Auswanderung (Die Gartenlaube 1864)

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Autor: Theodor Oelckers
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Titel: Auswanderung
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 350–351
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[350] Auswanderung ist ein Naturproceß, die fortgesetzte Völkerwanderung, das hat man jetzt ziemlich allgemein begriffen, aber noch immer will man nicht einsehen, daß sich auch in dieser Beziehung die Natur keine Vorschriften machen läßt, d. h. daß auf falsch gewählten Zielpunkten der Auswanderung, zu denen der natürliche Strom nicht freiwillig geht und wohin man ihn daher durch künstliche Mittel zu lenken und zu zwingen sucht, auch niemals eine wahre und gedeihliche Colonisation das Ergebniß wird sein können. Die Pilger der Mayflower gründeten Neu-England, weil sie die rechte Richtung eingeschlagen hatten; nach Brasilien möchten immerhin Tausende solcher Schiffe ziehen, sie würden doch nimmer den Grund zu Staaten gleich den nordamerikanischen legen, sie würden nichts weiter thun, als ein dem Mutterlande verlorenes Element an jenen Südgestaden absetzen, damit es sich brasilianisire, d. h. als Dünger für eine Mischlingsrace diene, der es versagt ist, jemals eine erhebliche Rolle in dem großen Völkerdrama zu übernehmen.

Nach alledem fragt aber freilich nicht der Auswandereragent, der gar viel zu thun glaubt, wenn er sich den Anschein eines Menschenfreundes giebt, welcher armen Teufeln irgendwo ein Unterkommen nachweist; auch die Masse der Auswanderungslustigen fragt wenig darnach, die eben nur ein Unterkommen wünschen, gleichviel wo; und auch ein brasilischer Coloniedirector fragt nicht darnach, der blos sein Steckenpferd als patriarchalischer Colonien- oder Städtegründer reitet, oder den es gelüstet, den mittelalterlichen Feudalherrn zu spielen, und der daher Unterthanen braucht.

Stellt man sich auf den Standpunkt der hier Genannten und handelt es sich alsdann blos darum, Leuten, die es daheim schlecht haben, eine Lage zu verschaffen, wo sie sich physisch wohlbefinden können, dann läßt sich wenig dagegen einwenden, daß man Auswanderer nach dem südlichen Brasilien schickt; nur sollte man nicht so weit gehen, Brasilien überhaupt, also auch das nördliche, und obendrein das verrufene Parceriesystem herauszustreichen, wie es der ungenannte Verfasser eines Buches thut, das uns zu diesen Zeilen veranlaßt und dessen Titel lautet: „Was Georg seinen deutschen Landsleuten über Brasilien zu erzählen weiß. Schilderungen eines in Südbrasilien wohlhabend gewordenen Proletariers. Ein Beitrag zur Länder- und Völkerkunde. Mit 25 Holzschnitten etc. Leipzig, 1863“.

Es ist begreiflich, daß die brasilischen Werber die dermaligen Umstände, unter denen Nordamerika den Auswanderern momentan verleidet ist, auszubeuten suchen, und ein Buch, wie das angeführte, ist auch sehr geeignet, nichtunterrichtete Leute und Solche, denen es nicht darauf ankommt, sich als übelverwendeten Völkerdünger brauchen zu lassen, zu überreden und zu gewinnen. Es ist offenbar von einer mit den geschilderten Verhältnissen vertrauten Person verfaßt, nur sicherlich nicht (wie es vorgiebt) von einem Manne, der Jahre lang als Halbschiedler Kaffee gepflückt hat. Während [351] der Verfasser alle brasilischen Zustände entweder zu loben oder doch zu beschönigen bemüht ist, faßt er den deutschen Proletarier schlau bei dessen schwacher Seite und zeigt ihm seine freilich nicht wegzuleugnende üble Lage, um dadurch die brasilischen Herrlichkeiten desto glänzender erscheinen zu lassen. Redlicherweise könnte man nur sagen: „Im südlichen Brasilien könnt Ihr als fleißige Arbeiter Euer gutes Auskommen finden; für Deutschland aber werdet Ihr dort verloren sein, und Eure Kinder werden Brasilianer werden.“ Wem damit gedient ist, nun wohl, der mag hingehen! Der Colonist Georg, unter dessen Maske der Verfasser schreibt, ist in der That ganz zufrieden damit, er will, daß die Einwanderer aufhören Deutsche zu sein, und mißbilligt, daß dieselben deutsche Schulen unterhalten und ihre Kinder hineinschicken, indem er vorgiebt, es werde dadurch die nöthige Erlernung den Portugiesischen verhindert. Wunsch und Absicht der brasilischen Regierung ist in der That, daß die deutschen Einwanderer so schnell als möglich in den Brasilianern aufgehen, und das vorliegende Buch ist ganz im Sinne jener Regierung und daher entschieden nicht im deutsch patriotischen Sinne geschrieben.

Was das Buch sagen will, ist mit kurzen Worten: „Wandert womöglich über Antwerpen nach Brasilien aus, dient nöthigenfalls erst als Parceristen, wendet Euch aber, sobald Ihr etwas Geld habt, nach der Provinz Rio Grande do Sul und zwar in dieser nach der Colonie Santa Cruz.“ Dieser Rath wird mit großer Schlauheit ertheilt: dem Wege über Hamburg wird erst viel Lob gespendet, um dann das Haus Steinmann und Comp. in Antwerpen scheinbar um so unparteiischer rühmen zu können. Man verlangt nur Arbeiter (nämlich solche, die ungeschult und daher recht lenksam sind) und lehnt „verdorbene Genies, Professoren aller Art, ehemalige Officiere, Künstler und dergleichen“ entschieden ab, weil diese „meist Unzufriedenheit und Mißhelligkeiten hervorrufen“; – das klingt sehr verständig; allein man will solche Leute in Wahrheit nur deshalb fern halten, weil sie den Herrn Coloniedirector in der Rolle des Feudalherrn behindern, weil sie das Vergessen der deutschen Sprache verhüten und überhaupt die Brasilianisirung des deutschen Elements wenigstens erschweren.

Das brasilische Parceria (Halbschied- oder Halbpart) System, worüber längst mit vollem Rechte der Stab gebrochen worden ist, wird von diesem Pseudonymen Georg als sehr gemüthlich und idyllisch geschildert und warm empfohlen als ein Durchgangsstadium für arme Einwanderer, und er scheut sich nicht, zu sagen, daß „dieser Gedanke ein großer und herrlicher, der einst noch reiche Früchte zu bringen bestimmt sein dürfte“. Auch sogar für das Mucurithal hat er nur eitel Lob, meint, die dort zu Grunde gegangenen Einwanderer hätten ihr Unglück nur durch ihr eigenes Benehmen verschuldet, und jene Colonie sei nur von „bezahlten Lohnschreibern “ so schlecht und schwarz gemalt worden. Hätte er diese „bezahlten Lohnschreiber“ doch genannt!

Das Klima des südlichen Brasilien konnte der Verfasser mit Recht als ein gesunden, mildes und schönes bezeichnen; aber er lobt in dieser wie in jeder andern Beziehung auch den Norden sehr. Gelbes Fieber ist dort so gut wie eine bloße Sage! Von der Cholera spricht er gar nicht. Und dann die häufigen Fälle außerordentlich hohen Alters! Er sagt, es gebe „außer Brasilien wohl kein Land, wo so viele Greise vorkommen, die das hundertste Jahr zurückgelegt haben“. O ja, z. B. Rußland ist in gleicher Lage, sowie alle halbcivilisirten Länder, wo Geburts- und Sterberegister vernachlässigt sind und wo, wie in Brasilien, keine Zeitung behagt, worin nicht fast täglich eine gräßliche Mordthat und ein Fall ungeheurer Langlebigkeit erzählt wird. Und mit welchen Nebenumständen werden solche Fälle ausgeschmückt! Im vorigen Jahre meldete z. B. ein Blatt den Tod einer Matrone von Rio Vermelho in der Provinz Minas Geraes, die 120 Jahre alt gestorben war und eine – „legitime“ Tochter von funfzehn Jahren hinterlassen hatte!

Der Verfasser bemerkt auch, die Regierung lasse jetzt sehr häufig protestantische und katholische Geistliche aus Deutschland für die Colonien kommen. „Protestantische“ ist, gelinde gesagt, ein Schreibfehler; und was die katholischen anlangt, so sind das nur jene österreichischen Jesuiten, die des Unheils und der Stänkerei genug unter den deutschen Colonisten angerichtet haben und die zugleich als Werkzeuge zur Romanisirung und Brasilianisirung des deutschen Elements dienen. Von dem berüchtigten Ehegesetz für die Protestanten und ähnlichen Sächelchen schweigt der schlaue Georg.

Bezüglich der verbotenen Einfuhr der Sclaven sagt er, in den letzten zehn Jahren seien nur zwei Schiffe voll gebracht, aber sogleich aufgefangen worden; „seitdem habe man nichts weiter davon gehört“. Andere Leute, die sich um die Sache bekümmert haben, schätzen die Zahl der seit 1831 (wo die Sclaveneinfuhr gesetzlich verboten wurde) importirten Schwarzen auf dritthalb Millionen!

Indem Senhor Georg die mancherlei Freiheiten aufzählt, deren er als Colonist genießt, vergißt er, daß das zum Theil nur Freiheiten der Wildniß sind; z. B.: „Niemand schreibt mir vor, wie ich mein Haus zu bauen habe“; natürlich, weil er weit und breit keinen Nachbar in seinem Walde hat, aber deshalb auch all der Vortheile entbehrt, die eine dichte Bevölkerung mit sich bringt. In solcher Hinsicht ist man in der Sahara und auf Spitzbergen noch weit freier als in Brasilien. „Niemand zwingt mich, mein Kind impfen zu lassen“ – auch das mag Köder für dumme Menschen sein. Unter den aufgetischten Lockspeisen fehlt denn auch nicht jene plumpe Täuschung der brasilischen Steuerfreiheit. In Folge der ungeheuren Einfuhrzölle (und man bezieht alle Producte der Industrie aus dem Auslande) ist gerade der eigentliche Colonist, der Landbauer, dort am höchsten besteuert. – Th. O.