Brückenbau (1914)

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Autor: Theodor Landsberg
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Titel: Die technischen Wissenschaften / Brückenbau
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band, Zehntes Buch, S. 336–342
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[1480]
I. Brückenbau
Von Dr.-Ing. Th. Landsberg, Professor a. D., Geheimer Baurat in Berlin-Wilmersdorf, Mitglied der Akademie des Bauwesens


Wissenschaft und Brückenbau.

Zwei so verschiedenartige Begriffe, zwischen denen es kaum Beziehungen zu geben scheint! Welche Fäden ziehen sich von den Gipfeln hoher, in den Wolken thronender Wissenschaft zu dem tief im Tale schaffenden Brückenbauer, zwischen Athene und Hephaistos? Bedarf man zum Bau von Brücken einer Wissenschaft? Ist nicht der Brückenbau ein Handwerk, höchstens, vornehm ausgedrückt, eine Technik, die man lernen und ausüben kann ohne tiefere wissenschaftliche Kenntnisse?

Solche Ansichten waren früher und sind auch heute noch in weiten Kreisen verbreitet. Trotzdem die Technischen Hochschulen den älteren Schwesteranstalten, den Universitäten, gleichgestellt sind, und das Recht haben, die Doktorwürde zu verleihen, können sich unsere gebildeten Stände schwer dareinfinden, die technischen Wissenschaften den sogenannten Geisteswissenschaften als gleichberechtigt an die Seite zu stellen.

Ganz besonders muß unter diesen Verhältnissen der Standpunkt bewundert werden, welchen unser Kaiser in der berührten Frage einnimmt. Es sei nachstehend ein Teil der Rede angeführt, welche der Kaiser gelegentlich der Einweihung der Technischen Hochschule in Danzig 1904 gehalten hat[1]:

„. . . die ungeahnte Entwicklung, welche die deutsche Technik seit dem Beginn des Zeitalters der Eisenbahnen nach allen Richtungen erfahren hat, haben wir nicht zufälligen Entdeckungen und glücklichen Einfällen, sondern der ernsten Arbeit und dem auf dem festen Boden der Wissenschaft fußenden, systematischen Unterricht an unseren technischen Hochschulen zu verdanken. Die Mathematik und die theoretischen Naturwissenschaften haben die Wege gewiesen, auf denen der Mensch in Gottes allgewaltige Werkstatt der Natur immer tiefer einzudringen vermag, die angewandte Wissenschaft hat diese Wege kühn beschritten und ist zu staunenswerten Erfolgen gelangt. Den technischen Hochschulen liegt es ob, theoretische und angewandte Wissenschaft zu fruchtbarem Zusammenwirken zu vereinigen und zwar mit der umfassenden Vielseitigkeit, die das auszeichnende Merkmal des in Deutschland entstandenen Typus dieser Anstalten bildet. Sie stellt in ihrer Eigenart eine wissenschaftliche Universität dar, die mit der alten Universität um so mehr verglichen werden kann, als ein nicht unbeträchtlicher Teil des Lehrgebietes beiden Anstalten gemeinsam ist. . .“

Was der Kaiser in der vorstehend wiedergegebenen Rede für die Technik allgemein ausgeführt hat, ist auch für den Brückenbau im besonderen richtig. Zwar wurden die ersten Brücken ohne wissenschaftliche Überlegung hergestellt. Bildet doch schon ein über einen Bach gelegter Baumstamm oder eine Holzbohle eine Brücke einfachster Art. Auf Grund der Erfahrung, auch wohl aufgeklärt durch Unfälle, ging man, vorsichtig tastend, [1481] an bedeutendere Aufgaben heran und stellte schon frühzeitig gewölbte Bauwerke her. Aber wenn auch ein Vorwärtsschreiten auf diesem empirischen Wege möglich ist, so muß es doch als ein Tappen im Finstern bezeichnet werden. Erst wenn mit Hilfe der Wissenschaft der Ausblick auf die verschiedenen möglichen Wege des Fortschreitens erreicht ist, kann die zweckmäßigste Wahl getroffen werden.

Gerade der Brückenbau ist eine Vereinigung von Kunst, Wissenschaft und Technik, die einerseits nicht ohne wissenschaftliche Erkenntnis vorwärtsschreiten kann, andererseits aber auch die Anwendung der Wissenschaft durch freudige Genugtuung in dem Ingenieur belohnt.

Die Neuzeit steht im Zeichen des Verkehrs: Verkehr bedingt Straßen und Eisenbahnen und als deren vornehmsten und schwierigsten Teil: Brücken. Die Bahnen können nicht mehr haltmachen an breiten Strömen und Meeresarmen, die große Weite muß überbrückt werden. Solche große Aufgaben können nur gelöst werden mit Hilfe der Mechanik. Die Gesetze der Mechanik, denen wir auf der Erde unterworfen sind, geben uns die Grenzen an für unsere Leistungen, aber auch die Mittel für die richtige Anordnung.

Die heutigen Brücken haben so außerordentliche Größe und müssen so bedeutende Lasten tragen, daß nur auf gründlicher Berechnung beruhende Konstruktion Sicherheit für den Bestand leistet. Von der Richtigkeit der Berechnung hängt unter Umständen das Leben vieler Menschen ab.

Die Anwendung der Gesetze der Mechanik auf die Technik erfolgt nach zwei Richtungen:

1. Es sind die Gesetzmäßigkeiten klarzustellen, welchen unsere Konstruktionen unterworfen sind und zwar in mathematischer Form;

2. es sind die Werte der in den Gleichungen vorkommenden Konstanten zu ermitteln.

Für die Lösung beider Aufgaben sind sorgfältig und planmäßig angestellte Versuche unentbehrlich; die Versuche bedeuten Fragen an die Natur, ihre richtige Verwertung gibt Aufschluß über die Gesetze und die Konstanten. Sonach sind hier die Fortschritte in der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten und in der Anstellung planmäßiger Versuche im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts zu besprechen.

1. Fortschritte in der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten, welche der Brückenberechnung zugrunde liegen.

Gesetzmäßigkeit der Konstruktionen.

Die Gesetze, denen unsere Konstruktionen zu genügen haben, sind seit langer Zeit bekannt: vor allem sind es die Gesetze des Gleichgewichts. Mit Hilfe dieser Gesetze kann man eine große Zahl von Konstruktionen sicher berechnen, so vor allem die statisch bestimmten Konstruktionen. Neben diesen sind solche vorhanden, für deren Berechnung die elastischen infolge der Belastung eintretenden Formänderungen und die Wärmeänderung von bedeutendem Einfluß sind. Diese Konstruktionen werden als statisch unbestimmte bezeichnet; ihre Berechnung ist wesentlich schwieriger. Auf diesem Gebiete liegt ein sehr [1482] großer Teil der wissenschaftlichen Arbeiten, welche im Verlaufe des verflossenen Vierteljahrhunderts zu verzeichnen sind.

Auch für diese Berechnungen sind die Grundlagen schon längere Zeit bekannt: sie sind bei den in der Gegenwart üblichen, neuen Verfahren dieselben, wie bei den älteren und können folgendermaßen ausgesprochen werden:

Die geometrischen Bedingungen, denen die Konstruktion zu genügen hat, müssen mit den elastischen Bedingungen im Einklang sein, d.h. die Formänderungen, welche unter der gemeinsamen Wirkung der bekannten und unbekannten Kräfte auftreten, müssen den von der Konstruktion gestellten Bedingungen genügen: dadurch erhält man die Möglichkeit, die unbekannten Kräfte kennen zu lernen.

Ein einfaches Beispiel diene zur Erläuterung. Ein Gewölbe stützt sich gegen seitliche Mauern, sogenannte Widerlager. Die auf das Gewölbe von den Widerlagern übertragenen Kräfte sind mittels der Gleichgewichtsbedingungen starrer Körper allein nicht ermittelbar. Nun möge der Abstand der Widerlager unveränderlich sein. Die elastischen bzw. die durch Wärmeänderung erzeugten Formänderungen müssen also derartig vor sich gehen, daß das Gewölbe auch nach den Formänderungen zwischen die Widerlager paßt. Die elastischen Formänderungen sind aber von den wirkenden Kräften abhängig; diese müssen sich der angegebenen Bedingung anpassen und können danach aus ihr ermittelt werden. Derselbe Weg ist gangbar, auch wenn gewisse bekannte Veränderungen in der gegenseitigen Lage der Widerlager infolge äußerer Umstände auftreten.

Die angegebene Grundlage diente zur Berechnung statisch unbestimmter Konstruktionen schon vor vielen Jahren; als Beispiel mögen die kontinuierlichen Träger genannt werden.

Arbeitsprinzip.

Die heute üblichen Verfahren für die elastischen Formänderungen verwenden das Arbeitsprinzip, das an die Namen Mohr (1874, 1875) und Maxwell (1864) geknüpft ist. Mohr ist auf seine epochemachenden Untersuchungen gekommen, ohne von der älteren Arbeit Maxwells Kenntnis zu haben. Erst 1883 wurde ihm Maxwells Arbeit bekannt. Weiter werden verwendet die Sätze über die Formänderungsarbeit von Castigliano (1373), und Fränkel (1882), wie auch die Sätze über die Gegenseitigkeit der elastischen Verschiebungen. Diese Verfahren waren im Jahre 1888 bereits bekannt und wurden von einzelnen Fachgelehrten und Brückenkonstrukteuren schon verwendet, aber im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts sind die Anschauungen auf diesem Gebiete durch zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten geklärt, teilweise durch wissenschaftliche Kämpfe. Die verbesserten Verfahren erleichterten nicht nur die Lösung alter Aufgaben, sie führten auch dazu, daß man sich an neue und schwierigere Aufgaben heranwagte. Ist es doch eine bekannte Tatsache, daß verbesserte Werkzeuge, auch auf geistigem Gebiete und erhöhte Arbeitsziele in fruchtbringender Wechselbeziehung zueinander stehen.

Einige Gebiete, auf denen in dem betrachteten Zeitraum die wissenschaftliche Erkenntnis besonders vertieft ist, mögen hier kurz angeführt werden.

[1483]

Berechnung der Gewölbe.

Die Berechnung der Gewölbe ist durch viele, gediegene wissenschaftliche Arbeiten gefördert; die Weite der Gewölbe ist neuerdings bis auf 90 Meter vergrößert. Es ist aber sicher möglich, eine Weite von mehr als 100 Metern mit den theoretischen und praktischen Hilfsmitteln der Gegenwart zu überwölben.

Berechnung der Fachwerksträger.

Die Berechnung der Fachwerksträger, d. h. der aus einzelnen Stäben zusammengesetzten Träger, war im Jahre 1888 schon auf bedeutender Höhe; aber auch auf diesem überaus wichtigen Gebiete des Brückenbaues sind seit jener Zeit bedeutende, wissenschaftliche Erfolge zu verzeichnen: die Kenntnis der Nebenspannungen wurde durch die Arbeiten von Engesser, Müller-Breslau, Landsberg, Mohr, Zimmermann und anderer wesentlich gefördert. Die bei den sogenannten offenen oder Trogbrücken auftretenden überaus gefährlichen Kräfte, welche so manchen Brückeneinsturz verschuldet haben, wurden in vorbildlicher Weise wissenschaftlich behandelt, zuerst von Engesser, später von Dr. Zimmermann. Dieser letztere hat die überaus schwierige Aufgabe des geraden Stabes und des Stabecks auf elastischen Einzelstützen in einer Anzahl von Abhandlungen der Kgl. Akademie der Wissenschaften in Berlin vorgeführt und damit eine glänzende wissenschaftliche Leistung vollbracht[2]. Ferner hat Müller-Breslau in seinem Werk: Die graphische Statik der Baukonstruktionen diese Aufgabe gelöst (Sicherung der oberen Gürtung einer Trogbrücke durch biegungsfeste Halbrahmen).

Neue Aufgaben durch den Eisenbeton.

Auch ganz neue Aufgaben traten in dem abgelaufenen Vierteljahrhundert an die deutschen Ingenieure heran, vor allem diejenigen, welche aus dem Auftreten des Eisenbetons hervorgingen. Der Eisenbeton ist ein neuer Baustoff, der sich freilich aus lange bekannten Einzelbaustoffen zusammensetzt, aber dennoch in seinen Eigenschaften etwas Neues bedeutet. Diese Eigenschaften galt es zu klären und die ermittelten Gesetze in mathematische Form zu kleiden, so daß der ausführende Ingenieur die Berechnung leicht vornehmen kann. An diesen wissenschaftlichen Arbeiten hat sich neben fremdländischen Forschern eine Reihe deutscher Ingenieure beteiligt: die Grundlage der heute geltenden Berechnungsverfahren ist von Koenen angegeben. Von weiteren verdienten Forschern sind zu nennen: Möller (Braunschweig), Morsch, Emperger, Förster, Probst u.a. Die Arbeiten auf diesem Gebiete sind Legion, eine Anzahl von Zeitschriften pflegt die Eisenbetonbaukunst, natürlich auch ihren wissenschaftlichen Teil.

In engem Zusammenhange mit der Eisenbetonbauweise steht eine neuerdings in den Vordergrund getretene Konstruktion: der Fachwerkträger mit diagonallosen Feldern. Nach seinem Erfinder und rastlosem Befürworter wird der Träger auch als „Vierendeelträger“ bezeichnet; nach der Anordnung als „Rahmenträger“. Die erste Berechnung solcher Träger hat Engesser in seinem 1893 erschienenen Buche: Die Zusatzkräfte und [1484] Nebenspannungen eiserner Fachwerkbrücken gegeben. Besonders für Eisenbetonträger in Fachwerkform eignen sich anscheinend die Rahmenträger gut. Ein abschließendes Urteil ist jedoch heute noch nicht möglich. Beachtenswerte Arbeiten über den Vierendeelträger sind neuestens zu verzeichnen von dem Altmeister Otto Mohr (Eisenbau, 1912, S. 85), Ostenfeld (Eisenbau 1912, S. 358), Mann (Zeitschrift für Bauwesen 1909 und Festschrift Müller-Breslau), Engesser (Zeitschrift für Bauwesen 1913, S. 345) und vielen anderen.

Raumfachwerke.

Eine besondere Stellung unter den Konstruktionen nehmen die Raumfachwerke ein, die freilich hauptsächlich bei den Hochbauten in Frage kommen, aber auch im Brückenbau von großer Bedeutung sind. Die Kenntnis der bei diesen Konstruktionen auftretenden Kräfte, der Bedingungen ihrer Standfähigkeit und die Berechnungsverfahren sind im letzten Vierteljahrhundert wesentlich gefördert worden. Hier sind zu nennen: Foeppl, Mohr, Henneberg, Müller-Breslau, Landsberg, Schlink u. a. Dabei waren gerade zwei Bauwerke die Veranlassung zu fortschrittfördernden Untersuchungen, die mit dem Deutschen Reich und Preußen in besonders engen Beziehungen stehen: Der Reichstagsbau und der Dom in Berlin. Bei dem Reichstagsbau mußte nachträglich eine große Kuppel, welche bedeutenden Winddrücken ausgesetzt ist, auf verhältnismäßig schwaches Mauerwerk gesetzt werden. Die schwierige Aufgabe führte dazu, daß Zimmermann eine neue Form der Kuppel und eine eigenartige Lageranordnung erfand. Die auf streng wissenschaftlicher Grundlage beruhende Konstruktion ist ein Triumph deutscher Wissenschaft. Der angedeutete Fortschritt gehört zu denen, die nicht mühelos einem Sonntagskinde zufallen, sondern die auf Grund der Kenntnis und genialer Verwendung der Naturgesetze gefunden werden. –Die Herstellung der großen Kuppel des Berliner Doms gab Müller-Breslau Veranlassung, die Berechnungsweise der Kuppeln wissenschaftlich zu vertiefen. Endlich muß noch eine neue Raumträgerart erwähnt werden, welche durch die Schwebebahn in Elberfeld-Barmen veranlaßt wurde. Dieser Träger ist von Rieppel erfunden und wird nach seinem Erfinder als Rieppelträger bezeichnet.

Die Gesetzmäßigkeiten im Aufbau der Fachwerke, sowohl der ebenen wie der räumlichen Fachwerke, beschäftigte im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts die wissenschaftlich arbeitenden Ingenieure in hohem Maße. Für die einfachen Konstruktionen kannte man die Gesetze, für gewisse verwickelte Anordnungen fehlten die Kenntnisse der Kriterien, welche beim Aufbau die Standfähigkeit maßgebend bestimmen. Die Lösung dieser Aufgabe ist den Arbeiten der letzten fünfundzwanzig Jahre zu verdanken, wenn auch die grundlegenden Arbeiten schon einige Jahre früher veröffentlicht waren. Durch das Verfahren des Ersatzstabes, wurde es möglich, die Frage nach der Brauchbarkeit der Fachwerke und der Richtigkeit ihres Aufbaues zweifelfrei zu beantworten. Besonders wichtig ist dieses Verfahren für die Raumfachwerke, deren Konstruktion dadurch eine sichere Grundlage erhalten hat. Die grundlegende Arbeit ist von Henneberg (Darmstadt) geleistet, die Verwendung für die praktische Konstruktionskunst ist das Verdienst von Müller-Breslau.

[1485]

Vertiefung älterer Berechnungsverfahren.

Auch die Verwendung von bereits bekannten Berechnungsverfahren ist in dem zu besprechenden Zeitraum wesentlich vertieft und verbreitert; hier sind zu nennen: das Verfahren der Einflußlinien und das Verfahren der Verschiebungspläne. Die Einflußlinien stammen schon aus den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts; sie wurden von Winkler und Fränkel unabhängig voneinander gefunden. Die Verschiebungspläne, gewöhnlich als Williotsche Verschiebungspläne bezeichnet, sind bereits 1887 als Geschwindigkeitspläne von Mohr veröffentlicht; in der Graphischen Statik von Müller-Breslau sind sie zu der Lösung verschiedenartiger Aufgaben verwertet.

Zu der Berichterstattung über die wissenschaftliche Vertiefung des Brückenbaues mögen nunmehr noch einige besonders wichtige Bücher genannt werden: Mohr, Abhandlungen aus dem Gebiete der technischen Mechanik, Berlin. 1906. Müller-Breslau, Die graphische Statik der Baukonstruktionen. Müller-Breslau, Die neueren Methoden der Festigkeitslehre und der Statik der Baukonstruktionen. 2. Aufl. 1893. 4. Aufl. 1913.

2. Die Anstellung planmäßiger Versuche über wissenschaftliche Fragen des Brückenbaues.

Die vorstehend besprochenen Gesetze werden in mathematische Form gekleidet; das ist nötig für klares Verständnis und die Anwendung auf die im praktischen Leben sich darbietenden Aufgaben. Aber leicht wird die mathematische Seite der Aufgabe überschätzt und die Gefahr ist nicht ausgeschlossen, daß der Forscher den Boden unter den Füßen verliert. Denn auch hier gilt das Dichterwort: Eng beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.

Prüfungsanstalten.

Die Vermittlung zwischen Mathematik und Konstruktion bieten die Prüfungsanstalten, sowohl die Materialprüfungsanstalten, wie die Stationen, welche zur Prüfung besonderer Konstruktionen ins Leben gerufen sind. Im abgelaufenen Vierteljahrhundert wurde mehr und mehr Gewicht auf die Anstellung von Versuchen gelegt. Sollen solche Versuche Aussicht auf Erfolg haben, so müssen sie auf Grund eines wissenschaftlichen Planes angestellt werden, sie bedürfen wissenschaftlich geschulter Leiter, sie müssen neben ihrer Hauptaufgabe auf die Heranbildung brauchbaren Nachwuchses bedacht sein. Diese sich als selbstverständlich ergebenden Anforderungen führten dazu, daß die technischen Hochschulen sich die Schaffung der Prüfungsanstalten und die Pflege der ihnen obliegenden Aufgaben nicht aus den Händen nehmen lassen konnten. So ist denn heute in Verbindung mit den technischen Hochschulen eine stattliche Zahl von Prüfungsanstalten im Betriebe, die teilweise aus älteren Anstalten zu größerer Bedeutung erwachsen, teils neuerdings ins Leben gerufen sind. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, die einzelnen Anstalten, ihre Einrichtungen, besonderen Aufgaben, Maschinen u. dergl. zu besprechen; es soll nur ein Überblick über diese Seite des wissenschaftlichen Fortschritts im Brückenbau gegeben werden.

Die Prüfungsanstalten sind aus kleinen Anfängen zu bedeutender Größe emporgewachsen. [1486] So ist das Materialprüfungsamt der Technischen Hochschule Berlin aus der kleinen Versuchsanstalt in Frankfurt a. O. entstanden, in welcher Wöhler in den sechziger Jahren vorigen Jahrhunderts seine epochemachenden Versuche vornahm. Auf dem Wege über die Kgl. Gewerbeakademie in Berlin und die Technische Hochschule ebendaselbst ist diese Anstalt zu dem in Groß-Lichterfelde belegenen, einen Teil der Hochschule bildenden Prüfungsamt geworden. – Die Technische Hochschule München besaß bereits seit 1871 eine Versuchsanstalt, welche hervorragende Arbeiten von Bauschinger und Foeppl zu verzeichnen hat. Stuttgart besitzt eine 1884 durch Bach ins Leben gerufene Materialprüfungsanstalt, die durch die rastlose Tätigkeit ihres Gründers und Vorstandes grundlegende Bedeutung für Wissenschaft und Technik gewonnen hat. Auch andere Technische Hochschulen haben solche Prüfungsanstalten: Dresden, Darmstadt, Karlsruhe usw.

Außer an den Technischen Hochschulen bestehen auch an einer Zahl bedeutender Brückenbauanstalten Vorkehrungen zur Prüfung von Materialien und Konstruktionsteilen im großen Maßstabe.

Insbesondere machte sich das Bedürfnis fühlbar, planmäßige Versuche in großem Maßstabe anzustellen zur wissenschaftlichen Klärung wichtiger Konstruktionsfragen, bei deren Lösung die rein theoretische Untersuchung nicht genügte. Der im Jahre 1904 gebildete Verein deutscher Brücken- und Eisenbaufabriken, der sogen. „Brückenbauverein“, nahm diese Angelegenheit in die Hand und es wurde eine Versuchskommission ins Leben gerufen, mit Vertretern des Brückenbauvereins, des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten und des Kultusministeriums. Der Arbeitsplan der Kommission[3] ist sehr umfangreich. Er umfaßt Versuche über den Gleitwiderstand der Nietverbindungen, Versuche mit fertigen Teilen von Eisenbrücken, über Anschlüsse steifer Stäbe, Ausknicken von Druckstäben, Seitensteifigkeit der oberen Gurtungen oben offener Brücken, Versuche über den Einfluß des Winddrucks auf gegliederte Brückenträger usw. Die Ausführung der Versuche ist dem Kgl. Materialprüfungsamt in Groß-Lichterfelde übertragen.

Die Versuche in den verschiedenen Prüfungsanstalten haben eine außerordentliche Bedeutung gehabt für die Kenntnis des oben bereits erwähnten neuen Baustoffs, des Eisenbetons. Nur auf Grund eingehender Versuche konnte man dem Eisenbeton immer größere Aufgaben zuweisen: man prüfte die einzelnen Konstruktionen, stellte die Gesetzmäßigkeiten und die Konstanten fest (die Elastizitätsziffer, die Festigkeiten, die Einflüsse der Zusammensetzung, des Alters, des Einzelmaterials usw.) Aber alle diese Versuche werden von dem Deutschen Ausschuß für Eisenbeton fortlaufend Berichte in besonderen Heften veröffentlicht.

Auch beim Eisen im weitesten Sinne schreitet man, gestützt auf Materialprüfung, rüstig vorwärts. Man hat in den letzten Jahren einen besonders widerstandsfähigen Nickelstahl in den Brückenbau eingeführt, dessen Eigenschaften wesentliche Fortschritte in den Konstruktionen versprechen.

Es darf wohl ohne Überhebung gesagt werden, daß auf dem Gebiete des wissenschaftlichen Brückenbaues Deutschland an der Spitze geht, dank der gediegenen Ausbildung seiner Ingenieure, dank besonders der Leistungen der drei größten: Otto Mohr, H. Müller-Breslau, H. Zimmermann.


  1. Zentralbl. d. Bauverwaltung, 1904, S. 509.
  2. Veröffentlichungen: Die Knickfestigkeit eines Stabes mit elastischer Querstützung. Berlin 1906. Die Knickfestigkeit der Druckgurte offener Brücken. Berlin 1910.
  3. Zentralbl. d. Bauverw. 1909, S. 66; Eisenbau 1912, S. 193, 229.