Benutzer:Michael Reschke/Gotthold Ephraim Lessing an Friedrich Nicolai (1756)

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Brief:

Gotthold Ephraim Lessing an Friedrich Nicolai (1756)

Quelle:

Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann. Band 17. Stuttgart 1886, S. 63 ff.

Bemerkung:

Die Quelle tippe ich bei Gelegenheit ab. Eine sinnvolle Vorlage (Originalbrief) müsste ich noch organisieren.

Text


Wenn es also wahr ist, dass die ganze Kunst des tragischen Dichters auf die sichere Erregung und Dauer des einzigen Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbahr machen, dass uns der Unglückliche zu allen Zeiten und unter allen Gestalten rühren und für sich einnehmen muss. Und nun berufe ich mich auf einen Satz, den Ihnen Herr Moses [Mendelssohn]] vorläufig demonstrieren mag, wenn Sie, Ihrem eignen Gefühl zum Trotz, daran zweifeln wollen. Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten von Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter und das Trauerspiel, das jenes tut, tut auch dieses, oder - es tut jenes, um dieses tun zu können. Bitten Sie es dem Aristoteles ab oder widerlegen Sie mich.

Auf gleiche Weise verfahre ich mit der Komödie. Sie soll uns zur Fertigkeit verhelfen, alle Arten des Lächerlichen wahrzunehmen. Wer diese Fertigkeit besitzt, wird in seinem Betragen alle Arten des Lächerlichen zu vermeiden suchen und eben dadurch der wohlgezogenste und gesitetste Mensch werden. Und so ist auch die Nützlichkeit der Komödie gerettet.

Beider Nutzen, des Trauerspiels sowohl als des Lustspiels, ist von dem Vergnügen unzertrennlich; denn die ganze Hälfte des Mitleids und des Lachens ist das Vergnügen und es ist großer Vorteil für den dramatischen Dichter, dass er wieder nützlich oder angenehm, eines ohne das andere sein kann.

[...]

Das Trauerspiel soll so viel Mitleid erwecken, als es nur immer kann; folglich müssen alle Personen, die man unglücklich werden lässt, gute Eigenschaften haben, folglich muss die beste Person auch die unglücklichste sein und Verdienst und Unglück in beständigem Verhältnisse bleiben. Das ist, der Dichter muss keinen von allem Guten entblößten Bösewicht aufführen. Der Held oder die beste Person muss nicht, gleich einem Gotte, seine Tugenden ruhig und ungekränkt übersehen.

[...]

Merken Sie aber wohl, dass ich hier nicht von dem Ausgange rede, denn das stelle ich in des Dichters Gutbefinden, ob er lieber die Tugend durch einen glücklichen Ausgang krönen oder durch einen unglücklichen uns noch interessanter machen will. Ich verlange nur, dass die Personen, die mich am meisten für sich einnehmen, während der Dauer des Stücks, die unglücklichsten sein sollen. Zu dieser Dauer aber gehöret nicht der Ausgang.

[...]