Das Bergwerk der Abgeschiedenen

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Autor: Max Schraut
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Titel: Das Bergwerk der Abgeschiedenen
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Erscheinungsdatum: 1931
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Wikisource
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Band 30 der Romanreihe Olaf K. Abelsen. Abenteuer abseits vom Alltagswege.
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[3]
Olaf K. Abelsen
Abenteuer
abseits vom
Alltagswege
Das Bergwerk der Abgeschiedenen
Einzig berechtigte
Bearbeitung a. d.
Schwedischen von
M. Schraut
– Band 30 –



Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16

[4]
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1931 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16


[5]
1. Kapitel.
Der Kopf der Ariane.

Mr. Black hat seine eigenen Anschauungen über Menschen und Dinge. Er ist der ödeste Materialist, den ich kenne, und das geringe Quantum Zärtlichkeit, das er für meine Person sich abquält, entspringt wohl mehr dem Gefühl jenes Anlehnungsbedürfnisses, das zwei Geschöpfe, die auf einer Klippe mitten im großen Golf von Mexiko hausen, trotz aller Verschiedenheiten von Abstammung, Charakter und Neigungen zueinander drängt.

Der dritte rechnet noch nicht mit. Als ich ihn in dem kleinen Boot nach dem wütenden, tagelangen Orkan, der hier auf unserem Felseninselchen so einschneidende Veränderungen verursachte, von einem der Nordriffe herunterholte, wo er sich mit Streifen seines Kittels festgebunden hatte, war der zerschundene, halbtote, seltsam erdfahle Mann nur ein Bündel kraftlosen Menschenfleisches, und viel anders ist es auch jetzt noch nicht, obwohl inzwischen neun Stunden verstrichen sind und meine Bemühungen, den armen Burschen ins Bewußtsein zurückzurufen, einen rascheren Erfolg verdient hätten.

Mr. Black hat all dieser Fürsorge verständnislos [6] und untätig zugeschaut und sich nur immer wieder den Kopf gekratzt und zuweilen mit seinem nervenbeleidigenden Organ ein übellauniges „Idiot – – großer Idiot“ gekrächzt.

Möglich, daß seine Selbstsucht befürchtet, der Fremde könnte ihm bei seinen Raubzügen am Strande, die den Krebsen, toten Fischen und Krabben gelten, in die Quere kommen.

Daß er die Angst hegt, unser Robinsonidyll zu zweien würde durch den Erdfahlen – der Mann hat wirklich eine ganz eigentümliche Hautfarbe, etwa wie die von Arbeitern in alten Bleibergwerken – seine beschauliche Ruhe und Eintönigkeit einbüßen, glaube ich weniger. Black betrachtet dieses Idyll nur vom Standpunkt eines Schlemmers aus, seine Gefräßigkeit ist der hervorstechendste Zug seines Charakters.

Wie er jetzt so neben mir auf dem Bootsrande sitzt und den Kopf mit den Perläuglein schief hält und den schmalen Sandstreifen dort unten dauernd beobachtet, bietet er ein Bild schamlosesten Eigennutzes dar. Sein schwarzes Gewand glänzt in der Sonne, seine überlange, spitze Nase, sagen wir besser Schnabel, ist noch betupft von den Resten der großen Krabbe, die er soeben gemordet hat, und aus seinem gefüllten Bauch quillt die Zufriedenheit zu seinem Vogelhirn empor und macht sich in schnatternden Tönen Luft, die zuweilen zu meinem Vornamen sich zusammenfügen …

„Olaf … Olaf … Olaf …[1]!“

„Du wirst hier an Herzverfettung eingehen“, warne ich ihn eindringlich und beobachte, wie die Sonne im Westen feurig rot und feurige Farbenzauber spendend im Ozean versinkt, ein Schauspiel, das mir stets neue Augenweide bietet und das [7] wechselvoller ist als die noch so fein ausgeklügelten Beleuchtungseffekte eines Bühnenmeisters.

Es ist dieselbe Sonne, die auch dort im Westen die Gefährten grüßt, mit denen ich wochenlang dem Geheimnis dieser Klippe nachspürte, bis wir die Tragödie eines Weibes, das für die Schuld des Gatten hier viele Jahre in Einsamkeit und Sehnsucht und Hoffnung verbrachte, bis auf den Grund ausgeschöpft hatten: Ein goldenes Gefäß, gefüllt mit Menschenleid, – – ein opfermütiges Frauenherz!

Es war der Lebensroman der Renate Redersen, es war zugleich der Weg der Einkehr für ein verwöhntes, etwas selbstherrliches Mädchenherz …

All das – ein Traum nur noch – liegt hinter mir.

Und droben in der Hütte auf der kleinen Südterrasse dieses Inselchens, um dessen zerklüftete Felsen draußen der Ring der Riffe einen steinernen Zaun gegen die rollenden Wogen bildet, liegt … er, der Erdfahle …

Wer ist der Mann?!

Ein Europäer, gewiß … – Ein Matrose, ein Passagier irgend eines gescheiterten Fahrzeuges? Niemals!

Der derbe Leinenanzug, den er anhatte, nur noch in Fetzen, ist kein Erzeugnis aus einem mir bekannten Stoff. Ich sage „Leinen“, weil der Stoff noch am meisten einer selbstgesponnenen Leinwand gleicht.

Es ist nicht Leinwand, es ist ein Gewebe aus mir unbekannten Fasern. Ich möchte fast behaupten, das Material sei irgend eine besonders präparierte Meeresalge.

Im übrigen hat der Fremde nichts bei sich [8] gehabt. Keine Schuhe, kein Unterzeug, nichts in den Taschen, nur …

Nur das, was ich nun wieder auf der flachen Hand halte: Eine goldene, etwas plump gearbeitete Kette mit einer Münze als Anhänger.

Münze?!

… Mr. Black hüpft auf meinen Schenkel. Black ist ein Dieb. Alles Blanke zieht ihn magnetisch an. Sogar Patronenhülsen sind nicht vor ihm sicher, von Teelöffeln gar nicht zu reden.

Black legt den Kopf noch schiefer.

Die Münze leuchtet im Abendrot, als ob sie glühte, und das scharf und künstlerisch modellierte Relief des Frauenkopfes auf der Vorderseite scheint wie von warmem Leben durchpulst.

Der Rabe Black hascht mit dem Schnabel nach der schönen Frau, – ich bin schneller, und enttäuscht und wütend wie ein genarrter Taschendieb flattert er davon und stolziert gravitätisch über den weißen, jetzt rosig angehauchten Sand und wippt mit dem gespreizten Fächerschwanz und schimpft krächzend: „Idiot … Idiot … Idiot!“

Mag er.

Der goldene Anhänger nimmt all meine Gedanken in Anspruch, denn auf der Rückseite lese ich nun, genau so sauber graviert, die rätselvolle Inschrift in lateinischen Lettern:


Auferweckt, Erdenschloß,
Lebensflucht, Menschenlos.
Ariane.


Nicht deutsche Verse, nicht englische, französische[2], – überhaupt keine der gebräuchlichsten Sprachen, vielmehr eine Mundart, die ich erst vor langen Jahren, den Verhältnissen Rechnung tragend, [9] erlernte und deren Wohllaut mich dann begeisterte: die Sprache jener indischen Zeitepoche, in der die Nationalepen Romayana und Mahabharata entstanden, Verherrlichungen jahrhundertelanger Heldenkämpfe, durch die jene bereits zum Mischvolk gewordenen Indogermanen ihre Herrschaft über ganz Mittelindien ausdehnten.

… Den Verhältnissen Rechnung tragend …! Ich hätte besser sagen sollen: Den Gitterstäben und den grauen Mauern und der Kerkertür!

Sträfling war ich damals, verbittert, zerfallen mit aller Welt, denn diese Welt hatte mich schuldlos hineingezwängt in eine etwa sechs Quadratmeter große Zelle und fühlte sich nachher um ihr Opfer betrogen, als ich in jener stürmischen dunklen Nacht auf einem Pfade, bestehend aus zwei Starkstromdrähten, wie durch ein Wunder entkam. Diese Welt war die der großen Irrtümer, des in Paragraphen eingezwängten Daseins stumpfer Herdentiere, die nichts ahnen von dem tollen, berauschendem Odem der wahren Freiheit inmitten der freien Natur und ihren tausendfachen Schönheiten.

Die Welt abseits vom Alltag ist die schmale, ungebahnte, unbegrenzte Straße, deren Pflaster aus Dornen, blühenden Blumenbeeten, spitzen Felsen, verschneiten Wildnissen, fieberschwangeren Dschungeln, backofenheißen Wüsten und grollenden, schaumgekrönten Meereswogen besteht, aus Hunger, Überfluß, Mühsal, beschaulicher Ruhe, aus Freundschaften, Feindschaften, aufrüttelnden Kämpfen und doch letzten Endes aus dem einen, wahrhaft großen: Aus dem Abenteuer abseits vom Alltag! – –

Black, der Rabe, hat soeben einen matten Fisch erwischt, ist jedoch ein wenig zu voreilig gewesen, der fast meterlange, silberglänzende Bursche, [10] dem er die Fänge in den Rücken schlug, tut ein paar letzte, kraftvolle Schwanzschläge, und Mister Black verschwindet bis zum Halse im Wasser, stößt einen schrillen Schrei aus, läßt die Beute fahren und flüchtet pudelnaß ans Ufer, schüttelt sich, daß die Tropfen im Abendrot wie Rubine umherfliegen, schaut mich grimmig an, reißt den Schnabel ganz weit auf, zeigt mir die fleischrote Zunge und macht mir so auf seine Art gründlich klar, daß mein herzliches Gelächter durchaus ungebührlich und unkameradschaftlich sei …

Bis ich, an scharfes Beobachten gewöhnt, endlich erkenne, daß Mr. Blacks schwarzer Kopf und grauschwarzer Schnabel und die schillernden Perläuglein nicht mir zugewandt sind, sondern …

Und dann springt es mir auch bereits in den Nacken mit einem heulenden Keifen, zwei Hände umkrallen meinen Hals, mit ungeheurer Wucht werde ich hintenübergerissen, schlage mit Rücken und Hinterkopf auf das harte Gestein, daß mir die Sinne halb entschwinden und nur mehr der Selbsterhaltungstrieb als stärkste, seelische Kraftquelle neben dem Triebe der Liebe mich rein automatisch zu blitzartiger Verteidigung übergehen läßt.

Mein Gegner, der Erdfahle, hat die Attacke schlecht berechnet, und mein Sturz reißt ihn selbst hernieder in das Geröll, sein junges, wildes, verzerrtes, mordgieriges Gesicht ist dicht über dem meinen, aus seinen vor Überanstrengung herabgezogenen Mundwinkel tropft der Geifer, seine Finger suchen – ich fühle es – nach der tödlichen Stelle, nach den Schlagadern, – – haben sie gefunden, … und meine Faust fährt empor, trifft sein Kinn, schleudert ihm das widerliche Haupt in den Nacken, – – und hat doch nicht mehr jene Wirkung, [11] die den Angreifer vollends abgeschüttelt haben würde, falls ich im Vollbesitz meiner gesunden Sinne und Muskeln gewesen wäre.

Der eherne Druck am Halse nimmt zu, in meinen Ohren braust das Blut, vor den Augen sprühen die Funkenregen als dräuendes Vorzeichen des schwindenden Bewußtseins, – – ein zweiter Hieb geht ins Leere, es wird Nacht um mich her, und ein allerletzter Gedanke rät mir, das vorzutäuschen, was noch nicht ganz vollendet.

Meine Arme sinken matt herab, meine Augen schließen sich, der Leib erschlafft, und nur in meinem Innern tobt noch der Kampf weiter gegen das finstere Untier, Ohnmacht und Hilflosigkeit genannt.

In wildem, wahnwitzigem Kreisen scheint mein Körper auf einer Drehscheibe zu liegen, die mit mir hinabsaust in die pechschwarzen Schlünde, der Wohnstätte des anderen Bruders des Todes: Der Bewußtlosigkeit.

Ich wehre mich gegen diese Macht, die mich vollends entmannen will, ich gebiete diesem Wirbel Einhalt und vereinige all das, was mir an innerer Kraft geblieben, auf dieses eine: Den Wirbel abzubremsen, die Drehscheibe zu zwingen, in anderer Richtung mich wieder emporzuführen zum milden Glanz des Abendrots, das meine Klippe zu einer herrlich schwimmenden Götterburg macht, zu jenem Göttersitze Odins, zu einem feenhaften Asgard.

Es scheint zu gelingen …

Es gelingt.

Aber mein Gegner, der längst die Hände von meinem Halse gelöst hat, bereitet mir eine andere Überraschung.

Mit allmählich wiederkehrenden klaren Sinnen spüre ich den schmerzhaften Druck um die [12] Handgelenke, und bevor noch der Gedanke, der Feind schnüre mir die Hände zusammen, sich aus dem halb blutleeren, fiebernden Hirn deutlich herausgeschält hat, ist das Werk bereits getan, der Erdfahle hat mir auch die Füße gebunden, und das Hochschnellen meines Oberkörpers und meinen bewußten Blick erwidert er nur mit einer so drohenden Geste, daß ich schleunigst darauf verzichte, mit meinem eigenen Jagdmesser nähere Bekanntschaft zu machen.

Ich sitze im Geröll, schwanke hin und her, fühle das immer erneut mich packende wilde Kreisen, und schaue mit umnebelten Augen dem seltsamen Treiben zu, das mein Feind, jetzt nur noch um die goldene Kette und die Münze sich mühend, wie ein fanatischer Gläubiger irgend einer tollen Sekte mit seinem güldenen Halsschmuck feierlich und hastig einleitet.

Von dem Stapel Wrackholz holt der Fremde ein trockenes, morsches Brett, zerschlägt es, schichtet das Holz zu einem sauberen Viereck auf, zündet es an mit einem meiner wenigen Schwefelhölzer, kniet nieder und wendet das Gesicht gen Osten, hält Kette und Münze über die Flammen und beginnt einen eintönigen Gesang, dessen immer wiederkehrende Melodie, kaum sechs, sieben Takte, an die Tempelgesänge der Derwische erinnern.

Sie bohrt sich ein in das Hirn, und die Verrenkungen des betenden, singenden, plärrenden Fremden wirken grotesk und erschreckend und steigern sich zu tollem Hin- und Herschleudern des Kopfes, des Oberleibes.

Das Holz qualmt, knistert, – – die goldene Kette hängt in leckenden Flammenzungen, und allmählich begreife ich, daß der Erdfahle hier nach [13] feststehendem Ritual die durch meine Berührung[3] unrein gewordene Frau auf der Vorderseite des Anhängers wieder säubert von den Spuren der Finger eines neugierigen, selbst unreinen Wesens, – und das bin ich.

Mein Hirn wird immer seltener von nur schwachen Schwindelanfällen gepackt, und ich beobachte diesen in Andacht vertieften Besessenen mit der kühlen Kritik, die diesem außergewöhnlichen Tun des Fremden gegenüber nicht versagt, – mit jener abwartenden Wißbegierde, die der eigenen Gefahr nicht achtet und niemals jener kläglichen Neugier gleicht, aus der auch Sensationshunger und lüsternes Lauern auf grobe Effekte geboren werden.

Mr. Black, dem der Ringkampf im Geröll nicht recht zugesagt hat, sitzt jetzt droben auf der flachen Kuppe des Inselchens zwischen den hohen Gurkenkakteen und den spärlichen Büschen und glaubt, daß er seinerseits genügend für seinen gefesselten Herrn einträte, wenn er den besessenen Andächtigen mit der Fülle seiner unschönsten seemännischen Kraftausdrücke kreischend belegt.

Des alten Mac Intock Chinesen haben Mister Black schlecht erzogen, und Ozeana, seine verflossene Herrin, hat für Mr. Blacks Unmanieren nur immer ein nachsichtiges Lächeln gehabt.

Ob Black begreift, was der Fremde treibt, bezweifele ich. Black ist klug. So klug doch wohl nicht, dieses merkwürdige Ritual vollends zu erfassen.

Inzwischen hat der Erdfahle ein paar seiner weichen, strähnigen, glatten schwarzen Haare sich ausgerissen und in die verlöschende Glut geworfen, [14] hat Kette und Münze rasch über den Kopf gestreift und starrt regungslos gen Osten – wie versteinert.

Der Geruch versengter Haut trifft meine Nase. Die Kette ist in den Flammen heiß geworden, aber der wunderliche Heilige dort spottet der Schmerzen, sein Gesicht zeigt einen weltentrückten, verzückten Ausdruck, und die dunklen Augen bekommen einen rührenden, innig flehenden, tiefen Glanz …

So, als erwarte der Fremde irgend ein Zeichen irgendwoher, daß ihm, dem Sünder, der die Kette unrein werden ließ, verziehen sei.

Seine Augen saugen sich fest an irgend einem Punkt des Horizonts, und die Starre seiner Gesichtsmuskeln verrät mir, daß dieses unheimliche Geschöpf in einen Zustand kataleptischen Schlafes verfallen ist.

Unwillkürlich recke ich mich höher und drehe den Kopf …

Blicke ebenfalls gen Osten, wo bereits das graue Dämmerlicht der nahenden Nacht über das Meer schleicht.

Und sehe etwas …

In endloser Ferne steigt ein weißer Stern wie eine Sternschnuppe, die den Luftkreis der Erde durcheilt und uns sichtbar wird, in flachem Bogen empor und sinkt wieder zurück in das Nichts.

In demselben Moment erwacht der Fremde, richtet sich auf, streicht mit der Hand über die schweißige Stirn und ergreift einen Fetzen seiner Jacke und reibt Kette und Münze mit zufriedenem Lächeln wieder blank.

Nur einen flüchtigen Blick schenkt er mir, hebt mein Jagdmesser auf, zerschlägt einige Bretter, setzt sich unweit von mir nieder und gräbt in [15] die Bretterstücke seltsame Zeichen ein. Die Arbeit geht ihm flink von der Hand, und ebenso flink trägt er die Bretterstücke in das kleine Boot, zieht es ins Wasser und rudert gen Osten, wo zwischen der äußeren Riffkette eine verderbliche Strömung, aufsteigend aus unbekannten Meeresschlünden, die Felsenpfeiler des Inselzaunes andauernd mit wütendem Gurgeln und Brodeln und schaumigen Blasen umquirlt.

Der Mann rudert ungeschickt, aber die Anzeichen der Gefahr kennt er, schleudert von weitem die Bretterstücke in die Strömung und … kehrt zurück.

Ich begreife auch jetzt den wahren Sinn seines Tuns: Er hat durch die mit Schriftzeichen versehenen Plankenstücke denen Botschaft gesandt, von denen ihn der tagelange Orkan getrennt hat, und er rechnet auf die Kraft und dem ihm bekannten Weg dieser Strömung, die, wie ich längst in den verflossenen Tagen erkundete, dorthin sich bewegen muß, wo der alte Mac Intock die Quelle des großen, gewaltigen, warmen und indigoblauen Golfstromes vermutet und er dieser seiner Theorie über die Entstehung der ungeheueren Wasserstraße, Golfstrom genannt, Jahre mühsamen Forschens gewidmet hat, unterstützt von Ozeanas Eltern, die hier auf der Robinsonklippe im gekenterten Wrack, das nun der Orkan entführte, gleichfalls ihre einsamen Tage der Reue durch diese geregelte Arbeit des Ablotens und Prüfens der Wärme der Meeresschichten nutzbringend verkürzten. – –

Heute, wo ich dies niederschreibe, ist es die zweite Nacht nach meinem Kampf gegen den Erdfahlen.

Ich bin wieder allein mit Mr. Black, der auf [16] meiner Schulter sitzt und den Kopf unter den Flügel gesteckt hat und mich zwingt, jede hastige Bewegung zu vermeiden.

Der Fremde ist auf und davon.

Ohne Abschied.

Aber eins habe ich durch ihn doch kennengelernt: Das Original jenes Frauenkopfes auf der Münze!

Ariane?!

… Ich habe nicht mit ihr gesprochen.

Sie kam, sie ging …

Und hinterließ in mir den heißen Wunsch nach einer Lösung all der dunklen Fragen, die den Erdfahlen und diese blonde Frau mit den verschlossenen, kalten, stolzen Zügen umgeisterte.

Umgeistern …

Wie einen spukhaften Traum …


2. Kapitel.
Der Mulatte Kosimo.

Der alte Bratapfel Chang Pi – sein Chinesengesicht ist verschrumpelt unter dem Gluthauch toller Piratenjahre, aber seine Schlitzaugen strahlen die Frische eines unversehrten Geistes aus – hört mir andächtig zu.

Pi ist von seines Herrn Mac Intock Strandhaus an der Lagune Santa Theresa herübergekommen mit einem Dampfer, der die Ladung des Wracks bergen sollte. Es gab nichts mehr zu bergen, und Pi hat diese Enttäuschung mit größter Gleichgültigkeit hingenommen, da die Geschichte des Erdfahlen ihn sofort aufhorchen ließ. Grüße hat [17] er mir bestellt vom Festlande, von all denen, die mit mir einst auf der Robinsonklippe vereint gewesen. Und jetzt sitzen wir beide und Mr. Black vor der Bretterhütte im Schatten des alten Segels, und der greise Chinese raucht wie ein Automat und seine Augen hängen an meinen redseligen Lippen. Ich bin froh, daß ich einem Manne von Pis[4] Erfahrungen meine Abenteuer berichten kann.

Mr. Black säubert sich die Federn mit dem Schnabel und bekundet wenig Teilnahme für diese geheimnisvolle Geschichte. Draußen vor den Riffen ankert der Dampfer, der noch heute ohne Pi und ohne sein größtes Rettungsboot wieder den Golf durchpflügen und heimkehren wird nach der kleinen mexikanischen Hafenstadt Zaporra an der Küste der gewaltigen Halbinsel Yucatan.

„… Der Fremde“, fahre ich mit demselben Eifer fort, „hat sich dann mir gegenüber außerordentlich höflich gezeigt, wenn er mir auch die Handfesseln nie abnahm und mich wie ein Kind fütterte und nie ein Wort mit mir sprach. Er tat so, als verstünde er kein einziges Wort der Sprachen, die ich beherrschte, und er ließ mich nicht einen Augenblick unbewacht, nachts band er mich in der Hütte fest, – es waren zwei ungemütliche Nächte, lieber Pi, und auf die Dauer hätte ich diese Art Gefangenschaft nicht ertragen.“

Der alte Bratapfel wirft fragend ein: „War der Mann mit modernen Feuerwaffen vertraut? Kannte er moderne Geräte und Instrumente?“

Ich wäre auch von selbst darauf zu sprechen gekommen.

„Nein, – er kannte nichts, alles betrachtete er mit verständnislosem Blick, besonders die Tiefseelote, die Tiefseethermometer und das große [18] Fernrohr, das Mac Intock mir überließ. Mit meinem Hartspirituskocher wußte er erst recht nicht Bescheid. Die Konserven rührte er nicht an, er angelte alle möglichen Fische, die er auf mannigfachste Art zubereitete, indem er als Würze gehackte Algen, Seetang und Stücke von Quallen benutzte. Dabei befleißigte er sich größter Sauberkeit. Bevor er die Teller und Töpfe, die er für sich benutzte, in Gebrauch nahm, säuberte er sie genau so gründlich wie den Leinenanzug, den er von mir entlieh. Er war tief religiös, und so sehr ich anfänglich seine Andachtsübungen belächelte, besonders den bewußten Hokuspokus mit dem Scheiterhaufen und den ausgerissenen Haaren, die er verbrannte – auch seine Teller und meinen Anzug räucherte er erst eine halbe Stunde lang aus und sang dazu seinen Choral, obwohl mein Anzug wirklich mückenfrei war, lieber Pi – nachher habe ich nie mehr gelächelt …“

Aber der Bratapfel verzog bei diesem billigen Witz, in dem die unbeliebte Kleiderlaus zartfühlend als Mücke bezeichnet war, nicht einmal die Mundwinkel, sondern warf mir einen Blick zu, der mich daran erinnern sollte, daß all diese Dinge kaum zum Scherzen geeignet seien.

„Der Mann ist ein Hindu, ein Brahmaverehrer“, erklärte Pi mit allem Nachdruck. „Wir werden später noch darüber reden …“

Mr. Black, der seinerseits alle Ursache hatte, sein Federkleid des öfteren der Vogelmilben wegen zu inspizieren, und der zunächst mit schiefem Kopf eifrig gelauscht zu haben schien, knarrte jetzt ein bösartiges-ironisches: „Idiot … Idiot!“ und füllte so die entstandene Pause mit einer Bemerkung aus, die als arge Zweifel an der Rassen- und Religionszugehörigkeit [19] des Erdfahlen mit der Goldkette gedeutet werden konnte.

Pi nahm davon insofern Notiz, als er Mister Black einen gelinden Hieb versetzte, worauf der Rabe krächzend seine Jagdgefilde aufsuchte.

Unsere Erörterung geriet nun nach einigen unwesentlichen Bemerkungen an jenen Punkt, den ich bisher vor Pi nur in dürftigen Andeutungen gestreift hatte.

„… Es war also in der zweiten Nacht kurz vor Tagesanbruch“, nahm ich den Faden wieder auf, „als ich aus dem halben Dahindämmern in meinen unbequemen Fesseln erwachte und – der Fremde schlief stets draußen im Freien – Stimmen hörte. Die Stimmen erstarben sofort zu hastigem Flüstern, und da ich daraus schloß, daß Landsleute den Erdfahlen abholen kämen, rollte ich mich schleunigst bis zur Tür und schaute hinaus. Die Nacht war gerade im Schwinden begriffen, das Meer, windstill und ohne Wogengeräusch, glich einer leicht bewegten Masse aus schmutzigem, flüssigem Blei, und der Vorplatz vor der Hütte zeigte mir sechs Gestalten, die dicht beieinander standen und meines Erdfahlen überstürzten Bericht mit nur wenig Zwischenfragen entgegennahmen. Sie waren – die fünf Ankömmlinge – genau so gekleidet wie mein Fremder, trugen jedoch Sandalen und breitkrempige Hüte und besaßen denselben krankhaften, erdigen Teint meines bisherigen Aufpassers[5]. Waffen hatten sie nicht bei sich, zwei von ihnen trugen lange, graue Bärte und waren offenbar sehr alt, wenn auch immerhin noch recht straff und kräftig. Mit einem Male näherte sich von Strande her eine neue Gestalt, von der ich infolge des ziemlich steilen Anstieges zur Terrasse zunächst nur den Kopf sah.“

[20] „Das war also die Frau“, half Pi etwas ungeduldig nach.

Er hatte Grund, mit meinem Tempo unzufrieden zu sein, jedoch gerade diese Episode hatte für mich längst den unnennbaren Reiz eines traumhaft-zarten, nur mir gehörigen Begebnisses angenommen, und es widerstrebte mir, mit nüchternen Worten vor diesem eisig-kühlen, unendlich schlauen Materialisten Chang Pi jenen feinen Reiz zu beeinträchtigen.

Pi schielte mich forschend aus den Augenwinkeln an. Erriet er meinen inneren Widerstand gegen die profane Zerstörung eines poetischen Zwischenspieles?

„… Also die Frau kam“, sagte er weniger dringlich als vorhin. „War auch sie so erdfahl wie die übrigen?“

„Nein …“ – Ich brauchte nur die Augen zu schließen, und das Bild der Fremden in dem grünen, engen und doch graziös-faltenreichen Gewande, das weder Kleid noch Umhang war, erstand vor mir so lebendig, als hätte ich es seit langer Zeit immer wieder geschaut.

„… Nein, sie war leicht gebräunt und trug den unbedeckten, blonden Kopf sehr stolz, fast herrisch. Von ihrer Erscheinung ging ein eigentümlicher Zauber aus …“

Pi, dieser alte Knabe, für den es einst lediglich die Romantik seiner Piratenjahre in den ostasiatischen Meeren gegeben hatte und der nunmehr hier in Mexiko ein sehr treuer, sehr zuverlässiger, aber bedauerlich nüchtern denkender Hausmeister seines Herrn Mac Intock geworden, erlaubte sich die Zwischenbemerkung, daß die Frau demnach wohl die Herrin des Erdfahlen gewesen.

[21] „Bestimmt“, pflichtete ich ihm bei. „Die sechs Leute traten sofort zur Seite, und ihre Gesichtszüge verrieten tiefste Ehrfurcht.“

Pi grinste jetzt.

„Also eine Schwindlerin, die irgendwie diese Inder ihrem Einfluß unterworfen hatte, Mr. Olaf. Man muß die Dinge beim rechten Namen nennen, diese ganze Geschichte bestätigt nur ein Gerücht, das seit vielen Jahren hier an den Küsten des Golfes und des Karibischen Meeres umgeht und von einer Niederlassung von Fremdlingen wissen will, die irgendwo im Verborgenen wohnen, wahrscheinlich auf einer der kleinen Inseln, die um die Westhälfte von Cuba verstreut liegen und unbewohnt sind. Wie diese Gerüchte entstanden sind, vermag ich nicht zu sagen. Ob etwas Wahres daran, habe ich bisher bezweifelt, jetzt zweifele ich nicht mehr. Wir werden der Sache genau nachgehen, Mr. Olaf, wie wir dies bereits vereinbart haben.“

Der alte Chinese stopfte seine verräucherte Pfeife von neuem und wartete auf die Fortsetzung meines Berichtes.

Ich hatte alle Lust dazu verloren. Pis[6] brutale Kritik an der fremden Frau, deren herbe Schönheit auf jeden, nur nicht auf ihn, Eindruck gemacht hätte, hatte mich verletzt. Anderseits waren mir seine überraschenden Mitteilungen über die bei der Küstenbevölkerung verbreiteten Gerüchte Anlaß genug, mein Abenteuer mit den Erdfahlen und ihrer Herrin aus dem Bereich des Traumhaft-Unwirklichen in die nächste Nähe gewissenhaft abwägenden Verstandes zu rücken und mich selbst frei zu machen von dem noch immer nachhaltigen Eindruck und Einfluß meiner kurzen Begegnung mit der grünen Göttin, – so hatte ich sie bereits für [22] mich selbst getauft. Mein Groll gegen Pi, der hier ohne Zweifel den einzig richtigen Standpunkt gegenüber diesen geheimnisvollen Vorgängen einnahm, verlor sich, und in knappen Worten schilderte ich das wenige, was noch zu erledigen war.

„Die Frau hatte mich in der Tür der Hütte bemerkt, betrachtete mich eine Weile sehr eingehend, wandte sich dann ihren Leuten zu, flüsterte ein paar Worte und stieg die Terrasse wieder hinab zum Strande, wo ein größeres Segelboot liegen mußte, – ich sah zwei Mastspitzen. Mein bisheriger Aufpasser trat zu mir, lockerte mir etwas die Fesseln, schlang mir ein Stück Segel um den Kopf, und als ich mich dann endlich befreit hatte, konnte ich nur noch in weiter Ferne den Kutter der Fremden bemerken, der gen Osten zu entschwand. Drei Stunden darauf trafen Sie mit dem Dampfer hier ein, Pi Chang, – – das wäre alles.“

„Nein, nicht alles“, meinte der Bratapfel brummig. „Ihre Gedanken, Mr. Olaf, müssen für das Nächstliegende blind geworden sein. – Wo sind die Tiefseelote, wo sind die Tiefseethermometer, wo die anderen Instrumente meines Herrn, mit denen er die Quelle des Golfstromes suchte – he?!“

Pis[7] freches „He“, mir nicht fremd, war hier wohlverdient.

„Haben Sie die Sachen vermißt, Pi?!“ Das war eine ziemlich lahme Redensart.

„Ja … Sehen Sie doch mal nach, Mr. Olaf, – alles ist weg! Ich fürchte, auch Ihre Notizen über Ihre Messungen und meines Herrn Aufzeichnungen, die er Ihnen zur Verfügung stellte, damit Sie seine Arbeit sachkundig fortsetzen könnten!“

Ich brauchte nicht nachzusehen. Wenn Pi [23] sagte „Ich fürchte“, dann wußte er es bereits ganz bestimmt. Er hatte vorhin genügend Zeit gehabt, als ich mich an Bord des Dampfers rudern ließ, damit ich das Ausladen all der Spenden selbst überwachen könnte, die mir meine Freunde vom Festlande in treuer Fürsorge mitgeschickt hatten.

„Also all die Sachen haben die Herrschaften mitgehen heißen“, erklärte ich verärgert, denn es paßte sehr wenig zu meiner bisherigen guten Meinung über die grüne Göttin, daß die Erdfahlen sich als heimliche Diebe entpuppt hatten.

„Gauner!“, sagte Pi feindselig. „Aber Gauner mit Bildung und besonderen Absichten, besonderen Gebräuchen und einer Art Fernverständigung, die auch die Funkentelegraphie übertrifft. Der Bursche, den Sie gerettet hatten, betet und singt und wartet auf ein Zeichen, – das Zeichen erfolgt, eine Rakete steigt auf, eine Sternschnuppe, – und dann wirft der Kerl seine Brettstücke ins Meer und rund achtundvierzig Stunden darauf erscheinen seine Brüder samt der blonden Frau und holen ihn ab, eine klare Sache, alles in allem, Mr. Olaf, wenn man das Wie und Woher außer acht läßt. Was wir nicht tun werden … – Schreiben Sie jetzt den Brief an Mr. Mac Intock, deuten Sie die Vorfälle hier jedoch nur an, denn man kann nicht wissen, in wessen Hände solch ein Schreiben gerät, und erwähnen Sie nur, ich würde Ihnen hier einige Zeit Gesellschaft leisten, Mac wird sich das übrige schon zusammenreimen … Kein Wort jedenfalls von unserer Absicht, der grünen Zauberin nachzuspüren. Ich müßte mich doch sehr wundern, wenn der Dampfer da draußen unbelästigt den Hafen Zaporra erreichte, – Sie verstehen mich: Die Frau verfügt wahrscheinlich noch über ganz andere Hilfsmittel, [24] ihre Geheimnisse zu hüten, als wir ahnen. Sie allein, Mr. Olaf, ließ man hier unbehelligt zurück, weil die Leute annahmen, Sie würden mit dem kleinen Boot niemals die Reise über den Golf wagen. Aber jetzt, wo der Dampfer hier erschien, werden die Erdfahlen sich beunruhigt fühlen, – – wie gesagt, fassen Sie den Brief sehr diplomatisch ab … Man kann nie wissen …“

Pi, einst Steuermann eines Freibeuters, der mehr aus Abenteuerlust sein Handwerk sehr erfolgreich, jedoch ebenso unblutig betrieben hatte, hatte sich leider wie die meisten dieser in reiferen Jahren dem übereifrigen Selbststudium ergebenen Menschen eine etwas geschraubte Redeweise zugelegt. Dieser Kulturlack eines selbstgefälligen falschen Pathos fiel sofort von ihm ab, wenn die Umstände den Chang Pi von einst wieder weckten. Ich hatte mit ihm so allerlei erlebt, und je dichter die Kugeln pfiffen, je brenzlicher eine Lage wurde, desto ursprünglicher wirkte dieser alte Herr mit dem würdigen Kinnbart und mit dem von Falten und Fältchen zerfurchten Gesicht. Als Gefährte auf gefährlichen Pfaden war er unbezahlbar, es gab nichts, das ihn aus der Ruhe brachte, und eine Messerspitze dicht vor seiner Kehle, die wie der Hals eines gerupften Huhnes ausschaute, nötigte ihm nur einen derben oder spöttischen Witz ab.

Seine Warnungen hinsichtlich der Abfassung des Briefes schlug ich daher auch keineswegs in den Wind, und als ich auch noch für Pater Menardus ein Schreiben abfaßte, für jenen tapferen Gottesstreiter und Gefährten vieler Monate, legte ich Menardus neben anderem auch die Sorge für unsere Maultiere warm ans Herz, die uns in der [25] Wildnis Yucatans so treffliche Dienste geleistet hatten.

Über der Fertigstellung dieser beiden Schreiben war es Mittag geworden, ein Boot des Dampfers „Caballero“ holte die Briefe an Bord, wir verabschiedeten uns von dem dunkelhäutigen Kapitän, die Sirene schrillte ihre letzten gellenden Schreie zu Mr. Blacks Entsetzen und Ärger durch die backofenheiße Luft, und schwerfällig gondelte der alte Kasten von Steamer unter mächtiger Rauchentwicklung gen Westen.

Pi und ich standen fernrohrbewaffnet oben auf der höchsten Spitze des Riffes, und der alte Pirat suchte mit dem scharfen Glase ununterbrochen den östlichen Horizont ab, als erwartete er von dort ein blitzschnelles, armiertes Fahrzeug der grünen Göttin der Erdfahlen auftauchen zu sehen, das dem „Caballero“ etwa eine Metallzigarre mit Dynamitkopf huldvollst anbieten würde.

Pi wurde enttäuscht.

Der Dampfer entschwand im Dunste des Horizontes, und von den Erdfahlen ließ sich nichts und niemand blicken, – ich witzelte über Pis übertriebenen Argwohn, und Mr. Black schien drunten am Strande soeben eine höchst wichtige, vielverheißende Entdeckung gemacht zu haben, denn er schrie wie am Spieße, schlug mit den Flügeln und gebärdete sich so närrisch, daß sogar Pi meine Scherze unerwidert[8] ließ und dann mit schnellen Sprüngen, die niemand seinen scheinbar morschen Knochen zugetraut hätte, hinabjagte und erst neben dem großen Boote halt machte, das uns der Dampfer hatte zurücklassen müssen.

Mr. Black stellte sein merkwürdiges Benehmen auch jetzt nicht ein, als ich nun hinter Pi bei dem [26] halb auf den Strand gezogenen Boote anlangte, auf dessen Bordwand Mr. Black mit aufgerissenem Schnabel nunmehr Kampfstellung gegen eine lässig hingeworfene Ölplane einnahm, unter der bei schärferem Hinsehen sich die Umrisse eines zusammengekauerten Menschen abzeichneten.

Pi hatte die Leinwand schon emporgerissen, und mit verlegenem Grinsen erhob sich vom Boden des Bootes der tiefbraune, kraushaarige Mulattenbengel, den der Kapitän des „Caballero“ letztens in Zaporra zu seiner persönlichen Bedienung angeworben und den er mir als „Sennor Kosimo“ mit dem Zusatz vorgestellt hatte: „Der eitelste und scheinheiligste junge Lump, der je die Küsten des Golfes unsicher machte, dabei anstellig und gewandt und wortkarg wie der Musterdiener eines englischen Lords.“

Dieser Kosimo strich verlegen seine schönen weißen, weiten Hosen glatt, zupfte an dem koketten blauen Jäckchen, fingerte an der Krawatte umher, warf mir aus dunklen Sammetaugen einen musterhaft angelernten flehenden Blick zu und sagte sehr offen:

„Kapitän mich prügeln zu viel, er sehr roh, Mr. Abelsen, er nur Gentleman, wenn Fremde dabei … Ich Diener sein, Mr. Abelsen, bitte …!“

Das „Bitte“ endete in einem doppelten Aufkreischen, denn Pi hatte bereits ein dickes Tauende geschwungen, und sowohl Black als auch Kosimo brachten sich schreiend in Sicherheit.

„Lassen Sie das!“, fuhr ich Pi etwas grob an. „Ohne Grund wird der halbwüchsige Bengel wohl kaum von dem Kapitän geflüchtet sein, der ohnedies auf zehn Meter nach schlechtem Schnaps stank.“

Kosimo war keine angenehme Vermehrung unserer [27] Expedition, denn zwischen ihm und Pi gab es mehr Zusammenstöße, als es der Eintracht auf dem Riff und nachher auf dem „Mac Intock“ dienlich gewesen wäre. Der braune Jüngling, der auch seine geringe Habe in einem Bündel in das Boot geschmuggelt hatte, respektierte den alten Pi sehr wenig und zeigte ihm bereits zwei Stunden drauf äußerst grimmig die tadellosen Zähne und die kleinen derben Fäuste und blieb nur mir gegenüber bescheiden, aber …, – doch das sind schließlich andere Geschichten, die sorgfältig verzeichnet werden müssen, weil sie mit die Erklärung für spätere Vorkommnisse[9] sind, die für Pi und für mich zunächst ganz undurchsichtig blieben. – –

Ich schreibe dies an Bord unseres Bootes, das wir „Mac Intock“ getauft haben, und ich habe noch so vieles in meinem Tagebuch nachzuholen, daß mir die einsame Nachtwache am Steuer fast allzu rasch vergeht.


3. Kapitel.
Die Aluminiumhülse.

„… Mag der Bengel sich nützlich machen und für das Mittagessen sorgen“, meinte Pi äußerst giftig, als das mißglückte Intermezzo mit dem Tauende vorüber und sich auch Mr. Black oben unter der Veranda der Hütte eingefunden hatte. Die Veranda bestand aus sechs Planken und einem alten Segel, das noch in einer Ecke die Herstellerfirma erkennen ließ: Johann Leeds, Bremen. – Das Segel war ein letztes Andenken an den Dreimaster „Weserland“, dessen Geschicke sehr innig mit denen der Familie seines Kapitäns verknüpft gewesen.

[28] Der Bengel Kosimo erklärte in seinem unmöglichen Küstenkauderwelsch, daß er ganz vorzüglich koche, eine Anmaßung, über die der alte Chinese mit einem gelinden Fußtritt quittierte. „Du und kochen!! Wird ein netter Fraß werden!! Wenn du dich aber etwa über die süßen Obstkonserven hermachst, kriegst du doch noch das Tauende zu schmecken.“

Kosimos Sammetaugen erlaubten sich von der Hüttentür her noch einen so unaussprechlich hochmütigen Blick auf Pi zu werfen, daß ich stutzig wurde. Das war nicht der unterwürfige, überschlanke Mulatte mehr, das war ein junger Mensch, der mit jenem fast unbegreiflichen Hochmut, der vielen Halbnegern eigen, gerade in dem Chinesen den Gipfel der Minderwertigkeit sieht. Zum Glück entging Pi dieser Blick, sonst wäre der erste ernsthafte Krach schon früher gekommen.

Während Pi und ich das Boot für die große Fahrt herrichteten, was immerhin einiges Kopfzerbrechen kostete, da wir das offene Boot am Bug und Heck mit einem gegen Wellenspritzer wasserdicht abschließenden Deck versehen wollten, hantierte der Wollkopf Kosimo droben in und vor der Hütte, eingehüllt in eine riesige Schürze, die selbst mir stets zu lang gewesen, mit Konservenbüchsen, Tiegeln und Tellern umher und pfiff dazu außergewöhnlich richtig und mit großem Schmelz die modernsten Schlager, die ich freilich nur auf Schallplatten in Mac Intocks schönem Lagunenheim genossen hatte.

Pi schlug die Nägel voller Wut ein und brüllte schließlich nach oben: „Hör mit dem Gedudel auf, Bengel, – die Fische werden scheu!“

Aber diesmal fand er nirgends Unterstützung, im Gegenteil, Black, der Rabe, der dem Konzert [29] aus nächster Nähe mit ganz schief gelegtem Kopf und mit behaglich verdrehten Augen gelauscht hatte, überschüttete den alten Bratapfel mit einer solchen Auslese von gröbsten Injurien, daß der Bengel Kosimo, dem die Rednertalente Blacks bis dahin unbekannt gewesen, in ein so herzerfrischendes melodisches Gelächter ausbrach, wie es die Hungerklippe bis dahin kaum vernommen haben dürfte. –

Ich bekam Pi noch rechtzeitig beim Handgelenk zu packen, sonst hätte Kosimos pralle Kehrseite, der sich soeben gebückt hatte, von einer handlichen, splitterreichen Holzkeule bei Pis tadelloser Wurfsicherheit Schaden genommen.

Eine Weile darauf brauchten wir ein frisches Paket Nägel, und Pi begann eilfertig die Terrasse zu erklimmen, in deren recht steiler Wand durch Verwitterung natürliche Stufen entstanden waren.

Ich hätte selbst gehen sollen.

Kaum war Pi in der Hütte verschwunden, als ich Kosimo schrill und heftig aufschreien hörte, – mit wenigen Sätzen war ich oben, kam noch gerade zur rechten Zeit, denn der Mulatte, einem kleinen Teufel gleichend, war drauf und dran, Herrn Chang Pi mit einer … Brennschere gründlich zu verprügeln.

Hatte mich schon vorhin der gewisse hochmütige Blick stark in Erstaunen gesetzt, so fand ich mich jetzt in dem Charakter Kosimos schon gar nicht mehr zurecht. Die milden Sammetaugen in dem für einen Mulatten geradezu auffallend wenig negroiden Gesicht flammten in so zügelloser Wildheit, die starken weißen Zähne blinkten unter den hochgezogenen Lippen so bedrohlich, daß selbst Pi, gewiß trotz seiner Jahre kein Schwächling, vor dem braunen Burschen mit der Brennschere behutsam zurückwich.

[30] Pi fluchte sofort in seinem überhasteten, und drum stets sehr urwüchsigen Englisch:

„Mr. Olaf, der Lümmel hat sich die Haare gebrannt!! Als ob er das noch nötig hätte!! Diesem eitlen Affen gab ich deshalb einen gelinden Jagdhieb, und …“

Kosimo ließ den erhobenen Arm sinken und sagte verbissen: „Es war eine sehr grobe Fausthieb in die Rippen, Mr. Abelsen … Alter Chinese ist wie Kapitän vom „Caballero“, nur nicht betrunken, – desto schlechter sein Benehmen, – weshalb Mißhandlung nur wegen Brennschere?!“

Die Kampfhähne wären vielleicht doch noch aneinander geraten, wenn nicht von draußen Blacks überlautes Krächzen mir warnend ins Ohr gedrungen sein würde …

… Ein Blick durch die Tür über die Riffe auf das Meer hin: Soeben jagte eine große Motorpinasse mit schwarzem Deck, kleinem Mittelaufbau und mehreren bewaffneten Farbigen in höchster Fahrt durch jene Lücke des Steinzaunes der Riffzacken, die durch das Wrack des „Weserland“ vor vielen Jahren an dieser Stelle glatt abgebrochen waren.

Über die unfreundlichen Absichten dieser Gäste konnte keinerlei Zweifel aufkommen, nachdem ich am Steuer der Pinasse einen der Erdfahlen wiedererkannt hatte, die meinen undankbaren Schiffbrüchigen in der verflossenen Nacht von hier abgeholt hatten.

„Pi – – die Büchse her!!“

Der einstige Pirat war sofort im Bilde, – die erste Kugel fuhr durch die Motorhaube, die zweite riß Splitter von dem Dach des Aufbaus, die dritte zwang einen der farbigen Angreifer zu [31] früher Kniebeuge, – auch Pi feuerte bereits, und zu meinem größten Erstaunen hatte auch Kosimo unter der sehr dekorativen roten Schärpe, die er als Westengürtel trug, eine jener langen Coldpistolen hervorgeholt, mit denen ein sicherer Schütze auf achtzig Meter glatt einen Mann umlegt.

Die Pinasse – wir lagen gut gedeckt hinter dem Geröll der Hütte – schwenkte schleunigst herum, aber es lag nicht in meiner Absicht, die Kerle entwischen zu lassen, ich wollte endlich darüber Aufschluß erhalten, wer diese Erdfahlen eigentlich seien, die jetzt sogar allerhand Mischlingsgesindel[10] zu ihren Verbündeten zählten und offenbar gehofft hatten, uns hier vollkommen überrumpeln zu können.

Unsere Kugeln richteten nichts mehr aus, – die Hoffnung, den Motor zu treffen, erwies sich als eitel, die Pinasse war aus Eisen gebaut, die Motorhaube wohl ebenfalls sehr dick, und dazu kam noch, daß der Feind nun mit mindestens fünfundzwanzig Knoten davon sauste und hinter den Riffen zunächst Schutz fand, um dann mit geschicktem Manöverieren unbeschädigt die offene See zu gewinnen.

Seltsam blieb, daß der Gegner nicht einen einzigen Schuß abgegeben hatte, während wir doch einem der dunkelhäutigen Gesellschaft den Oberschenkel arg geschrammt hatten.

„Eine Boje!“, rief Kosimo da plötzlich, als wir dem nach Osten enteilenden Fahrzeug noch mit recht gemischten Gefühlen nachschauten. „Eine Boje mit einer weißen Flagge, – – dort schwimmt sie!“

Der Bengel Kosimo hatte jetzt in Pis kritischen Augen doch ein wenig gewonnen, denn die überlegene Ruhe, mit der mein neuer Diener die Waffe [32] gehandhabt hatte, mußte sogar dem alten Bratapfel imponieren.

„So ganz unübel bist du doch nicht“, meinte Pi, schon wieder mit seiner unvermeidlichen Pfeife beschäftigt. „Aber von dem Blecheimer, der da draußen mit dem weißen Lappen innerhalb der Riffe treibt, laß nur deine feinen Fingerchen weg, du kleiner Kater! So, wie ich die Schufte beurteile, wird in der sogenannten Boje wohl kaum Marmelade liegen, sondern irgend ein höllischer Sprengstoff. Mr. Olaf, rudern wir beide mal hinaus …“

Es war tatsächlich ein mittelgroßer Marmeladeneimer mit einem festschließenden Deckel, und zwischen Deckel und Eimerrand hatte man noch Leinwand geklemmt, um die Geschichte gründlich abzudichten. Auf dem Deckel war ein Stab angebracht, an dem der weiße Fetzen flatterte.

Pi betrachtete die hin und her schaukelnde Boje äußerst mißtrauisch, bis sie sich so weit drehte, daß wir das bunte Papierschild des Eimers mit seinem Firmenaufdruck lesen konnten.

Pi fluchte. „Das ist ja eine Blechdose der Marmeladenfabrik in Merida …! Und der „Caballero“ hatte für die Besatzung dreißig solcher Eimer an Bord! Sollte etwa …?!“

Ich verstand ihn nur zu gut!

Trotzdem blieben wir vorsichtig, drückten unser Boot wieder bis auf dreißig Meter Entfernung von der verfänglichen Boje zurück und feuerten versuchsweise eine Kugel hindurch. Dann erst holten wir das Ding, öffneten den Deckel und fanden innen … meine beiden Briefe sowie zwei Zettel – der erste vom Kapitän des „Caballero“ lautete:

[33]

Ich wurde gezwungen, die Briefe herauszugeben. Im übrigen hat man uns nicht belästigt, nur genau ausgefragt, was Mr. Abelsen über den Schiffbrüchigen uns erzählt hätte. Da er uns hierüber[11] nichts mitgeteilt hat, wurden wir unbehelligt gelassen. – Gomez Pisisto, Kapitän.

Der zweite Zettel war von größerer Bedeutung.

Da stand in steilen, schmucklosen Buchstaben einer überaus energischen Frauenhand:

Jeder Versuch Ihrerseits, die Klippe zu verlassen und uns nachzuspüren, kostet Ihnen das Leben.
Ariane 3
Begum von Indra.

Der Bratapfel spie über Bord. „Das nennt man kurz und bündig, Mr. Olaf …! … Kostet Ihnen das Leben! – Abgemacht! – Aber wem es das Leben kostet, steht doch noch nicht völlig fest, wir sind jetzt unser drei, der Bengel Kosimo macht sich, dagegen ist nichts zu sagen, und die Frechheit werde ich ihm schon noch austreiben. Nachts segeln wir ab.“

Als wir vor die Hütte kamen, hatte Kosimo den Tisch so nett gedeckt, daß Pi seine Schlitzaugen unheimlich weit aufriß und den bescheiden in der Tür stehenden Mulatten argwöhnisch fragte:

„Sag mal, warst du etwa schon Steward auf einem anständigen Dampfer?!“

„Vielleicht – kann sein“, erwiderte[12] Kosimo und lud uns durch eine sehr liebenswürdige Handbewegung zum Platznehmen ein.

Es war das erste gemeinsame Mahl zu dreien, [34] nein, zu vieren, denn auch Mr. Black, von mir allzu verwöhnt, stolzierte auf dem Tische umher und suchte auf seine Rechnung zu kommen, bekam auch genügend fette Happen und bekundete seine Zufriedenheit durch einige sanft gekrächzte „Guter Black, braver Black …“ – Das Essen war auch wirklich vorzüglich, und Pi konnte nicht umhin, den braunen gelockten Jüngling vorsichtig zu loben.

„Du hast deine Sache leidlich gemacht, Kosimo … Mit der Zeit wirst du als Koch ganz brauchbar werden.“

Der Mulatte mit den prächtigen Zähnen, den gut geschnittenen Lippen, der schmalen Nase und den dunklen Sammetaugen bog den Kopf hochmütig zurück.

„An Ihrem Urteil mir nichts liegen, Mr. Pi, gar nichts … Black nicht schmatzen, aber Sie!!“

„Lümmel!!“

Und der Krach war bereits wieder da, der kurze Waffenstillstand war beendet, und seitdem kann Pi den Mulatten nicht riechen, obwohl Kosimo zuweilen wie ein Parfümerieladen duftet.

Ich nahm mir nach Tisch diese beiden Kampfhähne sehr ernstlich vor, erklärte Kosimo, daß Pi genau wie ich für ihn Respektsperson sei und daß schon der Altersunterschied ihn dazu bewegen müsse, den alten Chinesen nicht mit solcher Geringschätzung zu behandeln. – Was erwiderte mir der schlanke Mulatte?!

„Mr. Abelsen, ich nur kennen bisher Chinesen, – – alles Schufte! Ich nicht Schuft, ich ehrlich sein, ich ohne Eltern, ohne Geschwister immer gewesen und doch nicht Dieb geworden.“

So, wie der junge Bursche mir das mit trotzigem Selbstbewußtsein vorhielt, konnte ich nur nochmals [35] bitten, er sollte versuchen, mit Pi sich besser zu stellen, auch Pi sei ein anständiger Kerl und seit Jahren der Vertraute seines Herrn.

Kosimo tat das mit einem unmerklichen Achselzucken ab und widmete sich der Abwäsche des Geschirrs, pfiff seine Schlager, spielte mit Black, und es blieb alles beim alten, da auch Pi in manchen Dingen ein Eisenkopf war.

„Hätten Sie mich den Bengel nur gleich gründlich verwichsen lassen, dann …“

„… Dann hätten Sie von ihm Wichse bezogen, lieber Chang Pi“, korrigierte ich seine irrige Ansicht über das Kräfteverhältnis der Parteien. „Kosimo hat eiserne Muskeln, Pi, – vorhin sah ich, wie er das Wasserfaß oben von der Zisterne herabtrug, – das hätten Sie nicht geschafft.“

Worauf Pi mir den Rücken zukehrte und zum Strande hinabstieg.

Da war halt nix zu machen … Mochten die beiden sehen, wie sie miteinander fertig würden.

Etwas verärgert erklomm ich die Spitze der winzigen Insel und setzte mich mit dem Rücken nach der Sonne hin, blickte gen Osten über den leeren, blaugrünen Golf, auf dem auch nicht eine einzige Rauchfahne oder ein einziges Segel sichtbar war, und betrachtete den Zettel der Ariane 3, Begum von Indra.

Wir hatten bei der Mahlzeit über diese Unterschrift eifrig disputiert, ich hatte Pis und Kosimos Bildungslücke betreffs des Ausdrucks Begum leicht ausfüllen können: Begum war die Bezeichnung für „Fürstin“, war ein indisches Wort, und Ariane 3, Ariane die Dritte, Fürstin von Indra, war sicherlich kein Scherz der blonden, stolzen Frau.

Indra?! Ein Fürstentum Indra gab es nirgends. [36] Es hat nur einmal eine erfolgreiche Operette des deutschen Komponisten Paul Linke gegeben, „Im Reiche des Indra“, – Indra war ein Gott, war für die in das Fünfstämmeland, das Pandschab, eingebrochenen Indogermanen ursprünglich der oberste und alleinige Gott, bis er von Brahma und dem Brahmanismus mit seiner Lehre von der Seelenwanderung und dem strengen Brauche des Kastensystems fast völlig verdrängt wurde.

Ariane die Dritte?!

… Und mir fielen die Gerüchte ein, von denen Pi gesprochen von den Fremden; die irgendwo im Verborgenen hausen sollten …

Ich wußte es: Es war etwas Tatsächliches an diesen Gerüchten, es war hier irgendwo in dem riesigen Wasserbecken des Golfes von Mexiko oder im benachbarten, inselreichen Karibischen Meer sicherlich eine Niederlassung von Indern vorhanden, die sich von aller Welt fernhielten und die doch zu dieser Welt Beziehungen unterhielten.

Und dieses Geheimnis sollte mich, den alten Weltentramp, nicht reizen?! Gab es da nicht bereits übergenug Einzelheiten, die auf mich als stärkste Magnete wirkten, hatte ich nicht meinen Findling in stiller Verzückung auf ein Zeichen warten sehen, – – und das Zeichen war erschienen, und hinterher sie, die schlanke, blonde, stolze grüne Göttin, die mich so seltsam starr angeblickt hatte …

– Durch mein Denken ging ein Riß …

Unter mir in der Hütte Pis wütendes Gekeife, dann wieder ein Schrei von Kosimos schön geschwungenen Lippen, – – und als ich atemlos den armen Pi aus den würgenden Händen dieses kleinen Teufels von Mulatten befreit habe, lag zwischen [37] Pis Beinen jene von Black aus dem Wasser gefischte Aluminiumbüchse[13], in der ein Zettel gelegen hatte mit einer mir unleserlichen, unverständlichen Inschrift.

Die Büchse hatte ich in der Hütte hinter einem Herdstein versteckt gehabt und zuletzt nicht mehr beachtet.

Nun schien Kosimo sie gefunden zu haben, war von Pi beim Studium des Zettels überrascht worden.

Der Mulatte verteidigte sich mit keinem Wort vor mir wegen seines brutalen Angriffs auf den armen, braven Bratapfel, der noch immer am Boden hockte, seinen Hals befühlte und seine allerkräftigsten Piratenflüche zum besten gab, in die Mr. Black begeistert einstimmte, denn der Kampf hatte ihm sichtlich Freude gemacht, er tanzte hin und her, schlug mit den Flügeln und schien vollständig für Kosimo Partei zu nehmen, da er immer wieder den wütenden Pi mit „Idiot … großer Idiot“ in allen Tonarten belegte.

In Kosimos kleiner Faust steckte der heiß umstrittene Zettel, und als ich ihn zurückverlangte, fuhr der braune Wollkopf giftsprühend mich an:

„Mir das gehören, – mir!! Sein Nachricht von Freund von mir! Sie das doch nicht können lesen, Mr. Abelsen …“

Und dann faßte er unter sein Hemd, holte einen ledernen, flachen Beutel hervor und zeigte mir einen ähnlichen Zettel …

„Da, – Beweis genug?! Freund sein gefangen von indische Leute, Mr. Abelsen … Leute haben Bergwerk, – wo, nicht wissen …“

… So hörte ich zum ersten Male etwas von dem Bergwerk der Abgeschiedenen.


[38]
4. Kapitel.
Leslie Wodstons Verschwinden.

Kosimo hat uns dann die Zettel vorgelesen und uns dazu folgende Mitteilungen gemacht, an deren Wahrheit ich übrigens von vornherein stark zweifelte und noch heute zweifele, wo ich, am Steuer des Bootes sitzend, auf den Knien mit einem Brett als Unterlage eifrig schreibe und die halb verhüllte Laterne nur gerade mein Papier beleuchtet, denn – wir müssen überaus vorsichtig sein, die Erdfahlen, die Untertanen der Begum von Indra, haben uns bereits übel genug mitgespielt, und der bewußte Zettel der Fürstin war keine leere Drohung.

Doch – eins nach dem andern …

Kosimos Erzählung

Ich bin in der Stadt Coban im Staate Guatemala geboren, bei einem der häufigen Erdbeben kamen meine Eltern ums Leben, ich wurde in einer Mission erzogen, lief jedoch davon und habe mich als Knabe in Merida, der mexikanischen Stadt in Nordyucatan, mit Verkauf von Früchten, Zeitungen und Süßigkeiten durchgeschlagen.

Mit fünfzehn Jahren – wahrscheinlich bin ich heute achtzehn Jahre alt, obwohl weder Jahr noch Tag meiner Geburt feststehen – lernte ich in Merida einen jungen Engländer kennen, den Sohn des dortigen Konsuls, und Leslie Wodston verschaffte mir eine Stellung im Hause seines Vaters. So erlernte ich so ziemlich alles, was ein Diener wissen muß.

(Ich möchte hier einschalten, daß ich Kosimos [39] Erzählung mit meinen Worten wiedergebe, denn sein Patentenglisch ist so miserabel, daß ich mir nicht recht denken kann, er habe wirklich drei Jahre im Hause eines Engländers gelebt, wie er behauptet.)

Leslie Wodston war acht Jahre älter als ich und liebte Sport und Jagd über alles. Er besaß in Progreto, dem nächsten Hafen, eine Segeljacht, mit der er weite Kreuzfahrten unternahm, bei denen ich ihn wiederholt begleiten durfte.

So sehr er nun als Engländer englische Erzeugnisse bevorzugte, hatte er doch eine ausgesprochene Vorliebe für die deutsche Rasierseife „Kaloderma“, die in gefälligen Aluminiumhülsen zum Verkauf kommt.

(Die von Mr. Black herausgefischte Flaschenpost war eben eine solche Kalodermabüchse gewesen.)

Vor einem Jahr etwa beabsichtigte Leslie Wodston mit seiner Jacht „The Ghost“ nach Habana, dem nördlichen Haupthafen der Insel Cuba, zu segeln. An Bord befanden sich außer ihm noch sechs Mann Besatzung, alles Farbige, die er neuerdings angeworben hatte.

Leslie gilt seitdem als verschollen. Seine Jacht ist nie wieder gesehen worden.

Leslies Schicksal ging mir sehr nahe, denn er war nicht nur mein Wohltäter, sondern auch mein Freund gewesen. Ich verließ den Dienst im Hause seines Vaters, um auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Dieses mein Vorhaben mag auf den ersten Blick unsinnig erscheinen, denn vor mir hatten sich doch bereits die Behörden um die Aufklärung von Leslies Verschwinden bemüht, aber ich hatte vor ihnen etwas voraus, das viele Schwierigkeiten überbrücken kann und dem Suchenden die [40] Zähigkeit eines Fanatikers verleiht: Leslie war mein Freund, und ich suchte ihn mit dem Herzen, während die Behörden nur mit einem wenig populären Tier arbeiten: Mit dem Amtsschimmel, der immer hinkt!

(Kosimo drückte sich etwas anders aus, aber der Sinn war derselbe, und hiermit bewies der junge Mulatte, daß er auch über eine Art bissigen Humors verfügte, den ich persönlich für wertvoller erachte als den vielgerühmten blendenden Witz.)

Außerdem hatte ich noch etwas vor den Behörden voraus, und zwar eine Art Tagebuch Leslies über seine Kreuzfahrten, das er mir geschenkt hatte. In diesem Buche hatte er sich besonders mit den Meeresströmungen im Golf von Mexiko beschäftigt, und eigene Beobachtungen waren darin verzeichnet, die vielen, selbst Seeleuten und Gelehrten, unbekannt.

Unter anderem behauptete Leslie an einer Stelle, daß sich ein Arm des Golfstromes, dessen Entstehung immer noch nicht völlig geklärt ist, an der Westspitze von Kuba nach Westen durch den Yucatan-Kanal bis zur Nordspitze Yucatans entlang ziehe. So gering nun auch meine Schulbildung ist, sagte ich mir trotzdem, daß, falls die Jacht „The Ghost“ im Sturm gesunken sei, vielleicht Wrackstücke am Nordkap von Yucatan oder auf den vorgelagerten Inseln zu finden sein müßten.

Ich gelangte auch dorthin, und nach wochenlangem Suchen entdeckte ich auf dem Inselchen Catoche am Nordstrand zwischen Algen eine der bewußten Kalodermabüchsen aus Aluminium, öffnete die gut mit Fett abgedichtete Hülse und fand darin einen Zettel, der zu meiner übergroßen Freude mit jenen Geheimzeichen beschrieben war, die Leslie [41] mehr aus Spielerei ausgeklügelt und mir beigebracht hatte.

(Kosimos Erzählung, in so vielen Punkten bei näherer Prüfung höchst unglaubwürdig, erreichte mit dieser „Geheimschrift“ den Gipfel der Unwahrscheinlichkeit. Wenn schon die Freundschaft zwischen einem Mulattenjungen und einem reichen Engländer äußerst zweifelhaft erscheinen mußte, so war diese Behauptung Kosimos von einer Chiffreschrift, die Leslie ihn gelehrt habe, bestimmt eine grobe Lüge).

Ich konnte mithin den Zettel unschwer lesen, und sein Inhalt setzte mich in solche Bestürzung, daß ich stundenlang wie betäubt am Strande hockte und meine jagenden Gedanken zu klären suchte.

Der Inhalt lautete:

Ich, Leslie Wodston, Sohn des englischen Konsuls in Merida, Nordyucatan, habe mit meiner Jacht weit westlich von Habana im Golf von Mexiko Schiffbruch erlitten. Die Seekarten verzeichnen dort dicht über dem Wendekreis des Krebses eine Untiefe, die bei Ebbe in Gestalt von Riffelder sichtbar wird. Während eines heftigen Gewitterregens lief die Jacht auf die westlichen Riffe auf, zerschellte in der starken Brandung, und mir allein gelang es, an einem Wrackteil geklammert mich einen Tag über Wasser zu halten. Dann verlor ich das Bewußtsein. Ich fand mich nach langem Krankenlager in einer Höhle wieder, die als Kerker eingerichtet war. Erst nach einem Monat vermochte ich mein Krankenbett, bis dahin von einem völlig schweigsamen Manne bedient, zu verlassen und werde nun nach abermals einem Monat diese Hülse mitsamt dieser [42] Nachricht den Wogen überliefern. Einzelheiten will ich diesem Zettel nicht anvertrauen, da ich fürchte, die Leute, die mich streng bewachen und mich nur selten droben frische Luft genießen lassen, könnten den Zettel finden. Ich bitte den Finder dieser Hülse, meinen Freund Kosimo, einen Mulatten im Hause meines Vaters …

(An dieser Stelle stockte Kosimo beim Vorlesen so auffällig, daß ich bestimmt annehme, er hat hier den wahren Text geändert).

… zu benachrichtigen und die Reise bis Merida nicht zu scheuen. Meine Befreiung wird nur nachts bei Ebbe inmitten der flachen Riffe der Untiefe gelingen, wenn der Turm emporsteigt. – Ich schreibe dies mit Lampenruß und Speichel. Der Zettel ist gefüllt, vorläufig habe ich nicht mehr Papier als dieses. –
Leslie Wodston.

Nach langem Grübeln entschloß ich mich nun, zunächst ein Schiff zu suchen, das von einem Yucatan-Hafen bis in die Nähe der Untiefe fährt. Von einer Benachrichtigung des Vaters Leslies nahm ich Abstand, da dieser durch den Verlust des Sohnes schwer erkrankt war. Ich fand schließlich durch einen glücklichen Zufall in Zaporra den Dampfer „Caballero“, der, wie ich ermittelt hatte, eine einsame Klippe nordwestlich der Untiefe aufsuchen wollte.

Auf diese Weise bin ich hierher gelangt, Mr. Abelsen, und Sie kennen nun die Gründe, die mich bewogen, mich in dem Boot mit einem Bündel zu verbergen.

Welchen tiefen Eindruck es auf mich machte, als Sie mich in Ihr Vorhaben, die Erdfahlen zu [43] suchen, einweihten, und ich Ihr Abenteuer vernahm, können Sie sich leicht ausmalen. Ich war sofort überzeugt, daß die Erdfahlen es sein müßten, die Leslie gefangen hielten, und völlige Gewißheit erhielt ich dann durch die zweite Aluminiumhülse, die Pi mir entreißen wollte. Meine übergroße Erregung verführte mich zu dem brutalen Angriff auf Pi, und so sehr ich meine vorschnelle Gereiztheit auch bereue, habe ich dafür doch hinreichend Entschuldigungsgründe, deren Stichhaltigkeit Sie anerkennen werden, nachdem Sie nun meine Geschichte vernommen haben.

Der Inhalt des zweiten Zettels aber lautet:

„Ich, Leslie Wodston, Sohn des englischen Konsuls in Merida, Nordyucatan, werde in einer weitverzweigten Höhle nach meinem Schiffbruch mit meiner Jacht seit Monaten von geheimnisvollen Indern gefangen gehalten, die von einer Europäerin regiert werden, die sich Begum Ariane 3. nennt. Es ist mir bereits geglückt, eine der Hülsen mit einer Botschaft ins Meer zu werfen. Ich hoffe, daß es mir auch diesmal gelingen wird. – Zu meiner Befreiung sind sorgfältige Vorbereitungen nötig, die in aller Stille getroffen werden müssen, da die Begum Ariane, wie ich vermute, an vielen Hafenplätzen über Vertrauensleute verfügt, die ihr helfen, ihre Geheimnisse zu hüten. – Der Finder dieser Hülse soll sich an den Mulatten Kosimo im Hause meines Vaters wenden und wird eine hohe Belohnung erhalten.“

Auch an dieser Stelle hat Kosimo fraglos den Text geändert, wie ich merkte.

„Zu meiner Befreiung ist ein schnelles Schiff [44] nötig, das, gut bewaffnet und mit starken Motoren versehen, möglichst noch mit Apparaten zur Erzeugung künstlichen Nebels ausgerüstet sein muß. – Die Untiefe, in der das unterirdische Reich der Inder liegt, befindet sich nördlich des Wendekreises des Krebses etwa auf der Höhe der Stadt Habana auf Cuba und von dieser etwa sechshundert Kilometer entfernt im Golf von Mexiko. Sie ist auf jeder Seekarte verzeichnet und wird „die schlafenden Wale“ genannt, da die Riffe, nur bei Ebbe sichtbar, den Rücken von Walfischen gleichen. Inmitten dieser ausgedehnten niederen Riffe liegt der Zugang zu dem Höhlengebiet. – – Ich muß schließen. Meine Lampe erlischt. Ein Befreiungsversuch würde nur nachts Erfolg haben, nachdem ein Kutter die Riffe gründlich eingenebelt hat. Nur durch Überraschung ist das Reich der Ariane zu erstürmen. –
Leslie Wodston.

– Kosimo hatte sich derweil eine meiner Zigaretten, ein Geschenk des alten Mac, aus der Schachtel genommen, rieb nun ein Zündholz an, ohne daß Pi und ich seine Absichten ahnten und … verbrannte beide Zettel, bevor wir ihm noch in den Arm fallen konnten.

Ich war über diesen schlauen und hinterlistigen Streich derart ergrimmt, daß ich Kosimo beim Rockkragen packte und gehörig schüttelte. Der seltsame Blick, der mich dabei aus seinen Sammetaugen traf, brachte mich schnell zur Besinnung, und etwas verlegen gab ich ihn frei und gebot auch Pi zu schweigen, der Kosimo mit Verwünschungen überhäufte.

Kosimo setzte sich wieder, nachdem er seine [45] Kleidung in Ordnung gebracht hatte, und begann seine Zigarette zu rauchen. In sein junges, sympathisches Gesicht, das lediglich durch das unappetitliche, gekräuselte Wollhaar in seinem pikanten Reiz stark beeinträchtigt wurde, war ein harter Zug von Trotz, Auflehnung und hochmütiger Geringschätzung getreten, und in einem Tone, der diesem Ausdruck seiner Züge entsprach, sagte er zu Pi und mir, indem er Mr. Black streichelte, der auf seinen Schoß geflattert war:

„Sie sollten zufrieden sein, daß ich Ihnen so genaue Aufschlüsse über die Lage des Reiches der Begum Ariane geliefert habe. Statt dessen behandeln Sie mich roh und unvornehm.“

Mit einem Schlage hatte er das bisher so miserable Englisch in eine fließende Sprache verändert, und mit derselben Plötzlichkeit zeigte er sich uns von einer völlig neuen Seite.

„… Ich verbitte mir auch, daß Sie mich wie einen hergelaufenen Strolch mit dem geringschätzigen Du anreden. Ich bin kein Kind mehr, und meine Hautfarbe ist gewiß nicht schlechter als die Pis[14] und die eines Europäers, – ich bin ein Mensch wie Sie und fordere, meiner Bildung entsprechend behandelt zu werden.“

Des alten braven Bratapfels Gesicht bei diesen kühl und scharf hervorgestoßenen Sätzen war zum malen. Kosimos Ton glich so etwa dem Ozeana Mac Intocks oder besser Ozeana Redersens, die ja stets ihren Willen, auch bei wenig passenden Anlässen, als überverwöhntes Lagunenprinzeßchen durchgesetzt hatte.

Hier bei Kosimo freilich hatte dieser Ton doch noch eine andere Färbung, – es war nicht der eines [46] eigenwilligen, anmaßenden Jünglings, sondern eines Mannes, der genau wußte, was er wollte.

Pis[15] zahnstummelgeschmückter Mund blieb eine geraume Weile vor Staunen offen. Seine Schlitzaugen desgleichen. Dann wollte er lospoltern, aber der feste starre Blick Kosimos ließ ihn lediglich ein Hüsteln hervorbringen, das verzweifelt dem Krächzen Mr. Blacks glich.

Black stimmte denn auch freudig in diese Laute ein, und um Kosimos Lippen zuckte ein übermütiges Lächeln, das auch mich vollends bannte. Ich konnte nur, um den Schein von Autorität zu wahren, vielleicht zu höflich äußern:

„Kosimo hat ganz recht, er ist kein Kind mehr. Das „Du“ hört auf.“

Pi wollte sich nicht so schnell in diese veränderte Sachlage finden.

„Ja, – das Tauende, – – ich wußte es ja …“

Der Mulatte lachte ihm ins Gesicht.

„Das Tauende hätten Sie gekostet, Pi, nicht ich …“ Und er hob den Arm, und unter dem Jackenärmel strafften sich eiserne Muskeln.

Pi stieß nur noch einen Grunzton aus, der alles bedeuten konnte, und Mr. Black kreischte dreimal höhnisch sein Lieblingswort:

„Idiot … Idiot … großer Idiot!“


[47]
5. Kapitel.
Die Pinasse der Erdfahlen.

Unser Boot war fertig. Auch Kosimo hatte zuletzt bei der Arbeit geholfen und sich sehr anstellig gezeigt.

Unser Eifer, diese Vorbereitungen vor Dunkelwerden zu beenden, hatte allerdings einen gründlichen Dämpfer erfahren, denn nur gedankenlose Tollköpfe würden sich nach all dem, was wir nun über die Inder wußten, in dieses gefährliche Abenteuer ohne ernsteste Bedenken gestürzt haben.

Als der prächtige Sonnenuntergang eine sternenklare, für unser Vorhaben allzu helle Tropennacht verhieß, saß ich mit Kosimo droben auf der Klippe und suchte ihn auszufragen.

Meine Andeutungen, daß der Text der beiden Zettel doch wohl von ihm beim Vorlesen etwas verändert worden wäre, wollte er nicht verstehen.

Er blickte starr gen Osten, wo die „Schlafenden Wale“ Leslie Wodston gefangen hielten. In seinen dunklen, ausdrucksvollen Augen schimmerte eine tiefe Melancholie, und sein Antlitz glich einer Bronze antiker Herkunft, da das Abendrot auch seine Züge mit mildem Rosa streichelte.

Ich fühlte, daß diesen jungen Farbigen, zu dem mich bereits eine starke kameradschaftliche Neigung hinzog, allerlei tragische Geheimnisse umwitterten, und ich war enttäuscht, als er meine ehrlich gemeinte Freundschaft, die lediglich Offenheit forderte, so kalt zurückwies.

[48] Die Sonne hinter uns sank immer mehr.

Zwischen den Steinpfählen des Riffzaunes der Hungerklippe spielten ein paar Hammerhaie von gewaltiger Länge in der Brandung, einzelne Möwen und Albatrosse saßen als weiße Flecke auf den dunklen, spitzen Riffen, und von der Hütte her erklang Mr. Blacks gehässiges Schimpfen und Pis[16] lautes Fluchen, – wahrscheinlich hatte der Rabe wieder einen Teelöffel stibitzen wollen.

Unvermittelt kam Kosimo da auf meine[17] Wanderfahrten zu sprechen, über die er besser unterrichtet war, als ich es je vermutet hatte.

„… Ich kann es vollkommen begreifen, Mr. Abelsen“, sagte er mit einer gewissen stillen Melancholie, „daß Sie der Welt den Rücken gekehrt haben. Die Welt ist grundschlecht, jene Welt, die sich anmaßt, „Welt“ zu sein und doch nur ein Zerrbild dessen darstellt, was die Menschheit bei einigem guten Willen aus sich selbst machen könnte. Schamloser Eigennutz, schamlose Unterdrückung der wirtschaftlich Schwachen, Geldgier, Genußsucht und Verlogenheit zeichnen diese Kulturwelt aus. Die großen Vampire der Menschheit sitzen auf ihren goldenen Thronen, Betrüger, die selten zu fassen sind. Ich hasse das Gold und sein klägliches Wechselbalg, das Geld …!“

Und das letzte wurde mit einer Leidenschaft hervorgestoßen, die mich aufhorchen ließ.

Wie kam dieser junge Farbige, dessen scharfes Parfüm mich wie ein Hauch aus jener Welt der inneren Fäulnis und Zersetzung umwehte, zu solchen Anschauungen, die seinem geringen Lebensalter fremd sein mußten?!

Sprach aus ihm lediglich jener dumpfe Haß, [49] den alle farbigen Völker gegen die weißen Herren des Erdballes empfinden?!

Kosimo fügte beherrschter hinzu:

„Es mag Sie wundern, solche Dinge aus meinem noch so jungen Munde zu hören. Alles hat seine Ursache, seinen Grund. Mein Dasein ist vergiftet durch fremde Schuld, – ich darf nicht einmal sagen „fremde“, – leider nein, durch die Schuld eines jener Vampire, die mit ihren Geldsäcken die Erde regieren und hinter dieser goldenen Barrikade unangreifbar scheinen … scheinen!“

Mein Erstaunen wuchs.

Kosimo spürte meinen überraschten Blick und die seltsam harten Linien um seine Mundwinkel gruben sich noch tiefer.

„Ich weiß genug über Sie, Mr. Abelsen, – Sie werden mir helfen, Sie werden sich mit der ganzen Kraft Ihrer Persönlichkeit dafür einsetzen, daß Leslie befreit wird und daß Leslie und ich ein ungeheures Unrecht wieder gutmachen. Verlangen Sie jetzt keine näheren Aufschlüsse von mir, – niemand beschmutzt ohne Not das eigene Nest.“

Neue Rätsel erstanden vor mir.

Was sollten diese Andeutungen?!

Ich verstand sie nicht.

Was hatte Arianes Indra-Reich mit alledem zu tun?!

Eines war mir bereits klar geworden: Leslie Wodston war damals vor einem Jahr nicht nach Habana gesegelt, sondern hatte mit seiner Jacht den Schlupfwinkel der Erdfahlen gesucht. Einige Fragen, auf die Kosimo beharrlich geschwiegen, hatten mir diese Erkenntnis gebracht.

Neue Rätsel!

Aber – konnte ich denn je genug davon auf [50] meinen Pfaden abseits vom Alltag finden, lag nicht gerade darin der unnennbare Reiz dieses Vagabundentums, derartigen Geheimnissen nachzuspüren und denen Beistand zu leisten, die irgendwo hilflos vor den steilen Mauern dieser Geheimnisse, von deren Lösung ihr Seelenfrieden abhing, zurückschreckten?!

… Die Dämmerung kroch über den leeren Ozean.

Das Farbenspiel der Sonne verblich, dunkle Schatten schoben sich über das Meer, und die ersten Sterne blitzten auf und spiegelten sich verzerrt in dem unruhigen Wassergürtel um die einsame, weltferne Klippe. Eine Brise kräuselte die See, der Luftzug brachte Kühlung, und die erschlaffende Glut dieser Meeresbreiten milderte sich zu erquickender Frische.

Ich erhob mich.

„Wie wäre es mit einem Bad, Kosimo? Wenn Pi mit der Büchse aufpaßt, brauchen wir die Haie nicht zu fürchten.“

Er lehnte höflich ab. „Ich bin nicht in der Stimmung, Mr. Abelsen, ich bleibe hier.“

Merkwürdig: Gehört zum Baden Stimmung?!

Ich unterdrückte eine scherzhafte Bemerkung, denn Kosimos tiefernstes Gesicht mahnte mich, seine Empfindungen nicht zu verletzen.

Als ich Chang Pi bat, Wächter zu spielen, griff er schweigend nach der geladenen Büchse und stieg mit mir zum Strande hinab.

Ich entkleidete mich.

Pi stand auf einem Felsblock und Black suchte Krabben.

Plötzlich sagte der brave, verschrumpelte Bratapfel giftig:

[51] „Der Lümmel lügt wie gedruckt, Mr. Olaf. Ich habe mir alles genau überlegt, ich kenne Merida, – es gibt in Merida keinen Konsul namens Wodston, der englische Konsul heißt Ernest Gardener, ist sehr reich, sehr, und soll in England ein prächtiges Schloß besitzen und an der Börse viel spekulieren. Er war es, der der mexikanischen Regierung die letzte große Anleihe vermittelte. – Der krausköpfige Bengel verdient das Tauende, und wir beide würden ihm schon die Wahrheit locker machen, wenn er erst auf dem feisten Gesäß einige Striemen hätte, – – aber Sie sind zu weich, Sie werden schon sehen, wohin das führt, vielleicht teilen wir dieses Leslies Schicksal! Falls er Leslie heißt …“

Ihm antworten?!

Was?!

Daß Kosimo die Zettel entstellt vorgelesen hatte, wußte ich ja.

Was bedeutete schließlich ein Name?!

Ob Leslie oder nicht: Tatsache blieb, daß Ariane 3. einen Mann gefangen hielt. Ob er so oder so hieß, konnte nichts an meinen Entschlüssen ändern.

„Lassen Sie Kosimo in Ruhe, Pi!“, – und dann watete ich splitternackt ins Wasser und stieß dabei einen schrillen Jagdruf aus, eine Erinnerung an wellige Savannen und blanke Pferderücken und an meinen Bruder Coy Cala, den Unvergeßlichen.

„Hallo, Kosimo, wie wäre es?!“

Der Mulatte drehte nicht einmal den Kopf. –

Und dann kam die Nacht …

Wir schafften alles in das große Segelboot, was irgendwie hineinging, wir schraubten den Außenborder an, der zu dem Rettungsboot gehörte, [52] und waren startbereit, – Start zum ungewissen Abenteuer!

Nochmals erklomm ich die Klippe, auf der ich so lange mit Black gehaust hatte, auf der eine Mutter ihr Kind wiedergefunden hatte und eine finstere Schuld gesühnt worden war.

Abschied wollte ich nehmen – in aller Stille, denn ob ich je wieder diesen einsamen Felsen betreten würde, bezweifelte ich jetzt schon.

Mein Herz hing voller Liebe an dieser Klippe, an diesen spärlichen Kakteen und Büschen, an dem ganzen Bilde dieser unbekannten, winzigen Insel.

Ich hatte Black mit nach oben genommen, hielt ihm eine kleine Ansprache und bereitete ihn darauf vor, daß er nun allein hier zurückbleiben würde, bis auch seine Lebensuhr abgelaufen sei. Wir konnten ihn nicht mitnehmen, was sollte er auf dem engen Boot, das er uns nur immer wieder beschmutzt hätte! Die Trennung von ihm ging mir nahe, er war ein böser Egoist, aber er konnte auch zärtlich sein wie jetzt, wo er auf meiner Schulter saß und mich sanft in das Ohrläppchen zwickte, als wollte er mich küssen.

Kosimo hatte vorhin für ihn gebeten …

„Er soll nicht allein bleiben …“

Ich hatte ihm auseinandergesetzt, daß Mister Black hier auf der Klippe viel besser aufgehoben sei, und er hatte das schließlich eingesehen. –

Mit dem Fernrohr suchte ich das Meer ab, suchte nach der windschnellen Pinasse der Begum von Indra.

Der nächtliche Ozean schien leer zu sein.

Ich stieg hinab, und mit jedem Schritt nahm ich abermals Abschied von diesem Fleckchen Erde [53] von Stein, auf dem einer Menschentragödie letzter Akt in meiner Gegenwart versöhnend verklungen.

Als wir das große Boot flott machten und das kleine in Schlepptau nahmen, saß Mr. Black auf der Terrasse[18] und jagte Milben im eigenen Gefieder.

„Lebe wohl, Freund Black!!“

Der Wind füllte das Segel, und das Boot glitt davon, der südlichen Ausfahrt zu.

Plötzlich schien Black mit dem überfeinen Instinkt jener Tiere, die an menschliche Gesellschaft gewöhnt sind, sein Schicksal zu ahnen. Er hüpfte bis zum Terrassenrand, breitete die gestutzten Schwingen aus und schwang sich schwerfällig in die Lüfte.

Kosimo schrie leise auf, denn Black mußte mit seinem halben Gleitflug weit hinter uns im Wasser landen, wo die scheußlichen Hammerhaie ihre hellen, matt leuchtenden Leiber im wilden Spiel durch die Flut trieben.

Der Mulatte rief befehlend: „Wenden, Abelsen, – – wenden!“

Ich riß das Steuer herum. Black durfte so nicht sterben.

Und doch war es zu spät …

Wäre zu spät gewesen, wenn Kosimo nicht in voller Kleidung, zwischen den Zähnen mein langes Jagdmesser, in elegantem Hechtsprung über Bord geschossen und Black gepackt hätte.

Pi sah den Hai, – Pi feuerte rechtzeitig, und die Bestie verschwand.

Wir zogen Kosimo und den wütend schimpfenden Black ins Boot, worauf der Mulatte eiligst vorn in der Notkabine verschwand, die er für sich belegt hatte.

[54] Die nassen weißen Hosen, das nasse Hemd hatten sich ganz prall an seinen Körper geschmiegt, und erstaunt hatte ich das seltsame Ebenmaß dieser schlanken Glieder gemustert, die in ihrer behenden Kraft und in der Weichheit ihrer Linien kaum schöner sein konnten.

Pi hatte dafür keinen Blick, er grinste nur wieder bissig und knurrte feindselig:

„Waschlappen, der …!! Was schadet die Nässe schon bei der Wärme! Lächerlich, sich erst umziehen!“

Kosimo hatte den Öltuchvorhang der Vorschiffskammer eng verschlossen.

Unser Boot erreichte das offene Meer, neigte sich unter dem Winddruck und zog brausend und gurgelnd mit schäumendem Kielwasser seine Bahn gen Osten. Ich saß am Steuer, konnte an dem starken Mast des als Kutter getakelten Bootes vorüber einen großen Teil des Horizontes überblicken, der im ungewissen Dämmerlicht der Tropen wie eine ferne, milchige Wand emporzusteigen schien, über die, ohne scharfe Abgrenzung, das Firmament gestülpt war mit seinen ungezählten flimmernden Pünktchen.

In mir war alles schärfste Anspannung.

Ich rechnete mit keinem friedlichen Verlassen der Gewässer des Inselchens, wir hatten die Waffen bereitgelegt, und Pi kauerte vor mir auf der Hauptstütze des leicht gewölbten Ölleinwanddaches des Heckverschlages wie ein ausgeputzter alter Affe, der in den heimischen Wäldern Sumatras den lautlos durch die Baumkronen schleichenden Panther spürt und sich zusammenduckt zum blitzschnellen Absprung in den Nacken der schwarzen, geschmeidigen Katze, die auf dem schwankenden, schmalen [55] Ast dem tödlichen Biß in das Genick nicht entgehen kann.

Pis[19] Leinenkittel, nicht mehr ganz sauber, bauschte sich im Winde zuweilen zu hohem Buckel. Dann schien die Gestalt des ehemaligen Piraten noch winziger, und der ziemlich kahle Schädel mit den flatternden grauen Haarsträhnen, die zu einem Zopfe nicht mehr ausreichten, falls Pi nicht durch künstliche Mittel nachhalf, bildete mit diesem aufgeblähtem Buckel eine Linie, über die nur der matt schimmernde Lauf der Repetierbüchse hinausragte.

Wir warteten …

Irgend etwas mußte kommen …

Und es kam …

Wie ein Nebelfleck hatte es da vor uns auf den bescheidenen Wogen gelegen, deren Spritzer mit hohlem Klatschen auf das Vorderdeck fielen.

Ein so harmloser Fleck, daß selbst unsere Überwachsamkeit ihn nicht beachtet hatte.

Aus den grauen Schwaden schoß ein greller Strahl, tastete umher, fing uns ein wie eine breite, gierige Hand, die nach einem Fischlein hascht, – – und ein Knall zerriß die Stille, scharf, abgehackt …

Ich hatte das Mündungsfeuer aufblitzen sehen.

„Hinwerfen!“

Heulend sauste das Geschoß heran, – ein zweiter Knall, Sprengstücke, Poltern, Knistern, und der aus drei Teilen zusammengefügte Mast hing zur Hälfte über Bord, das Großsegel schleifte im Wasser, das Boot bekam schwere Schlagseite, und wenn der Motor nicht – ein Wunder! – sofort angesprungen wäre, hätten wir die Klippe nie mehr erreicht!

Wie ein Phantom aber, seine Form und Gestalt hinter Nebel verschleiernd, entschwand die [56] Pinasse der Begum von Indra, der Scheinwerfer war sofort wieder erloschen, und wir hatten die erste bittere Lehre erhalten, daß gegen das Verbot der Ariane 3. jegliche Auflehnung zwecklos.

Sogar Pi vergaß sein Repertoire an Kraftausdrücken, und lediglich Mr. Black schimpfte zweideutig sein geliebtes „Idiot – Idiot – großer Idiot“, das ich diesmal auf mich selbst bezog.

Wir landeten, Kosimo in trockenen Sachen half, und zu dreien bargen wir das Großsegel, die Maststücke und die zerfetzten Leinen.

Wir waren mit einem blauen Auge davongekommen, es hätte noch böser auslaufen können, und als wir uns zur Ruhe niederlegten, knurrte Chang Pi grimmig:

„Hat sich was mit Leslies Befreiung!! Begraben wir die schönen Pläne!“

Ich lag da und spann lockere Gedanken bereits zu festerem Entschluß.

„Wir werden die Pläne wieder ausgraben, Pi …! Der erste windstille Abend wird der Begum von Indra eine lange Nase drehen.“

„So?!“

Und ich entwickelte dem schlauen, zähen Alten meine listigen Gedanken …

Kosimo hielt droben auf der Klippe Wache. Um zwei Uhr morgens würde ich ihn ablösen.


[57]
6. Kapitel.
Flucht im Nebel.

Das Ausflicken des hohlen, eisernen Mastes hielt uns stundenlang auf, das Beseitigen der anderen Schäden währte bis zum Nachmittag. Ein verbitterter Trotz beflügelte unsere rührigen Hände, wir redeten nicht viel, wir hofften nur auf die Windstille, wir schauten so häufig über den leeren Ozean mit seinen weißen Wogenkämmen, als ob wir ihn anflehten, ein Einsehen zu haben und die frische Brise zu bannen.

Sie schlief ein.

Als die Sonne sank, wehte nur noch ein schwacher Luftzug gen Westen, und auch der war kaum mehr spürbar, nur der Qualm aus Pis[20] Pfeife zog träge zerflatternd mit gen Westen.

Die Dunkelheit war da.

Andere Arbeit begann.

Die Hütte, einst aus Schiffstrümmern mühselig gezimmert, wurde abgerissen, um den Scheiterhaufen des Vorratsholzes zu erhöhen. Obenauf und in die Mitte kamen nasse Bretter, absichtlich stundenlang am Strande durchweicht, dazu ganze Arme von feuchtem Seetang, Algen, faulendem Seegras …

Einsam stand nur noch der Eckpfeiler der einstigen Hütte, der halb zertrümmerte eiserne Geldschrank jenes gescheiterten Schiffes, das mich einst hier auf die Robinsonklippe getragen hatte, – unser Kugelfang von damals, als eine Bande mexikanischer [58] Banditen in die Hüttenwände mehr Luftlöcher blies, als uns lieb gewesen.

Die Nacht war schwül, wolkig und mit Elektrizität gesättigt. Irgendwo unterhalb des Horizonts im Westen gewitterte es, das fahle Leuchten zuckte über den düsteren Himmel, die Luft war schwer und heiß.

„Anzünden!“

Es war elf Uhr …

An drei Stellen züngelten die Flämmchen hoch, das mit Benzin übergossene Wrackholz puffte wütend, qualmte, aber die rote Lohe breitete sich rasch aus, und die Hitze unseres Scheiterhaufens schuf aus dem nassen, innen aufgehäuften Material eine schwere, gelbliche Qualmfahne, die sich träge über die See breitete.

Der Holzstoß, unser Ersatz für künstliche Einnebelung, bewährte sich.

„Abstoßen!“

Das Boot schoß in die dicken Rauchstreifen, der Motor schnurrte, und mit aller Vorsicht passierten wir, immer am Rande der Qualmfahne bleibend, die Riffe und steuerten diesmal gen Westen.

Wir husteten, unsere Augen tränten, die Lungen rangen nach reiner Luft, – – auch das mußte durchgehalten werden. Black hatten wir in eine Kiste gesteckt, er wäre in seinem Unverstand davongeflattert, er schrie jämmerlich, und ich bat den Mulatten, ihn zu beruhigen.

Wir stellten den Motor ab und griffen zu den Rudern. Wir schwammen in gelben Schwaden, in entsetzlichem Gestank, denn im Seetang und Seegras mochten unzählige Krabben, Quallen und [59] Krebse verborgen gewesen sein, sie erlitten den Feuertod, damit wir lebten.

Wir, Pi und ich, ruderten lautlos. Die Dollen waren gut geschmiert, nur Kosimos flüsternde Stimme drang aus dem Qualm, der uns nicht zwei Meter weit sehen ließ. Neben uns lehnten die entsicherten Büchsen, und wenn es zum äußersten kommen sollte, würden wir keine Patronen sparen – bestimmt nicht! Wir hatten das Recht auf unserer Seite, und die Begum von Indra sollte merken, daß hier im Boot zwei Kerle saßen, die selbst den Teufel am Schwanz gepackt hätten.

Unser Nebelapparat leistete übergenug, fast zu viel des Guten.

Meine Kehle ward zum Reibeisen, meine Augen mußten bereits rot wie die eines Säufers sein.

Wir blieben am Rande der Dunstschicht. In der Mitte wären wir erstickt.

Träge zog die lange dicke Qualmbahn über das Meer, und wir mit ihr …

Wie ein Gespensterboot …

Aber die Gespenster an Bord horchten und lauschten und ließen oft die langen Riemen ruhen und begehrten den Feind zu hören.

Hörten ihn auch …

Dreimal glitt es unsichtbar vorüber – nur ein übereiliges Schnurren und Pochen …

Die Pinasse suchte.

In den Augenblicken griffen wir zu den Büchsen, lauerten, fühlten den schnelleren Herzschlag …

Dreimal …

Dann begann das Gewitter, dann stürzten Gießbäche vom Himmel, heimtückische Böen fegten über das Meer, Blitze blendeten uns, unser künstlicher Nebel ward weggewischt, aber wir steuerten längst [60] gen Süden, und die Finsternis, der Donner und das Prasseln der Regenschnüre gönnten uns eilige Flucht.

Unser Motor sang sein hastiges Lied, unser Boot verlor sich in die Unendlichkeit des Golfes, und als nach zwei Stunden der nächtliche Himmel sich klärte, waren wir mit nordöstlichem Kurs außer aller Gefahr …

– Die anderen drei schlafen …

Ich schreibe bei halb verhüllter Laterne, und unser „Mac Intock“ fegt ruhig durch die Flut, und meine Aufzeichnungen sind vorläufig hiermit beendet.


7. Kapitel.
Am Rande der Zivilisation.

Eine Woche, sieben Tage, sieben Nächte, – eine Woche, für den Menschen auf dem breiten Saumpfade des Lebens nur ein geringer Zeitabschnitt, oft ein Nichts, zumeist nur dieselbe eintönige Alltagsarbeit, Alltagseinteilung, zerlegt in sechs Frontage mit der Hoffnung auf den freien Sonntag …

Eine Woche, sieben Tage, sieben Nächte, – für uns drei im „Mac Intock“ (Mr. Black mitgezählt) wie sieben Monate, sieben Monate Erlebens, Suchens, Nicht-Findens, und schließlich als Ende eine geringe Hoffnung, ein behutsames Schleichen über den Golf, ein Versteckspiel – – bis hierher, bis zu diesem kubanischen Hafennest, von dem die große Welt nichts weiß und wir nichts wußten …: Buena Vista!

[61] … „Zur schönen Aussicht“, könnte man es übersetzen, dieses Buena Vista!

Das wäre zu viel des Lobes für den Haufen von Steinhütten und Bambusbehausungen und für die wenigen modernen Bauten dicht am Strande der kleinen Bucht, wo die Zivilisation sich auf ein paar hundert Quadratmeter infolge amerikanischer Dollarhilfe protzig aufgetan hat, – ein Zerrbild von Kultur, der gröbste Schwindel, den je außer dem berüchtigten Potemkin, der die Kulissendörfer errichtete, der Dollar aus diesem blutgedüngten Boden von Cuba hervorgezaubert hat.

Sogar ein Hotel, drei Stockwerke, Terrasse, Jazzmusik, Bar mit Tanzvorführungen und infernalisch bunten Getränken (mit Alkohol), denn die Republik Cuba, dieses jämmerliche Gewächs von Amerikas Gnaden, ist noch nicht so modernisiert, daß es durch die Prohibition den Gaunern die neue prächtige Erwerbsquelle des Alkoholschmuggels geöffnet hätte.

Neben mir im Hotel „Union Jack“ wohnt Kosimo. Die Verbindungstür wird nachts nicht verriegelt, obwohl …

Und nur Mr. Black besitzt das Verfügungsrecht über beide Zimmer, auch nachts.

Elektrisches Licht?!

Keine Rede: Petroleum! – Wasserleitung ist vorhanden, gibt jedoch kein Wasser. Dafür ist der Duft auf den Korridoren auch gratis und erinnert an Bauernhöfe mit sorgfältig gepflegtem Düngerhaufen. Immerhin: Ich sitze an einem regelrechten Schreibtisch, vor mir ein schönes Tintenfaß (künstlicher Marmor), links die Petroleumlampe …

Ich lebe seit drei Tagen am Rande der Zivilisation, Gott Lob nur am Rande.

[62] Dieses Buena Vista gefällt mir trotzdem. Die echt spanische Tänzerin unten in der Bar, um die sich alle Kavaliere aller Hautfarben eifrigst bemühen, erwartet mich … Um ein Uhr ist sie frei, und dann …

O Dolores, wenn du ahntest!

Du ahnst nichts, obwohl wir hier doch auf Cuba weilen, und Cuba nun mal die Insel der Geheimbünde, der finsteren Verschwörer und der grausamen Bandenkriege ist. –

Dolores Santillo wäre schön, wenn sie nicht so verschwenderisch Schminke, Puder, Lippen- und Augenbrauenstift gebrauchte.

Sie sieht stets wie eine Palette in Rot, Rosa, Weiß und Schwarz aus.

Daß sie auf zehn Meter nach Parfüm duftet, verarge ich ihr infolge des Defekts der Wasserleitung nicht. – Es ist unbequem, stets einen Eimer Wasser dorthin mitzuschleppen, wo das Wasser eigentlich nach dem bekannten ziehenden Griff an der Porzellanspindel von selbst Brandungsgeräusch vortäuschen sollte.

– Dolores Santillo (ich habe noch eine Weile Zeit) ist, um es kurz zu sagen, so gewiß eine Agentin der Begum Ariane 3., wie ich zur Zeit ein Gentleman in Weißleinen mit seidenem Hemd, weichem Kragen und Kravatte bin.

Es lohnt kaum mehr (nur noch fünf Minuten), unsere kläglich gescheiterten Versuche, das Bergwerk der Abgeschiedenen zu finden, hier jetzt schon zu schildern.

Ich will mich vorläufig damit begnügen, wie wir nach Buena Vista gelangten.

Als all unsere schlauen, heimlichen Bemühungen, inmitten der „Schlafenden Wale“ den Zugang [63] zum Reiche Indra zu entdecken, ohne Erfolg geblieben, bescherte uns der Zufall ein Schauspiel, das etwa dem geglichen haben muß, das die Robinsonklippe mit ihrem qualmenden Scheiterhaufen dargestellt haben mußte.

Nebel stieg nachts auf, künstlicher Nebel, und im Schutz dieser Wolken wurde der kleine Motorschoner beladen, der dann gen Buena Vista schaukelte …

Und damals entschloß ich mich, das Problem von einer anderen Seite anzupacken. Wir folgten dem Schoner, wir landeten an einsamer Küstenstelle, und Kosimo und ich erschienen in Buena Vista als harmlose Touristen, als Herr und Diener, kauften das Nötige in Samuel Packersons Universalmagazin ein (zugleich Pfandleihe, Bank und Opiumhöhle), nachdem Mr. Packerson mir für den einen Smaragd, den ich als Andenken an König Tutul Xius versunkene Stadt im Brustbeutel bei mir getragen, ganze dreihundert Dollar bezahlt und tiefstes Stillschweigen gelobt hatte. Von den dreihundert schmierigen Lappen nahm er mir nachher wieder hundert für Koffer, Wäsche, Anzüge ab, und so hielten Kosimo und ich frisch herausstaffiert unseren Einzug in den duftenden „Union Jack“, wo ich schon am ersten Abend in dem einen kaffeebraunen Gentleman den Kapitän des bewußten Motorschoners und in seiner Tischgenossin die echte spanische Tänzerin Dolores wiedererkannte und mit den Allüren eines gewiegten Hochstaplers beider Freundschaft gewann, was mich wieder fünfzig Dollar kostete …

Immerhin …

Die Anknüpfung trauterer Beziehungen war geglückt, und meine Hoffnung, auf diesem Wege [64] dem Geheimnis der Begum Ariane näherzukommen, steigerte sich, da Sennora Dolores rasch in mir ein brauchbares Werkzeug zu wittern begann und Liebe auf den ersten Blick vortäuschte – in allen Ehren!

– Es wird Zeit, Dolores aus der Bar abzuholen und meine Pistole entsichert in die innere Brusttasche zu stecken und das Messer unter den Westengürtel griffbereit zu verbergen. Die Kavaliere am Rande der Zivilisation gleichen noch etwas sehr jenen schießwütigen Cowboys aus veralteten Texasgeschichten. – –

– Als ich mich vom Schreibtisch erhebe, öffnet sich die Verbindungstür drei Finger breit, und Kosimos melodische Stimme flüstert aus dem Dunkel:

„Olaf, seien Sie nur recht vorsichtig! Ich werde kein Auge schließen, bis Sie wieder zurück sind …“

Eine schmale Hand drückt warm die meine, und Mr. Black krächzt leise und verschlafen aus der Richtung von Kosimos Bett ein paar unschöne Injurien.

Unten in der Bar quäkt ein Saxophon, heult eine Flöte, trillert ein gequältes, verstimmtes Klavier, rasselt ein Schlagzeug, winselt eine Geige, und die Luft ist reif zur Verschickung in Tabaksqualmwürfeln.

Dolores verbreitet auf der Bühne die letzte Dosis Kultur, zeigt schlanke Beine, zeigt oben spärlichste Bedeckung in Flittergold, wirft den Kopf wie ein heulender Derwisch in den Nacken, läßt die schwarzen Haare fliegen, klappert mit Kastagnetten und erntet brüllenden Beifall der Vollneger, Halbneger, Kreolen, sonstigen Mischlinge und der drei Europäer …

Die Musik bricht jäh ab, und nach kurzer [65] Pause erscheint auf der Bühne ein echt chinesischer Zauberer …

Hier ist alles echt …

In diesem[21] Völkermischmasch findet man jede Rasse, jede Rassenverwahrlosung, jedes Laster, – und als Zugabe die noch immer bestehenden Geheimgesellschaften mit politischen Zielen und skrupellosesten Methoden, einen Gegner verschwinden zu lassen. Keine Insel, glaube ich, sah so viel Grausamkeit, Mordgier, Schachergeist, Abenteurer und oberfaule Volksbeglücker wie diese einst spanische Kolonie.

Dolores zieht mich sofort in die Vorhalle, hat nur einem leichten Seidenumhang umgeworfen und schlendert mit mir zum Hafen hinab …

Die Bö, die die Bucht entlangstreicht, bringt etwas Kühlung, die gut gehaltene Promenade führt an den neuen Bauten amerikanischer Firmen vorüber, und endet schließlich … an der Grenze des Urwaldes, der die Anhöhen dicht und hochragend bedeckt.

Dolores hat sich in meinen Arm gehängt, Dolores forscht mich vorsichtig nochmals aus …

Mein Märchen ist längst fertig …

Mich braucht man nur zu fragen, um eine Antwort bin ich nie verlegen. Ich darf getrost lügen, denn meine Phantasien haben festen Boden eigenen Erlebens.

„… Die Polizei in Südwestkanada ist so kleinlich, Dolores … Eine Kugel, ein Toter, – – eine fehlende Geldsumme, – – lächerlich …“

„Und Ihr Diener, Amigo?“

„Den habe ich in Habana aufgelesen … Habana gefiel mir nicht … Zu viel Polizei. Ich [66] fand Passage auf einem Tabakfrachter, – – und hier bin ich …“

Die Tänzerin lachte gurrend.

„Wollen Sie viel Geld verdienen?“

„Immer! Aber möglichst ohne Blut, Dolores. Vorläufig möchte ich brav bleiben.“

Ein umgekipptes Boot am Strande wird unsere Ruhebank. Der Mond steht schräg über uns, die Bucht glitzert, der Urwald duftet, und fernher erklingt ein Schifferklavier und gröhlender Gesang und Zupfgeigenklänge.

Die Tänzerin hat das eine Knie hochgezogen, die Hände darunter verschlungen und überlegt.

„Heißen Sie wirklich Karlsen?“, überfällt sie mich.

„Nein, keine Spur …“

Ich passe mich dem Rande der Zivilisation an und lasse die Hochstaplerallüren fallen.

„Was beabsichtigen Sie eigentlich mit mir, Dolores?!“ In meiner Hand blinkte plötzlich die Pistole. „Ich schieße zu sicher, um mich etwa hier von einem Ihrer Freunde ausplündern zu lassen, meine Ohren sind die eines Jaguars, und meine Augen die eines Katers … – Also?!“

Sie schielt aus den Augenwinkeln nach der Waffe.

„Würden Sie …“ – sie zaudert – „würden Sie einen ganz großen Schlag wagen, Karlsen?“

„Hm … Große Schläge ohne Knallerei sind kaum möglich … Trotzdem, wenn es sich wirklich lohnt …“

„Es lohnt …“ Sie gerät in Eifer … „Ich habe es satt, mich mit Brocken abspeisen zu lassen! Sie sind auch als Seemann bewandert, – – ich brauche einen Chef für eine Expedition, die …“

[67] … Ich halte den Atem an. Ich beginne zu ahnen.

„… Expedition, die Millionen verheißt …!!“ Sie keucht vor Erregung. „Millionen, Karlsen, – Gold, Goldbarren … – Wollen Sie?!“

Ich nehme eine Zigarette. „Hm, einen Anführer für eine Banditenbande brauchen Sie also, – reden Sie ohne jede Beschönigung. Und wo liegen die Goldbarren? Auf dem Monde?!“

Die Tänzerin springt auf, legt mir die Hände auf die Schultern. „Karlsen, geloben Sie mir Verschwiegenheit? Geben Sie mir Ihr Wort, daß, falls Sie nicht einwilligen, mich nicht verraten werden.“ Sie beugt sich zu mir herab. „Ich würde niemals von diesen Dingen zu Ihnen sprechen, wenn Sie nicht auf mich Eindruck gemacht hätten, – Sie können kein Bankräuber gewöhnlichen Schlages sein, Sie sind ein Abenteurer großen Stils, das merkte ich sofort, und den brauche ich!“

Ich blinzelte sie belustigt an. „Ob mein Stil groß oder klein ist, – – Eigenlob duftet wie das Hotel „Union Jack“ … – Gut denn, mein Wort, daß ich nichts verrate, falls ich nicht bereits … unterrichtet bin …“

Ihre Hände sinken. Der Schreck macht sie starr. „Was … wissen Sie?!“

„Vieles, Dolores … Ob gerade das, was Sie planen, – – warten wir ab. Ich breche nie ein Versprechen, auch ein Abenteurer hat seine Ehre. Also – – heraus mit der Sprache …“

Hinter uns im Urwald knistern die Wedel gewaltiger Königspalmen, duften harzreiche Kiefern, die auf diesem Inselreich bis in das Flachland sich ausbreiten, strahlen Nelkenpfeffersträucher ihre scharfen, aromatischen Düfte aus …

[68] Dolores’ Hand sucht die meine, und dann sagt sie schwer atmend:

„Haben Sie je von den „Schlafenden Walen“ gehört?“

Mein Herz tut ein paar schnellere Schläge.

„Ach – – die Riffe im Golf drüben, was ist es damit?!“

… Ich befinde mich am Rande der Zivilisation, und Heuchelei und Komödie und Habgier strecken schon ihre verführerischen Krallen nach mir aus …

Wie schön, wie wunderbar schön und rein war es doch auf der Robinsonklippe, wie herrlich waren die Sonnenuntergänge, und wie köstlich waren die Stunden mit Mr. Black, wenn ich mit ihm philosophierte und ihm seinen öden Materialismus vorhielt …!

Hier?!

Das nackte, gepuderte Fleisch der Tänzerin schimmert und lockt, ihre Hand preßt meine braunen Finger …

„Karlsen, hörten Sie nie von den Indern, die dort hausen sollen?“ Ihre Stimme vibriert, ihr Blut kocht in den Adern – ich fühle es.

„Dort, – – wo?!“ Ich gähne …

„Sie machen mich toll mit Ihrer eisigen Gleichgültigkeit!“, bricht es aus ihr hervor wie ein glühender Strom. „Gold haben diese Inder, unendliche Mengen Gold, und …“

„Schatzgeschichten, Dolores, sind für zehnjährige Knaben …“

Sie packt wieder meine Schultern, rüttelt mich … „Ist so etwas möglich!! Kann denn nichts Sie aus der Ruhe bringen, nicht Millionen, nicht …“

[69] „Erst sehen, Dolores! Erst sehen …! In den Banktresoren Newyorks lagern Milliarden, in der Bank von Frankreich desgleichen, – – ich bin noch nie in Versuchung geraten, mir an Unmöglichem die Zähne auszubeißen!“

Theater …! – Allerdings habe ich nie daran gedacht, mich auf dem Gebiete zu versuchen, meine Weste ist rein, was man mir vorwerfen kann, ist lediglich die Flucht aus einem verwanzten Gefängnis, in das man mich durch den gewissenlosen Meineid eines undankbaren Weibes geschleppt hatte.

Theater …! Das mir widerwärtig ist. Aber in Augenblicken wie jetzt, wo sich der bessere Teil meines Ichs voller Abscheu auflehnt gegen eine solche traurige Komödie mit diesem geschminkten Weibsbild, das offenbar nichts anderes plant, als die Begum von Indra zu verraten und ihr zweifellos geringes Wissen über die Erdfahlen zu einem großangelegten Schurkenstreich zu verwerten – an die geringe Bezahlung ihrer Agentendienste glaube ich niemals! –, erhebt sich vor mir wie ein Phantom meines Dieners Kosimo seltsam edel geschnittenes Mulattengesicht, und ich wähne jene Worte zu hören, die in einem der merkwürdigsten Augenblicke unserer ergebnislosen Kreuzfahrt über die schön geschwungenen Lippen kamen: „Olaf, – es geht um Leslie!! Es geht um meinen Seelenfrieden!“

Der Widerwille erlischt, – letzten Endes, tröste ich mich, ist auch dies nur ein Seitenpfad der Wege abseits vom Alltag, und daß dieser Pfad mir Dolores Santillo zuführte, mag Fatum, Bestimmung sein.

Der Widerwille erlischt, und der Abelsen, der nie unterzukriegen, fühlt wieder den berauschenden [70] Reiz der dunklen Geheimnisse und hört das Raunen in der eigenen Brust, das von Pflichten gegenüber Kosimo flüstert, der jetzt sogar des alten, klugen Bratapfels vollste Sympathie errungen, von Mr. Black schon ganz abgesehen, denn der schlaue Bursche hatte ja von Anfang an den feinen Riecher gehabt und sich nicht narren lassen durch Farbe und Brennschere und die Scheu, nackten badenden Männern zuzuschauen.

Die Tänzerin hat sich scheinbar zu einem endgültigen Entschluß aufgerafft.

Ihr gefährliches Temperament[22] macht ihre Stimme seltsam heiser und ihre Augen noch glitzernder.

„Kommen Sie, Karlsen … Sie sollen sehen. Selbst sehen. Und wenn auch diese Ladung wieder nach Progreso, dem Hafenplatz Nordyucatans unweit Merida geht …“

… Ich starre sie an … Merida?! – Meine Gedanken bringen blitzschnell Dinge in Verbindung, die bisher durch unüberbrückbare Klüfte getrennt schienen.

„Für wen?“, falle ich ein. „Mit halben Andeutungen lasse ich mich nicht fangen, Dolores, entweder alles oder gar nichts!“

„Die Ladung …“ – sie zögert, und ein Schimmer von Angst fliegt über die verschminkten Züge – „… die Ladung ist für Ernest Gardener in Merida bestimmt, der sie dann freilich weiterleitet, wohin, das weiß ich nicht …“

Ein Funke von Erinnerung glüht in meinem Hirn auf.

Gardener?! Das ist der Name des englischen Konsuls in Merida … Pi kennt den reichen Gardener, Pi hat mir bissig auf der Klippe erklärt: [71] „Der Lümmel lügt … Der Konsul heißt Gardener, nicht Wodston, und daß er einen Sohn hätte, der unlängst verschollen, ist noch frecherer Schwindel!“

„… Kommen Sie …! Wir nehmen einen der elenden Kähne dort … Bis zum Schoner gelangen wir auch mit den Paddelrudern …“

Sie zieht mich an der Hand zum Strande, ihre Finger sind eiskalt, durch diese Finger scheint ein Vibrieren zu laufen als Nachklang einer zitternden, angsterfüllten Seele.

Damals war es, daß ein gelindes Mißtrauen mich beschlich.

Dolores Hände waren bisher heiß, lebenswarm.

Trotzdem, – – ich verlasse mich auf die neun Schuß in der entsicherten Waffe. Wer mich fangen will, hat den Hahn aller Verräter zum letzten Male krähen gehört.


8. Kapitel.
Der Schoner mit dem Doppelboden.

Die Mondsichel ist hinter dem Wolkenrande verschwunden, und das flockige Gewölk, das von Osten über die langgereckte Insel Cuba mit ihren Urwäldern, Sümpfen, Gebirgen, Höhlen, unterirdischen Flüssen und unendlichen Zuckerrohr- und Tabakfeldern dahinzieht, hat das Heer der Sterne verdrängt und Finsternis über die Bucht gebreitet.

Von den neuen Bauten der Handelsniederlassungen glotzen die Laternen, kümmerliche Funzeln, durch das Dunkel, das Elektrizitätswerk ist erst im Entstehen, wenn es aber nachher genau so [72] fein funktioniert wie die Wasserleitung, kann Buena Vista noch stolzer sein. Immerhin: Ein lahmgelegtes Elektrizitätswerk stinkt nicht – auch ein Vorteil.

Unser Kahn gleitet wie ein Schatten über die Bucht. Dolores rudert ebenfalls, und da ihr dabei Umhang und Achselband und Flitterkram herabgleiten, habe ich einen gepuderten Rücken vor mir, der so etwa bis zum äußersten Ende des Anstandes hinabreicht. Dolores’ Tanzkostüm kostet für den Oberleib sehr wenig, schätze ich, die Stoffersparnis kann kaum noch weiter getrieben werden. Da ist mir Kosimo mit seinem blitzsauberen Hemd und der koketten Bordjacke noch lieber.

Der Schoner „Libertas“ ankert ziemlich weit draußen, und der kaffeebraune Kapitän, der eine Vorliebe für stärkste Barmischungen und dekorative Phantasieuniformen hat, ist erstaunlich rasch am Fallreep, als die Wache uns mit vorgehaltenem Revolver, Marke Kleinkanone, den Zutritt verwehrt.

Dolores wechselt mit dem selbstbewußten Niggerkäpten einige leise Worte, und meine Hand zuckt nach der Innentasche, verzichtet jedoch vorläufig auf die angenehme metallische Kühle des Pistolenkolbens.

Wir steigen zu dritt in den Laderaum hinab, – ein Blick über das Deck hat mir nur zwei Wachen gezeigt, und im Nachen raunte Dolores mir zu, die Besatzung sei an Land beurlaubt, es gäbe da gewisse Tanzdielen im Niggerviertel, wo fragwürdige Damen jeglichen Wünschen nachkämen.

Ausgerechnet muß Dolores ihre Kolleginnen derart bespötteln.

Der Käpten in seiner schmierigen Jacke mit schwarz und grün angelaufenen überreichen Goldborten [73] und dem Eimerschädel mit der Krimmerperücke – sie ist echt, naturkraus – hebt die Laterne und läßt uns die Leiter in den Kielraum hinabklettern. Dolores’ seidener Rock bekommt einen Riß, noch einen, und der Schlitzrock läßt nachher die makellosen Beine sehen.

Im Kielraum sehe ich nur wenig Ballastsäcke, und da der Schoner zum Schein nur ganz leichte Baumwollballen geladen hat, hätte ein einigermaßen pfiffiger Zollbeamter schon deshalb argwöhnisch werden müssen, weil das Schiff unverhältnismäßig tief im Wasser liegt, bis zur äußersten Ladelinie.

Der kaffeebraune Seemann, ganz gewiß ein ebenso tüchtiger wie gewissenloser Kerl, sagt knurrend zu Dolores, und schielt mich an:

„Die Verantwortung tragen Sie!!“

„Unsinn, – machen Sie fix!!“ Die Tänzerin fiebert …

Der stiernackige Käpten spuckt zunächst einen Strahl brauner Priemsauce auf einen Ballastsack, schiebt den Sack dann wie einen Federbeutel bei Seite, macht eine Stelle des Schiffsbodens frei, über dem fauliges Wasser glitzert, pumpt die Tunke mit einem Riesending von Handpumpe in die nächste Abteilung und hebt eine Falltür hoch.

Der Schoner hat einen doppelten Boden, und der untere Boden besteht aus Eisenplanken. Ein Raum von knapp anderthalb Meter Höhe, ein glänzendes Schmugglerversteck, ist mit länglichen Goldbarren zu einem Viertel gefüllt, der Laternenschein fällt über die matt blinkenden Goldziegel, die sämtlich eingestanzte Nummern und darunter noch das Bild der Ariane – wie auf der Münze – tragen.

[74] „Klettern Sie nur hinab und prüfen Sie, – es ist nicht Messing“, sagt Dolores rauh, als ob sie nach durchzechter Nacht die Kehle noch nicht wieder geschmiert hätte.

„Ich danke, es genügt mir …“

Meine Hand ist in die Tasche geglitten, und scheinbar mit gekreuzten Armen nachlässig auf einem Sandsack stehend, den Rücken durch den Unterteil des Hauptmastes gedeckt, erwarte ich, Finger am Drücker, das Kommende. Man kann ja auch sehr gut durch die Jacke schießen, ohne die Pistole vorzeitig zu zeigen.

Dolores’ Augen schließen sich tückisch.

„Das ist reines Gold, Mr. Karlsen … Zählen Sie nur die Barren … Acht Millionen lagern dort …“

Der Bulle von Käpten steuert auch noch seinen aufreizenden Senf dazu. „So was bekommt man nicht oft zu sehen, Sennor …“

„Irrtum!!“

Mein Ton mißfällt, die beiden edlen Geister stutzen. Ihre Augen werden noch tückischer.

„Irrtum, ich sah bereits weit mehr Gold auf einem Haufen, und die, die es mir zeigten, waren blöde Schurken …“

Dolores hüstelt …

Mit einem Male fällt dem Nigger die Laterne aus der Hand …

Liegt mit der Glasscheibe auf einem Sack – Dunkelheit …

Der Bulle holt blitzschnell mit der Riesenfaust aus, – – gar nicht dumm gemacht, – – noch blitzschneller erscheint neben ihm ein Schatten, eine blanke Kurve zieht durch das Dreivierteldunkel, [75] der Schwarze hustet, und mein weißer Schuh, frisch gekreidet, fährt ihm in den Speckbauch.

Chang Pis[23] scheußliches Kichern mischt sich in den beklemmenden Schrei der Sennora Santillo und in das Stöhnen des Schwarzen, dem Pis[24] Messer den Oberarm klaffend bis zum Ellenbogen aufgeschlitzt hat.

Pi bückt sich, nimmt die Laterne und hält sie Dolores ganz dicht vor die Augen. Der alte Pirat, hier so ganz in seinem Element, feixt der Tänzerin mit entblößten Zahnstummeln und hochgezogenen dünnen Lippen höhnisch in das erstarrte Gesicht, dessen echte Farbe jetzt schmutzig-grau wäre, wenn nicht Schminke und Puder diese Verfärbung verdeckten.

„He – – auch das Messer schmecken, Sennora?! So ein kleiner Schnitt über Nase und Backen, – wie wäre es?!“

Seine Fratze wird drohend.

„… Verdient hättest du es, schwarzhaarige Kröte …! Aber Pi ist Gentleman, und deine Dummheit rettet deine Visage. Hast die Geschichte zu grob eingefädelt, Faden war zu dick, Pi auf dem Posten und der Mulatte wach … – Da liegen die vier, da hinten, – werden einige Zeit ins Lazarett müssen, – – eine Handspeiche ist eine gute Waffe, eine Eisenstange noch besser … Und oben an Deck sieht es nicht anders aus … Haben auch Migräne, die Kerle …“

Dann wird er sehr sachlich. „Mr. Olaf, Sie begreifen nun wohl, was hier gespielt wurde. Der Käpten und Dolores wußten sofort, wer Sie sind und wer Kosimo ist, und mich und das Boot hatten sie auch aufgespürt. Heute abend krochen da im Dickicht ein paar Burschen umher, – ich konnte [76] gerade noch das Boot abstoßen, und die Ladung Bleiklumpen hat lediglich eine Robbe verletzt … Es gibt mehr Robben hier, als ein Stubenhocker es sich träumen läßt … Der denkt in seinem verpesteten städtischen Hirn, daß Robben nur in den Polargebieten vorkommen. Die Sorte hier sind Verwandte der Mähnenrobben, und …, – interessieren Sie Mähnenrobben, Sennora?! Die Viecher schwimmen glänzend, wenn wir Sie jedoch ins Wasser schmeißen, werden Sie wie ein Bleiklotz wegsacken, Ihr Gewissen wiegt zu schwer … – Das hat noch Zeit. Reden wir von dem zu dicken Faden, der nicht durch das Nadelöhr ging … wie ein Kamel, – wie heißt doch das Sprichwort oder Bibelwort, – – Kamel – – Nadelöhr, –– Sie werden es ja kennen … Jedenfalls roch ich Unrat, und da ich für solche Düfte ein sehr feines Unterscheidungsvermögen habe, stank es nach Verrat, nach einem Anschlag auf uns drei, um uns der Begum Ariane, Ihrer Auftraggeberin, als höchst unbequeme Herrschaften auszuliefern. Ich tat das meinige dazu, den Faden noch dicker zu machen, wenn Sie die Köpfe Ihrer farbigen Freunde dort in der Ecke betrachten, werden Sie sehr dicke Beulen finden, der alte Pi haut noch immer eine flinke, feine Handschrift. – Mr. Olaf, was soll es mit dem Weibsbild?!“

Chang Pis[25] endloses und doch so wichtiges Geschwafel hatte in mir eine bittere Sorge geweckt.

„Wo ist Kosimo, Pi?“

„Ach – der …! Der war wach, und als die Kerle zum Fenster einstiegen, hat Kosimo mit einem Stuhlbein zu diversen Freiübungen den Takt geschlagen … Zwei braune Kaffern liegen im Hotelgarten, und ob das hiesige Krankenhaus über so [77] viel Betten verfügt, bezweifele ich, allerdings wird der Käpten seine Brut kaum dort unterbringen. – Kosimo und Black sind oben an Deck … – Was tun wir mit dem frisch gestrichenen Wrack? Ersäufen?“

Pis[26] wüste Drohungen waren nicht ernst zu nehmen, das wußte ich.

„Sperren wir sie hier ein“, entschied ich … „Wir vernageln die Luke zum Kielraum und nehmen die Leiter weg … – Vorwärts Pi …“

Dolores Santillo beschenkte mich mit einem Blick tödlichsten Hasses. Mehr hatte sie auch kaum zu verschenken, ihre moralische Substanz war längst erschöpft.

Pi schlenkert eifrig den Schädel.

„Erst wird sie noch so einiges erzählen müssen, Mr. Olaf …“ – Sein faltiges Gesicht grinste äußerst höflich. „Und wenn sie lügt, wird mein Messer die Schminke abkratzen, – falls dabei einige Stücke Haut mit verloren gehen – –, ich kann nichts dafür. – Wohin sollte das Barrengold dort unten verschickt werden, Sennora?“

Sein Messer blinkte warnend.

„Nach … nach Progreso …“, stieß die Santillo zitternd hervor.

„An wen?“

„An … an … Mr. Ernest Gardener, Merida …“

Pis[27] Mund öffnete sich, schloß sich, und dann pfiff er …

„Siehe an, – – Mr. Ernest Gardener, Merida …“

„Er ist nicht mehr Konsul …“

„Weiß ich, weiß ich … Er ist Börsenschieber, [78] Spekulant, Finanzier … – Und was können Sie uns über die Begum berichten?“

„Nichts, – bei der heiligen Mutter Gottes, – – nichts …!“

Pi spuckte geräuschvoll aus. „Ich bin nicht Christ, ich bin Buddhist, – – aber mir steigt die Abendmahlzeit hoch, wenn Sie hier mit solchen Ausdrücken die ohnedies schon stickige Luft verpesten. Aus Ihrem Munde ist die Berufung auf die heilige Maria eine widerliche Phrase.“

Pis[28] Zweifel, daß Dolores uns etwas verschweigen könnte, wurden von mir zerstreut. „Lassen Sie die Ausfragerei, Pi. Die Begum ist viel zu vorsichtig, andere ganz einzuweihen. Wie vorsichtig sie ist, wissen wir am besten …“

Mich drängte es an Deck, ich sorgte mich um Kosimo.

„Das mag stimmen, – also leben Sie wohl, Sennora, und falls Sie mir nochmals in Griffnähe kommen sollten, kratze ich Ihnen bestimmt die Schminke ab …“

Pi eilte zur Leiter …

Dann dröhnten Hammerschläge … Aber an Deck lehnte Kosimo an der Reling – in einem blendend weißen Anzug, den Hut keck auf den Wollkopf gestülpt, im Arm den behaglich krächzenden Mr. Black.

„Kosimo …!!“

Ich umklammerte ihre Linke …Ihre Augen strahlten mich an.

„Olaf, Dolores hat doch sicherlich verraten, wie man den Eingang zum Reiche Indra finden kann …“

Ich mußte sie enttäuschen.

„Sie weiß nichts … Wir konnten uns auch [79] nicht lange mit ihr aufhalten … Wir müssen verschwinden … Einige der Amerikaner hier haben mir von Anfang an mißtraut, und im Hotel in der einen Newyorker Zeitung fand ich mein Bild und einen Artikel über die Stadt Vineta des Königs Xiu … und den erneuerten Steckbrief.“

Pi tauchte auf.

„Ich hole unser Boot … Ich bin hierher geschwommen … Der Käpten ist wieder bei Besinnung … Verdrücken wir uns schleunigst.“ – –

– Und dies hier notiere ich unweit des Kaps San Antonio an der äußersten Westspitze der Insel Cuba in unserem neuen Versteck.

Tausend Meter weiter östlich liegt der Schoner Libertas, auch in einer engen Bucht, und Dolores und der Kapitän spielen Krankenwärter. Die Besatzung leidet noch immer an Migräne. Wir sind dem Schoner auf den Fersen geblieben, das verlangte mein neuer Plan, und wenn auch der mißglückt, wird Leslie Wodston nie mehr Kosimo in seine sehnsüchtigen Arme schließen können.

Ich hoffe, der Plan gelingt.

Daß der Plan von mir allergrößte Selbstentäußerung verlangt, spricht nicht mit. Was ich mir vornehme, führe ich durch … –

Und nun wird es Zeit, jene Erinnerungen nicht ganz entschwinden zu lassen, die mit unserer ergebnislosen Suche nach dem Reiche der Begum Ariane 3. zusammenhängen. Ich sitze im Heckverschlag unseres „Mac Intock“, Kosimo schläft vorn in ihrer Kabine, Mr. Black ist bei ihr wie stets, und Pi beobachtet den Schoner drüben.

Die Brandung an den Korallenriffen des Kaps umschmeichelt mein Ohr mit dem fernen Brausen – [80] wie das Rauschen meiner heimatlichen Wälder – einst … einst.

Meine Heimat ist der Erdball geworden, und meine Freunde, die Marksteine am Wege abseits vom Alltag, sind meine Familie und leider meine teuren Toten … zum Teil. Sie kamen und gingen, aber in meinem Herzen leben sie weiter – unvergeßlich, bleiben wache Erinnerung an herrliche Zeiten meiner Freiheit …

Und abermals hat mir das Geschick diese Marksteine neu errichtet: Kosimo und Chang Pi, und Mr. Black darf auch nicht unerwähnt bleiben … –

Ich schreibe … Vergangenes.


9. Kapitel.
Aus Kosimo wird Kosima.

Pi und der Mulattenjüngling liegen sich wieder einmal in den Haaren – bildlich zu verstehen –, und natürlich wieder einer Kleinigkeit wegen. Mr. Black hat es auf dem „Mac Intock“ schwer, das richtige Plätzchen zur Erledigung dringender Bedürfnisse zu finden, und da er diesmal ausgerechnet Pis[29] ziemlich kahlen Schädel während eines kurzen Gleitfluges vom Bug zum Heck beehrte, wollte der Bratapfel dem Mr. Black ein wenig die empfindlichen Zehen kitzeln, was Kosimo erregt für eine Rohheit erklärte, da Pi sich eines Stöckchens zu bedienen gedachte.

Der Krach war da.

Pi warf mit Ausdrücken um sich, die Kosimo geradezu verlegen machten, und nachher war die [81] Stimmung beim Abendessen (es war der Abend nach der geglückten Flucht vor der Pinasse) höchst ungemütlich.

Erst meine dringende Mahnung, angesichts des von Südwest heraufziehenden Unwetters die Friedenspfeife kreisen zu lassen, fand bei den beiden Preisboxern (bildlich!) allmählich Anklang, obwohl Kosimo nochmals betonte, wenn Pi seine Kraftausdrücke nicht auf ihre Salonfähigkeit revidiere, würde er mit ihm kein Wort mehr wechseln.

Der südwestliche Himmel hatte inzwischen so etwa die Farbe eines faulen Eies angenommen, und auch andere Anzeichen verhießen einen ganz großen Zylinderhut voll Wind, der für unser Schifflein bestimmt zu kräftig werden würde.

Wir trafen die nötigen Vorbereitungen, dem Orkan wirksam zu begegnen, Mr. Black wurde in seinen Kasten gesperrt, auch die Mitte des Bootes bekam einen schon vorbereiteten Überzug, das Großsegel wurde vollständig beschlagen, und nur der Klüver belassen.

Kosimo half wie immer mit Verständnis und Eifer, und wenn er sich bei der vielseitigen Arbeit einmal ganz nach vorn überbeugte, rundete sich seine gebügelte Hose an der bestimmten Stelle so prall, daß der hinterlistige Pi immer in Versuch geriet, mit der flachen Hand einen frechen Schlag zu riskieren und dabei so töricht grinste, daß ich aus dieser Sorte Lachen schon gar nicht klug wurde.

Das Verstauen des Proviants, des Spirituskochers und all der anderen Dinge nahm doch mehr Zeit in Anspruch, als durch das rasch nahende Unwetter uns verblieb, und nach der erschlaffenden Schwüle brach der Gewitterorkan so urplötzlich mit solcher Gewalt los, daß ich kaum mehr [82] Gelegenheit hatte, mich mittschiffs am Mast anzuseilen, – Pi saß am Heck in einem viel zu großen Ölmantel und Südwester und sah wie ein Zwerg aus Dornröschen aus, – um ihm zu schmeicheln, – man hätte auch sagen können wie ein Häufchen Unglück mit Schlitzaugen und qualmender Pfeife. Kosimo hatte sich in seine Kabine zurückgezogen und sollte mit dem Schöpfeimer nötigenfalls das Spritzwasser wieder über Bord schöpfen.

Die Posaunen des Orkans wurden diesmal von den kräftigsten Lungen geblasen, der Regen war mehr Wasserfall, und die Blitze folgten einander so schnell, daß der nachhallende Donner eine einzige Kanonade darstellte.

Der „Mac Intock“ hielt sich tadellos. Er war ein neues, starkes Boot, und wenn auch die Wogenrosse so und so oft über ihn hinwegtanzten und Kosimo und ich immer wieder schöpfen mußten, – er jagte mit dem Sturm dahin wie ein Renner inmitten seiner eilenden Konkurrenten, und der alte Pirat Chang Pi bewies jetzt, daß er einst in den ostasiatischen Gewässern so allerlei gelernt hatte. Ich hätte es ihm kaum gleichgetan.

Mit einem Male sah ich aus der schwarzen Wolkendecke über uns eine blendende, strahlende Kugel sich lösen, die mit spielerischem Zickzackkurs abwärts strebte: einen Kugelblitz!

Über diese besondere Art von elektrischen Entladungen ist schon allerlei geschrieben worden[WS 1], ihre Besonderheit, diese Zusammenballung elektrischer Riesenfunken zu einem kugelförmigen Gebilde zu erklären, gelang niemandem, da sie den sonstigen Gesetzen des Elektrizitätsausgleichs zwischen der positiv geladenen Gewitterwolke und der als negativ [83] geladen anzusehenden Erdschicht oder Wasserschicht direkt widerspricht.

Unser Kugelblitz, der so seltsame Folgen verursachen sollte, hatte die Größe eines mäßigen Kinderkopfes, leuchtete in grellem Weiß und glich durchaus einer eisernen, im Ofen zur Weißglut erhitzten Eisenkugel.

Seine Fortbewegung war an sich gering, es trat zuweilen ein ruckartiges Abwärtsschnellen oder ein seitliches Abweichen ein, und unser Boot schien von diesem unheimlichen Besucher verschont zu bleiben.

Unerwartet fuhr die Kugel fast wagerecht zur Seite, erreichte die Mastspitze, glitt am[30] Mast abwärts, – ich warf mich hintenüber, verspürte trotzdem einen leichten elektrischen Schlag, und sah die gefährliche Himmelsbombe auf Kosimos Kabine zutänzeln, – mein Warnungsruf verhallte ungehört, der Mulatte kniete am Boden, den Zinkeimer in Händen, und erst im letzten Moment bückte er sich, flog zur Seite, und der Kugelblitz und der Eimer verschmolzen in eins, ein starker Knall ertönte, und Eimer und weiße Kugel waren ausgelöscht.

Kosimo lag bewußtlos auf dem Rücken, das nasse Kraushaar – ein Wunder – hatte über der Stirn nicht mehr das Aussehen einer Krimmermütze, sondern hing glatt und seidenweich bis in die geschlossenen Augen.

Eine Angst, die mir fast die Brust sprengte, befiel mich.

Erst jetzt empfand ich mit aller Deutlichkeit, wie sehr mir Kosimo bereits ans Herz gewachsen war, – ich trug ihn auf sein Lager, öffnete ihm Hemd und Jacke und …

Kosimo war ein Mädchen, war eine Europäerin [84] mit jungfräulich knospender Brust, ihre Haut war nur bis zu den prallen Brüsten tiefbraun gefärbt, und hiermit hatte auch ihr Gesichtsschnitt, der nichts Negroides aufwies, seine Erklärung gefunden.

Minuten starrte ich sie an wie ein Gespenst, diese Entdeckung war zu plötzlich gekommen, und ich ärgerte mich im Grunde, daß der alte Pi offenbar schärfere Augen für weibliche Linien gehabt hatte.

Kosimas Herz schlug schwach, aber regelmäßig. Wenn sich bei ihr keine Lähmungserscheinungen zeigten, mußte sie in kurzem wieder wohlauf sein.

Nach diesem folgenreichen Kugelblitz schien auch die Kraft des Unwetters gebrochen zu sein. Der Regen ließ nach, und mit jener Plötzlichkeit, die in den Tropen noch stärker in die Erscheinung tritt, zogen die finsteren Wolkenmassen davon, gaben die sinkende Sonne frei und verwandelten das erregte Meer in ein köstliches Gemälde, auf dem die Schaumkronen der Wogen wie rosige, wehende Schleier leuchteten und die Wellenberge rot betupft waren, während in den Tälern des aufgepeitschten Ozeans ein tiefes Lila die berückende Farbenorgie vermehrte.

Ich schenkte alldem nur einen flüchtigen Blick, als ich eilends eine Flasche Whisky hervorsuchte und dann noch hastiger Kosima Brust und Herz kräftig einrieb und ihr auch einen Schluck des belebenden Alkohols einflößte.

Kaum spürte ich die ersten Anzeichen, daß sie wieder zu sich kam, als ich ihr auch schon Hemd und Jacke in Ordnung brachte.

Sie öffnete die dunklen Sammetaugen, setzte [85] sich mit einem Ruck aufrecht und schaute mich verwirrt an.

Meine Freude war übergroß, als sie sofort fragte, was mit ihr geschehen, und als sie etwas scheu ihre Jacke betastete.

Dann spürte sie den Alkoholgeruch, und die volle Wahrheit ward ihr bewußt, sie blickte zur Seite, ihr durch die Nässe etwas entfärbtes Gesicht rötete sich bis zu den glatten Stirnhaaren, und nach einer Weile verlegenen Zögerns sagte sie tapfer:

„Olaf, Sie wissen …?!“

Das vertrauliche „Olaf“ war schon in der Nacht über die schönen Lippen geschlüpft, und trotz Pis[31] bissiger Kritik hatte ich Kosima, damals noch Kosimo, freundlich erklärt, er solle nur an dieser Anrede festhalten.

„Ich weiß, Kosima … – Heißen Sie Kosima mit Vornamen?“

Sie nickte. „Mein Vater war ein begeisterter Wagnerverehrer, meine Mutter ebenfalls …“

Ich saß noch neben ihr, die Vorhänge der primitiven Kabine waren geöffnet, und der rötliche Glanz am Himmel drang wie ein freundliches Grüßen höherer Kräfte in den Raum, in dem ich nun des Mädchens Hand ergriffen hatte und herzlich fragte:

„Heißen Sie wirklich Wodston, Kosima?“

Sie hatte wieder alle Scheu abgestreift, ihre Jugend sah in meinen grauen Schläfen und den einzelnen Silberfäden im blonden vollen Scheitel die Zeichen so gereifter Jahre, daß ihr Anlehnungsbedürfnis und ihre stille Freude über die endliche Klärung ihrer so unbequemen Maskerade zu kindlicher Zärtlichkeit sich steigerten.

[86] Mit ihrem leisen, berückenden Lachen schmiegte sie sich an mich und flüsterte fast übermütig:

„Olaf, – – daß Sie es nicht früher gemerkt haben!! Ich bin doch eine so schlechte Komödiantin, und einen Mulatten vorzustellen und immer wieder die Haare so kraus zu brennen wie ein Lehrling in einem billigen Frisiersalon, der den Begriff Eleganz gründlich mißversteht, – – es war nicht leicht, abgesehen von allem anderen, und am schlimmsten war es auf dem „Caballero“ mit dem üblen Kapitän, der mich tatsächlich sehr oft verprügelte, woran ich von daheim so gar nicht gewöhnt war. Aber …“ – und jetzt preßte sie meine Finger so entschuldigend – „… aber nach allem anderen, Olaf, dürfen Sie nicht fragen. Ich gebe zu …“ – sie wurde sehr ernst – „ich heiße nicht Wodston, wir haben uns diesen Namen nur zugelegt, Leslie und ich … Ich möchte Ihnen ja so gern die Wahrheit mitteilen, ich habe ein so grenzenloses Vertrauen zu Ihnen, aber … es geht nicht, es … steht zu viel auf dem Spiel. Jedenfalls aber ist das bestimmt Tatsache, daß Leslie mit der Jacht „The Ghost“ das Reich der Begum Ariane suchte und nun ihr Gefangener ist. Was ich in seinen Flaschenposten, in den Zetteln beim Vorlesen änderte, bezog sich eben auf mich, auf Kosima, aus der ich Kosimo entstehen ließ … – Sind Sie mir böse?!“

Das klang so überzeugend naiv, daß ich schmunzelte, obwohl des Mädchens vorsichtige Zurückhaltung mich geradezu enttäuschte.

Ich hatte erwartet, nunmehr wenigstens über ihre Person Aufschluß zu erhalten. Ich fand, es wären dann noch übergenug Geheimnisse geblieben, die mir zu schaffen machten.

Ich war ihr nicht weiter gram, trotzdem. Ich [87] hatte eine kleine Freundin gefunden, die mir in allem zusagte, und ich mußte mich eben mit dem zufriedengeben, was sie mir freiwillig anvertraute.

„Ihnen böse sein?!“

Ich drückte sie an mich, sie hatte den Kopf zurückgebogen, blickte mir fest und ehrlich in die Augen, bis in ihren dunklen, ausdrucksvollen Sternen ein seltsames Leuchten aufglomm, das nun mich verwirrte.

„Olaf, Sie sind ein prächtiger Mensch!“, entfuhr es ihr. „Sie sind der erste Mann, der …“

Und dann meldete sich das weibliche Zartgefühl, – – sie senkte schnell den Kopf, sie machte sich aus meinen Armen allzuschnell frei, und die zarte, feine, verheißungsvolle Stimmung war zerstört.

Nur um ihr über ihre tödliche Verlegenheit hinwegzuhelfen, fragte ich nach Leslie.

„Ist Leslie Ihr Bruder?“

„Ja!“

Das war unzweifelhaft die Wahrheit.

Mehr zu fragen, verbot mir das Taktgefühl. Ich wußte, daß die Stunde kommen würde – ganz von selbst. Außerdem hätte auch Pi jede weitere Aussprache unmöglich gemacht, da er mir zurief, ich sollte ihn nun am Steuer ablösen und vorher das Großsegel hissen, damit wir rascher vorwärts kämen.

„Ruhen Sie sich noch aus, Kosima … Der Kugelblitz hat uns verschont und uns nur Gutes gestiftet“, meinte ich zu der kleinen Freundin, die mir wortlos die Hand reichte, einen Dank hauchte, mich aber nicht anblickte.

Kosima war ja kein Kind mehr, sie war ja ein reifes, junges Weib, und – – ich?! …

……


[88]
10. Kapitel.
Die schlafenden Wale.

Chang Pi, Expirat, Hausmeister des Lagunenheims Mac Intocks, hatte ein sanftes Feixen um den eingefallenen, verschrumpelten Mund mit den dünnen Lippen.

So empfing er mich am Heck, den Ölhut weit ins Genick geschoben, die Pfeife schon wieder im Munde, und die linke Backe wie immer durch den Priem aufgebläht, als ob er Kaugummi lutschte.

Pi muß entschieden einen Patentmagen haben. Essen tut er wenig, Nikotin ersetzt ihm den Alkohol, wenn Pi einmal stirbt, dürfte dieser mit Tabaksaft getränkte Körper von selbst Mumie werden, und eine Sektion durch ein Ärztekonsilium würde überraschende Ergebnisse haben, alle Warnungen der Herren Doktoren würden widerlegt werden, denn Pi, nikotinverseucht, ist kerngesund.

Pi feixt nachsichtig.

„He, Mr. Olaf, wie geht es ihr?!“

Ihr!!

Das sagt alles.

„Wann haben Sie es bemerkt?“, frage ich so obenhin, als ob ich Kosimas Geheimnis längst durchschaut hätte.

Chang Pi, dieses Ekel, grinst jetzt so recht frech.

„Jedenfalls früher als Sie, Mr. Olaf, – wenigstens hegte ich einen gewissen Verdacht, der bereits begann, als Kosimo sich zum ersten Male bückte [89] und mir dabei die Kehrseite zeigte, – in dem Punkte sind wir Männer nun einmal dürftiger mit Polstern versehen, – übrigens war das damals, als ich ihr das spitze Stück Holz in die Rückenverlängerung schleudern wollte, und das zweite Verdachtsmoment ergab sich, als Sie badeten und Kosimo züchtig nicht hinschaute … Die Brennschere habe ich leider nicht berücksichtigt, das Ding war ja eigentlich am belastendsten …“

Pi wurde wieder bescheiden.

„Wir haben uns eben beide richtig an der Nase herumführen lassen, – unsere Nasen waren noch schlechter als unsere Augen, all diese Mulatten duften nach Nigger, wenn sie schwitzen, und selbst bei reichlichem Parfümgebrauch läßt dieser Rassenduft sich nicht übertäuben, der ja auch uns Chins eigentümlich sein soll – – soll, denn die Hautausdünstung der Europäer ist für uns genau so unangenehm, keine Rasse hat der anderen etwas vorzuwerfen, nur eben die Nigger sind allzustark mit diesem Merkmal behaftet, ich rieche jeden Schwarzen, Mulatten oder sonstigen Mischling dieser Art schon von weitem, und wenn Sie mal in ein Niggerheim kommen, spüren Sie diese Ausdünstung selbst bei größtem Wohnungskomfort und trotz Ventilatoren …

Pi schob den Priem in die andere Backe und beehrte die nächste Woge mit einem braunen Spritzer.

„Wir sind durch den Orkan ein tüchtiges Stück vorwärts gekommen, Mr. Olaf“, änderte er das Thema. „Ich schätze, wir erreichen die Riffe um Mitternacht, werden aber aus Vorsicht uns ihnen von Osten nahen, dieser Umweg ist nicht allzu groß, kämen wir von Westen, würden wir [90] wohl auf die eklige Pinasse stoßen, die uns dann eine Granate in den Bauch schießt, worauf wir kaum Wert legen … – Heißt Kosimo wirklich auch als Mädel Kosimo?“

Chang Pis[32] Kenntnisse über Richard Wagner und Familie waren etwas dürftig, und mein Vortrag über den berühmten Namen Kosima fand bei ihm, dem allzeit bildungshungrigen, größte Aufmerksamkeit. Weniger begeistert war er von Kosimas Weigerung, ihren Mutternamen zu nennen, – so ganz hatte er seine Abneigung gegen Kosimo-Kosima doch noch nicht überwunden.

„Da ist dann also nichts dagegen zu machen, Weiber sind nur dann Klatschbasen, wenn es sich um ihr eigenes Geschlecht handelt, in gewissen anderen Fällen können sie dichter sein als eine Konservenbüchse, die verlötet ist …“

Pi machte mir am Steuer Platz und kümmerte sich um den Motor. Das Ding spuckte, fauchte, Pi fluchte lästerlich, endlich begann der Motor sich auf seine benzingefütterte Pflicht zu besinnen, und der „Mac Intock“ durchschnitt die immer noch hochgehenden Wogen mit einer Geschwindigkeit, die Pis Voraussage sehr wahrscheinlich machte.

Pi kletterte nach vorn, befreite den armen, durchweichten Mr. Black aus seinem Kasten, der dann auch sofort gründlichst die Federn ausschüttelte und seiner Empörung über das Bad am Samstagsabend nicht durch Busch-Verse, sondern auf seine Art recht unvornehm Ausdruck verlieh. Einige seiner Kraftwörter paßten kaum für Kosimas Ohren, aber um mit Pi zu reden: Dagegen ließ sich nichts tun!

Und dann kam die Nacht, Kosima schlief, vielleicht hatte ich ihr doch ein wenig zu reichlich Whisky [91] eingeflößt, und als der Mond um Mitternacht hinter den abziehenden Wolkenbergen auftauchte und der Ozean mit Silberfischchen bestreut schien, sichtete ich mit dem Fernrohr im Westen eine mäßig starke Brandung und eine Reihe von dunklen Flecken, die nur die vielgenannten „Schlafenden Wale“ sein konnten.

Pi hockte neben mir und schnarchte im Sitzen. Was diese lebende Mumie an Strapazen vertrug, war einfach verblüffend. Ein Sportler aus den Kulturstätten jener Welt, die nicht meine Welt ist, hätte nach all den Anstrengungen der letzten zwei Tage glatt versagt. Pi schlief, aber er schlief nur halb, und als ich vorsichtig den Kompaß beleuchtete, wurde er sofort wach.

„He, was gibt es?!“

„Die Wale, glaube ich …“

Er fuhr hoch, nahm das Fernglas und äugte hinüber.

Auch mit bloßem Auge konnte man erkennen, daß diese sehr niedrigen Riffe eine weite Fläche bedeckten, deren Breite von Nord nach Süd mindestens drei Meilen betrug. Nach den Seekarten (alle bessere Atlanten verzeichnen die Ausdehnung Wendekreis des Krebses) mußte die Ausdehnung von Ost nach West noch größer sein.

Die Bezeichnung „Schlafende Wale“ hatte, wie wir dann im Mondlicht aus der Nähe feststellten, durchaus ihre Berechtigung.

Es war jetzt Ebbe, die Zeit des niedrigsten Wasserstandes, und wenn die Gezeiten, Ebbe und Flut, sich im Golf von Mexiko aus noch ungekannten Ursachen weniger bemerkbar machen, als der Golf bei seiner ungeheueren Größe vermuten läßt (der größte Unterschied zwischen tiefstem und [92] höchstem Wasserstand soll durchschnittlich anderthalb[33] bis ein halb Meter betragen, und dies trifft nach unseren Beobachtungen auch zu), so lagen die flachen, gewölbten Felsriffe doch in erstaunlicher Anzahl mit verschieden großen Zwischenräumen gleich rundlichen Buckeln auf der Oberfläche und glichen durchaus schwärzlichen Walrücken.

Dieses endlose Gebiet der Untiefe genau zu durchforschen, wäre eine Arbeit von Wochen gewesen, denn ich sagte mir sofort, daß, falls hier in diesem Labyrinth von flachen Klippen, die bei Flut wieder verschwanden, wirklich der Zugang zu dem Reiche der Begum, zu dem Bergwerk der Abgeschiedenen läge, dieser Zugang so sorgfältig verborgen sein dürfte, daß nur mehr ein Zufall uns einen Erfolg bescheren könnte.

Pi pflichtete mir bei. – Wir ließen das Boot mit gerefften Segeln und mit halb gedrosseltem Motor gemächlich dahingleiten und erörterten die technische Frage dieses Zugangs. Da der Ozean bei Flut sämtliche Riffe bedeckt, und da bei Sturm sogar bei Niedrigwasser der Außenring der Buckelklippen völlig von der Brandung überspült wurde, mußte dieser Zugang in einem künstlichen Verschluß einer Öffnung einer der Klippen bestehen – einem wasserdichten, unschwer zu öffnenden und umfangreichen Verschluß. Wie man diesen „Deckel“ einst angebracht haben mochte, wie man überhaupt auch die „Öffnung“ hergestellt haben könnte, blieb mir unbegreiflich.

Wir erreichten die ersten der Schlafenden Wale gegen ein Uhr morgens, und da wir uns hier unter Wind befanden, konnten wir ohne Gefahr in die Kanäle einlaufen und den „Mac Intock“ hinter einer größeren Klippe festmachen. Ich sah, [93] daß es sich nicht um Korallenbauten, sondern um Urgestein handelte, das, dicht mit Seepflanzen bewachsen, aus nächster Nähe den struppigen Rücken behaarter Ungeheuer ähnlich war.

Wir beeilten uns, den Mast umzulegen, der zum Glück ein Gelenk hatte. Es wäre äußerst unvorsichtig gewesen, ihn im Mondlicht stehen zu lassen, mit einem Fernglas war er mit den beschlagenen Segeln weithin zu bemerken. Dann kroch ich auf das Riff, das ungefähr acht Meter groß war – größter Durchmesser –, legte mich der Länge nach in die glitschigen Algen und spähte mit einem Fernrohr sorgsam jeden einzelnen Buckel ab.

Wie gefährlich diese Untiefe, abgesehen von ihren bei Flut unter Wasser lauernden Felsmassen – außerdem noch war, erkannte ich an der Unmenge von großen Haien, die hier in den Kanälen umherschwärmten, alles Burschen der größten Arten, nicht jene bescheideneren Hyänen des Meeres, die zumeist den Indischen Ozean und die Südsee bevölkern.

Immer klarer wurde mir bewußt, wie aussichtslos unser ganzes Unternehmen zur Befreiung Leslies war. Der Gegner hatte nur allzuviel vor uns voraus. Ich hatte gehofft, mich irgendwie in das unterirdische Reich der Begum einschleichen zu können, – – welche Torheit!!

Diese Riffe verrieten nichts! Und etwa mit unserem kleinen Rettungsboot, das wir vor dem Orkan kieloben mittschiffs festgezurrt hatten, eine Erkundungsfahrt wagen, – – auch das war sicherer Tod. Die Erdfahlen hatten uns gezeigt, daß sie kein Menschenleben schonen würden, wenn es galt, ihre Geheimnisse zu schützen.

Was tun?!

[94] Alles in mir lehnte sich gegen diese Machtlosigkeit auf, das alte Feuer des Abenteurers pulste frischer denn je durch meine gesunden Adern, und ich war, schneller als hier die Feder eilt, in das Boot zurückgerutscht …

„Pi, – vorwärts, – – das kleine Boot ins Wasser!“

Pi machte ein sehr bedenkliches Gesicht.

Half alles nichts …

Infolge des Lärms, den die Nußschale beim Hinabgleiten in ihr Element verursachte, war Kosima erwacht und trat, Black im Arm, zu uns.

Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als ich ihr mein Vorhaben mitteilte.

War es Schreck?!

… Ihre kleine Hand berührte schweigend meinen Arm …

„Auf keinen Fall dulde ich das, Olaf … Wir müssen zunächst beobachten und …“

„… und dann kehrt die Flut zurück, Kosima, die Riffe verschwinden, und die Erdfahlen zeigen sich nicht! – Keine Widerrede, – – ich versuche es …“

Etwas betroffen von meinem scharfen Ton setzte sie sich still auf den Bootsrand. – Ich stieß die Nußschale ab, sie war kaum für drei Personen berechnet, und wenn ich zusammengekauert ruderte, konnte man mich kaum bemerken.

Ich kam nicht weit.

Irgendwo vor mir inmitten der Riffelder blitzte ein grünes Licht, stieg geisterfahl empor, neigte sich und erlosch: Eine Leuchtkugel!

Zweifellos ein Signal …

Galt das mir? War ich entdeckt worden?

Ich ließ die Riemen schleifen, das Boot glitt [95] hinter einen der Felsbuckel, ich schlug den Haken ins Gestein und befestigte das winzige Fahrzeug, kroch auf den schleimigen, pflanzenbewucherten, nassen Stein und lugte mit dem Fernglas ringsum.

Und – ich sah etwas … Weit im Westen in den unbekannten Kanälen sauste die Pinasse dahin, scheinbar auf mein Riff zu …

Ich war bemerkt worden, aber, wenn die Erdfahlen und ihre farbigen Sklaven glaubten, mich hier so einfach abtun zu können, so irrten sie sich gründlich.

Ich holte mir die treue Sniders aus der Nußschale … Fünfzig Patronen hatte ich mit … Und fünfzig Schuß würden wohl Pi und Kosima alarmieren und warnen. Wir hatten vereinbart, daß sie mit dem „Mac Intock“ vorläufig hinter ihrem Granitwall liegen bleiben sollten, falls ich angegriffen würde. Der Mond mußte noch vor Tagesanbruch untergehen, und dann würde bereits die Flut einsetzen und bei Dunkelheit ein Entweichen leichter sein.

Ich beobachtete die große, schnelle Pinasse unausgesetzt. Sie fuhr ohne Lichter, ihr Führer mußte jeden Meter der Kanäle genau kennen, sonst wäre es Wahnsinn gewesen, mit etwa zwanzig Knoten dahinzujagen.

Daß mir sehr behaglich zu Mute – nein!

Die Begum hatte uns durch die Boje gewarnt, wir hatten durch List die Robinsonklippe verlassen, wir hatten mit der Pinasse Schüsse gewechselt, einen Mann verwundet.

Mein Schicksal war besiegelt: Die Pinasse kam immer näher, – – noch zweitausend Meter, – – noch tausend …

Ich griff zur Waffe …

[96] Und da, als mein Herz doch etwas eiliger klopfte, schwenkte das starke Motorfahrzeug mit seinen schwarzen Aufbauten nach Nordwest ab, benutzte eine breite Rinne, – – und ließ eine weiße Leuchtkugel steigen.

Ich wandte den Kopf …

Und im Nordosten auf freier See schoß gleichfalls ein weißer Stern empor, dem ein grüner, dann ein roter folgten.

Von dem Schiffe selbst war nichts zu sehen.

Doch die Pinasse verriet die Richtung, in der das zweite Fahrzeug zu suchen war.

Allmählich schälte es sich aus dem milchigen Dunst der Ferne heraus: Ein Zweimastschoner, ein größerer schlanker, flinker Segler. – Erst später merkten wir, daß die „Libertas“ kräftige Motoren besaß.

Ich atmete auf …

Ich konnte feststellen, daß die Pinasse neben dem Schoner festmachte, daß sie eine volle Stunde neben ihm blieb.

Dann erst fegte sie davon, hinter sich einen Schaumberg nachziehend, und … steuerte hart an den äußersten Klippen gen Süden, offenbar, um … zu spionieren, also aus Vorsicht.

Ein Glück, daß wir den Mast umgelegt hatten, ein Zufall, daß man den „Mac Intock“ nicht bemerkte.

Die Pinasse verschwand gen Norden, lief wieder durch die Kanäle, und ich beeilte mich, den „Mac Intock“ zu erreichen, der dann, als die Pinasse endgültig ihrem unbekannten Ziele zu in dem Riffelde untergetaucht war, schleunigst die Verfolgung des Schoners aufnahm, keine einfache Sache, denn wir mußten stets so weit hinter ihm [97] bleiben, daß wir nicht gesehen würden, außerdem auch nicht zu viel Distanz zwischen uns legten, damit er uns nicht entwischte.

… So gelangten wir nach Buena Vista, nach dem famosen Hotel „Union Jack“ und in die berückende Nähe der schönen Dolores Santillo …

– – Ich darf diese beiden Striche vor diesen Absatz mit gutem Recht hinmalen, denn ich bin wieder in der Gegenwart, und die Gegenwart ist unser Versteck am Kap San Antonio, ist die Nähe der „Libertas“ mit ihren zerbeulten Niggerschädeln und der haßsprühenden Dolores, ist meine kleine liebe Kosima, Pi und Mr. Black …

Das Schönste von all dem Gegenwärtigen bleibt Kosima mit den Sammetaugen, mag sie auch noch immer Kosimo spielen und sich das Haar zur Krimmermütze brennen.

Sie schläft …

Rings um den „Mac Intock“ ragen buschreiche Felsen empor, über uns hängt ein halb entwurzelter, mächtiger Mahagonibaum, dessen Äste und Zweige um uns her eine Laube bilden.

Es ist Mitternacht …

Zeit für mich …

Pi wird sofort erscheinen, dann übernehme ich die Wache an der anderen Bucht, wo der Schoner als Lazarett im Verborgenen ankert und Sennora Dolores Schminke und Puder und Lippen- und Augenbrauenstift entbehren könnte …

Was sie nicht tut.

Sie malt sich genau so grell an wie in Buena Vista, – Zur schönen Aussicht.

Kosima ist mir mit ihrer braunen Gesichtstusche lieber …

Pi ist da.

[98] „Was Neues?“

„Nichts … Aber die Kerle, so weit sie schon krauchen können, sind mißtrauisch wie die Madenhacker …“

Ich nehme die Büchse …

„Wiedersehen, alter Pi … Um fünf löst mich Kosima ab …“

– – Ich mache mich auf den Weg gen Nordwest zur anderen Bucht.


11. Kapitel.
Die Agentin Dolores.

Wenn man einmal die geographischen Kenntnisse eines Durchschnittsgebildeten prüft, wird man mindestens neunzig Prozent dieser Damen und Herren nur raten können, sich das Schulgeld wiedergeben zu lassen.

Und wenn man einmal sogenannte klassische Abenteuerromane liest, zu denen ich auch Jack Londons Arbeiten zähle, ist man erstaunt, wie unrichtig diese Autoren das geographische Wissen ihrer Leser beurteilen und wie wenig sie darauf Wert legen, in ihren Büchern dem großen Publikum neben der gemilderten Sensation auch lehrreichen Stoff zu bieten.

Ich möchte zum Beispiel Herrn Rechtsanwalt Schulze oder Herrn Doktor Müller fragen, welche Länder und Inseln den Golf von Mexiko umgrenzen. Es würde eine Riesenpleite werden!

Und wenn ich gar wagen wollte, nach der Insel Cuba zu fragen, würden mir achtzig Prozent antworten: [99] „Dort wird famoser Tabak gebaut!“ – Das wäre alles!

Und das ist sehr wenig, – „man“ hat eben andere Interessen, man begeistert sich für die Erzeugnisse aufgezäumter Literatur, die mit einem wohlassortierten Lager von Geistreicheleien aufzuwarten vermögen, die in stets veränderter Form – die Sprache ist ja so überreich an Ausdrücken – das gleiche sagen und nichts als Blender sind, hinter deren geistigem Scheinwerfer sich immer dasselbe verbirgt: Mangel an Phantasie! Sie haben es verlernt, das eine, das den Dichter ausmacht: Aus eigener Fundgrube der Erfindungskraft zu schöpfen, ihre Gabe, eigens zu ersinnen, ist verdorrt, und was sich da alles schwülstig, gespickt mit Fremdworten als schillernde Seifenblase in Druckerschwärze aufbläht, ist bei unvoreingenommener Betrachtung ein entweder perverses oder giftig-spöttisches oder menschliche Charaktere zerpflückendes Etwas.

Merkwürdig, daß Dumas’ „Drei Musketiere“ und Eugen Sue’s „Ewiger Jude“ noch immer leben! Wer wird nach etwa achtzig Jahren noch von denen sprechen, die heute auf lackierten Thronsesseln hocken, unter deren Sitz sich die Vorratskammer an „Esprit“ befindet und allmählich gen Himmel … duftet?!

– Krause Gedanken flattern mir zu wie die Nachtfalter, die der Lampenschirm durch die Vorhänge der Heckkammer lockt und die, selbst als Nachttiere von der Helle verführt, an dem heißen Glase der Lampe sich die Beinchen allzustark wärmen und eilfertig umhertrippeln und doch immer wieder dem höllischen Feuer nahen – wie mein flatterndes Denken, das nicht zur Ruhe kommt und [100] dem Erlebnis der vergangenen Nacht nachspürt bis in die feinsten Verästelungen, obwohl da ein lohender Feuerring von dunklen Rätseln stets aufs neue dieses Mühen mutlos zurückscheucht.

Bevor ich jedoch auf diese Nacht, die bereits dem Abgeschiedenen, dem Vergangenen angehört, zu sprechen komme, möchte ich, neben mir die große, etwas zerfetzte Seekarte des Golfes von Mexiko, das nachholen, was hier zu eigener Auffrischung des Gedächtnisses längst hätte gesagt werden müssen.

Ein Wasserbecken, an der breitesten Stelle 1300 Kilometer von Ost nach West messend (zwischen Südflorida und Nordostmexiko) liegt da umgrenzt von Festland, Halbinseln und Inseln im Südwesten Nordamerikas: Golf von Mexiko! Gen Osten eingezäunt von der großen Halbinsel Florida und von der Insel Cuba, schickt der Golf durch die Meeresstraße zwischen diesen beiden den aus seinen Tiefen aufsteigenden indigoblauen Golfstrom durch den ganzen gewaltigen Atlantik, spendet nördlichen Gestaden bis Norwegen hinauf seine Wärmemengen und beeinflußt Witterung und damit Ertragsfähigkeit des Bodens in weit stärkerem Maße, als dies gemeinhin bekannt ist. Im Süden ist wieder die langgereckte Insel Cuba, ferner die Halbinsel Yucatan und Teile Mexikos, die dieser unendlich heißen Waschschüssel als Wandung dienen. Der Yucatan-Kanal vermittelt den Zugang zum Karibischen Meer noch weiter südlich, und die stärkste Ausbuchtung des Golfes, die Campeche-Bai, ist völlig von mexikanischen Küsten begrenzt, die sich gen Norden bis zum Grenzfluß nach der Union hin, dem Rio Grande, erstrecken, um von hier den Vereinigten Staaten den Strand des Golfes im Norden zu überlassen.

[101] Das ist der Golf. – Nimmt man eine bessere Karte zur Hand, überblickt man seine durch Inselarmut ausgezeichnete Fläche, verfolgt man die Tiefenangaben, so erkennt man unschwer, daß die „Schlafenden Wale“ am Wendekreis des Krebses nur eine unterseeische Fortsetzung der Halbinsel Yucatan nach Nordost sein können. Die Meerestiefe springt von fast 4000 Meter westlich von Habana, dem Nordhafen Cubas, ziemlich unvermittelt auf 200, 100, noch weniger, ein Beweis, daß der Meeresboden des Golfes von der Nordspitze Yucatans einen unterseeischen Höhenzug darstellt, der sich in dem großen Riffeld der „Schlafenden Wale“ bis ans Tageslicht wagt.

Und nun Cuba.

Die Gegend um Kap Antonio herum, die ganzen westlichen Küsten, spitz zulaufend, buchtreich, bergig, waldreich, voller Klüfte und Höhlen, ist gegenüber den anderen Gestaden schon von den früheren Herren, den Spaniern, vernachlässigt worden, und auch das amerikanische Kapital hat sich hier nur ungern festgelegt. Eigentümlich für Cuba ist die selbst im Flachlande sehr häufige Fichte, worauf auch der Name der Insel im Süden „Islas da Pinas“, Fichten-Insel, hinweist. Noch weiter südöstlich findet man die bekannte Rum-Insel, Jamaika, die genau wie Cuba Plantagengebiet für Zuckerrohr darstellt, daher auch Jamaika-Rum.

Daß die Geschichte buntscheckig und blutig wie selten die eines früheren Kolonialbesitzes ist, daß die Vereinigten Staaten dieser großen Insel gnädigst eine Art Scheinselbständigkeit (ähnlich der der indischen Vasallenstaaten) zugebilligt haben und daß es in bestimmten Gegenden mit der Zivilisation noch sehr schlecht bestellt ist, habe ich bereits [102] angedeutet. Wie überall, wo eine Mischlingsbevölkerung mit Negereinschlag die Hauptmasse der Bewohner darstellt, so war auch Cuba von jeher das klassische Land für Revolutiönchen, Putsche, politische Geheimbünde und fragwürdige Unabhängigkeitsbestrebungen, bei denen die Herren Regisseure prächtig verdienten und der Pöbel seine dunkle Haut gratis zu Markte tragen durfte. Bereits 1845 etwa begann Amerika lüstern nach dieser gesegneten Insel zu schielen, und von da an setzte auch die systematische Unterwühlung der spanischen Herrschaft ein, amerikanische Abenteurer sammelten Freikorps, landeten, schlugen sich mit den Spaniern herum, und der klägliche Abschluß dieses Krieges im Dunkeln war die nie aufgeklärte Explosion des amerikanischen Panzerschiffes „Maine“ im Hafen von Havanna am 15. Februar 1898, die amerikanische Kriegserklärung und die Vernichtung der spanischen Flotte im Hafen von Santiago (2. Juli) und der sogenannte Friedensschluß, bei dem die Union für Cuba ganze 20 Millionen Dollar … für die mit eroberte Philippinen-Gruppe (Südchina) bezahlte. Es klingt wie ein häßlicher Witz, daß diese „hohe Politik“ 1846 dadurch eingeleitet wurde, daß ein amerikanisches Konsortium 1846 Spanien allein für Cuba 200 Millionen Dollar geboten[34] hatte, was schlankweg abgelehnt wurde. Rund vierzig Jahre später flog der Panzer „Maine“ zur [… …][35] wurde weit billiger erledigt – Menschenleben zählten nicht, und Kriege sind nun einmal dazu da, einen unbequemen Konkurrenten gründlich ausbluten zu lassen. Man nennt das in der Diplomatensprache „Expansionspolitik“ oder „Selbsterhaltungstrieb eines Volkes“.

[103] – Ich möchte hier nachträglich eine Bemerkung einflechten. Als ich Vorstehendes schrieb, ahnte ich noch nicht, daß auch das Rätsel um die Begum Ariane 3. und ihr Reich Indra gleichfalls mit Politik eng verknüpft war. –

– Die Nacht war wolkig, düster, drückend heiß und regenschwer. Ich turnte nach kurzem Händedruck mit Pi auf den dicken Ast, der über unser Boot hinwegragte, gelangte so ans Ufer, schlich lautlos im Gestrüpp dahin und spannte alle Sinne an, einem der vielleicht inzwischen zu einem Patrouillengang aufgebrochenen Gegner rechtzeitig auszuweichen.

Meine Gedanken irrten trotzdem von der immerhin bedrohlichen Gegenwart zuweilen ab und spürten den unklaren Zusammenhängen abermals nach, die Leslie und Kosima als Geschwister (sie waren bestimmt Engländer) mit dem Geheimnis der blonden stolzen Begum verbanden. Die Hauptfrage blieb: Wie hatten die Geschwister von der Existenz und dem Reich der Begum Kenntnis erhalten, und weshalb hatte Leslie dann allein das Wagnis unternommen, die „Schlafenden Wale“ aufzusuchen?!

Hier stellten sich alle Vermutungen, alle Schlußfolgerungen als müßig heraus. Ich fand keine Antwort, keine Erklärung, und selbst die noch so sehr aufgepeitschte Erfindungsgabe streikte gegenüber dieser Hauptfrage.

Unbehelligt gelangte ich auf die erhöht liegende, buschreiche Felsterrasse, von der aus wir als ständige Beobachter den Schoner mit seiner Millionenladung gerade unter uns hatten.

Ich lugte durch die hohen Grasbüschel hinab.

Das Deck zeigte das übliche Bild: Zwei Laternen [104] brannten, ein Farbiger mit weißem „Turban“ (es war ein Verband, und Pi war schuld daran) lehnte an der Reling, in der Heckkajüte waren die Fenster erleuchtet, und aus dem Schornstein der Kombüse quoll dünner Rauch empor: Der Kapitän war auch nachts an seinen steifen Grog gewöhnt und brauchte ihn jetzt mehr denn je, da mein Fußtritt vor den Speckmagen die Gedärme sicherlich arg durcheinandergerüttelt hatte.

Dolores Santillo wohnte in der Kammer neben der Heckkajüte, auch das wußte ich längst. Aber für Grog hatte sie nichts übrig, sie hielt sich mehr an süße Liköre.

Eins fiel mir jedoch auf.

Pi hatte gesagt, die Kerle seien mißtrauisch wie die Madenhacker, womit er jene seltsamen Vögel gemeint hatte, die in Ägypten und im Sudan den Krokodilen und Nilpferden die Maden aus den Panzer- oder Hautfalten hervorholen und die äußerst wachsam sind und ihre Ernährer stets rechtzeitig vor jeder Gefahr warnen.

Pi hatte nicht zu viel gesagt, – ich erspähte eine zweite Wache, die sich droben am Hauptmast eingenistet und halb in den beschlagenen Segeln versteckt hatte.

Das deutete auf ungewöhnliche Vorfälle hin, und als ich nun noch bemerkte, daß in des Käptens Kajüte häufig Schatten über die hellen, zugezogenen Vorhänge huschten, erschien mir diese Lebendigkeit dort so mitten in der Nacht recht verfänglich.

Der Kerl dort in dem improvisierten Mastkorb, der etwa in gleicher Höhe mit meinem Versteck hockte, war mir äußerst lästig. Daß er ebenfalls den bewußten Pi-Turban trug, besagte noch nicht, daß seine Augenschärfe unter Chang Pis [105] Kopfnüssen gleichfalls gelitten hätte, und ich mußte mich daher sehr in acht nehmen, um nicht bemerkt zu werden.

Aber diese nächtliche Wache, bescheidener Anlaß zu Erinnerungen an weit kitzlichere Situationen, pulverte mich heute mehr als bisher auf und brachte das alte Abenteurerblut zu regerem Pulsieren.

Auf dem Schoner ging irgend etwas vor, etwas Ungewöhnliches …!

Und das verhieß mir vielleicht einige vergnügliche, nervenerregende Zwischenfälle, nach denen ich seit den letzten Tagen, seit dem lebhaften Auftritt im Kielraum der „Libertas“ geradezu dürstete.

Ich wollte nicht einrosten. Das Tempo auf dem Pfade abseits vom Alltag war mir zu gemächlich geworden, die Geschichte mußte irgendwie vorwärtsgetrieben werden, mein neuer Plan, dem Schoner auch fernerhin auf den Hacken zu bleiben und auszuspüren, was Mr. Ernest Gardener, Merida, mit all diesen dunklen Dingen zu tun hätte, war ja an sich ganz schön, kostete aber verdammt viel Zeit und brachte uns vorläufig kaum wieder dorthin, wo der Kern des Geheimnisses zu suchen: Zu den „Schlafenden Walen“ und dem Zugang zu dem Bergwerk der Abgeschiedenen.

Gewiß, – eine sehr angenehme, wenn auch enttäuschungsreiche Ablenkung stellte in diesem Zwischenspiel die süße Kosima mit ihrer schwesterlichen Unbefangenheit und Zärtlichkeit dar.

Das liebe Mädel, dessen Tatkraft und Klugheit ich ehrlich bewunderte, (noch mehr ihre jugendlichen Reize, die sich ohne jede Koketterie offenbarten) hatte sich so eng an mich angeschlossen, daß mir es zuweilen ganz schwül wurde.

Zu schwül …

[106] Graue Schläfen und Silberfäden im blonden Scheitel sind noch lange kein Panzer gegen stürmische Empfindungen.

… Eine Tür knarrt …

Dolores, hinter ihr der Niggerkäpten, betreten das Deck, beide bewaffnet.

Sennor Garzia hat seine Paradeuniform an, und seine linke Brust funkelt von frisch geputzten Orden. – Orden sind da um den Golf herum billig wie Similibrillanten, all diese Republiken habe ihre großen Orden mit wundervollen Bezeichnungen, und wer „Beziehungen“ hat, kann davon soviel „ehrlich“ erwerben, daß er sogar den Hosenboden verzieren könnte.

Garzia begnügt sich mit der linken Brust seiner goldstrotzenden Jacke und einem einzigen Halsorden von Handgröße.

Er sprach mit der Wache, und dann begaben sich Dolores und er über die Laufplanke an Land, biegen in eine Schlucht auf meiner Seite ein und benehmen sich wie Karl May’sche Rothäute auf dem Kriegspfade.

Auch Gauner und Diebe benehmen sich so, und Dolores und Garzia dürften mit ihren „Geschäften“ den blassen Neid des gewiegtesten Hochstaplers erregen.

Ich schiebe mich rückwärts, ich will den beiden auf den Fersen bleiben, denn Garzias große Aufmachung und die Waffen lassen mich das vorausahnen, was ich so sehnlichst wünschte: Beschleunigtes Tempo!!

An mir soll es nicht liegen …

Aber ich habe Pech …

Ein Ast eines der Büsche schnellt rauschend zurück, und der Kerl im Mastkorb reckt den Hals [107] lang, späht hinüber, – ich ducke mich ganz tief, ich verwünsche mein Mißgeschick, Dolores und Garzia werden mir entwischen …

Da fliegt plötzlich eine große Eule hinter mir empor, schwebt um das Schiff und verschwindet im Walde des anderen Buchtufers.

Die Wache zieht den mißtrauischen Schädel wieder ein, – ich bin durch diesen Zufall aller Sorgen ledig, husche davon, erreiche die Schlucht und winde mich durch das Gestrüpp, – vor mir gehen Dolores und Garzia, beide schweigsam vorsichtig, sich immer wieder umblickend, oft stehen bleibend …

Einen Abelsen hinter sich merkt man nicht. Der ist durch eine Schule gegangen, die diese Künste bis zur Vollendung lehrte … Möglich, daß ich harmlos erscheine, möglich, daß ich geduldig bin … Wer mich zu betrügen hofft durch allerlei Mätzchen, muß ganz früh aufstehen. Ich habe Geduld, bin zäh, ich kann warten, aber wenn meine Zeit gekommen, trifft mein Hieb ohne Erbarmen vernichtend: Auge um Auge, Zahn um Zahn, – das alte Gesetz der Wildnis, der Gehetzten, der geduldigen Rächer …!

… Eine Waldblöße dann, im Hintergrund schroffe Felsenhügel …

Fichten rauschen, Büsche duften, eine harmlose große Schlange enteilt und läßt die Beute, ein sogenanntes Hutia, ein merkwürdiges Nagetier, halbtot liegen. Die arme Kreatur schleppt sich in das hohe Gras …

Vor mir ein dünner Knall: Eine kleine Leuchtkugel geht hoch – weiß –, die zweite rot, die dritte grün.

[108] Dolores und der feiste Käpten stehen mitten auf der Lichtung …

Dolores schoß die Sterne in die Höhe, – – Minuten vergehen, dann erscheinen drüben vor den von Dornen und Lianen überwucherten Felsen einige Gestalten …

Ein seltsamer Pfiff folgt …

Und gerade jetzt teilen sich die Wolken, geben den Mond frei.

Vor Sennora Santillo und Garzia stehen vier der Erdfahlen.

Einer ist mein undankbarer Schützling, ich erkenne ihn sofort, die drei anderen sind graubärtige, alte Leute. – Man flüstert … Das Paar liefert die Waffen ab, helle Tücher, mehrfach zusammengelegt, schlingen sich um die Augen der beiden, und geführt wie Blinde nähern sie sich mit ihren Begleitern meinem Versteck, – kaum schnell genug krieche ich zurück, da wendet sich der kleine Trupp zur Seite, und ich beobachte das durchsichtige Schauspiel, wie man Dolores und den Niggerkäpten kreuz und quer über die Lichtung geleitet, zuweilen auch in den Wald, um sie zu täuschen über die Richtung und die Entfernung, in der das wahre Ziel liegt.

Eine Viertelstunde trieben die Aschfahlen es so, bis sie zur Felswand im Süden abbiegen und die Vorhänge stachligen, grünen Gestrüpps auseinanderbiegen und – – verschwinden … Einer nach dem anderen …

Ich ahne, daß die Agentin Dolores besondere Befehle erhalten soll.

Warte …

Habe Geduld …

Und handele richtig, sehe in dem grünen Gespinst einen lauernden Kopf, einen Büchsenlauf …

[109] Warte …

Auch der Aufpasser zieht sich zurück, und von der Seite schiebe ich mich näher …

Da ist hinter den Dornen und Lianen eine natürliche, senkrechte Felsspalte, nicht allzu groß …

All meine Sinne fiebern, wollen Verdächtiges erspähen, hören …

Aus der Kluft weht kühle Höhlenluft, weht der Dunst von schweißigen Körpern, von Tabakrauch – – und … Parfüm. Dunkelheit droht, – und doch: Der brenzliche Duft heißer, brennender Laternen, deren Lack in der Hitze der Flamme Qualm verbreitet, dazu leises Gemurmel, reden ihre besondere, lockende Sprache.

Dann gellt ein Ruf fernher …

Englische Worte …:

„Mörderin, – – Mörderin!!“

Und verstummt jäh …

Eisig rieselt es mir über den Rücken.

Das war nicht Dolores’ Stimme, das war das heisere Organ eines Mannes.

Etwa Leslie?!

Und das entscheidet.

Ich wage mich weiter, tastend, kriechend, Schritt um Schritt …

Komme um eine Biegung …

Laternen leuchten …

Erdfahle Gesichter starren im Halbkreis zu dem mürben, verschossenen, vergoldet gewesenen Prunksessel empor.

– Der Thron der Begum von Indra ist wahrlich kein Prachtstück, aber die Frau selbst …?!


[110]
12. Kapitel.
Das Gericht der Begum.

Die Frau selbst ist Herrin, Herrscherin, unerbittliche Richterin.

Ariane 3. von Indra, vor sich den Halbkreis von zwanzig Erdfahlen, dazu dicht vor dem erhöhten Sessel einen gefesselten Europäer mit scharfen, harten Zügen, die jetzt die Todesangst verzerrt, dazu noch Dolores und den Niggerkäpten halb zur Linken mit freien Augen, – diese Ariane trägt wieder das grüne, eigenartige Gewand und auf dem blonden Haupte ein seltsames Diadem, eine goldene Schlange, zusammengeringelt, den Kopf hochgereckt, mit Edelsteinen besetzt, deren farbige Blitze im Laternenlicht berauschend sprühen.

Diese Frau, die ich nur ein einziges Mal nachts auf der Robinsonklippe sah und deren Bild in meinem Gedächtnis doch genau so fest eingeprägt blieb wie der Kopf auf der goldenen Münze meines undankbaren Schützlings, des fanatischen Beters, braucht weder falsches Pathos noch theatralische Gesten.

Ihre Persönlichkeit wirkt durch sich selbst.

Sie sitzt aufgerichtet da, die Augen flammen, um den herben, stolzen Mund wetterleuchtet grenzenlose Verachtung.

Die Lippen zucken, und der Gefesselte, dem der Schweiß über Stirn und Wangen trieft, heult abermals sein heiseres „Mörderin – – Mörderin!“

Die Züge der Erdfahlen und der beiden Agenten [111] zeigen nicht den gleichen Ausdruck. Die Inder kauern am Boden mit angespannten Muskeln, Haß glüht in den dunklen Augen, die Hände umkrallen die langen, gekrümmten Messer mit den verzierten, altertümlichen Griffen, – – die Tänzerin und der Käpten sind mehr verlegene Zuschauer, versuchen Grimm und Verachtung zu heucheln, und schneiden nur Fratzen, hinter deren Unaufrichtigkeit die Angst sich verbirgt.

… „Mörderin!!“

Der Europäer im halb zerfetzten Tropenanzug ist ein älterer Mann, sein kahler Schädel ist spitz, sein Kinn brutal, die Augen groß und dunkel, – ein stattlicher Mann wäre es, wenn nicht die Todesfurcht seine Glieder schlottern machte.

„… Wenn die Sonne zum zweiten Male aufgeht, stirbst du!“, sagte Ariane hart. „Jahrelang hast du uns betrogen, jahrelang gestohlen, gelogen, geheuchelt …“

Die etwas schwammigen Backen des Angeklagten flatterten in beinahe komischer Weise …

„Du – – du hast kein Recht, mich …“, – seine Kehle versagt, – er muß die Begum von Indra wohl kennen, denn er gibt es auf, seine Phrasen vor ihr hochtrabend hervorzugeifern.

Es ist zwecklos.

Sein Kopf sinkt nach vorn …

Die Frau beugt sich etwas vor.

„Willst du gestehen? Wer waren außer Doktor Ali Achmed und Singh Gapur deine Helfer?“

… Mein Winkel, hinter dem ich an das Gestein geschmiegt kauerte, liegt im Dunkeln. Und mein Gesicht ist so tief gebräunt, mein Kragen und mein Rock aus dem Universalbasar in Buena Vista sind so reinigungsbedürftig, daß ich kaum auffalle.

[112] Ich sehe alles. Ich bin der einzige scheinbar unbeteiligte Zuschauer und Zuhörer. Und doch bin ich weit mehr: Meine Teilnahme an diesem Schauspiel entspringt dem starken Quell meiner Zuneigung für ein tapferes Mädel, das auszog, den Bruder zu suchen und zu befreien. Leslie ist noch immer Gefangener inmitten der „Schlafenden Wale“, und sein Geschick muß hier mit entschieden werden, – wenn nicht heute, dann zu gelegenerem Zeitpunkt.

Des Gefesselten stierer Blick gleitet zur Seite, sucht Dolores’ Augen – unmerklich …

Die Tänzerin hüstelt scharf und greift nach ihrem Tüchlein. Ihr Anzug ist noch immer der gleiche, nur daß eine Leinenjacke das Kostüm vervollständigt.

Um die Lippen der Ariane weht ein Zucken.

„Ich habe keine weiteren Helfer“, erklärt der Mann überhastet. „Ich will euch alles zurückerstatten, ich will …“

„… euch verraten!“, höhnt aus der schweigsamen Runde ein erdfahler Weißkopf. „Kein Erbarmen, Fürstin, – genau so treu und zuverlässig sein Bruder uns viele Jahre diente, genau so niederträchtig hat dieser Schurke unser Vertrauen getäuscht.“

Der Chor murmelte Beifall … Die Fanatikeraugen glühten …

Die Frau erhebt sich langsam.

Langsam nimmt sie von ihrem Schoße einen weißen Stab … Es ist kein Stab, es ist die Rückengräte eines Stachelfisches …

Weiß, gebleicht …

Ist wie ein Stab …

[113] Mit einem Knacken zerbricht die Frau das Symbol des endgültigen Urteils.

„Du stirbst, Ernest Gardener!! Übermorgen bei Sonnenaufgang … Wie deine Helfer starben.“

Von rechts her naht lautlos eine stille Prozession, vier Träger, zwei Bahren aus Ästen, darauf zwei verhüllte Körper. –

Der Name Ernest Gardener ist mir ins Hirn geschlagen wie ein Blitz. Betäubt, verwirrt, meine Umgebung vergessend, starre ich den totenblassen Mann aus Merida an, der die Goldsendungen der Erdfahlen weiterleiten sollte – – wohin?!

Die stille Prozession macht halt, – die Decken fliegen von den verhüllten Leibern …

Mit einem wahnwitzigen Schrei wendet Ernest Gardener sich ab und taumelt zu Boden.

Mein Herz jagt.

Dolores ist nach hinten gesunken, der Nigger stützt sie, – – ich habe von den Gesichtern der Toten nichts gesehen.

Ein Wink Arianes, – – Dolores und Garzia sollen wieder ins Freie geführt werden, und für mich wird es höchste Zeit, die eigene Haut in Sicherheit zu bringen. Die drückende Schwüle der regenschweren Tropennacht empfängt mich, gleich einem Trunkenen schlüpfe ich ins Gestrüpp, krieche unter stechende Ranken, und der Schmerz rüttelt mich wach.

Wie ein Spuk war das soeben Erlebte, – meine Gedanken kreisen um den einen Namen …[36] den einen Namen:

Ernest Gardener!

Und um das, was noch Rätsel geblieben, was allerdings nie eine Lösung fand: Das Bergwerk [114] der Abgeschiedenen, seine Entstehung, seinen Zugang, seine Bewohner und seinen Zweck!

Was scherte es mich, daß jetzt Dolores und Garzia wieder mit verbundenen Augen auf der Lichtung umhergeführt wurden, daß ihre Begleiter die beiden schließlich davonschickten, zurück zum Schoner …

Meine Gedanken kreisten … Tasten umher wie Spinnenbeine, die ins Leere greifen und doch einen Halt suchen, drehen sich rückwärts, beschwören Vergangenes herauf, zaubern mir das Abenteuer mit dem fanatischen Beter wieder vor die Seele. – – Die Goldmünze, den Scheiterhaufen, die stinkenden, verbrennenden Kopfhaare, das Erscheinen Arianes, unsere Flucht von der Klippe … Und all das fliegt vorüber wie ein überschnell gedrehter Film …

All das heißt:

Bergwerk der Abgeschiedenen!

Wenn irgend etwas imstande war, mich endlich vollends wieder Herr meiner selbst werden zu lassen, dann waren es eben die Aschfahlen, die jetzt, zu sechs Leuten die Kluft verlassend, mit einer umständlichen Eile auch anderswo mit ihren plumpen Sandalen Spuren hervorriefen, die, falls es Dolores und Garzia gelüsten sollte, etwa doch nach der Höhle zu suchen, die beiden in die Irre führen mußten.

Die Männer bewegten sich nicht lediglich auf der Lichtung, sondern erklommen die Anhöhen an verschiedenen Stellen, entschwanden mir aus den Augen, kehrten zurück, verursachten neue Fährten und trieben dies eine gute Stunde, obwohl ihr Bemühen, das mich wiederholt der Gefahr des Entdecktwerdens nahebrachte, im Grunde unsinnig blieb.

[115] Eine Dolores und den feisten Nigger mit dem Eimerschädel mochten sie dadurch wohl täuschen. Ich will mich nicht aufblähen: Mich hätten sie auf diese Art niemals genarrt, und letzten Endes war ihre ganze Arbeit doch nur mir zum Vorteil, da sich auch die vier daran beteiligten, die das Paar zum Schoner zurückgeleitet hatten.

Ich wagte sehr viel – vielleicht sehr viel, als ich der Eingebung des Augenblicks gehorchend in günstigem Moment in die Felsspalte schlüpfte und meine Hoffnung, drinnen keine Wächter zu finden, nicht betrogen sah.

Vier Schiffslaternen standen in der Nähe des Einganges brennend am Boden. Eine fünfte, nur eine Handlaterne, war erloschen.

Eiligst nahm ich sie, zündete sie an, und jetzt betrachtete ich mir die nur mäßig große Grotte genauer.

Ich fand sie zum Teil mit Schiffsmöbeln angefüllt, und verschiedenes, das hier unwichtig, verriet mir, daß dieser unterirdische Platz einst in bewegten politischen Zeiten der Wohnraum von Verschwörern und Geheimbündlern geworden. Unter anderem stand in einer Nische ein plumper, veralteter Prägstock, eine Maschine zur Herstellung von Münzen, und Goldreste auf dem eisernen Tisch und Fehlstücke bewiesen mir, daß hier später die Begum Ariane die Münzen mit ihrem Kopf hatten schlagen lassen.

Diese flinke, vorsichtige Prüfung der Höhle endete mit einem ebenso schnellen Eindringen in den Felsengang, aus dem vorhin die Träger mit den beiden Bahren erschienen waren.

Der Gang senkte sich, hatte kaum zweihundert Meter Länge, ich spürte wärmere Luft und den [116] Salzhauch des Meeres und den Duft der Wälder und stand in einer Wassergrotte, in der die beleuchtete Pinasse vertäut war.

Mir genügte dies zunächst.

Zur rechten Zeit erreichte ich das Freie, verbarg mich wieder und sah die zehn Erdfahlen in der Spalte untertauchen, – sie glaubten, für ihre Sicherheit genügend getan zu haben.

In Wahrheit hatten sie es mir ermöglicht, den Ankerplatz der Pinasse und verschiedenes andere zu entdecken, woraus ich ganz bestimmte Schlüsse ziehen konnte.

Der Schoner war hierdurch für uns von minderer Bedeutung geworden, und da dessen Beobachtung fernerhin nur gefährlich, kehrte ich schleunigst zu unserer versteckten Bucht zurück.

Es war halb vier morgens.

Der neue Tag meldete sich bereits, und ich weckte Freund Pi, rüttelte ihn kräftig und machte ihn durch meinen Bericht schneller munter als durch einen Eimer kaltes Wasser, der übrigens hier kaum zu haben gewesen, da das Meer lauwarm war und die Bäche am Land auch alles andere als kühl.

Pi schob ein Stück Priem von Walnußgröße in die Backe und stopfte mit seinen Spinnenfingern nervös seine Pfeife. Der Name Ernest Gardener hatte auch auf ihn wie ein derber Hieb gewirkt, und er rieb sich seine Stirn nachdenklich und verblüfft mit solcher Ausdauer, daß er die Falten und Fältchen dort für einige Zeit wegmassierte.

„He, das ist eine dumme Sache“, lautete sein erster Ausspruch, als er nach dieser Überraschung Worte fand.

Ich konnte diese Redensart nur für äußerst unangebracht erklären.

[117] „Es ist ein Glückszufall, Pi …! Keine dumme Sache. Ich sagte Ihnen ja, daß die Inder den Motor der Pinasse in der Wassergrotte gründlich überholen und mindestens noch zwei Tage brauchen, um ihn wieder zusammenzusetzen. Wir werden uns der Begum bemächtigen und Leslie gegen sie austauschen.“

Wir saßen in unserem Heckverschlag, das erste Tageslicht traf Pis[37] Gesicht, und der Blick, den er mir jetzt zuwarf, war einer von jener Art, die ich nicht liebte: Anmaßend, geringschätzig, halb bedauernd.

„Fragen Sie doch, Miß Kosima“, meinte er vorsichtig …

Seine Bemerkung ließ die Wahrheit in mir aufdämmern.

Ich packte seine Hand.

„Pi, – – weshalb Kosima?!“

Unsere niedliche gefärbte Mulattin wäre vielleicht noch nicht erwacht, aber Mr. Black, stets ein Frühaufsteher, kam nun zwischen den Vorhängen der Bugkabine hervorstolziert, flatterte krächzend auf den Bordrand[38] und begrüßte uns mit einem gedämpften: „Idiot – – großer Idiot!“

Das laute Schreien hatten wir ihm abgewöhnt. Mochte unser grünes Versteck in den Ästen des entwurzelten großen Mahagonibaumes auch leidlich sicher sein, Blacks Wortschatz hätte uns verraten können.

Durch seine Begrüßung, die er bei einiger Höflichkeit besser in „Guten Morgen“ umgestaltet haben könnte, erwachte auch Kosima und war rascher bei uns, als mir lieb.

„Niemand beobachtet den Schoner mehr, – [118] weshalb nicht?“ fragte sie erregt, da sie mit Recht neue Ereignisse vermutete.

Pi, dessen siebzig Lenze (genau kannte er sein Alter nicht) ihn in peinlichen Lagen hier zum großväterlichen Friedensengel erhoben, sagte seltsam weich, so weit sein Organ überhaupt weich zu nennen ist, – er sagte also wie eine nicht ganz sorgfältig geölte, kreischende Tür:

„Miß, setzen Sie sich …“

Seine Feierlichkeit ließ Kosima das Böseste ahnen.

„Was … gibt es?! Ihre Sammetaugen hingen angstvoll an mir, und ich tat in diesem Falle das richtige, zog sie auf meine Knie und beruhigte sie, wobei ich selbst etwas unruhig wurde.

Mein Schoß war Kosimas liebster Freundschaftssessel.

Pi, alter Pirat, fragte blumenreich:

„Miß, Sie kennen den Mann, der in Merida ein prächtiges Haus hat und der das Gold im Übermaß verdient …?“

Schon damals, als Ernest Gardeners Namen zwischen uns als der des Vertrauten der Begum nach der Szene im Kielraum des Schoners genannt worden war, hatte sich das Mädchen recht schweigsam verhalten. Jetzt schmiegte sie sich fester an mich, und … nickte widerwillig …

„Ja – – leider!“

– Ein neues Stück des Schleiers, der über den Geheimnissen der blonden Begum hing, war gelüftet worden …


[119]
13. Kapitel.
Kosima Gardener erzählt.

Der neue Tag erwachte, und mit ihm die Vögel in dem dichten Urwald, mit ihm die Robben, die auf den Steinen der Bucht friedlich geschlummert hatten unter dem Schutze ihrer Wachtgenossen …

Über den fahlen Himmel flogen die ersten Sonnenstrahlen, dieser Himmel verhieß einen klaren Tag, und über Kosimas gefärbte Züge zogen sich in krassem Gegensatz hierzu dunkle Schatten.

„Ja – – leider!“

Chang Pi hüstelte, und Mr. Black, der dies stets als Aufmunterung ansah, wollte mit einer Schimpfkanonade antworten.

„Maul halten!“, zischte Pi.

Black flatterte auf Kosimas Schulter und zeigte dem alten Bratapfel gereizt den aufgerissenen Rachen.

Die Stimmung fiel vom Tragischen ins Tragisch-Komische – zum Glück.

Um zu verhüten, daß Pi allzu grobschlächtig vorginge, erklärte ich behutsam:

„Kosima, es ist an der Zeit, zwischen uns dreien alle Unklarheiten zu beseitigen. Ernest Gardener dürfte …“ – mir wurde der Nachsatz doch schwer – „Ihr Onkel sein, liebe Kosima.“

Ihr Gesichtchen preßte sich an meine Brust.

„Ja …“, hauchte sie bitter … „Mein und Leslies Onkel … Ich heiße Kosima Gardener.“

Ich wartete und blickte Pi mahnend an.

[120] Das Mädchen hielt sich sehr tapfer, weinte nicht, aber ihr Körper zuckte in meinen Armen, und Black, diesmal das Richtige treffend, krächzte sanft:[39] „Arme Kosima … arme Kosima …!“ und zwickte Kosima noch sanfter in das rosige Ohrläppchen.

Wir warteten.

Das Sonnenlicht überflutete fast den ganzen Himmel, die Robben zogen auf Fischfang ins Meer, die faulen Krokodile im Uferschlamm (Kuba kennt zwei Arten der großen Panzereidechsen) gähnten und klappten mit den Kiefern, und eine Schar Möwen stob wie eine weiße Wolke über die Bucht hinweg.

Kosima hob das Köpfchen, das Haar war heute noch nicht gebrannt, einige Löckchen fielen ihr in die Stirn, und mit festem, entschlossenen Ton sagte sie:

„Olaf, berichten Sie mir erst, was Sie während Ihrer Wache erlebten … Sie brauchen mich nicht zu schonen. Ich vertrage alles, Olaf, denn ich habe bereits mehr gelitten, als sonst einem Mädchen von neunzehn Jahren aufgebürdet wird.“

Berichten?!

… Daß Ernest Gardener als Dieb zum Tode verurteilt worden?!

Ich zauderte, – doch die Wahrheit mußte ja schließlich doch an den Tag, und es hieß nur Kosima quälen, ließe ich sie länger im Ungewissen.

Sie rührte sich nicht, sie blickte starr vor sich hin, um den Mund einen harten Zug, der noch nie so scharf ausgeprägt gewesen.

Sie fragte nichts …

Und dann, als ich geendet, kam die peinvolle Pause, das drückende Schweigen, sogar Mr. Black verhielt sich ausnahmsweise still.

[121] Kosima begann zu sprechen. Klar, in kurzen Sätzen, – ein seltsames Bild rollte so vor uns ab …

Ein Lebensbild eines Fanatikers:

Ihres Vaters! – –

Sie war nicht Engländerin, ihre Heimat war die grüne Insel Irland, wo das rötliche Haar daheim, wo der Freiheitsdrang nimmer schlief.

Als Irländer hatte ihr Vater Arthur Gardener auch für die Selbständigkeitsbestrebungen anderer Völker volles Verständnis.

Mehr noch: Er half, wo er konnte, er war Musiker, Künstler, und doch ein zäher, kluger, kraftvoller Mann, der bei den Engländern verhaßt war.

Als er fühlte, daß es mit ihm infolge eines inneren Leidens zu Ende ginge, waren seine beiden Kinder Leslie und Kosima bereits erwachsen, und deshalb vertraute er ihnen in großen Umrissen ein Geheimnis an, das seine häufigen langen Reisen und seine überraschende Kenntnis fremder Länder und auch sein Wissen über nautische Dinge genügend erklärten.

Nicht ganz erklärten, denn seine Zunge war durch einen Eid gebunden, genau wie die seines Vaters, seines Großvaters, denn drei Generationen hatten den Indern der „Schlafenden Wale“ bereits treu gedient.

Er erzählte seinen beiden Kindern, von denen Leslie nur seine künstlerischen Neigungen geerbt hatte, im übrigen jedoch ein weichlicher, träumerischer Charakter geblieben, folgendes:

„Im Golf von Mexiko gibt es ein ausgedehntes Riffeld, in dessen Mitte die Natur ein Wunder geschaffen hat, das durch einen Zufall einer Anzahl flüchtiger indischer Rebellen bekannt wurde. Aus [122] diesem Bergwerk mitten im Meere gruben und wuschen diese Inder, die einige Frauen und Mädchen bei sich gehabt, Körnergold heraus, schmolzen es zu Barren und verschickten es in die Heimat zur Unterstützung derer, die Indien von dem englischen Löwen endgültig befreien wollten. Mein Großvater, der den Rebellen mit zur Flucht verholfen hatte, war der erste Gardener, der das Geheimnis der fernen indischen Kolonie kannte und ihnen mit Rat und Tat auch bei der Überführung des Goldes nach Indien Beistand leistete. Mein Vater und ich übernahmen dies als heilige Pflicht, und zur Zeit erledigt mein Bruder Ernest in Merida alles Nötige mit derselben Treue, die in unserer Familie teuerstes Erbgut ist. Euch beiden, meine Kinder, teile ich dies alles nur deshalb mit, damit ihr bei einem unerwarteten Ableben meines Bruders Ernest eingeweiht seid, und dir, Leslie, übergebe ich diese goldene Münze an goldener Kette, die dir, falls nötig, die Wege zu unseren alten indischen Freunden ebnen wird. Sollte es je nötig sein, daß du, der seine Neigung ganz künstlerischen Bestrebungen zugewandt hat, dieses Erbe antreten müßtest, so brauchst du lediglich von dem Hafen Progreso, Nordyucatan, mit einem Schiff mit zuverlässigen Leuten hinüber zu den Riffeldern zu fahren, – alles weitere findet sich dann von selbst. Ich möchte noch betonen, daß wir Gardeners niemals persönliche Vorteile aus dieser Verbindung mit den Indern gezogen haben. Schwört mir nun in die Hand, dieses Geheimnis streng zu hüten und es nur dann preiszugeben, wenn ganz dringende Umstände vorliegen. Ich kenne euch und vertraue euch.“ –

Kurz darauf verstarb Arthur Gardener, und [123] seine beiden Kinder hatten über dem großen Schmerz um diesen Verlust, den sie nicht überwinden konnten, die geheimnisvollen Beziehungen zu den Indern fast schon vergessen, als eines Tages ihr Onkel Ernest überraschend bei ihnen erschien und sie ausforschte, was sie über die indische Niederlassung im Golf von Mexiko wüßten. In ihrer Arglosigkeit teilten sie ihm alles mit, und Ernest Gardener bat Leslie hierauf, ihm die Kette und die Münze auszuhändigen, da beides in Merida in seinem Tresor sicherer aufgehoben sei. Leslie wollte ohne weiteres diesen goldenen Ausweis hergeben, aber die energischere und bereits mißtrauisch gewordene Kosima widersprach, und nur um ein Zerwürfnis mit dem Oheim zu vermeiden, der es außerdem vortrefflich verstand, den liebenden Verwandten und Biedermann zu spielen, ließ auch Kosima sich umstimmen. Ernest Gardener reiste nach Mexiko zurück und versprach beim Abschied den in bescheidenen Verhältnissen lebenden Geschwistern, sie fernerhin durch Geldspenden zu unterstützen, die denn auch sehr reichlich eintrafen und sogar die immer noch etwas argwöhnische Kosima völlig beruhigten. – Jahre vergingen. Dann schrieb Ernest seinem Neffen Leslie – und das war vor etwa vierzehn Monaten –, daß die bewußte Kolonie nicht mehr bestehe, ein Orkan habe das unterirdische Reich der Fremden ersäuft, und alle seien dabei umgekommen. Aus gewissen Gründen, die er nicht näher erläutern dürfe, sei es jedoch im Interesse der Sicherheit der Geschwister nötig, sofort den Wohnsitz zu wechseln, er schlage vor, nach Italien insgeheim überzusiedeln, und zu diesem Zweck habe er ihnen weitere 3000 Pfund Sterling überwiesen. –

[124] Ich lasse nun Kosima selbst das weitere mit ihren Worten berichten:

„… Inzwischen waren jedoch, und dies ahnte Onkel Ernest nicht, sowohl Leslie als auch ich erwachsene, reife und sehr mißtrauische Menschen geworden, besonders Leslie hatte sich sehr vorteilhaft verändert, betrieb eifrig Sport und hatte seine Weltfremdheit gänzlich abgestreift. Umso leichter wurde es mir, ihn für mein nie beschwichtigtes Mißtrauen gegen den Oheim zugänglich zu machen, der stets als äußerst geizig, selbstsüchtig und jeglichen Familiengefühls bar uns bekannt gewesen. Dieser letzte Brief Ernests, den ich nicht mehr als Oheim bezeichnen möchte, kam uns so merkwürdig vor, daß wir, noch stutziger gemacht durch eine weitere Geldsendung von 2000 Pfund, den Eindruck gewannen, Ernest wollte uns nur aus Belfast, unserer Heimat, für immer verschwinden lassen.

Zum Glück war Leslie nicht mehr der Träumer von einst. Er war es, der an Ernest in Merida zurückschrieb (das Konsulat war diesem längst entzogen worden), wir würden seine Anregungen sofort befolgen. Wir lösten auch unseren Haushalt auf, reisten jedoch nicht nach Italien, sondern nach Mexiko-City und von da unter dem Namen eines Ehepaares Wodston nach der Hafenstadt Progreso. Leslie kaufte eine Jacht, wir unternahmen mehrfach Kreuzfahrten nach den Riffeldern, bis ich eines Tages an Malaria leicht erkrankte, in Progreso blieb und Leslie allein wiederum feststellen wollte, ob die Kolonie der Inder noch vorhanden sei.

Er kehrte nicht zurück.

Was ich Ihnen, Olaf und Pi, über meine Bemühungen, Leslie zu finden, auf der Robinsonklippe [125] erzählte, ist Wort für Wort wahr. Leslie bevorzugte jene Rasierseife mit der Aluminiumhülse, er hatte davon auf der Jacht einen ganzen Vorrat mit, und die erste Hülse mit dem Zettel fand ich dort, wo ich es Ihnen erzählte, auf jenem Laguneninselchen bei Catoche. Da meine Geldmittel inzwischen erschöpft waren, da ich mich anderseits nicht an Ernest, der uns grob belogen hatte, wenden konnte, wählte ich den ungewöhnlichen Ausweg, mich als Mulattenkajütboy zu verdingen. Ich war ja nun, was Ernest betrifft, fest überzeugt, daß er als Freund und Agent die Inder schamlos bestehle und uns beide nur deshalb aus Irland entfernen wollte, damit wir ihm nicht irgendwie einmal hinter seine Schliche kämen.

Sie, lieber Olaf und Pi, werden nach alledem begreifen, daß ich nicht freiwillig den Namen Gardener in den Schmutz zog und die Verfehlungen Ernests zunächst geheimhalten wollte.

So, wie die Dinge sich jetzt entwickelt haben, nehme ich an, daß Ernest um dieselbe Zeit, als er uns nach Italien abschieben wollte, gemerkt haben muß, daß die Inder ihm nicht mehr recht trauten und daß er Leslie und mich verschwinden lassen wollte, damit wir nicht einem Abgesandten der Inder, der sich durch Kette und Münze auswiese, verrieten, wie Ernest uns heuchlerisch die Münze abgenommen hatte und wie überreich er uns durch Geldsendungen unterstützte, die seine ganzen Verhältnisse weit überstiegen.

Was nun die Begum Ariane 3. und das Bergwerk der Abgeschiedenen betrifft, vermag ich Ihnen nichts, gar nichts anzugeben. Ich tappe in diesen Fragen genau so im Dunkeln wie Sie beide, meine Freunde.

[126] Das ist Leslies und meine Geschichte.

Wenn mir etwas besonders unverständlich bleibt, so ist es das Verhalten der Begum gegenüber meinem Bruder, der doch zweifellos der Fürstin seinen Namen genannt und ihr alles Nötige mitgeteilt hat. Offenbar glaubt sie ihm nicht, daß er Arthur Gardeners Sohn ist, hält ihn womöglich für einen Spion oder Betrüger – wie gesagt, dieser Punkt ist mir vollkommen unklar.“

Mit jedem Wort, das sie ruhig und überlegt vorbrachte, mit jedem Satz gewann ihre Stimme an Festigkeit. Nachdem sie jetzt die Tragik, die den Namen Gardener durch die Betrügereien jenes Ernest verdunkelt hatte, restlos vor uns ausbreiten konnte, da sie sich an den dem Vater geleisteten Schwur nicht mehr gebunden fühlte, war ihr ganzes Wesen von Grund auf verändert. Ihre Augen strahlten wie befreit von einer häßlichen Hülle, und mit fast heiterem Freimut betonte sie, alle ferneren Beschlüsse lege sie in meine Hände … „Denn Sie sind mein Freund, Olaf, und Pi ist mein guter Kamerad geworden, und Mr. Black mag ich auch nicht missen, – ihr drei gehört für mich zusammen.“

Welche schwere Verantwortung sie mir auflud, ahnte sie kaum. Mochte Ernest Gardener auch ein Dieb sein: Ihn von den Leuten der Begum ermorden zu lassen, durfte ich nicht dulden.

Und Leslie befreien?!

… Es muß bei meinem Plane bleiben, Ariane zu entführen und die Inder zu zwingen, Gardener und Leslie freizugeben.

Eine längere Beratung mit Pi, der für mein Vorhaben sofort Feuer und Flamme war, setzte die Entscheidung für die nächste Nacht fest.

[127] Und was brachte diese Nacht …?!

Menschenentschlüsse scheitern am harten Riff des Schicksals …

– – Ich sitze auf der windschnellen Pinasse der Aschfahlen und schreibe all dies an einem kleinen Schreibtisch nieder, über dem das Bild eines Inders in phantastischer Kleidung, ein künstlerisches Ölgemälde, hängt.

Die Pinasse ist unterwegs nach den „Schlafenden Walen.“


14. Kapitel.
Am Wendepunkt.
.

… Der Tag damals nach Kosimas Erzählung schlich endlos träge hin, ein glühend heißer Tag, erschlaffend, doppelt erschlaffend, weil wir bis zum Eintritt der Nacht zur Untätigkeit verurteilt waren.

Pi rauchte unzählige Pfeifen, verbrauchte die doppelte Tagesportion Priem und schliff stundenlang sein Messer und übte sich im Werfen, ölte unsere Pistolen fast zu sehr und zeigte, daß auch er Nerven besäße.

Kosima und ich hockten zumeist nebeneinander auf einem Ast des Mahagonibaumes über unserem Boote, Hand in Hand, und das liebe Mädel hat mir die Beherrschung von Blick und Wort noch nie so schwer gemacht …

Vielleicht war es Absicht … Vielleicht wünschte sie insgeheim oder unbewußt, daß das Kartenhaus der Freundschaft zusammenbräche …

[128] Und ich?! – – Graue Schläfen, Silberfäden, – gewiß, für Kosima nicht zu alt als feuriger Liebhaber, aber … zu verständig. – Ich mich binden, ich verzichten auf diese berauschende Freiheit, die kein Ziel, keine Grenzen kennt?! Hatte mir diese Freiheit abseits vom Alltag nicht soeben ein zwar noch unvollendetes, aber in seinem Aufbau so wunderbar mannigfaltiges Abenteuer beschieden, von dem andere ihr Leben lang zehren könnten! – – Nicht ich …!!

Die Wege abseits vom Alltag waren nun einmal meine Heimat geworden. Ich war ein Heimatloser und besaß doch ein Heim: Das ganze Erdenrund![40]

… Und so kam es, daß Kosima in unserer grünen Naturlaube gegen Abend immer einsilbiger wurde. – Enttäuschung?! – Da mußte denn Mr. Black all die Zärtlichkeiten hinnehmen, die mir vielleicht zugedacht waren, und Black war entschieden verliebt in Kosima, durfte es umsomehr sein, als meine schlanke Freundin nunmehr auf Farbe und Brennschere verzichtet hatte und nicht mehr „Mulatte mit Krimmermütze“ war … – –

Elf Uhr … Dunkelheit … Am östlichen Himmel Wetterleuchten, fernes Grollen … Nach dieser Gluthitze mußte sich zur Nacht ein Unwetter zusammenbrauen. Uns kam es gerade recht.

„… Ich komme mit!“ Kosima blitzte mich energisch an. „Ihr wollt mich wohl wie Black in eine Kiste sperren … Da, – Black schreit wütend, ich werde nicht schreien, – – aber ich komme mit!“

Der brave Bratapfel machte einen Witz.

„Tauende!!“, knurrte er …

Und selbst das Mädel lacht … Die Erinnerung [129] an die Robinsonklippe hat sie nicht vergessen.

„Ohne Tauende, Mr. Olaf, – was soll man da tun?! Mag sie uns begleiten.“

Der bedeckte Himmel gibt nicht einen Stern frei. Die Dunkelheit ist so lastend, daß wir Schritt für Schritt den Weg suchen müssen, – ich voran, hinter mir Kosima, Pi als Nachtrab. So schlichen wir zu jener Lichtung, nur das Wetterleuchten spendet für Sekunden fahle Helle, und ich erkenne rechtzeitig vor der Felsspalte zwei hockende Gestalten, die Büchsen über den Schenkeln: Wächter!

Wir liegen im Gestrüpp und warten. Wenn Cuba so reich an Giftschlangen wäre wie Yucatan, würde dieses Warten auf Ablösung der Posten höchst ungemütlich gewesen sein. Die große Insel kennt kaum ein giftiges Reptil. Was hier an Schlangen vorhanden, und es gibt Arten bis zu fünf Meter Länge, wird nur durch die Muskelkraft des Leibes gefährlich. Pi hat schon verschiedene aufgespießt, abgehäutet und die Haut präpariert.

Die Zeit schleicht. Die Nerven prickeln … Die Gewitterschwüle badet den Körper in klebrigen Schweiß. Kosima atmet schwer … Pi lutscht an seinem Priem und beehrt geräuschlos die Gräser mit Tunke.

Die Zeit schleicht …

Endlich!!

Aus der Felsspalte fällt Lichtschein, wir hören flüstern, – der Lichtschein verschwindet, zwei andere Wächter schlendern eine Weile umher und …

„Rasch – – mir nach!!“

Sie sind keine zehn Schritt entfernt, aber die Finsternis lagert wie schwarze Schleier über der [130] Blöße, und im Nu sind wir in der Steinöffnung, bleiben im Felsgange stehen und horchen.

Hören nur das Pochen der eigenen Herzen und das Rauschen in den Ohren …

„Weiter – – leise!!“

Wir tasten uns vorwärts, – – und zucken hoch.

Hinter uns ein dumpfer Aufschrei …

Stille …

„Weiter – – bis in die Höhle!“ – Wir schleichen Hand in Hand vorwärts, ich habe mir die Einzelheiten des Innenraumes genau eingeprägt, ich führe meine lautlosen Begleiter zu dem hohen Steinpodium, auf dem der zerschlissene Sessel steht, dessen ungefüge Breite uns decken wird. Wir wissen nicht, was da draußen geschehen ist, wir können uns den dumpfen Schrei nicht recht erklären, ein Warnungsruf eines der Wächter – – was sonst?!

Die Totenstille ringsum, nur aufreizend unterbrochen durch unsere hastigen Atemzüge, die mehr die Erregung und die Ungewißheit als die Angst vor den Erdfahlen verursachen, wird plötzlich belebt durch das Schlurfen und Tappen zahlreicher Füße und das Rauschen von Kleidungsstücken. Metall klirrt, eine dünne Stimme wispert grollend eine Warnung, und diese Stimme kenne ich: Die der Tänzerin Dolores Santillo!

Mein Hirn arbeitete fieberhaft, ich habe den Blick nicht vergessen, den Dolores dem Betrüger Ernest Gardener während der Gerichtsszene zugeworfen hat, ich höre noch das vielsagende, verheißungsvolle Hüsteln der Santillo, und die ganzen unklaren Umstände, die uns in dieses Versteck zwangen, werden mir mit einem Schlage zu einem lichten [131] Bilde: Käpten Garzia, Dolores und die Nigger des Schoners wollen Ernest Gardener befreien!

Eine Blendlaterne blitzt für Sekunden auf, der schwache Lichtschein genügt: Acht Leute, bewaffnet, biegen in den Gang rechter Hand ein, der zu der Wassergrotte hinabführt, wo die Pinasse am Ufer vertäut liegt.

Die so jäh für uns veränderte Lage erfordert einen schnellen Entschluß. Daß Garzia und Dolores an Ernests Betrügereien beteiligt sind, steht für mich fest. Wie sie es freilich fertiggebracht haben, die mit Nummern versehenen Goldbarren zu stehlen und einen Teil davon verschwinden zu lassen, bleibt ihr Geheimnis. Sie müssen die Sache ganz raffiniert angefangen haben, denn ohne Zweifel werden doch die Empfänger der Barren in Indien das Eintreffen jeder Schiffsladung auch der Zahl der Barren nach der Begum gemeldet haben, vielleicht wieder durch die Vermittlung Gardeners, und dann könnten die Ziffern von ihm allerdings geschickt gefälscht worden sein. – Wollen die Leute des Schoners nun Gewalt anwenden? Unmöglich können sie Ernest ohne Kampf befreien, Gardener befindet sich bestimmt an Bord der Pinasse, und von den Aschfahlen sind mindestens zwanzig zur Stelle.

„Bleibt hier!“, flüsterte ich Pi und Kosima zu. „Ein einzelner Mann verbirgt sich leichter, – ich muß erst feststellen, was die Bande eigentlich vorhat.“

Ich finde keinen Widerspruch, meine Gefährten sind einsichtsvoll genug, meine Gründe für mein Vorgehen ohne Begleitung anzuerkennen.

Ich gleite in die Finsternis hinein, die Arme vorgestreckt, die Richtung kenne ich, ich finde [132] den abwärts führenden Gang, und sehr bald … rieche ich vor mir den Hautdunst der Farbigen. Meine Bordschuhe mit geteerten Sohlen helfen mir bei diesem noch ungewissen Wagnis. Garzias Bande schleicht bedächtig, die Örtlichkeit muß ihnen fremd sein, und als hinter einer Biegung des Stollens helles Licht die Finsternis zerteilt, prallen sie zurück, drücken sich an den Felsen, und nur der dicke Schädel Garzias lugt um die Ecke.

Dolores flüstert …

Ich fange Wortfetzen auf …

Verstehe immerhin das bedenkliche „Bombe“, „Zünder“, und ein neuer Blitz der Erkenntnis offenbart mir den Plan der Schonerleute.

Kein übler Plan für Kerle ohne Skrupel!

Ganze Arbeit wollen sie tun, – – woher sie sich die Dynamitbombe verschafft haben, ist letzten Endes Nebensache.

Die Pinasse, die Begum, Ernest und die Inder sollen daran glauben! Sind sie ausgelöscht, können diese Banditen mit der jetzigen Ladung des Schoners beginnen, was ihnen beliebt. Reichtümer, die ganze Welt steht ihnen zur Verfügung, und um dieses Massenmordes hier wird es weiter kein Aufhebens geben. Wer weiß davon?! Nur die Mörder selbst! Wer kennt diese Höhle?! Nur die Mörder!

Ein kaltblütiger, brutaler, sehr einfacher Plan! Auch Ernest Gardener ist dann der Mund verstopft, Verrat oder Strafe nicht mehr zu fürchten, zumal Ernests indische Spießgesellen bereits für alle Zeiten stumm gemacht sind.

Garzia zieht den Kopf zurück …

„Nur eine einzige Wache an Deck“, grunzte er. „Pedro, stelle den Zünder ein … Du bist am geschmeidigsten, [133] du kriechst am Ufer entlang, wirfst das Ding mitten auf das Deck und springst ins Wasser, wie schon verabredet. Du schwimmst wie ein Hai, mein Junge, das Becken der Grotte ist tief genug, bleibe unten auf dem Grunde, bis die Explosion vorüber, dir wird nichts geschehen, und uns auch nicht, uns deckt hier die Biegung des Ganges … – Also los denn, machen wir ein Ende!“

Entschlüsse können sorgsam ausgeklügelt werden, Entschlüsse kann der Augenblick hervorzaubern wie einen Einfall …

Pedro zieht die Bombe, eine Metallkugel von Kindskopfgröße, aus dem Ledersack, – der Lichtschein der Wassergrotte erzeugt immerhin eine Art Dämmerung, – an der Metallkugel blinkt Messing – ein Aufschlagzünder.

Pedro packt die Drehscheibe des Zünders, seine Finger krümmen sich, drehen sich, – – wenn er die Kugel jetzt fallen läßt, braucht sich kein Totengräber mehr um uns zu bemühen.

Meine Muskeln ziehen sich zusammen, ich schätze die Entfernung, wie ein Schatten schnelle ich vorwärts, will Pedro die Kugel entreißen, will sorgsam zupacken, den Zünder nicht berühren.

Entschlüsse zaubert der Augenblick hervor, – und der Augenblick zerstört sie …

Zufall?! Ist es Zufall, daß der Mulatte Pedro durch mein jähes Auftauchen derart erschrickt, daß er die Bombe fallen läßt, bevor ich sie noch fest in Händen habe?!

Zufall, daß die böse, verderbliche Kugel ihm zunächst auf die Ledersandalen schlägt, Zünder nach oben?!

In solchen Momenten rasen die Gedanken …

[134] Ich weiß, die Bombe wird weiterrollen, wird mit dem Zünder den harten Steinboden berühren.

Und wie ein Blitz bin ich um die Ecke, bin dicht an der rechten Felswand …

Ein grauenvoller Knall ertönt …

An mir vorüber fegt der Luftstoß der Explosion wie der Windstoß eines tollen Orkans …

Kein Schrei gellt auf …

Nur Gestein bröckelt ab …

Gestein poltert herab …

Und die Pinasse, getroffen von der ungeheueren Kraft des Luftstoßes, erbebt und zerrt an ihren Tauen, – die Wache ist lang hingeschlagen, Stimmen werden laut, die Kabinen des flinkem gedeckten Bootes speien Männer aus, zuletzt die Begum, in einen schwarzseidenen Mantel gehüllt.

Die aufgepeitschten Wasser des felsüberdachten Beckens beruhigen sich, der Wachtposten kommt auf die Beine, und ich, im vollen Lichte pendelnder Lampen stehend, bin Zielscheibe von einem Dutzend Büchsen, bin zu benommen, mich zu bewegen, stehe da wie gelähmt …

Keine fünfzig Meter vor mir droht der Tod aus schwarzen Mündungslöchern.

Ich weiß, der Schein spricht gegen mich, die Aschfahlen müssen den Umständen nach mich für den Attentäter halten, das Gesicht der Begum spiegelt den Widerstreit ihrer Empfindungen wieder, sie möchte mich schonen, sie darf es nicht, sie hat mich durch Garzia, von dem kaum mehr Fetzen übrig sein dürften, als ihr unbequem entführen lassen wollen, – nun findet sie mich hier wieder – scheinbar einen erbitterten Feind, der keine Hemmungen kennt …

Und sie und ihre Leute?! Hätten sie uns nicht [135] an der Robinsonklippe zusammenschießen können?! Haben sie uns nicht gewarnt und nachher doch geschont und es bei einer eindringlichen Mahnung belassen!

Ich kann Arianes Züge ganz klar erkennen, und ich weiß in Gesichtern zu lesen.

Sie zaudert …

Ich bin reif für ein Dutzend Kugeln …

Sie zaudert …

Aber der unwillige Zug um den stolzen Mund wird hart.

Mein Schicksal ist entschieden …

Und da, gerade da tritt neben mich in den Lichtschein Kosimas schlanke Gestalt, – ihre Stimme klingt melodisch wie stets, vibriert nur leicht …

„Begum Ariane, ich bin Kosima Gardener, Arthur Gardeners Tochter, und hier ist sein letzter Wille, eigenhändig geschrieben, abschließend mit den herzlichsten Wünschen für die Fremden von den „Schlafenden Walen“ … Leslie, den Sie gefangen halten, dem sie nicht geglaubt haben, daß er der Sohn des ehrlichen Gardener ist, ließ mir dieses Papier zurück, denn die goldene Münze, den Ausweis, hat uns Ernest Gardener abgeschwatzt, hinterlistig, heuchlerisch, gemein … zu gemein, um für diese Handlungsweise den richtigen Ausdruck zu finden.“

Die Begum Ariane vernimmt jedes Wort, – noch zweifelt sie, ihr Gesicht bleibt hart, aber Kosimas nächste Sätze ändern die zweifelhafte Lage.

„Dolores, Garzia und die Leute des Schoners schlichen an uns vorüber, sie müssen die Bombe mitgebracht haben, und Abelsen wird den Anschlag vereitelt haben, – – fragen Sie ihn, er lügt nicht, ein Mann wie er scheut die Wahrheit nicht, selbst [136] wenn sie ihn zum Teil belastet … Chang Pi und ich wurden durch den Luftstoß, der bis in die Höhle drang, zur Seite geschleudert, der Thronsessel schlug in Stücke, ich ahnte, was hier geschehen, – – seien Sie gerecht, Begum Ariane, zu Ihnen spricht das Kind des Mannes, der Ihnen in Treue diente und dessen letzte Gedanken den Indern gehörten …!“

Kosima schwenkt das Papier, ihres Vaters Testament, das sie bisher in ihren Kleidern eingenäht haben mußte, wie eine Friedensfahne.

Ariane winkt gebieterisch.

„Kommen Sie! – Und Sie, Abelsen, rühren sich nicht vom Fleck …“

Das Mädchen schreitet am schmalen Strand der Wassergrotte dahin, die Laufplanke wippt, und beide Frauen verschwinden in der Heckkajüte.

Die tapfere, kluge Kosima wird eine gewandte Fürsprecherin sein. Sie wird nichts verhehlen, wird getrost zugeben, daß wir drei Leslies wegen die Begum rauben wollten.

Ich lehne an der Steinwand, und plötzlich vernehme ich hinter mir hinter der Krümmung des Ganges Pis[41] zischendes Flüstern …

„He … Mr. Olaf … Sie leben, aber hier, wo ich stehe, lebt niemand mehr … niemand … – scheußlich!!“

Dann schritt auch er in den Lichtschein, blinzelt die Aschfahlen sehr vertrauensvoll an und ruft mit anerkennenswerter Frechheit:

„Legt die Schießprügel nur weg, Boys! Ich bin Chang Pi von der Lagune Santa Theresa, und im allgemeinen eine ehrliche Haut, wenn sie auch arg faltig geworden ist. Die siebzig Jahre, Boys, zeichnen Runen in das Gesicht, genau wie bei euch [137] der Aufenthalt unter der Erde dem Teint geschadet hat.“

Er liebäugelt mit seiner verräucherten Pfeife, stopft sie umständlich, reibt sein Feuerzeug an und tut ganz so, als ob die Aschfahlen lediglich Kinderflinten in Händen hätten.

Dann fragt er mich, absichtlich ganz laut, und seine Stimme hallt in dem Gewölbe des Beckens verstärkt wieder:

„Wie war die Sache, Mr. Olaf?“

Mein Bericht ist kurz, ebenso laut, und aus der Gruppe der Inder löst sich ein weißhaariger Alter mit Patrizierbart und nähert sich uns.

Seine welken, fahlen Züge leuchten auf, als er nach kurzem Blick um die Krümmung, wo die Bombe entsetzliche Wirkungen hervorrief, mit feierlicher Verbeugung mir wortreich dankt.

Ein Ruf von der Pinasse her – – Kosima:

„Olaf, bitte, die Begum möchte Sie sprechen.“

„Mich wohl auch“, meint Pi. „Wir sind drei, nicht zwei, und wir drei gehören zusammen …“

– Ich stehe abermals Ariane gegenüber, und ihre Hand findet die meine …:

„Ich danke Ihnen!“


[138]
15. Kapitel.
Jules Verne wird widerlegt.

… Die Begum Ariane ist doch nicht mehr so jung, als ich vermutete. Damals auf der Robinsonklippe und während der Gerichtsszene in der Höhle war die Beleuchtung für sie günstiger, als hier in der Heckkajüte, wo das kalte, elektrische Licht ihre Züge unbarmherzig der Zahl ihrer Jahre – es mögen vierzig sein – anpaßt.

Das stolze, verschlossene Gesicht ist freudig belebt, und ihre friedlichen Sätze klären unsere Stellung ihr gegenüber noch hoffnungsfreudiger, als ich erwartet hätte.

„Nehmen Sie bitte Platz …“

Kosima rückt eng an meine Seite, ihr liebes Gesichtchen strahlt, die Sammetaugen schimmern feucht vor innerer Erregung. Ihre Hand stiehlt sich scheu in meine Finger.

Pi legt aus Höflichkeit mit grämlicher Miene seine Pfeife weg und setzt sich behutsam in einen der kleinen Sessel.

Die Kabine mit ihrer kostbaren Holztäfelung, den Wandleuchtern und den gediegenen, zierlichen Möbeln gleicht einem Schmuckkästchen.

Die Begum Ariane lehnt an dem Schreibtisch, den ich jetzt benutze, ein winziges Möbel, etwas unbequem für so lange Arme, wie ich sie habe.

Die Begum hält Arthur Gardeners Testament in der herabhängenden Rechten, und ihre ersten Sätze gelten Leslie.

[139] „Ich bedauere meinen Irrtum … Aber nachdem wir Ernest Gardeners Betrügereien festgestellt hatten, war ich noch mißtrauischer geworden“. Ihre Stimme wird zärtlich, gutmütig: „Kleines Mädel, noch drei Tage, und Sie können Leslie in die Arme schließen …“

Ihr Blick ruht dann auf mir, ein sinnender, melancholischer Blick.

„… Ich kenne Ihre Lebensgeschichte, – das Schicksal ist grausam, zerstört uns den Glauben an das Gute im Menschen … Ich hatte Ernest Gardener vertraut, ich hatte Ali Achmed und Singh Gapur, die in Indien meine Agenten waren, für ehrlich gehalten, aber das Gold ist ein böser Verführer. Sie haben mich betrogen, haben ein Volk bestohlen, das nach Freiheit lechzt, das jetzt an den Ketten rüttelt, die England ihm schmiedete. Ich verarge es der Kolonialmacht England keineswegs, seine reiche indische Kolonie sich erhalten zu wollen, in der sie viel Gutes schufen. Doch jedes farbige Volk, das von Europäern auf eine höhere Kulturstufe gebracht worden ist, erlebt den Zeitpunkt, wo die Intelligenz seiner Brüder die fremden Fesseln als untragbar erkennt. Die Geschichte der Völker zeigt uns unzählige Beispiele dafür. Spanien beherrschte einst halb Amerika, – heute finden wir selbständige Staaten dort … Die Weltgeschichte, das Weltgeschehen und die Volksentwicklung kennt keinen Stillstand.“

Eine müde Geste folgte …

„Ob es richtig war, was die begannen, die das Bergwerk der Abgeschiedenen für diese ideellen Zwecke ausnutzten?! – Lassen wir diese Frage offen … – Sie sollen nun alles erfahren, alles, denn nach drei Tagen wird es kein Geheimnis der [140] „Schlafenden Wale“ mehr geben. Ein seltsames Zusammentreffen von Umständen, man könnte an Schicksalsfügung glauben, zwingt mich, mit den Meinen den Schoß der Erde zu verlassen … Die Goldadern, die wir abbauten, sind erschöpft, und gerade zu demselben Zeitpunkt, als mich diese Kunde erreichte, daß ein ferneres Verbleiben in den granitumwallten Tiefen des Ozeans zwecklos sei, fanden wir uns nun zusammen, und Sie, Mr. Abelsen, durften ein übriges tun und uns das Leben retten und Bote der Vorsehung spielen: Garzia, Dolores, treulos wie Ernest Gardener, empfingen ihre Strafe durch eine höhere Macht, sie waren Diebe, sie stahlen nicht Goldbarren, aber sie verkleinerten die Barren, den Goldstaub, den sie abschliffen, verkauften sie, und die anderen drei wußten davon, und der Staub wurde geteilt. Glauben Sie nicht, daß wir je unsere Hände mit Blut befleckten. Nein, – auch die beiden Inder leben noch, sie waren nur betäubt, als ich sie Gardener zeigte. Ich werde sie irgendwo aussetzen an einsamem Strande, wohin nie ein Schiff seinen Bug lenkt, sie sollen leben – – und schweigen müssen. Es gibt genug Inseln, die sich für ein solches Exil eignen …“

Eine Weile schwieg sie. Dann wandte sie sich um, deutete auf das Ölgemälde über dem Schreibtisch und sagte in seltsamer Ergriffenheit:

„Dieser Freiheitsfanatiker ist der … berüchtigte Nana Sahib, auch Nena Sahib genannt, mit seinem richtigen Fürstennamen Dundhu Path, Peischwa (Fürst) von Bithur, Führer des großen indischen Aufstandes der Jahre 1856 bis 1862, dessen Ende bisher nie völlig geklärt wurde. Ich kenne es. Als die Aufstandsbewegung erlosch, floh [141] Nena Sahib in die endlosen Dschungel bei Chanpur, begleitet von seinen Getreuen, begleitet von seinem europäischen Berater, einem Deutschen, der als Schiffskapitän mit Weib und Kind in jungen Jahren sich Nena angeschlossen hatte und bei dem Aufstand alles daran setzte, unnötige Grausamkeiten zu verhüten. Sein Name war …“ – sie zögerte, schüttelte leicht den Kopf – „– der Name tut nichts zur Sache … Ich … bin seine Enkelin, das genügt …“

Jules Verne hat in seine Romane, in der „Geheimnisvollen Insel“ und in „Zehntausend Meilen unterm Meer“ den Fürsten Nena als handelnde Person in den Mittelpunkt seiner phantastischen Geschichten gestellt. Er läßt Nena mit dem Unterseeboot als uralten Greis in einer Wassergrotte der geheimnisvollen Insel für immer versinken. – Die Wahrheit lautet anders. Ich rechne auf Ihre Verschwiegenheit, – mag Nenas Ende für die Welt unaufgeklärt bleiben. – Hören Sie mir zu … Ein seltsamerer Roman, als Jules Verne ihn erfand, wird sich vor Ihnen in bunten Bildern abrollen.

Nena und die Seinen entkamen, noch im Besitz einiger Juwelen, zur Küste, wo der Kapitän, mein Großvater, und dessen Neffe, der gleichfalls in Nenas Diensten stand, in einer Hafenstadt die Juwelen veräußerten, ein Schiff kauften und zusammen mit den Indern über das Meer flüchteten.

Nachdem die Flüchtlinge einige Jahre auf einer Insel im Karibischen Meer einsam gehaust hatten, zerstörte ein Erdbeben die Insel, und ein gerade vorüberkommender Dampfer nahm sie auf und rettete sie vor den glühenden Lavaströmen eines frisch entstandenen Vulkans.

[142] Der Dampfer, nach New Orleans bestimmt, hatte zum Teil farbige Besatzung, war ein halbwrackes Schiff ältester Bauart und gehörte dem Kapitän, der auf eigene Rechnung Frachtfahrten ausführte.

Eines Abends, als der Dampfer bereits die Yucatan-Straße hinter sich hatte, wurde einer der Mulatten infolge der Hitze tobsüchtig, schoß den Kapitän und den Steuermann nieder und gab hierdurch das Zeichen zu einer allgemeinen Rebellion der Farbigen, die sämtliche Europäer ermordeten, Nena Sahib und die Seinen jedoch unbehelligt ließen. In der Nacht brach ein Orkan los, schleuderte den Dampfer, der glücklich durch die südlichen Kanäle der „Schlafenden Wale“ gelangt war, auf ein größeres Riff, zerschellte zum Teil, die Besatzung ertrank, auch von Nenas Getreuen kamen einige um, und als der Sturm sich legte, war von dem Dampfer nur noch der Kessel und einige Planken übrig, der sich infolge seiner Schwere fest auf das Riff gebettet hatte. Auch die Feuerungsanlage war verschwunden, weggerissen, und so ruhte denn lediglich der große, für heutige Verhältnisse gänzlich unmoderne Kessel auf dem flachen Felsen, der Ozean wich, weil die Ebbe nahte, zurück, und Nena und die Seinen gewahrten zu ihrem Erstaunen, daß das Schicksal sich hier einen technischen Scherz geleistet hatte: Durch den Aufprall des Dampfers war die Mitte des Riffs eingedrückt worden, ein Loch war entstanden, das jedoch durch den Kessel und die Ballastsandsacke verstopft worden war. Einer der Inder kletterte hinab, fand in den Tiefen der Felsmassen geräumige Höhlen und große Mengen von Goldkörnern, kehrte an die Oberwelt zurück und schilderte das Geschaute so begeistert, daß [143] Nenas vertrauter Ratgeber, mein Großvater, sofort den kühnen Entschluß faßte, diesen Zugang zu den unterseeischen Hohlräumen vor der Flut des Meeres zu sichern und die Höhlen als Wohnräume zu benutzen.

Mein Großvater, ein sehr tatkräftiger, intelligenter Mann, verstand es denn auch, mit Hilfe von Zementsäcken, die der Dampfer geladen hatte, und des Ballastsandes um den Kessel in aller Eile eine Art Mauer zu errichten, so daß, als die Flut wieder einsetzte, das Wasser in die Höhlen nicht eindringen konnte.

Diese Zementmauer wurde später verstärkt, der Kessel mit seiner Reinigungsklappe ward Zugang zu den Höhlen und im Erdinnern entwickelte sich das, was Sie die „Niederlassung der Erdfahlen“ genannt haben.

Um das Geheimnis zu hüten, verkleidete man den Kessel mit Seetang, Algen und Seegras, und im Laufe der Zeit wuchsen an der Zementmauer und auf dem Kessel so zahlreiche Seepflanzen, daß das Riff niemandem auffiel. Als später die Kesselwölbung durch Rost zerfressen war, hatte mein Großvater bereits von einem angetriebenen Wrack Ersatz verschafft, der Zugang zu dem Goldbergwerk wurde vergrößert und verbessert, und das Leben der unterseeischen Bewohner konnte durch allerlei Ankäufe von Möbeln, Kleidern und sonstigen Dingen weit angenehmer gestaltet werden.“

Die Begum Ariane ließ hier eine Pause eintreten.

Als sie fortfuhr, war ihre Stimme merklich bewegt, die tiefe, innere Erregung färbte ihr Gesicht dunkler, und ihre Augen blickten noch sinnender in unbestimmte Fernen.

[144] „Wollte ich hier Einzelheiten über die Höhlen berichten, – es würde ein ganzes Buch werden. – Ich komme nun zu der Frage der Nachfolgerschaft Nena Sahibs, der im Jahre 1872 starb und feierlich hier auf Kap Antonio als strenggläubiger Hindu verbrannt wurde. Schon vor dem Fürsten war mein Großvater verschieden, und gemäß Nenas Bestimmung wurde meine Mutter, damals eben erst achtzehn Jahre alt, Begum von Indra. Ihr folgte ich selbst, genau so geliebt und verehrt von unseren kaum hundert Untertanen, und zwanzig Jahre habe ich nun unser kleines Reich regiert und Nena Sahibs Wünsche genau so getreulich befolgt wie meine Vorgängerin. Mein Vater, jener bereits erwähnte Neffe meines Großvaters, wurde allzu frühzeitig in einem Gefecht mit republikanischen Banditen erschossen.“

Chang Pi, der auf seinem Sitz zuletzt schon sehr unruhig hin und hergerutscht war, was ich lediglich seiner Gier nach seiner Pfeife und dem scharfen Knaster zuschrieb, platzte jetzt mit der Frage heraus:

„Seit wann schicken Sie denn Goldbarren nach Indien, Miß? Das Auftauchen solcher Goldmengen konnte doch nicht unbemerkt bleiben!“

… Eine sehr berechtigte Frage, die man noch mehr hätte zergliedern können.

„Zunächst[42]“, erwiderte die blonde Begum lebhafter, „war der Ertrag unserer Arbeit doch weit geringer, als wir gehofft hatten. Erst im Jahre 1890, ich war damals acht Jahre alt, stießen wir auf eine Goldader, die ungewöhnlich reich war. Nun erst fing die Verschickung der Barren in größerem Maßstab an, wir kauften einen Dampfer, der nachher durch den Schoner „Libertas“ mit [145] seinem Doppelboden ersetzt wurde, und fortan ging alle vier Monate ein Goldtransport ab, der auch regelmäßig in die Hände derer gelangte, die wir unterstützen sollten. Ali Achmed und Singh Gapur waren lediglich Agenten von untergeordneter Bedeutung, – sie werden auf einer Insel genau wie Ernest Gardener darüber nachdenken können, wie bitter sich jeder Betrug rächt. Gardener hat übrigens schon schriftlich verfügt, daß sein Vermögen milden Stiftungen zufallen soll, mit der Erklärung, er beabsichtige, sich endgültig von der Welt zurückzuziehen.“

Pi griff jetzt vorsichtig nach der Pfeife. „Darf ich, Miß …“

Ariane lächelte. „Bitte … – Haben Sie noch etwas zu fragen, Mr. Abelsen?“

„Nur eins … Der Inder, der kurze Zeit auf der Hungerklippe weilte, gelangte wohl durch einen Unfall dorthin?“

„Ja, – er wurde während des zweitägigen Orkans über Bord gespült …“

„Und seine inbrünstigen Gebete und deren sichtbarer Erfolg, dann die Brettstücke mit den Inschriften?“

Jetzt lächelte die Begum Ariane sehr spitzbübisch.

„Die Strömung trieb die Brettstücke der unterhalb des Horizontes kreuzenden Pinasse zu, den Lauf der Strömung kannten wir ganz genau, und die Gebete und der aufsteigende weiße Stern: Alles Täuschung und ein sehr gutes Fernrohr und eine Rakete, Mr. Abelsen. Übernatürliche Kräfte gibt es kaum, jedenfalls verfüge ich nicht darüber.“

Inzwischen war Kosimas dunkles Köpfchen immer schlafsüchtiger an meine Schulter gesunken.

[146] Pi und ich kehrten allein zu unserem „Mac Intock“ zurück, um dort zu nächtigen, meine kleine Freundin blieb Arianes Gast.

Am Vormittag waren wir wieder vereint und sahen nun auch, daß der durch Gestrüpp und dichte Schlingpflanzenvorhänge verdeckte Eingang zur Wassergrotte unweit der Einfahrt in jene Bucht lag, in der der Schoner weiter drinnen ankerte. Dolores und Garzia hätten also mit dem „Libertas“ niemals entwischen können.

Mittags begannen die Vorbereitungen zur Reise nach Nordwest, zu den „Schlafenden Walen.“

– – Wir sind unterwegs, und ich habe lediglich noch das Schlußwort dieses meines Abenteuers zu schreiben – später, wenn es beendet ist.

Und wenn es beendet ist, wird auch der kurze Traum meiner stillen Neigung zu einem tapferen Mädel ausgeträumt sein. Wohin mich dann ein neuer Weg führt, – ich weiß es nicht.

Vorläufig habe ich Kosima noch in der Nähe.

Und auch den alten braven Bratapfel Pi, der dort auf der Bank schläft, neben sich auf einer Sessellehne Mr. Black, der zuweilen im Schlafe sanft krächzende Töne ausstößt und sich vielleicht nach Kosima sehnt, die ihn so sehr verwöhnt … –

In unserem Kielwasser läuft der schmucke Schoner, der nun sehr bald die Inder mit Weib und Kind und mit ihrer Herrin in ihre ferne Heimat am heiligen Ganges tragen wird … –

Ich schließe vorläufig …

Ich denke: Jules Verne ist übertrumpft!

Und meine Augen sehen Nena Sahibs Ölgemälde über dem Schreibtisch.


[147]
16. Kapitel.
Wie Indra ertrank.

Eine Faust rüttelt mich aus bleiernem Schlaf.

„Aufwachen!! Gefahr!!“

Ich schnelle hoch …

Vor mir steht Ariane mit einer halb abgeblendeten Laterne.

„Abelsen, irgend eine Schurkerei …“, keucht sie mit verzerrten Lippen. „Vor den Riffeldern kreuzen Torpedoboote mit hohen Aufbauten …“

Auch Pi wird munter, Mr. Black desgleichen, und Black schimpft über die Störung.

Ariane zieht mich an Deck. Ich habe in Kleidern geschlafen, – auf die Kajüten des Schoners verzichtete ich, die eine riecht nach Nigger, die andere nach Dolores, und beides verträgt meine Nase schlecht.

Die Nacht ist wolkig, dunstig, der Wind fährt in unregelmäßigen Stößen über den Ozean.

Weder die große Pinasse noch der Schoner zeigen irgend ein Licht. Wir schleichen dahin wie Diebe und haben doch ein reines Gewissen. Weit vor uns leuchten grelle Lichtkegel, die dauernd hin- und hergleiten: Scheinwerfer“

Ariane drückt mir ein Fernglas in die Hand.

„Abelsen, sie suchen mich, uns, das Bergwerk der Abgeschiedenen … Nena und die Seinen waren ja für die Welt tot … – Wie kommen die Kriegsschiffe hierher?!“

„Ein Fehler von uns“, meinte ich achselzuckend. [148] „Auf dem Schoner befanden sich noch Leute, sie werden schwimmend entflohen sein, und sie mögen die bewaffnete Meute alarmiert haben.“

Durch das Glas erkenne ich zwei Zerstörer, – aber auch im Norden und Süden blinken helle Lichtbahnen …

Die „Schlafenden Wale“ sind eingekreist. Es handelt sich um eine großangelegte Aktion, was nicht weiter erstaunlich ist, denn wenn die flüchtigen Nigger des Schoners die Angeber gespielt haben, erhofft diese Flotte dort einen guten Fang. Ein Wunder nur, daß die dunklen Boote dort mit den schrägen Scheinwerfern die Bucht am Kap Antonio nicht blockiert haben. Hoffen sie, uns trotzdem abfangen zu können?!

Arianes Erregung ist verständlich. Es geht hier um mehr als nur um Freiheit und Sicherheit, es geht hier um das Leben all derer, die dort in den unterseeischen Hohlräumen ahnungslos auf die Ebbe warten, um dann frische Luft in ihre seltsame Welt hineinzulassen. Ein einziger Granatschuß würde genügen, nicht nur das Bergwerk zu ertränken, sondern mit ihm ungefähr siebzig Menschen, – Männer, Frauen, Kinder …

Mir erscheint es auch gewiß, daß die großen modernen Zerstörer längst ihre Barkassen ausgesetzt haben und in diesen in den Riffkanälen umherschwärmen.

Die Lage ist fast verzweifelt, – wir dürfen nicht näher heran, wir müssen sogar schleunigst nach Norden oder Süden abbiegen, um dieser gepanzerten Meute zu entgehen.

Unsere schwarze Pinasse wendet auf Arianes Befehl nordwärts, der Schoner folgt mit gerefften [149] Segeln, wir kriechen angstvoll durch dunkle Wellentäler, verwünschen jede Woge, die uns emporhebt, fürchten jeden Augenblick, daß einer dieser Windhunde des Meeres da drüben den scharfen Bug uns zukehrt und eine grelle Lichtbahn uns überflutet.

Der Wind trifft uns nun halb von Backbord, die Pinasse schlingert, der Schoner taumelt hinterdrein. Bange Minuten sind es … Wortlos stehen wir zusammengedrängt da, meine kleine Freundin hat ihren Arm in den meinen geschoben und atmet wie im Schüttelfrost: Angst um den Bruder, der ihr seit Monaten Sorgenkind war, um den sie vieles wagte, vieles hinnahm, was ihr weibliches Zartgefühl verletzen mußte.

Chang Pi, der mit der stoischen Ruhe des Asiaten an seiner kalten Pfeife saugte, hatte sich schon am Kap Antonio erboten, das Kommando über den „Libertas“ zu übernehmen. Ariane wollte ihre Leute nicht zurücksetzen, außerdem kannte der Inder, der nun dort Kapitän spielt, das Fahrwasser auch weit besser und wollte den Schoner durch den Nordostkanal bis dicht an das Indra-Riff heranlotsen.

Pis[43] Piratenblut erwacht, als nun tatsächlich einer der gepanzerten Haie wendet und sein Scheinwerfer künstliche Sonne über das düstere, nächtliche Meer streut.

Er reibt sich die Hände, kichert …

„Miß, wie viel Nebelbomben haben Sie an Bord?“

Eine fast gleichgültig klingende Frage …

Aber uns fährt sie in die zagen Herzen wie Frühlingshoffen.

„Mindestens sieben … Das modernste, das [150] es in dieser Art heimlich zu kaufen gab …“, – Ariane seufzt erleichtert … „Pi, der Gedanke ist …“

„Rauf mit den Dingern!“, sagt der einstige Seeräuber schrill. „Nur nicht viel reden …! – Mr. Olaf, signalisieren Sie dem Schoner, daß er dicht aufrückt … Wir müssen eine Trosse hinüberwerfen, damit wir uns nicht im Nebel verlieren.“

Was seemännische Fragen betrifft, beuge ich mich Pi ohne weiteres …

Im Nu ist alles getan …

Ein topfähnliches Ding fliegt über Bord, speit sogleich gelblichen, zähen Qualm aus.

Ein zweiter folgt …

„Vorläufig genug!“, erklärt Chang Pi, der jetzt am Steuer steht.

Beide Schiffe laufen mit voller Kraft Kurs Nordnordost, – vor uns breitet sich die Nebelwand immer breiter aus, der Wind ist günstig, es geht auf den Nordostkanal zu, dessen Fahrrinne nur die Erdfahlen kennen.

Ariane bückt sich über die Kompaßlampe und sieht nach ihrer Armbanduhr.

„In einer Stunde setzt die Ebbe ein“, sagt sie hoffnungsvoll.

Pi kommandiert:

„Den dritten Topf!!“

Das Ding platscht in die Wogen, die Künste der Chemiker triumphieren, die Nebelwand verlängert sich, weht auf die Riffelder zu, und wir bleiben, Pinasse und Schoner, dicht an der äußersten Grenze, bereits halb von Schwaden eingeschlossen.

Die Zeit verstreicht, wir haben wieder den [151] Kurs geändert, laufen genau Südwest, mit halber Kraft, horchen, spähen …

Es ist eine Wiederholung jener Nacht, als wir mit dem „Mac Intock“ flohen, der nun in den Davids des Schoners hängt.

Es ist doch anders als damals, – damals ging es um drei Menschen und Mr. Black, heute um hundert Menschen …

Vorn am Bug stehen ein paar Inder mit geübten Ohren, um rechtzeitig „Brandung“ zu melden …

Die Zeit schleicht …

Kosima sitzt neben mir, das Kompaßlicht trifft ihre Sammetaugen, ihre Hände umspannen meine Finger …

„Olaf, haben Sie Hoffnung?“

„Ja …!“

„Meinen Sie, daß es Amerikaner oder Engländer sind? Engländer wären schlimmer …“

„Ich weiß es nicht, kleine Kosima, – ist auch egal, wir schlagen ihnen doch ein Schnippchen, und …“

Blitzschnell habe ich meinen Hut über die Kompaßlampe gestülpt … Irgendwo aus dem Nebel das Schnurren von Turbinen und ein heller, großer Fleck wie eine Sonne, in Dunstschichten gehüllt.

Ein hoher, dunkler Schatten kreuzt unsere Bahn, entschwindet …

Der Schwalch hinter ihm ist wie ein Berg, – keine fünfzig Meter entfernt saust der Gegner davon …

Die Zeit schleicht. Kosima lehnt an meiner Schulter …

[152] Mädel, Mädel, – das ist Spiel mit dem Feuer!

Von vorn läuft ein Ruf nach achtern.

„Brandung!!“

Pinasse und Schoner treiben ohne die bisher jagenden Schrauben, ein Boot wird ausgesetzt, die Inder suchen den Nordostkanal, kehren zurück …

Wieder wird eine Nebelbombe geopfert …

Wir gleiten durch schäumenden Gischt, wir sind innerhalb der Riffe, unser erfahrener Lotse laviert behutsam, – – und die kritische Stunde ist um, die Gezeiten wechseln, die Ebbe beginnt …

Noch bange zwanzig Minuten …

Es tröpfelt leicht, aus dem dünnen Regen werden dichte Schauer, – plötzlich stoppt die Pinasse, ich beuge mich über die Reling, erkenne undeutlich ein Riff, das einem Fabelwesen gleicht, einer unserer Inder schwimmt hinüber, klopft, pocht, und langsam hebt sich ein Teil eines metallnen Gehäuses, Köpfe werden sichtbar, Menschen steigen an die frische Luft, in den Regen, in wartende Boote …

Spukhaft all das, … diese Szenen der Flucht.

Überhastet, – – und doch nicht schnell genug.

Einer der häßlichen weißen, gierigen Finger greift durch die Finsternis, – eine Barkasse rauscht heran, – – Befehle dröhnen, – – dann ein Krachen, Splittern, – das große Boot schlägt sich ein Leck, sackt weg, und hat dennoch aus dem Buggeschütz eine einzige Granate in das Zementgehäuse gefeuert, der metallene Oberteil klafft, – zuerst ist der Riß nur schmal aber der ungeheure Druck der ungehemmten Fluten reißt ihn immer [153] weiter auf, – Menschen fliehen weiter in die Tiefe zurück, denen die Rettung bereits so nahe.

Neben mir schreit Kosima gellend auf …

„Leslie – – Leslie!!“

Aber das gierige Gurgeln des Meeres, das in seinem Schoße keine Menschen duldet, das alle Hohlräume habgierig ausfüllt und nur bei den großen Seebeben, wenn es auf seinem geborstenen Boden auf feuerflüssige Glutmassen der ewigen Feuer trifft, in ohnmächtiger Wut sich in Dampf auflöst und gewaltige Explosionen hervorruft, – dieses Meer übertönt mit seiner infernalischen Stimme den wehen Schmerzensschrei einer enttäuschten, um jede Hoffnung betrogene Schwester, und der blonde Kopf Leslie Gardeners verschwindet in einem Wasserfall einbrechender Wogenmassen.

Einen Augenblick habe ich wie gelähmt dagestanden.

Kaum erst die Hälfte der Inder ist gerettet, gerade die Frauen und Halbwüchsigen und Kinder sind wieder entsetzt hinabgescheucht in ihre düstere unterirdische Welt, in dies Reich Indra, in dem Nena Sahib, Freiheitsheld seines Volkes, sein Leben aushauchte.

Einen Augenblick stockt mir das Blut in den Adern …

Ich stehe auf dem von Meerespflanzen dicht bedeckten Zementrande des zerstörten Metalldecks, der Bug des Bootes ist dicht neben mir, und in dem Boote kauern mit wilden Gesichtern die Erdfahlen, keines Wortes mächtig, gelähmt von der Tücke des Schicksals …

Ich bücke mich …

„Pi, mit zupacken!!“

[154] Auch andere Hände helfen …

Wir ziehen das Boot dorthin, wo in dem Betonrand gleichfalls das Loch klafft, wir zwängen die Bootsspitze hinein, pfropfen Kleidungsstücke in die verbleibenden Öffnungen, und die Saugkraft des Meeres sorgt von selbst dafür, daß diese Pfropfen halten, daß das Boot einen neuen Damm bildet, daß der Wasserfall dünner rieselt und schließlich nur noch ein mäßiges, unschädliches Bächlein bleibt.

Wir schaffen es, wir haben minutenlang wie im Fieber gearbeitet, wir handelten wie Automaten, wir wollten helfen, und wo ein Wille, da ist ein Weg!

Alle haben sie schließlich mitgeholfen, alle …

Die Kleider rissen sie sich vom Leibe, zerbrachen Steuer, zerbrachen Ruderbänke, hoben das Steuer aus, – und das Meer ward um seine Beute betrogen.

Der Wall ist geschlossen, der Riß im Metalldeckel hat nichts mehr zu bedeuten, und auch der grimme, menschliche Feind, der das Bergwerk der Inder stürmen wollte, ist wie weggewischt durch die Finsternis und die Regenfluten, die gleich Gießbächen herabströmen und der Leuchtkraft der Scheinwerfer spotten.

Und wäre nochmals eine dieser Barkassen mit den erbarmungslosen Buggeschützen hier in der Nähe aufgetaucht, hätte ein blinder Zufall die bewaffneten Schergen einer goldhungrigen Großmacht herbeigeführt: Wir wären dann nicht untätig geblieben!

Hier war freies Meer, hier bestand nur ein Hoheitsrecht über die „Schlafenden Wale“: Das der Inder!!

[155] Und mit diesem steht das Recht der Selbstverteidigung gegen die kanonengespickten blitzschnellen Plätteisen der sogenannten Großmächte, der Großvampire!

Woher nahmen sie die Befugnis, einsame fleißige Fremde zu hetzen?!

Das freie Meer kennt nur das freie Gesetz des alten Spruches: Auge um Auge, Zahn um Zahn!

Mochten sie nur kommen!

Aber sie kamen nicht … –

Laternen blitzten auf …

Vor mir stiegen Ariane und Kosima hinab in das Bergwerk der Abgeschiedenen, hinter mir her kam der alte Pirat Pi, fast nackt jetzt, – seine Kleider bildeten Schanze gegen das Meer.

Und dann glühten dort unten, wo das Höhlengebiet begann, viele elektrische Lämpchen, sauber an der nackten Steinmauer montiert …

Dann erst sah ich – selbst Ingenieur und Sachkundiger –, was alles hier im Zeitraum eines Lebensalters an Wunderbarem geschaffen worden.

Dann flog aus einem der Seitengänge über den noch feuchten Boden mit seinen Pfützen von Seewasser ein straffer Mann hinweg und auf meine kleine liebe Mulattin zu …

„Kosima – – Mädel …!!“

„Leslie – – Bruder, – – Leslie, endlich!“

Hielten sich umschlungen, die zwei, brauchten keine Zeugen dieses Rausches der Freude, hatten diesen Rausch verdient, waren tapfere Streiter um das Gute und Edle gewesen, – – und hatten gesiegt …

Stumm nahm Ariane mich bei der Hand.

Führte uns durch Wohnräume mit praktischen [156] Möbeln, führte uns durch eine Tempelhalle, in der neben dem Hauptbilde des Indra auch die Statue Brahmas thronte, – – immer tiefer hinab – hinein in die Stollen mit Geröll, mit feinstem Steingrus, an die Quelle des Goldes.

Der Ingenieur in mir überwog jetzt den Abenteurer.

Ich sah die Wasserleitungsröhren, die Waschzober mit den Drahtnetzen, die Pumpen, die Motoren, – – all das Vielerlei, das dem Schoße des Urgesteins das Edelmetall entzogen hatte zur großen Aufgabe, zur Befreiung von Millionen, Abermillionen …

Und ein bitteres Gefühl stieg in mir hoch.

Hatte all diese Arbeit, all diese Selbstentäußerung, dieses Leben im Innern der Erde, etwas genützt?!

Nichts!

Indien, unermeßliches Land von Hunderten von Millionen von Menschen, war heute wie einst Kolonie des Inselvolkes.

Würde es bleiben …

Ich kannte auch die indischen Verhältnisse.

Das war dort kein einiges Volk, beseelt von einem einzigen Freiheitswillen, – das waren Millionen, in Parteien zerrissen, zerrissen durch den Fanatismus ihres Glaubens, – hier Mohammedaner, hier Hindu, durch Haß geschieden, weil keiner den Gott des anderen anerkennen will, – da sind die unzähligen anderen Bekenntnisse: Parsen, Buddhisten, Halbchristen, Namenschristen …

War es nicht schon bei dem Aufstand, den Nena Sahib anfachte, genau dieses selbe klägliche Spiel?! Hatten nicht damals schon die einheimischen Fürsten feige versagt, hatte nicht die Diplomatie [157] Englands die einzelnen Bekenntnisse gegeneinander gehetzt und mit Bestechungsgeldern nicht gekargt?!

… Menschen hatten hier in der Tiefe der Erde wie Sklaven freiwillig geschuftet, – – und der Erfolg?!

… Ein paar Schufte waren dadurch reich geworden.

Wie viele, das ahnte wohl selbst Ariane nicht, die mit zu diesen von einer großen Wahnidee Besessenen gehört hatte.

Still stand ich vor diesen stummen Zeugen jahrelanger Arbeit.

Stumm strich ich mir wie geistesabwesend über die schweißfeuchte Stirn, hinter der so eigene Gedanken immer wieder auflebten.

War nicht im Grunde dieses Bergwerk der Abgeschiedenen nichts anderes als ein trostloses Teilbild der Geschicke der Völker?! Ringt nicht überall die breite Masse nach Freiheit, opfert sie nicht diesem Freiheitsideal, mag es auch falsch sein, bereitwilligst das bißchen Gut und den höchsten Besitz, das Leben?! Und – was erringen diese Kämpfer letzten Endes? Daß die überragende Intelligenz einzelner ein Machtsystem gegen das andere austauscht und – – reich dabei wird! Und das „Volk“ selbst? Was erhält es als Gabe?! Einen neuen, mit neuen Flittern besetzten Popanz!

– – Ariane drängt sich näher, flüstert scheu – so, als ob sie meine Gedanken erraten hätte:

„Hoffen Sie?!“

„Nein!“, sagte ich hart. „So lange es der Menschheit nicht gelingt, diesen heuchlerischen Wertmesser aller Dinge, das Gold, zu zerstören und nicht ein ganz Großer kommt, der einen anderen [158] Wertmesser schafft, der das Zusammenraffen von Reichtümern in den Händen einzelner unterbindet, wird nie eine wahre Volksgemeinschaft entstehen! In dem einen Lande ist es die Politik, die die Geister scheidet, zerschneidet, in dem anderen der religiöse Fanatismus, in dem dritten vielleicht die unschwer zu erringende Herrschaft sogenannte „Generäle“ – sehen Sie China! –, – aber hinter allem lauert immer wieder der Drache Gold, bald in dieser, bald in jener Gestalt … – Gehen wir … Der Schweiß, den diese Granitwände sahen, ist genau so zwecklos zerronnen wie das Blut jener Millionen, die auf den Schlachtfeldern des Erdenrundes starben. Gehen wir.“

Ariane hielt mich trotzdem noch zurück.

Pi hatte sich längst davongeschlichen.

„Abelsen“, sagte die Begum düster, „ich wünschte, Sie hätten nicht noch den letzten Glauben in mir zerstört …!“

Ich blickte sie ehrlich am „Ihr Glaube war eine Seifenblase, die nur Ihr eigenes Antlitz, Ihre eigenen Wünsche und Ihre Umwelt verzerrt widerspiegelte[44] … Seien Sie froh, Ariane, daß dieser trügerische Spiegel in Scherben ging. Sie werden die Welt nicht ändern, – ich erst recht nicht. Es sei denn, daß ein Genie uns den richtigen Weg wiese. Vorläufig halte ich mich auf den Wegen abseits vom Alltag – – und bin zufrieden dabei. Gibt es Höheres, bis jetzt Höheres, als mit seinem Lose zufrieden zu sein?!“

Sie wandte sich stumm ab und schritt davon. –

Und dann das Ende des Bergwerks der Abgeschiedenen …

[159] Das Meer drang ein, das Meer nahm, was ihm gehörte.

Gurgelnd, brausend, tosend schießt es in die Tiefe, füllt die Höhlen …

Der Traum ist aus. –

Wir schlängeln uns davon – gen Südwest, unser Lotse kennt jeden der Schlafenden Wale, weicht den Untiefen aus, – noch eine halbe Stunde: Wir sind entkommen – – und ich bin ausgeschaltet …

Meine kleine Freundin läßt den Bruder nicht aus den Armen.

Glücklicher Leslie!!

Übrigens ein famoser, strammer Junge, der uns allen gefällt … – –

Das Bergwerk der Abgeschiedenen ertrank. Das Meer füllte es aus … Niemand wird je wieder in jene Tiefen hinabsteigen.

Und ich ertränkte die Versuchung, die sich mir in Mac Intocks schönem Lagunenheim zärtlich näherte …

Kosima hat mich so herzlich gebeten, mein Leben umzustellen …

So herzlich …

Es war Abend, und die großen Glühwürmchen ballten sich unter den rauschenden Palmen zu ganzen Wolken zusammen …

Die süße Luft der Tropen mit den nur nachts ihre keuschen Kelche öffnenden Blüten war ein Rausch von Sehnsucht.

„Morgen werde ich mich entschieden haben, kleine Freundin …“

Und dann ein letzter Händedruck …

Und nach Mitternacht mache ich die Pinasse [160] los, die Ariane mir geschenkt hatte, – – ganz still stahl ich mich davon …

Das offene Meer grüßt mich, die Silberbahn des Mondes winkt mir, und einsam zog das flinke Schifflein mit dem Einsamen in die ungewisse Ferne.

Nur einer war bei mir, ein öder Materialist, ein schamloser Egoist, wie es ihm die Natur eingegeben.

Und doch ein lebendes Wesen, das auf meiner Schulter hockt, mich zart in das Ohrläppchen zwickt, und leise krächzt …:

„Kosima – – liebes Mädel, – – liebes … Mädel …“

Mr. Black kreischt jäh auf …

Vor mir ein schwarzes Etwas, emportauchend, eintauchend …

Ein Wrack …

Wie ich – – Wrack?!

Ich?!

Ich schnelle hoch …

In einer Luke schimmert geisterhaft ein Licht.

Mr. Black kreischt noch lauter …

Und hinter mir versinkt das Gewesene, – das Bergwerk der Abgeschiedenen starb, ein anderer Weg leuchtet gespenstisch …

… Lebe wohl, kleines Mädel …

Werde glücklich …

Mit einem anderen.

Die Vorsehung schenkte uns das Vergessen. Auch du, kleines Mädel, wirst einst meiner nur noch in stiller Wehmut gedenken …


Nächster Band:

Der Reiter am Himmel.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Von Walther Kabel erschien 1912 in der Bibliothek für Alle, Illustrierte Monatsbände für Jung und Alt, der Beitrag Kugelblitze.

Errata (Wikisource)

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  2. Vorlage: französiche
  3. Vorlage: Berühung
  4. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
  5. Vorlage: Aufvassers
  6. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
  7. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
  8. Vorlage: unerwiedert
  9. Vorlage: Vorkomnisse
  10. Vorlage: Mischlingsgensindel
  11. Vorlage: hierübeer
  12. Vorlage: erwiederte
  13. Vorlage: Aluminumbüchse
  14. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
  15. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
  16. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
  17. Vorlage: mein
  18. Vorlage: Terasse
  19. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
  20. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
  21. Vorlage: diesm
  22. Vorlage: Temperamnent
  23. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
  24. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
  25. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
  26. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
  27. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
  28. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
  29. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
  30. Vorlage: an
  31. Vorlage: Pi’s, siehe Seite 25.
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