollauf in Anspruch nehmen und ausfüllen wollte.

Der Ruf davon verbreitete sich schnell; hatte bisher Berlin fast abseits von der großen kontinentalen Fremdenlinie gelegen, hatten nur wenige gewagt, es mit Paris und London, so auch nur mit Wien in einen Vergleich zu stellen, so änderte sich dies in kürzester Zeit. Nicht nur, daß die durch gemeinsam vergossenes Blut so eng mit dem leitenden Staat vereinigten Bundesgenossen viel häufiger wie jemals zuvor die Reichshauptstadt aufsuchten und dort zu ihrer Freude nicht mehr das specifisch „preußische Berlin“ vorfanden, auch von fernher lenkten sich die Fremdenströme mehr und mehr der neu emporblühenden Weltstadt zu und schenkten ihr dieselbe Aufmerksamkeit wie den bisher begünstigten Kolleginnen an der Seine, der Themse und Donau. Waren früher Russen, Engländer, Italiener, Amerikaner etc. nur vereinzelte Gäste in Berlin gewesen, so traten sie jetzt in wachsender Zahl auf, sehr viele von ihnen gründeten sich hier ein festes Heim, andere wieder kehrten regelmäßig hierher zurück, fast immer in Gefolgschaft neuer Landsleute. Bald schon konnte man von festgegliederten englischen, amerikanischen, italienischen, russischen etc. Kolonien sprechen, und zu diesen Ländern gesellten sich neben anderen Japan und Siam, wie auch der zuerst so vielangestaunte Chinese in langem Seidenrock und mit sauber geflochtenem Zopf rasch eine typische Erscheinung auf den Straßen Berlins wurde, die heute niemand mehr auffällig berührt. Sicherlich dürfte es nicht zu hoch gegriffen sein, wenn wir die Zahl der jetzt jährlich die Hauptstadt besuchenden Fremden auf etwa eine halbe Million schätzen und diese Ziffer dürfte sich in fortwährendem Steigen befinden, ohne daß ein Rückschlag zu befürchten wäre.

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Im „Café Josty“. 

Die wachsenden Fremdenscharen bedingten für Berlin eine neue Pflicht: für ihre genügende und bequeme Unterkunft zu sorgen. Freilich gab es genug ausgezeichnete Hôtels, die an Komfort das Möglichste leisteten, aber ihre Räumlichkeiten reichten bald nicht mehr aus und eine Ueberfüllung war oft unausbleiblich. Da trat nun für Berlin eine neue Phase ein; es entstanden die Riesenhôtels, welche mehrere hundert Personen zugleich beherbergen können, nicht von einzelnen begründet, sondern von kapitalsfähigen Aktiengesellschaften. Der „Kaiserhof“ machte 1875 den Anfang; in bester Lage, unmittelbar am Wilhelmsplatz, entstand das kolossale, quadratische Gebäude, bald nach seiner Vollendung theilweis von den Flammen verzehrt, um allerdings bald darauf wieder den Gästen zugänglich zu werden, und sich bis heutigen Tags seines vornehmen Rufes erfreuend. Fünf Jahre später, nach Fertigstellung der Stadtbahn und direkt an deren Centralbahnhof gelegen, folgte das gewaltige, einen kleinen Stadttheil einnehmende „Central-Hôtel“, und in schnelleren Zeitspannen schlossen sich das „Grand Hôtel“ am Alexanderplatz, sowie das „Hôtel Continental“, zwischen Stadtbahn und „Linden“, an, womit die Reihe nicht erschöpft bleiben wird, da man bereits von neuen, ähnlichen großartigen Plänen vernimmt.

Es ist eine umfangreiche, hundertfältig gegliederte Maschinerie, welche den regelmäßigen Gang in diesen Riesen-Gasthäusern aufrecht erhält und ihn aufs genaueste bis in die geringste Kleinigkeit hinein bestimmt, ohne daß begründete Klagen laut werden dürfen. Von Interesse ist es, einen Einblick in den Betrieb eines derartigen riesenhaften Instituts zu gewinnen; greifen wir einmal auf gut Glück das „Central-Hôtel“ heraus, ohne damit andeuten zu wollen, daß die anderen ähnlich großen Hôtels minder betrachtenswerth sind: sie werden sich sämmtlich wenig von einander unterscheiden. Die Erbauung des angeführten Hôtels, welches, vier Stockwerke hoch, neuntausend Quadratmeter bedeckt, kostete rund zwölf Millionen Mark; neben einem eigenen Post-, Telegraphen und Reisebureau befinden sich Fernsprechkabinets nicht nur für Berlin darin, sondern auch für die mit letzterem verbundenen Städte Hannover, Hamburg, Breslau, Leipzig, Stettin, Dresden etc. Sechshundert Zimmer und Salons, welche sämmtlich elektrische Beleuchtung aufweisen, können siebenhundert Gäste beherbergen; in den Lesesälen sorgen mehrere hundert Zeitschriften für Unterhaltung und an zweihundert Adreßbücher der wichtigsten Städte aus der ganzen Erde für Auskunft. Der Wintergarten ist ein mächtiger Raum für sich, der mit seinen Nebensälen bequem weit über dreitausend Personen Aufenthalt gewährt; in ihm finden während der lebhafteren Saison täglich Aufführungen herumziehender Künstler, ferner die großen, ganz Berlin versammelnden Bälle statt, unter denen wiederum die vom „Künstler“- und „Presse-Verein“ veranstalteten den ersten Platz einnehmen. Für die Bedienung der im vergangenen Jahre eingekehrten etwa 185 000 Fremden sorgten an zweihundert thätige Hausgeister.

Zugleich mit den großen Hôtels kamen auch die glänzenden Wiener Cafés auf, die vor allen anderen Lokalen so recht den Sammelpunkt der Fremden bilden. Café Bauer machte hier den Anfang und ist, obwohl es in jedem, selbst dem entferntesten Stadttheile Nachahmungen gefunden hat, trotz aller Konkurrenz doch das erste und besuchteste geblieben. Seine überaus günstige Lage an einem der Hauptverkehrspunkte, seine kostbare Ausstattung, zu der die meisterhaften A. v. Wernerschen und Chr. Wilbergschen Wandgemälde gehören, der wohlbegründete Ruf sind freilich nicht so leicht zu übertreffen. Ein unterhaltsames Stück Berliner Leben spielt sich hier Tag für Tag ab, stets giebt es etwas Neues, etwas Eigenartiges zu sehen, sei es im Sommer, wenn draußen unter den „Linden“ die Menschenwogen in abwechslungsvollem Gewühl vorüberfluthen, sei es im Winter, wenn aus den Krystallkronen die Glühlichtflämmchen strahlen und in später Nacht- oder früher Morgenstunde dichtgedrängte Besucherscharen hereinströmen, hier an der Seite ihrer eleganten Herren mit tadellosem Frack und schneeweißer Kravatte Damen in rauschender Gesellschaftstoilette, dort ein Trupp phantastischer Masken in buntem Durcheinander, von einem lustigen Künstlerfest kommend, da, in dichtem Knäuel,

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Weißbierstube von Clausing. 

die Angehörigen einer studentischen Verbindung, die kleinen Mützchen schief auf den biergerötheten und schmißreichen Gesichtern, die Füchse eifrig für die alten Herren trotz des Abwehrens der Kellner die Marmortischchen zusammenrückend und Stühle heranholend. Mitten aber in der Lebenslust, in all dem Uebermuth, dem Glanz und Schein fehlt auch nicht das Laster und oft sogar das Verbrechen, letzteres allerdings weniger von außen zu erkennen wie ersteres.

Die Wiener Cafés mit ihren luftigen weiten Räumlichkeiten und ihrer ausgesuchten Eleganz, mit ihren plätschernden Springbrunnen und kunstvollen Kronleuchtern, mit ihrem Heer dienstbarer Ganymeds und ihrem unterhaltsamen ununterbrochenen Verkehr haben die alten Berliner Konditoreien fast gänzlich verdrängt oder doch wenigstens ihrer angesehenen Stellung beraubt. Berlin vor dreißig, vierzig Jahren ohne seine berühmten, verräucherten, engen Konditoreien, das ist ein undenkbarer Begriff!

Die bekanntesten unter ihnen waren die von Stehely, Kranzler, Spargnapani; sie spielten eine bedeutsame Rolle im öffentlichen Leben der preußischen Residenz; die litterarischen, die politischen, die künstlerischen Elemente versammelten sich hier zu bestimmten Stunden, und trotz aller Spötteleien in den Witzblättern mag an diesen Stellen mancher gute Gedanke zur That gereift sein. Vollständig sind sie auch heute noch nicht verschwunden, diese altrenommirten Firmen und ihre Nachfolger; da ist noch Kranzler an seiner wohlbekannten Ecke mit der niedrigen, schmalen Terrasse nach den „Linden“ zu, die bei schönem Wetter gedrängt voll besetzt ist; da finden wir noch d’Heureuse und Schilling mit ihren kleinen, aber gemüthlichen Räumlichkeiten, und mit seiner Glashalle und seinem Gärtchen vor derselben blickt uns vertraut am Potsdamerplatze Josty entgegen.

Wie gemüthlich sitzt es sich hier im Freien bei schönem Wetter; Vogelgezwitscher schallt aus den dichten Kronen der die Bellevuestraße einsäumenden Kastanien, dem nahen Thiergarten eilen die eleganten Equipagen, die Droschken und leichten Kabriolets zu, Damen in hellen Sommergewändern und lachende Kinder, welche an dünnem Faden vergnügt die rothen Ballons in der Luft flattern lassen, promeniren vorbei, und vor uns und um uns herrscht das emsige, unermüdliche Leben einer Weltstadt. Ja, sie haben noch immer ihr Gutes, diese Berliner Konditoreien, wenn auch nicht mehr in ihnen hohe Politik getrieben und der Pegasus zu kühnem Fluge angespornt wird!

Aehnlich wie den Konditoreien ist es den „ersten“ Berliner Restaurants ergangen. Wo sind sie hin, diese Lokale, in denen sich einst unsere Altvordern so behaglich fühlten, mit ihren rauchgeschwärzten Decken, an denen die ölgefüllte Ampel hing, mit ihren vergilbten Wänden und dem sandbestreuten weißgescheuerten Fußboden, mit den hohen Bänken und steifen Stühlen, mit den wachstuchbezogenen Tischen, aus denen die „Spenersche“ und „Vossische Zeitung“ lagen und, wenn es hoch kam, einige Blätter des „Volksfreund“ und „Beobachter an der Spree“, die vollauf genügten, den Stammtischgästen Unterhaltung für den ganzen Abend zu gewähren! Sie sind, mit wenigen Ausnahmen, auf Nimmerwiedersehen verschwunden; an die Stelle der bescheidenen Bierlokale traten die anspruchsvollen Bierpaläste, für viele Hunderttausende Mark erbaut und in untrüglichstem Renaissance- oder Rokoko- oder sonst einem Stile innen ausgestattet, mit schwerster Holztäfelung, mit schöngeschnitztem Meublement, mit elektrischer Beleuchtung und Wand- oder Deckenmalereien der modernsten Meister.

Sie bilden gegenwärtig nicht die geringste Sehenswürdigkeit in Berlin, diese neuen, dem Gambrinus geweihten Tempel; wenn sie auch häufig in ihrem baulichen Gewande einen barocken Geschmack aufweisen, so ist doch der Aufenthalt in ihnen zumeist ein angenehmer und erträglicher, sicher fast immer ein unterhaltsamer, denn stets neue durstige Scharen strömen durch die weitgeöffneten Portale herein, Greise und Kinder, Männlein und Weiblein, denn auch letztere verstehen jetzt, was früher so streng verpönt war, den Humpen tüchtig zu schwingen.

Es scheint keine Einbildung zu sein, daß mit der wachsenden Einwohnerzahl in Berlin auch der Durst in stetem Steigen begriffen ist – anders könnte man sich die fabelhafte Vermehrung der Kneipstätten nicht erklären. Namentlich das Münchener Bier hat sich mit raschem Erfolge ein großes Terrain erworben, und jetzt schon ist die Zahl der „Bräus“, welche uns unter allen möglichen Namen und Schutzheiligen entgegentreten, eine Legion. Die Berliner Brauereien zwar, etwa achtzig an Zahl, haben muthig den Kampf mit den fremden Eindringlingen angenommen, vermochten sie aber bisher nicht zurückzuschlagen und konnten auch nicht die jährliche Einfuhr von etwa zweihunderttausend Hektolitern fremden Bieres verringern. Jedenfalls aber machen sie trotzdem gute Geschäfte, und man begreift das, wenn man vernimmt, daß auf 450 Mann in Berlin eine Restauration und auf jeden Kopf der Bevölkerung im Jahr 170 Liter Bier kommen.

Stürmen sie aber auch von allen Seiten heran, die Münchener, Nürnberger, Pfungstädter, Kulmbacher, Pilsener etc. Biere, eine Hochburg des Berliner Bieres haben sie bisher nicht zu stürzen vermocht und werden es auch fürderhin nicht können: die Hochburg des Berliner Weißbiers. Trotz alter Veränderungen, trotz aller Geschmacksrichtungen und Umwälzungen im Brauereiwesen hat es sich rein und unverfälscht erhalten, so wie es einst vor zweihundert Jahren die Refugiés in die Residenz des Großen Kurfürsten, ihres treuen Beschützers, eingeführt. Und auch die Lokale, in denen es ausgeschenkt wird. haben zum bedeutenden Theil ihr früheres Gewand nicht abgelegt; sie haben noch etwas Philisterhaftes, aber höchst Gemüthliches an sich, und auch von ihren Besuchern ist dasselbe zu sagen, es sind zu größeren

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Im Wintergarten. Das Centralhôtel.

Theile „geborene“ Berliner, eine Species von Menschen, die durchaus nicht so häufig, wie man glaubt, in Berlin zu finden ist.[1] Da thront sie dann königlich auf dem Tisch, die schäumende „Blonde“, in einem Behältniß, welches man für alles andere als gerade für ein Biergefäß halten kann, und als gehorsame Trabanten umgeben die perlende, mit einer stolzen Haube gezierte Herrscherin die kleinen bescheidenen „Strippen“, niedrige Gläschen mit Nordhäuser oder Korn gefüllt, so unzertrennlich von der Weißen wie einst der Ibis von den Krokodilen des Nils. – Einzelne der Weißbierstuben haben sich einen Ruf weit über das Weichbild des Bären hinaus erworben; die Namen Clausing, Haase, Päpke, um nur einige wenige anzuführen, nennt nicht nur der Spreeathener mit einer gewissen Achtung, auch so mancher Fremde hat dort seine durch den vorangegangenen Abend verschuldete katzenjämmerliche Stimmung schnell verloren und vergessen.

Weit mehr als die Restaurationen haben sich die Berliner Weinhandlungen ihren patriarchalischen Charakter zu bewahren gewußt, natürlich nur die Firmen, welche mit dem einstigen Berlin schon verwachsen waren; sie haben ein festes Stammpublikum zum Früh- wie zum Abendschoppen und wachen ehrgeizig über einen „guten Tropfen“, den es stets bei ihnen und für nicht zu theuren Preis giebt. In dieser Beziehung, was Essen und Trinken am belangt, dürfte überhaupt Berlin eine der billigsten Weltstädte sein; die Auswahl ist sehr reich und nicht nur für jeden Geschmack, sondern auch für jeden Geldbeutel ist gesorgt. Einzelne der bekannten Berliner Weinhandlungen beanspruchen ein kulturhistorisches Interesse; in dem Maurerschen Weinkeller in der Brüderstraße, der nun auch verschwunden, hatten oft genug bei vollen Gläsern Lessing und Ramler mit guten Gesellen gesessen, und wenn sie erzählen könnten, die Wände des noch heute blühenden Weingeschäftes von Lutter und Wegener, dicht am Schauspielhause, sie würden von mancher ausgelassenen Stunde berichten, die hier einst Ludwig Devrient und Th. Amad. Hoffmann in großem Freundeskreise, zu dem auch der junge Döring gehörte, zugebracht.

Ganz anders, vornehmer, zurückhaltender, schauen uns die von der Geburts- und Geldaristokratie bevorzugten Restaurants der „Linden“ sowie der benachbarten Straßen an. Was zum verwöhntesten Luxus gehört, hier scheint es noch überboten zu sein in jeglicher Beziehung; der raffinirteste Geschmack wird befriedigt in dieser stimmungsvollen Zusammensetzung von Gold und Farben, von Pracht und Reichthum, die namentlich abends, wenn ein Meer von Licht aus den Kronleuchtern herabströmt, zur vollsten Geltung gelangt. Aber auch zur vollsten Beachtung, denn wenn die Theater aus sind, wenn der letzte Geigenstrich im Konzert verklungen, wenn im Cirkus der Klown seinen Abschiedspurzelbaum geschossen, dann füllen sich bei Hiller, Dressel, Uhl, Borchardt und wie sonst die bevorzugten Berliner Priester des Lucullus heißen, die Salons und Kabinets, und während draußen der Schnee in dichten Flocken herniederwirbelt, serviren lautlos drinnen die geschmeidigen Kellner die mit dem frischesten und kostbarsten Gemüse angefüllten Schüsseln, denn der Einfluß der Jahreszeit auf den Küchenzettel, er spricht in diesen Lokalen niemals mit! –

Nirgends berühren sich die Gegensätze aber so sehr wie in einer großen Stadt. Der arme Teufel, der mit begierigen Augen und schnalzender Zunge durch die hohen Spiegelfenster, die trotz der vorgestellten Rahmen und blühenden Topfgewächse einen Ausguck lassen, eben gesehen hat, wie den behaglich am perlenden Sekt schlürfenden Gästen der leckere Braten herumgereicht wird, und der nun hungrig und frierend weitertrottet, er findet auch seinen Unterschlupf, wenn er um die Ecke biegt und dem freundlichen Wink der rothen Laterne folgt. Wie Wegweiser für hungernde und durstende Seelen ziehen sich durch die ganze Stadt diese kleinen Kellerkneipen und Destillationen, niemals leer, fast immer angefüllt mit einer schwatzenden, lachenden, kartenspielenden, [852] jedenfalls aber trinkenden Menge, unter der sich so mancher befindet, welcher einst von einem besseren Teller gegessen und ein feineres Glas zum Mund geführt. In diesen Lokalen, wo der Droschkenkutscher in seinem weiten Radmantel neben dem Dienstmann und dem rußgeschwärzten Arbeiter sitzt, wird noch das echteste und unverfälschteste Berlinisch gesprochen und oft genug ein derber Spaß ausgesonnen, den der davon Betroffene selten übelnimmt. Allerdings, sind erst die Gemüther erregt und haben der Branntwein wie das Bier die Mienen der Zecher mit flammender Röthe bedeckt, dann sitzen auch häufig die Hände lose und der Spektakel einer tüchtigen Prügelei schallt bis auf die Straße hinaus und lockt schnell den Ruhestifter in Gestalt des Schutzmannes heran.

Unser Thema wäre nicht vollständig, wenn wir nicht noch der Volksküchen Erwähnung thäten, einer der segensreichsten und unentbehrlichsten Einrichtungen der Weltstadt, welche bisher unendlich viel Noth und Elend gestillt hat. Jeder Stadttheil hat mehrere dieser Küchen aufzuweisen, in denen von mittags zwölf Uhr an eine nahrhafte, sättigende Kost – die halbe Portion 15, die ganze 25 Pfennig – verabreicht wird. Dichtgedrängt sitzen sie dann an den Tischen, auf dessen das dampfende Mahl steht, all diejenigen, für welche nichts vom Reichthum und Glanz der Residenz abgefallen ist, welche glücklich sind, wenn der knurrende Magen befriedigt ist – Männer und Frauen und Kinder, alles bunt durcheinander, eine herbe, lebende Illustration zur Kehrseite der nach außen hin mit so vielem Prunk schillernde Weltstadt. Auf ein zwanzigjähriges Bestehen können die Volksküchen bereits zurückblicken, von Jahr zu Jahr wurde ihre Tätigkeit eine umfangreichere, so daß sie jetzt jährlich weit über zwei Millionen Mittags- und 80 000 Abendportionen austheilen, womit trotz der großen Zahlen doch noch nicht alle Darbenden gesättigt werden.

Von dem Bürgersinn und dem Bürgerwohlstand der Berliner Einwohnerschaft darf man erwarten, daß auch fernerhin alles geschieht, um das Elend möglichst zu lindern. In diesem Sinne sind auch neuerdings Volkskaffeehäuser eingerichtet worden, in denen zu billigsten Preisen Kaffee, Thee, Chokolade, Milch, auch Bier (aber kein Branntwein), sowie mancherlei Eßwaaren verabreicht werden. Die Räumlichkeiten sind im Winter behaglich erwärmt, neben verschiedenen, zur freien Benutzung stehenden Spielen liegen illustrirte Blätter und Tageszeitungen aus, und es steht wohl zu erwarten, daß diese neue Einrichtung sich in den Kreisen der Handwerker und Arbeiter rasch großer Beliebheit erfreuen wird.

Möchte Berlin auf der mit Erfolg betretenen Bahn auch unentwegt weiterschreiten und den anderen Hauptstädten das schöne Vorbild zeigen, daß in seinen Mauern nicht nur für den Reichen, sondern auch für den Armen gesorgt ist!

  1. Nach der neuesten Statistik ist die Zahl der geborenen Berliner wiederum zurückgegangen; sie beträgt 42⅓% der Gesammtbevölkerung, also nicht einmal die Hälfte der Einwohner ist „mit Spreewasser getauft!“