Bilder von der Ostseeküste. 1. Land und Leute in Esthland

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Autor: E. Heinrich
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Titel: Bilder von der Ostseeküste. 1. Land und Leute in Esthland
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 398–403
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[398]

Bilder von der Ostseeküste.

Mit Abbildungen von Robert Aßmus.[1]
1.0 Land und Leute in Esthland.

Nordische Frühlingsnacht! Wer je unter deinem Zauber gestanden, wird deiner Reize nie vergessen. Es war in der ersten Hälfte des Juni, als unser Schiff fast geräuschlos durch die ruhige milchweiße See glitt, an deren Horizonte ein goldener Schein von West nach Ost langsam dahinzog. Dort feierten Abendroth und Morgenroth ihr kurzes Zusammentreffen. An Bord herrschte Stille. Die Helle dieser Nächte regt die Nerven auf und hält den Schlaf fern, aber sie weckt zugleich eine weihevolle Stimmung, und wie der Schweizer das Glühen seiner Heimathberge mit immer neuer Bewunderung wahrnimmt, so erhebt sich auch das Herz des Nordländers immer wieder an dem Zauber dieser Nachthelle im Frühling,

Solcher Stimmung schien auch der Mann nachzuhängen, der abgesondert von den übrigen Reisenden neben dem Rade des Steuermannes saß und nach dem dunklen Landstreifen ausschaute, der immer deutlicher am Horizont auftauchte. Der Luftzug spielte in den langen grauen Haaren des Alten und bauschte seinen Mantel weit auf. Seine Gestalt schien von ungewöhnlicher Größe, und ein Zug der Begeisterung lag auf dem alten, ausdrucksvollen Gesichte. Ich mußte des Wannemunne[WS 1], des göttlichen Sängers gedenken, welcher jenem Lande vor uns die Töne gebracht, den Bäumen und Flüssen das Rauschen und Brausen, den Vögeln die Stimme und den Menschen das Lied, ihr Glück und ihr Leid zu singen und Altvater zu preisen.

Ich gesellte, mich zu dem Alten. Er gab zuerst nur zögernd und mit halbunterdrückter Stimme Antwort auf meine Fragen und lüftete leise den Mantel. Da sah ich, daß in seinem Schooße ein blondlockiges Kind schlummerte.

„Der einzige Schatz,“ sagte ich mir, „den der Mann aus Stürmen und Nöthen eines langen Lebens gerettet." Und nun erfuhr ich aus dem eigenen Munde des Mannes sein Lebensloos: verführt durch Vorspiegelungen reichlichen Erwerbs war er einst jung und muthig mit der Gattin in die Ferne gezogen; mühsam hatte er gearbeitet und dem Schicksal ein bescheidenes Glück abgerungen. Aber sein Herz war in der Heimath geblieben. Nun waren schwere Schläge auf ihn gefallen. Das Haus, das er sich am Wolga-Ufer gebaut und mit unendlicher Mühe mit Bäumen umpflanzt und geschützt hatte, war einem Brande zum Opfer gefallen; Weib und Kinder waren ihm an verheerender Krankheit gestorben; die Stammesgenossen, die sich um ihn gesammelt, waren weitergewandert; da beschloß er aus dem Elend wieder heimzuziehen zu seinem Volke, um das Einzige, was ihm geblieben, die Enkelin, wieder der alten Gemeinde zuzuführen und selbst seinen Leib dort zu betten, wo die Mutter in der Rauchstube seine Hängewiege geschaukelt hatte.

Sein Loos war das der meisten esthnischen Auswanderer. Mit geringen Ausnahmen verkommen und verschwinden sie in der Fremde. Ihre Niederlassungen blühen vielleicht für kurze Zeit auf, aber dann sind sie verweht oder ihres nationalen Charakters entkleidet; denn es ist eine alte Erfahrung: der Esthe, der sich in seiner Heimath unter Heimathgenossen zäh zu erhalten weiß, geht, wenn er einzeln auf fremden Boden verpflanzt wird, zu Grunde. Und wenn er jene verließ, um deutscher Herrschaft zu entgehen, preist er es in seiner Colonie als ein Glück, wenn eine deutsche Colonie in der Nähe ist, in deren Schule er seine Kinder schicken kann. Er lernt an der Wolga das Deutsch, das ihm am finnischen Busen so verhaßt klang. Auch mein alter Wannemunne und sein Großkind sprachen deutsch.

Die Mitteilungen über sein Schicksal erleichterten des Alten Herz und lösten ihm die Zunge. Er begann von den Erinnerungen seiner Kindheit und Jugend zu reden und summte dann und wann ein esthnisches Lied.

Unser Dampfer war inzwischen in den Sund eingelaufen, der das esthländische Festland von den zur Provinz Livland gehörigen, doch von Esthen bewohnten Inseln trennt. Links – westlich – lag im Vordergründe die Insel Mohn, hinter derselben der lange Streifen der ösel’schen[WS 2] Küste. Dies war einst die Heimath weit berüchtigter Seefahrer: denn von hier aus unternahmen die Oeselaner ihre Raubzüge an die Küste der Ostsee oder tief in das ihnen stammverwandte Esthland hinein.

Kühne Seefahrer sind die Oeselaner bis heute geblieben. Ihre einmastigen Böte, scheinbar kaum zur Küstenfahrt und zum Holztransport geeignet, vermittelten in den Kriegsjahren 1854 und 1855 einen lebhaften Handel mit Schweden und der preußischen Küste und reizen auch jetzt noch die besondere Aufmerksamkeit der Grenz- und Zollwächter. In Trachten und Sagen bewahren sie treu die alten Ueberlieferungen des Volkes.

Uns zur Rechten dehnte sich die flache Küste des esthländischen Festlandes aus. Die Dampfpfeife des Schiffes schrillte durch die stille Morgenluft; die Räder schlugen immer langsamer in das Wasser, und endlich lag der Dampfer still, ohne Anker zu werfen. Ein großes Boot, das dem Dampfer neue Passagiere zuführte, kam zu uns heran. Sechs kräftige Ruderer in dunkelbraunen Jacken halfen den Passagieren zu uns herüber an Bord und wechselten dagegen die Aussteigenden ein, unter denen auch der alte Wanderer, sein Großkind und ich nicht fehlten. Einige Commandoworte, kurze Fragen, kurze Antworten — sonst alles so still, daß man trotz der Bewegung auf Schiff und Boot das Plätschern der Wellen am Kiel hörte. Dann senkten sich die Ruder tactmäßig in’s Wasser und führten uns der Landungsstelle von Werder auf esthländischem Boden zu, während das Schiff neuen Dampf ausstieß und seine Bahn weiter zog nach Hapsal, Reval und Petersburg.

In gleicher Stille vollzog sich unsere Landung in Werder. Kein Feilschen und Schreien, keine Zudringlichkeit der Dienstfertigen; die Ruderer trugen das Gepäck in die Poststation, und die Reisenden trennten sich mit kurzem Gruß.

In einiger Entfernung erhob sich aus den Baumkronen eines Parkes ein stattlicher Herrensitz, Schloß Werder, von woher das Gespann für die Reisenden mit Extrapost beschafft werden mußte. Die halbe Stunde, die hierüber verstrich, war der Lectüre des abgegriffenen Klagebuches gewidmet. Erst viel später habe ich den Werth der Lectüre dieses Buches verstanden: voll schlechter Orthographie und schlechterer Kalligraphie, ist es, wie die anderen auf esthländischen Poststationen, nichts mehr noch weniger als eine treffende Illustration zweier in Esthland sich bekämpfender Elemente.

Fast sämmtliche Klagen, die ich in Werder las, galten der Langsamkeit der Beförderung; fast sämmtliche waren mit Erbitterung gegen die Gutsherrschaft, von der die Pferde zu beziehen sind, gerichtet; fast sämmtliche stammten von russischen Reisenden her, und endlich bezeugte der Landesbeamte, welcher die Beschwerden zu untersuchen gehabt, daß sie fast alle grundlos gewesen seien. Man braucht nicht anzunehmen, daß jede Untersuchung mit äußerster Strenge geführt worden sei, um doch schließen zu dürfen, daß man den Russen mit Recht anklagt, er lasse auf Reisen dem Hochmuth, der Ungeduld und der Rechthaberei die Zügel schießen.

Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen über die saftgrünen Felder, die dunklen Tannen und die lichten Birken hin, als ich den von Schloß Werder inzwischen angelangten leichten Korbwagen bestieg und dann lustig auf ebener Straße nach Esthland hineinrollte.

Es ist eines der kleinsten Gouvernements des russischen Reichs und hat doch die Ausdehnung des Königreichs Württemberg. Aber auf seiner Fläche von 358 Quadratmeilen wohnt nicht einmal der fünfte Theil der Bevölkerung dieses Landes.[2]

Die geringe Dichtigkeit der Bevölkerung giebt dem Verkehr im Lande den Charakter. Nur zwei Bahnlinien durchschneiden

  1. Wir eröffnen mit diesem illustrirten Artikel die Reihe der von uns früher angekündigten vielversprechenden Schilderungen über Land und Leute an der deutschen Ostseeküste und fühlen uns veranlaßt, allen Denen, welche unsern Specialartisten, Herrn Robert Aßmus, auf seiner im Auftrage der „Gartenlaube“ unternommenen Reise nach den Städten der Ostsee in liebenswürdigster Weise mit Rath und That unterstützten, hiermit im Namen des Künstlers sowie der „Gartenlaube“ den herzlichsten Dank auszusprechen.
    D. Red.
  2. Die letzte Volkszählung, deren Resultate amtlich bis jetzt noch nicht veröffentlicht wurden, hat die Ziffer von 376,787 Bewohnern ergeben. Das Gesammtareal Esthlands vertheilt sich auf 16,58 Procent Ackerland, 41,73 Procent Wiesen und Weiden, 18,98 Procent Busch und Wald und 22,68 Procent Moor und sonstiges unfruchtbares Land.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Wannemunne: Vanemuine
  2. Ösel: die Insel Saaremaa

[399] dasselbe; der Localverkehr auf beiden Linien ist unbedeutend; denn die Mehrzahl der Reisenden bewegt sich zwischen den Hauptpunkten Reval einerseits und Petersburg und Dorpat andererseits, und daher muß eine Anzahl von Post- und Landstraßen dem Verkehr im Innern nachhelfen. Granitrücken, die das Land auch in seinen sumpfigen Theilen durchziehen, bieten treffliches Material zum Straßenbau. Wo im Norden der fast horizontal lagernde Jurakalk an die Oberfläche tritt, erscheint der Boden von Natur geebnet, und die Wagen rollen dort zeitweise über die nackten Fließen dahin. Für das Unterkommen der Reisenden ist dagegen auf den Poststationen höchst bescheidene Fürsorge getroffen. Man gewinnt aus der Einfachheit und Aermlichkeit vieler dieser Unterkunftsstellen ein recht trübes Bild von den Culturbedürfnissen der Bevölkerung und glaubt sich in einem noch weniger civilisirten Lande, als es wirklich der Fall ist.

Bei meinen ersten Fahrten über diese endlosen Flächen, die rings ein dunkler Wald besäumt, über diese menschenleeren Wege hin und an diesen strohbedeckten, zum Theil ihrem ursprünglichen Herbergszweck entzogenen Krügen vorüber, wurde es mir so recht klar, daß es nur die Gleichförmigkeit und die Einsamkeit, sowie der Mangel jedes anregenden und aufregenden Erlebnisses ist, was den Reisen in Esthland ihren Charakter giebt. Die Phantasie hat hier Zeit genug, an die vereinzelten menschlichen Wohnsitze, an die dürftigen Bauernhäuschen oder an die hohen Dächer gutsherrlicher Schlösser ihre Spiele zu knüpfen. Ziehen noch dazu Frühlingsstürme oder herbstliche Wolkenschatten über diese Ebenen hin, dann erscheint das Land als die natürliche Heimath jener wehmüthigen Volksweisen, welche es hervorgebracht hat. Und wahrlich! Jüngling wie Greis, Schulmädchen wie Schloßfrau, Esthe wie Deutscher: was in Esthland geboren und erwachsen, trägt einen Zug der Sentimentalität in seinem Gemüthe.

Etwa eine Stunde war ich durch den thaufrischen Morgen dahingefahren; in den wenigen Häusern, im Pastorat am Wege lag noch Alles im tiefen Schlafe, und weder Mensch noch Fuhrwerk waren mir begegnet. Da endlich bemerkte ich weit vor mir zwei wandernde Gestalten. Sie sind bald eingeholt – und wirklich: ich habe mich nicht getäuscht; sie sind es: mein alter Reisegenosse und sein Großkind! Nach kurzer Ueberredung meinerseits steigen sie zu mir in den Wagen.

Nur noch eine Weile, und es wurde lebhafter auf der Straße; zahlreiche Fußgänger schritten vor uns daher, und von den Seitenwegen lenkten Fuhrwerke ein, die sich, wie die Fußreisenden, sämmtlich nach der gleichen Richtung hin bewegten; das Ziel dieser Fahrenden und Wanderer ist die vor uns liegende Kirche von Karusen. Man begiebt sich zum Morgengottesdienst, und vor der Kirche herrscht bereits volles, buntes Leben. Gefährt steht neben Gefährt; in Gruppen haben sich die Bauern zusammengesetzt: Frauen ordnen ihr Schuhzeug oder stillen seitab ihre Säuglinge. Das Bild ist farbenglänzend, wie die Volksfeste des Südens; denn der Esthe liebt in seiner Tracht kräftige Farben.

Der Rock des Mannes ist braun, oft mit rothem Saum und kleinen silbernen Knöpfen verziert, während die Kniehose weiß, die Weste roth oder farbig gestreift, der Strumpf blau ist. Die Mützen der Frauen und der Kopfreif der Mädchen, welche von steif gespanntem, glänzendem Atlas gefertigt werden, zeigen meist helle und leuchtende Farben und sind mit breiten, bunten Schleifen und Bändern geziert. Das weiße Oberhemdchen trägt vielfach Stickereien von Seide und Flittern. Prachtstück ist aber der Rock. Von der Hüfte abwärts ist er mit zollbreiten Streifen farbigen Tuches verziert, dazwischen mit seinen weißen und gelben Linien gestreift und wird am Gürtel so gefaltet, daß oben nur eine Farbe sich zeigt. Wo die Falten sich öffnen, tritt eine zweite, vom Knie abwärts eine dritte Farbe hervor. Jeder Schritt giebt ein Auf- und Niederwallen der Farben, einen Wechsel im Vorwiegen der einen und der anderen[1]. Die Strümpfe sind mit bunten Zwickeln versehen. Bunt ist das Brusttuch, und bunt sind die gestrickten wollenen Handschuhe, die beim Kirchgange selbst im Sommer nicht fehlen dürfen.

Die Farbenwirkung der Kleidung wird durch die Haartracht des Volkes erhöht. Der Esthe ist vorwiegend blond, und nur in der alten Sakala, der zu Livland gehörigen Umgegend von Fellin, herrscht bei blauen oder grauen Augen das kastanienbraune Haar vor. Bei den Männern gilt wie bei den Frauen das lang herabhängende, frei wallende Haar für eine besondere Zierde, wie denn unter dem breiten, dunkeln Männerhut in der Regel eine helle Mähne hervorquillt, während unter dem farbigen Frauenkopfschmuck glänzendes Flachshaar in großer Fülle sichtbar wird.

Den Esthen sind nicht blos die scharfen Sinne der uncultivirteren Völker, sondern auch Neigung und Fähigkeit zu künstlerischem Gebrauche derselben eigen. Sie sind von hoher musikalischer Begabung. Ihr Chor- und Quartettgesang, die Dilettantenorchester, die Dorfvirtuosen auf dem Organon der Schule, vor Allem aber die Sangweisen ihrer Volkslieder überraschen auch das verwöhnte musikalische Ohr.

In gleichem Maß ist der Farbensinn der Esthen entwickelt, wie denn die Zahl der aus dem esthnischen Volke hervorgegangenen Maler überraschend groß ist.

Auch an dichterischer Begabung fehlt es dem Volke nicht. Sein Nationalepos, Sohni, der Felsensohn (Kalewi Poëg)[WS 1], ist in deutscher Uebersetzung und Bearbeitung zu bekannt, als daß hier seine groteske Phantastik und seine Selbstständigkeit gegenüber dem finnischen Epos Kalewala’s weiter auszuführen wäre. Ebenso haben die esthnischen Sagen und Volksmärchen rasch die Beachtung aller Freunde der Dichtung erworben.

Die esthnische Sprache ist reich und von besonderem Wohlklang; sie ist von allen finnischen Idiomen entschieden die wohlklingendste. Die specifische Form der Dichtung ist die Alliteration, und zu den zartesten Liedern der Esthen gehören die Elegien, die, meist von Frauen gedichtet, auch besonders von Frauen im Gedächtniß des Volkes festgehalten werden.

Der körperliche Typus der Esthen ist kräftig, in einzelnen Gegenden hochgebaut. Man findet viel hübsche Frauen unter ihnen, doch altern sie früh; die Männer dagegen gewinnen, wie es bei Völkern geringerer Bildungsstufe meist der Fall ist, erst im Alter die Schönheit eines ernsten und würdigen Gesichtsausdruckes. Das bekannte Abendmahlbild des Esthländers Ed. von Gebhardt in der Berliner Nationalgallerie zeigt uns mehrere solcher typischer Esthenköpfe.

Im Gegensatz zu den Russen, die vorzugsweise von Pflanzenkost leben, nähren sich die Esthen hauptsächlich von Fisch und Milch, und vielleicht liegt hierin der Grund ihrer größeren Enthaltsamkeit von Branntwein. Einst waren es Spielstuben, in welchen sich die esthnische Jugend versammelte – die vielen Spiellieder zeugen noch von dieser Sitte – und erst als die schwedische Regierung diese Spielversammlungen verbot, begannen die Krüge ihre Rolle zu spielen, von denen es noch im Ausgang der fünfziger Jahre eine große Zahl gab, die alle nach dem Typus gebaut waren, den unser Bild zeigt. Seit etwa zwanzig Jahren hat die Zahl der Krüge sehr abgenommen und Bier ist vielfach an die Stelle des Branntweins getreten.

Eine große Rolle spielt im Leben des Esthländers das Pferd[2]; denn die kleine, aber starke, rasche, ausdauernde und zugleich anspruchslose Rasse, die auf Oesel und in Esthland gezogen wird, bildet eines der besten Besitzthümer des von der Natur nur kärglich bedachten Landes. Auch die beiden runden Klepper, die uns immer tiefer in das Land führten, waren von echt esthnischer Rasse.

Das esthnische Volksgebiet überschreitet die politischen Grenzen des Gouvernements Esthland, und wir finden noch zahlreiche esthnische Sprachinseln in den angrenzenden Provinzen, namentlich in Livland. Darum hat auch der Künstler auf dem diesem Artikel beigegebenen Tableau Bilder aus der in Livland gelegenen Stadt Pernau dem Leser vorgeführt: die charakteristische esthnische Kirche und die anmuthige Silhouette dieses auch als Seebad oft besuchten Hafens, wie sie sich von der See aus dem Beschauer darbietet.

Von der Kirche von Karusen fuhren wir im raschesten Trabe über die Ebene, die in dem Geschichtskundigen manche Erinnerung weckt, nach dem Flecken Leal[WS 2]. Hier erreichte die Ueberraschung meines alten Reisegefährten, welcher über die Fortschritte des Landes zu wiederholten Malen seine Freude geäußert hatte, den höchsten Punkt. Als er zuletzt vorbeigewandert, lagen dort, wie er erzählte, am Fuße des Schloßberges nur die Kirche, die Häuser des Predigers und Arztes und fünf Krüge. Jetzt war der Anfang

  1. Einen ganz ähnlichen Rock, doch nicht so farbenreich, tragen die Frauen in einigen Orten des badischen Schwarzwaldes.
  2. Das erweist sich leicht aus dem Vergleiche mit anderen Ländern. Auf 1000 Menschen kommen in Frankreich 80, im deutschen Reiche 82, in Großbritannien und Irland 85, in Oesterreich-Ungarn 99, in Schweden 105, in Dänemark 177, in Esthland aber 212 Pferde.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. estnisches Nationalepos Kalewi Poëg
  2. Leal: Lihula
[400]

VOR PERNAU. VOR REVAL.
DER „LANGE HERMANN“ IN REVAL. DIE „DICKE GRETE“ IN REVAL.
DIE ESTHISCHE KIRCHE IN PERNAU. AN DER ALTEN STADTMAUER VON REVAL.
RATHHAUS IN REVAL. Rob. Aßmus Reval 19\9 81. Kaeseberg & Oertel X. I. DIE KATHARINEN-KIRCHE IN PERNAU.
DER „KIEK IN DE KOECK“ IN REVAL. ESTHISCHER KRUG. SC[hu]LE. ESTHISCHE MUEHLE. DIE RADER STRASSE IN REVAL.

Bilder von der Ostseeküste 0 [1. 0 Im e]sthnischen Sprachgebiet.
Für die „Gartenlaube“ nach der [Natur gezei]chnet von Robert Aßmus.

[402] zu einem freundlichen Städtchen mit einer doppelten Reihe kleiner, sauberer Häuser gemacht. Läden und Werkstätten waren errichtet, und das Schulhaus präsentirte sich höchst gefällig. Führe mein Reisegenosse heute nochmals des Weges, so konnte er ein Lied singen wie Chidher, der Ewigjunge; denn der Flecken Leal ist nicht mehr; weitaus der größte Theil jener Anbauten liegt in Asche, und zerstört sind die Gärten, welche damals in buntem Blumenschmucke prangten.

Bald erreichten wir das Reiseziel und die Heimath meines grauen Gefährten, Schloß Fickel, dessen Abbildung unsere Illustration zeigt.

Fickel, das größte Gut in Esthland, ist seit sechs Jahrhunderten im Besitz derselben Familie, der Freiherrn von Uexküll[WS 1]. Drastischer, als an der Geschichte dieses Hauses, ließe sich kaum der Wandel der Dinge in Esthland schildern, und in der That hat ein junger Historiker, der allzufrüh verstorbene Lossius[WS 2], zwei Bände dieser Familiengeschichte herausgegeben, während der dritte aus seinem literarischen Nachlasse demnächst erscheinen soll.

Wie sich auf den ursprünglichen Kellern, deren Gewölbe aus überragenden Steinen gebildet ist, ein Bau des achtzehnten Jahrhunderts mit allem Comfort der Gegenwart, mit großer Bibliothek, werthvoller Gallerie, reichem Kupferstich- und Handzeichnungencabinet, chemischem Laboratorium – ein reich ausgestatteter Fürstensitz – erhebt, so ist auch die Familie Uexküll durch alle Phasen roher und wilder Zeiten gegangen, um endlich in wissenschaftlicher Bildung und communaler Thätigkeit zu bedeutendem Ansehen im Lande zu gelangen. Seltsame Fügung: vor dreihundert Jahren ergriff der Rath der Stadt Reval einen aus dem Geschlechte der Uexküll’s und richtete ihn mit dem Schwerte, weil er einen Bauern getödtet hatte. Ein vieljähriger Krieg der Uexküll’s und des ihnen anhängenden Adels gegen die Stadt war die Folge dieses Urteils.[WS 3] Und heute ist es ein Freiherr von Uexküll, den dieselbe Stadt zu ihrem höchsten und schwierigsten Amte, dem des Stadthauptes oder Oberbürgermeisters, berufen hat.

In Fickel verließ mich mein Reisecumpan. Nach kurzem Aufenthalt, den ich zur Besichtigung des Schlosses, zumal der Treppenhausbilder Schweinfurth’s, der Gewächshäuser und des von dunklen Tannen beschatteten Familienfriedhofs benutzte, fuhr ich einsam meines Weges, bis sich mir im Abendroth der herrliche Blick auf Reval und auf die weite Bucht dahinter öffnete.

Das erhöhte Plateau, welches die Nordküste Esthlands bildet, tritt hier in weitem Bogen von der Küste zurück, Aus der Ebene steigt ein isolirter, langgestreckter Hügel, dessen östliche Spitze sich bis an das Meer hinzieht, während an der westlichen ein schroffer Kalksteinfels sich erhebt. Auf diesem bauten die Dänen zuerst ihre Veste. Jetzt bildet er den „Dom“. Auf dem unteren Hügelrücken und zu beiden Seiten desselben liegt die eigentliche Stadt.

Die Silhouette Revals, die sich damals vor meinen Augen tief violett von dem röthlichen Abendhimmel und der hellen Wasserfläche abhob, ist außerordentlich schön, und die verschiedene Höhe des Terrains giebt der Stadt ein interessantes Ansehen. Dazu die hochragenden Spitzen schlanker oder feingegliederter Kirchthürme, das Minaret des Rathhauses, burgartige Häuser, mehrere alte Festungsthürme und – damit es auch an weiterer Mannigfaltigkeit nicht fehle – selbst die Kuppel einer russischen Kathedrale. Endlich auf hohen Bastionen üppige Lindengruppen, drüben im Hafen aber die Masten und Schornsteine großer und kleiner Schiffe – in der That ein imposantes Bild!

Die Erwartung, welche mir der erste Anblick bot, sollte durch die nähere Besichtigung der Stadt an den folgenden Tagen nicht getäuscht werden. Es ist viel deutsches Alterthum da vertreten und Neigung vorhanden, den gothischen Charakter der Stadt zu wahren, aber die zunehmende Bevölkerung drängt aus den engen Straßen hinaus; denn wenn der Revalenser guten, alten Schlags von jeher gleichsam mit einem „Höfchen“ zur Welt kam, in dem er seine Sommerwochen verlebte, so baut sich das junge Geschlecht auch für den Winter außerhalb der Stadt an, und in Folge dessen verschwinden mehr und mehr die Spuren der früheren kriegerischen Zeiten Revals, die Wälle und Glacis.

Als die Flotte der „Alliirten“ 1854 und 1855 Stadt und Hafen blokirte, wurde eine ausgedehnte, mit hübschen Gartenanlagen geschmückte Vorstadt zu Vertheidigungszwecken rasirt und ein kleiner Park am Fuße des Kiek-in-die-Koek nur mühsam der Stadt erhalten. Die Engländer warfen nur einige Kugeln auf einen Friedhof vor der Stadt. Reval selbst blieb verschont und hatte nur die Alleen vor seinen Thoren und jene Vorstadt geopfert. Jetzt erinnern der mächtige Festungsthurm Kiek-in-die-Koek, von dem aus 1577 eine Kugel den russischen Feldherrn niederstreckte, die schlanke Schloßwarte, der „lange Herrmann“ und der weite Zwinger, die „dicke Grethe“, noch wohlerhalten an die alte Zeit, Auf den Schanzen aber sind Gärten entstanden und öffentliche Belustigungsorte.

Wie sich der Humor der Revalenser bei der letzten Blokade nicht verlor, so hatten auch ihre Vorfahren allezeit Tapferkeit und ein großes Maß bürgerlicher Opferfreudigkeit und Ordnungsliebe bewiesen. Wer die Geschichte dieser Stadt schreiben wollte, hätte viel von der deutschen Fähigkeit zur Selbstverwaltung, von der deutschen Tüchtigkeit in Handel und Gewerbe, von dem tapfern Muthe und der guten Sitte der Deutschen in Krieg und Frieden zu melden. Die Geschichte der Ostseeprovinzen sollte sich im deutschen Volke größerer Beachtung erfreuen: nirgend hat sich deutscher Bürgersinn in so schweren Verhältnissen fester bewährt und nirgend unablässiger für die idealen Güter des deutschen Wesens gekämpft als dort. Mit freudiger Zuversicht konnte der alte Chronist schreiben:

„So lange die beiden Stede Riga vnde Reuel erholden bliuen, ys de Muscowiter aller erauerden Landen, Stede vnde Festinge nicht ein her, besundern man ein Gast, vnde wenn disse beide gemelten Stede affhendich vörden, dat Godt vorbede, So were ydt mit ganz Lyfflandt ewich verlaren, welckes allen vmmeliggenden Landen vnde Steden, nicht allein grote sorge vnde gefahr, besundern ock in der Ostsee, solck eine Confusion vnde vorkeret vesen geuen wörde, des man in ewicheit genochsam thobeweynende vnde thobeklagende hadde.“

Aeußerlich, das heißt politisch sind diese beiden Städte und mit ihnen ganz „Lyfflandt“ seit hundertdreiundsiebenzig Jahren „affhendig wörden“, und man hat im Jahre 1860 in Reval das hundertfünfzigjährige Jubiläum der russischen Herrschaft mit Errichten von Kletterstangen, Sacklaufen, Einfangen geseifter Ferkel u. dergl. „Talkusfreuden“ gefeiert. Der Deutsche in ganz „Lyfflandt“ ist seit Beginn des russischen Regiments bis auf heute durch und durch loyal, aber er ist seiner Nationalität ebenso treu, wie dem Staate Rußland. Er kann nicht einsehen, daß zwischen seiner Nationalität und dem russischen Staatsbegriff ein natürlicher Gegensatz bestehe. In den ersten hundertfünfzig Jahren der Zugehörigkeit der Provinzen zu Rußland hat ein solcher Gegensatz, sehr zum Vortheil beider, der Provinzen wie des Gesammtstaates, nicht bestanden, und darum konnte jene Feier begangen werden; darum sind jene Städte der deutschen Cultur nicht „affhendig wörden“. Von den herostratischen Gelüsten der Barbaren, die heute den Czaren in Gatschina gefangen halten oder auf Brandreden reisen, war damals noch keine Spur. Erst seitdem sowohl die esthnische Volksschule in rascherem Tempo gefördert wird, wie auch der Grund und Boden immer mehr in den Privatbesitz von Esthen übergeht, schleudert ein Theil der russischen Presse seine Pechkränze gegen die aufblühende Organisation der Provinz.

Zum Schlusse sei es gestattet, auf die Eigenart der deutschen Landbewohner – der Russe nennt die deutschen Großgrundbesitzer kurzweg baltische Barone – hinzuweisen.

Wie der Kurländer, so sind auch der Livländer und der Esthländer eine Species für sich. Für die Völkerpsychologie werden ihre Eigenthümlichkeiten aber erst interessant, wenn man sie zu dem Zusammenleben mit den Letten und Esthen in Beziehung setzt und den unter Letten lebenden Deutschen mit dem unter den Esthen vergleicht. Von Blutvermischung kann hier nicht die Rede sein; es handelt sich nur um den Einfluß, welchen durch Jahrhunderte hindurch Esthen und Letten auf die Deutschen geübt haben; denn unverkennbar spiegeln sich die Eigenschaften dieser beiden Völker in dem Charakter der Deutschen wieder. Wir begegnen in dem Deutschen des esthnischen Gebietes allen den Talenten und Schwächen, die den Esthen vom Letten unterscheiden: Er ist für alles Gefühlsleben zugänglich, zugleich aber auch zu Spott und Neckerei geneigt, wie denn die Reihe der gefeierten provinzialen Witzbolde nie ausstirbt. Außerdem ist er musikalisch, bildhauerisch und malerisch begabt – vier Esthländer ließen 1817 das erste deutsche Quartett von der Scala di Spagna über die ewige Stadt hintönen, und heute wirken an der Petersburger und an deutschen Akademien mit Auszeichnung sieben Esthländer als Professoren der Malerei oder Bildhauerei; wie auch unter den baltischen Lyrikern die des esthnischen Gebietes eine höchst ehrenvolle Stelle einnehmen. Die Wissenschaft hat unter ihren hervorragendsten Namen einige [403] Esthländer zu verzeichnen: von den Professoren Dorpats und den Mitgliedern der Petersburger Akademie stammt ein großer Theil aus esthnischem Gebiete, und damit auch die Kühnheit der Esthen sich in den Deutschen ihres Landes widerspiegle, gehören Esthländer zu den besten und umsichtigsten Admiralen der russischen Flotte. Ferner finden wir sie im Staatsdienste und unter den höheren Officieren zahlreich vertreten, und die Eisenbahnen Südrußlands sind zu großem Theile von esthländischen Baronen in’s Leben gerufen und gebaut worden. Endlich haben Revalenser die ersten deutschen Buchhandlungen in Petersburg und Moskau gegründet, und das älteste Kaufmannshaus Rußlands blüht noch heute in Reval.

Zu Rußland gehört dieses Land, doch russisch ist es nicht. Und der Staat sollte des Glückes sich freuen, daß ein Finnland, daß die Ostseeprovinzen mit ihrer westeuropäischen Cultur, ihrer Gesetzlichkeit und ihrer wirthschaftlichen Leistungsfähigkeit in ihm ihren Schutz und Bestand suchen. Es ist nicht blos Rußlands Pflicht, ihre Eigenart zu schonen, sondern auch sein eigenstes Interesse.

Nowgorod war ein blühendes Gemeinwesen und lebendiges Zeugniß dafür, daß auch der Russe in freier Verfassung gedeihen und Tüchtiges leisten könne. Da kam Moskau, legte die Stadt in Asche und füllte den Fluß mit den Leichen erschlagener Russen, Was ist Nowgorod seither unter Moskaus Herrschaft geworden?

Möglich, daß man auch dereinst von einer „zertretenen Blüthe Liv-, Esth- und Kurlands“ sprechen wird. Jungesthen und Jungletten steuern – in selbstmörderischer Verblendung – der moskowitischen Herrschaft entgegen. Und wie einst die Großfürsten von Moskau sich nicht blos ihren Titel, sondern auch ihre Staatskunst aus der goldenen Horde der Tataren holten, so ist das Ideal der heutigen Leiter Rußlands am Bosporus und in Geok Tepe gewachsen, und wie ihre Vorgänger um die Gunst der Kirche buhlten, haben auch sie ein Bündniß mit dem Fanatismus der schwarzen Geistlichkeit geschlossen und den Phrasenrausch einiger Journalisten in Dienst genommen, um eine Tyrannis der Günstlinge über den Staat, die Völker und den Kaiser selbst zu üben.

Möglich, daß dereinst eine solche Herrschaft diese Culturoase an der Ostsee vernichten wird! Doch diese ist vom Schicksal nie verzärtelt worden, und der zähe Charakter, den sie in ihrem Entstehen und Wachsen bewiesen hat, der Fleiß ihrer Arbeit, die Tüchtigkeit ihrer Leistungen, die Treue ihrer Sitte – das sind starke Bundesgenossen gegen das moderne Mongolenthum.

E. Heinrich.


Anmerkungen (Wikisource)[Bearbeiten]

  1. Wikipedia: w:Uexküll
  2. ADB:Lossius, Johannes
  3. Vorlage: Urtel