Das Gute

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Autor: Hans Bötticher (Joachim Ringelnatz)
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Titel: Das Gute
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aus: Ein jeder lebt’s
Seite 7–19
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1913
Verlag: Albert Langen
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Erscheinungsort: München
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Quelle: Scans auf commons und UB Bielefeld
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[7]

Das Gute

Am Bahnhof ließen die Gassenbuben endlich von der Zigeunerin ab. Aber Iwan Georgewitsch warf ihr noch eine Handvoll tauschweren, schmutzigen Schnee nach, der sie an der Hüfte traf und den dünnen, blauen Kattunrock mit widerlichen Flecken durchtränkte.

Der dienstschlafende Polizist, welcher die Szene beobachtet hatte, barg sich tiefer in den Morgenschatten eines Torbogens und beschwichtigte sein russisches Gewissen, indem er behaglich brummte: „Ach, das macht der alten Krähe nichts!“

Diese Bemerkung schien gar nicht unpassend, denn der Rock der Zigeunerin war in der Tat schon übel zugerichtet, und wenn sie ihn übermäßig hoch raffte, so geschah es wohl nur, um schneller ausschreiten zu können, nicht um ihn zu schonen. Außerdem: Wie sie gebeugt, auf dürren Beinen dahinstelzte – langschrittig, um ihren Verfolgern zu entkommen, vorsichtig, damit ihre großen, nur mit dürftigem Schuhwerk bekleideten Füße nicht allzutief in Schnee und Schlamm versänken – so sah sie wirklich einem riesigen Vogel ähnlich, zumal sie den linken, gebogenen Arm, woran ein Hausierkorb hing, im Gehen flügelartig bewegte.

Garstige Flüche und Verwünschungen murmelte sie vor sich hin, gegen die Niedertracht der Menschen, gegen Letten, Russen, gegen alle Livländer und besonders gegen jene Schulbengels, die sie [8] ihrer Meinung nach gern und mitleidslos erwürgt hätte. O, sich rächen zu dürfen!

Sie fühlte und hörte, wie das Wasser in den Schuhen bei jedem Schritt patschte, empfand auf einmal, daß ihre Sohlen eiskalt von Nässe waren, und verwischte dabei mit unsauberen Fingern die Schweißtropfen auf der Stirn. Sie berechnete, daß sie seit vierundzwanzig Stunden keinen Schlaf genossen hatte, dachte an vielerlei Ärgernisse, Enttäuschungen, die ihr in dieser Zeit begegnet waren, auch daran, daß ihr eigener törichter Übermut solches verschuldet hatte. Dann spürte sie, wie sich irgendein Band ihrer Unterkleidung löste, und ihre Hände, die den Rock und ein wollenes, vielfarbiges Kopftuch hielten, krallten sich so krampfhaft zu Fäusten, daß sie zitterten, daß der Korb am Arm mitzitterte. Ja, als sie, die Stufen zur Bahnhofshalle hinanhastend, auf den Saum ihres Unterrocks trat, so daß dieser hörbar zerriß, blieb sie einen Moment mit zusammengepreßten Augen stehen, um zwei Tränen loszuwerden, die sich nicht unterdrücken ließen. O, sich rächen zu dürfen! Übrigens: An wem?

Obwohl noch eine halbe Stunde bis zum Abgang der Strandbahn verblieb, war die Halle schon von Wartenden belebt, vornehmlich Arbeitsleuten, die in hohen, schweren Stiefeln auf den triefenden Steinfliesen hin und her trotteten, und deren Schritte an den kahlen Wänden des gewölbten Saales knapp widerhallten.

Auf der einzigen Bank und neben derselben am [9] Boden kauerten Frauen, und am Schanktisch wankte in kläglicher Betrunkenheit ein Soldat, der von Zeit zu Zeit sein Inneres und sein Äußeres mit Wodka begoß. Auch waren unter der Menge einige besser gekleidete Damen und Herren. Sie mochten die Nacht durchzecht, durchtanzt haben, von Bällen oder Maskeraden heimkehren; das war ihnen nach Anzug und Gebaren unschwer anzumerken, und jener Tag gehörte zum Februar, da man im westlichen Rußland dem Fasching ebenso opferte als in Deutschland.

Die meisten dieser Leute befanden sich in Gedanken schon oder noch im Bett und verhielten sich still und ernst. In ihren Blicken, die von der Uhr durch die Halle wieder zurück zur Uhr streiften, in ihren Bewegungen prägte sich jene selbstsüchtige Strenge aufgezwungener und gewohnter Geduld aus.

Die Hausiererin schob sich in das dichteste Gewühl. Gleichzeitig schlang sie das breite Kopftuch eng zusammen, daß nur wenig von ihrem braunen Gesicht, dem einfach gescheitelten, tiefschwarzen Haar unbedeckt blieb. In gebückter Haltung, den Kopf zur Brust gesenkt, vermeinte sie sich hinter einer Gruppe breitrückiger Gestalten verbergen zu können; aber das gelang nicht. Denn die Nächsten wichen vor ihr zurück; andere umringten und betrachteten sie mit neugieriger Betrachtung, wie man ein wildes, abscheuliches Tier beguckt. Sie musterten dreist oder verstohlen ihren Korb, ihre Schuhe, ihre jämmerliche Physiognomie, lachten, spotteten [10] erst verhalten, bald offener. Besonders Frauen vergnügten sich unverhohlen, als ein dicker plattnasiger Lette sich tölpelhaft zum Spaßmacher aufwarf, indem er das Leinentuch von des Weibes Korb wegzog; wobei allerdings ein komisches Durcheinander von Apfelsinen, Schuhbürsten, Kinderspielzeug, Taschenkämmen, Zwirnrollen und anderlei Sachen zum Vorschein kam. Daraufhin steuerte sich der berauschte Soldat hinzu und begann eine längere Ansprache, mit schluckenden, teils russischen, teils lettischen Worten, welche das allgemeine Ergötzen erhöhten, zumal er sie durch gewagt vertrauliche Gesten unterstützte. Das Weib hatte Mühe, sich der Aufdringlichen zu erwehren. Vorübergehende stießen sie achtlos, sogar absichtlich an. Die Uhr ward vergessen; man unterhielt sich nur noch gespannt mit dem Anblick der fremden Gestalt. Was sie wohl anfangen würde?

Die sagte nichts; sie durfte ja nicht; es hätte nur mehr peinliches Aufsehen erregt. Sie ertrug. „Hexe!“ „Wahrsagerin!“ rief man ihr zu, und junge Leute bestürmten sie, ihnen die Karten auszulegen; auch wollten sie ihr etwas von dem drolligen Kram abkaufen. Die Braune schüttelte nur wortkarg und abwehrend den Kopf. Doch in ihren Augen funkelte unsäglicher Haß. Sie mußte dulden, – weil sie ein Weib und eine Zigeunerin war. Das wußte sie, wie sie auch qualvoll erkannte, daß sie einem rohen, unverständigen Pöbel auf der Bühne der Langeweile ein Schauspiel gab. Man vergalt ihr mit kaum erträglichem Hohn, [11] mit plumpen Schikanen. Bis das Rasseln eines Schlüsselbundes die Peiniger hinweg zum Schalter trieb. Der Plattnasige hielt es davonrennend noch für lustig, in den Korb mit den Apfelsinen zu spucken.

Das Fahrgeld – zwanzig. O Gott, es reichte nicht: es fehlten zwei Kopeken. Fiebernd durchhakten die knochigen Finger den Inhalt des Korbes zur Belustigung vieler Gaffer. Ein Polizist schaute mißtrauisch zu. Sie sah – vielmehr empfand es nur, und eisige Angst griff in die Schläge ihres Herzens.

Er wird mich anhalten, ausforschen, bangte sie und wühlte noch rascher, noch aufgeregter in dem krausen Tand herum. Ich habe das Geld verloren. Ach, daß mich alles treffen muß! – O allmächtiger Vater im Himmel, du kannst das ansehen! Gott, du bist schlecht, du bist – nein, Gott, du bist gut. Sei barmherzig, bitte, bitte! Hilf, daß –

Und sie entdeckte die zwei Kopeken. Keuchend langte sie vor dem Schiebefenster an, forderte zaghaft ein Billet. Der Beamte schimpfte: Ob sie das Maul nicht aufreißen könnte.

Sie hörte nichts. Indem sie zum Perron jagte, rannte sie gegen eine Säule und stieß sich das Handgelenk blutig.

Der Zug war, wie allmorgendlich, auch diesmal im Nu überfüllt. Zumal in den Wagen letzter Klasse herrschte bald ein arges Gedränge, grobes Schelten und Streiten um die Plätze, dazu heiße [12] üble Luft. Diejenigen Fahrgäste, welche sich eine Sitzgelegenheit erhascht, förmlich erkämpft hatten, gaben deutlich zu verstehen, daß sie das Errungene unter jeder Bedingung behaupten würden. Die anderen beruhigten sich erst, als der Zug stampfend, zischend ins Rollen kam, und unter ihnen befand sich auch die Frau mit dem bunten Tuch. An einem eisernen Träger lehnte sie, kaute auf ihren Lippen und schickte bittere Blicke nach allen Seiten. Es versteht sich von selbst, daß sie ununterbrochen von ihrer Umgebung angestarrt wurde, verständnislos, anstandslos, voll Abscheu. Da saß eine Gesellschaft von Nachtschwärmern, welche vor dem Ernst des trüben Morgens ernüchtert und verstummt waren, nun aber allmählich wieder in ausgelassenere Stimmung kamen und ungeniert über die Zigeunerin zu witzeln begannen.

Der entging kein Wort. Daß dieses Witzeln sowie das jeweils folgende Gelächter so geistlos, niedrig waren, das steigerte ihre Wut zum äußersten. Wahrhaftig – so seltsam es klingen mag – der Zigeunerin war eine sehr zarte Empfindlichkeit, ein feines Verständnis eigen. Sie erriet auch verschwiegene Gedanken bei den übrigen Passagieren: Vor dieser diebischen Landstreicherin, die sich selten wäscht und gewiß Ungeziefer an sich trägt, muß man auf der Hut sein. Wie, wo und wovon mag sie leben? Ob sie zaubern kann? Halbschuhe trägt sie im Winter, seidene Strümpfe mit großen Löchern darin! Wenn sie wüßte, wie lächerlich sich ihre zerfetzten Flitter ausnehmen!

[13] Derartige Bemerkungen verletzten die Fremde ebenso, als wären sie ausgesprochen. Einige Muskeln des dunklen Gesichtes gerieten in flackernde Spannung, bemühten sich, Ideen und Gefühle zurückzuzwängen, die wirr und stickig gemengt aus jenem Schädel, jener Brust herausschwollen.

Ein weißhaariger Bahnarbeiter schielte beklommen nach der neben ihm stehenden rätselhaften Frau, zuckte bei jeder Berührung mit ihr erschrocken zusammen und schlug dann jedesmal heimlich ein Kreuz.

Der einzige, der unbefangen und ohne jede Feindseligkeit sie anschaute, war ein blasser, hagerer Mann, ein Maler, welcher Freude an ihrer künstlerischen Erscheinung hatte. Gewiß, sie ist schmutzig, erklärte er für sich, wird nicht mehr jung sein, aber hat sie nicht sinnvolle, geradezu edle Züge? Wie seltenartig, wie hoheitsvoll wirken die blauen Augen auf dem ruhigen braunen Grund unter dem tiefblauen Haar und dieses brennende Scharlachrot auf dem Tuch!

Die Zigeunerin selbst stellte sich vor (und ein halbes Lächeln kam und schwand ihr), daß der hagere Mann ein Künstler wäre, der Gefallen an ihr und den leuchtenden Farben ihrer Kleider fände. Denn sie kannte ihre Vorzüge recht wohl, hatte dieselben oft, noch am jüngst verflossenen Tage, rühmen hören.

Niemand schien indes die Anstrengung zu bemerken, mit der sie sich äußerlich beherrschte, niemand zu gewahren, was jetzt in ihr vorging.

[14] Nach und nach legte sich dieser innere Kampf, schlief ein in dem erschöpften Körper, welcher sich kaum noch aufrecht zu halten vermochte. Ein Ausdruck milder Ergebenheit, versöhnlicher Müdigkeit lagerte sich in ihre Linien. An jeder Haltestelle der Eisenbahn hatte sie gehofft, daß jemand aussteigen, einen Sitz hinterlassen würde. Es ereignete sich auch zweimal; doch nahmen ihr andere Fahrgäste, eilfertige Männer, die leeren Plätze vorweg.

Ohne Bitterkeit trat sie zurück, wartete, litt, schloß für Sekunden die Lider, reckte sich – im Begriff einzuschlafen – mit mehr Wollen als Können wieder zurecht, verträumte sich an den fernen Schlägen einer Turmuhr.

Noch drei Stationen. Noch dreiundzwanzig Minuten. Nach einer halben Stunde ist alles überwunden, werfe ich mich ins Bett, in mein warmes Bett. Sie fühlte und hörte, wie das Wasser in den Schuhen patschte, und ein Frösteln überwallte ihren Rücken. Fast noch eine halbe Stunde muß ich mich auf den Füßen halten. Gott! – Dort auf der Bank sitzen drei Personen; es könnten auch vier darauf sitzen. Wenn die Bäuerin am Fenster ihr Bündel herunternehmen würde –

In diesem Augenblick entfernte die Bäuerin tatsächlich aus eigenem Antrieb das Bündel von der Bank, wandte sich darauf an den Bahnarbeiter und bot ihm den freigewordenen Raum an.

„Ich will nicht,“ gab der Alte bäuerisch zurück, [15] „ich steige bald aus.“ Die Hausiererin wagte sich mit einer flehenden Gebärde vor. Nun war doch die Reihe an ihr.

Nein: Weder die Bauersfrau noch ihre seitlichen Nachbarn verstanden das Weib. Im Gegenteil, sie machten sich breit und drehten ihre Köpfe geflissentlich hinweg. Da, als die Landstreicherin noch eingeschüchtert, unschlüssig dort stand, gab ihr auf einmal eine schwarz verschleierte Dame, welche den Vorgang aus einer Ecke gegenüber der Bäuerin verfolgt hatte, ein aufmunterndes Zeichen. Sie warf nur einen kurzen, unauffälligen Blick. Der redete: Armes Weib, setze dich unbekümmert dorthin; ich erlaube es dir und keiner soll’s dir verbieten. Dieser weiche Blick, gewärmt und weiter wärmend, redete so viel mehr.

Behutsam ließ sich die Hausiererin neben der Bauersfrau nieder. Sie wickelte den wollenen Umhang fest um Kopf und Brust. Alle Anwesenden im Kupee starrten wie erwartungsvoll auf die Vermummte, auf das grün-weiß-scharlachrote Tuch. Daß es gelinde bebte, fiel ihnen nicht auf, und ganz weit ab davon waren sie, zu ahnen, was sich dahinter begab. Daß dort aus einem namenlosen, seligen Erfülltsein etwas Erhabenes, Gesegnetes, Wunderschönes emporwuchs.

Dann fiel das Tuch. Das braune Haupt zeigte sich ganz und hoch aufgerichtet, und die weit geöffneten blauen Augen sahen einmal lange hinüber zu der schwarzverschleierten Dame. Offenbar wollte die Zigeunerin etwas sprechen; sie überlegte [16] nur noch, wie sie es bestens formen möchte. Schließlich neigte sie sich vor und flüsterte schlecht Russisch: „Wui pannimeide ponimetzki?“ Das hieß etwa: Sprechen Sie Deutsch?

„Da, da – Ja, ja!“ erwiderte die Gefragte erstaunt. Und jene sagte laut mit jäh veränderter, harter Stimme, jedes Wort, jede Silbe, wie aus tiefem Gefühl betonend: „Was müssen Sie für ein guter Mensch sein, der Sie eine Zigeunerin so aufnehmen!“

„Wieso,“ wehrte die andere halb verlegen, halb geschmeichelt, „Zigeuner sind doch auch Menschen.“ Und sie hätte gern das Gespräch mit der ungewöhnlichen Frau fortgesponnen, aber die hielt die Worte der Dame für geschwätzig, langweilig und schwieg deshalb. Überdies stoppte bald darauf der Zug, und sie verließ den Wagen, nicht ohne der Verschleierten noch einmal innig zuzunicken.

Draußen, während sie den ausgedehnten schneehellen Platz querte, dann in einen der winterstillen Prospekte einbog, welche den Strandort geradlinig durchschneiden, vermochte sie nicht mehr ihre Stimmung zu dämpfen. Etwas Begeistertes, Herausforderndes machte sich in der Art, wie sie dahinlief, wie sie mit dem Korb schlenkerte, laut mit sich selber sprach, auch in ihren Mienen geltend. Gleich werde ich daheim sein. Jetzt ist alles Schlimme vorüber, und was es mich lehrte, das bleibt mir Gewinn.

Einen ärmlich aussehenden Jungen hielt sie [17] unterwegs an. „Da, nimm! Und sei immer ein braver Mensch; denn das ist die Hauptsache im Leben; alles andere ist –“ sie bediente sich eines sehr kräftigen Vergleiches und drückte dabei dem verdutzten Kinde ihren Hausierkorb in die Hand.

Merkwürdig, fuhr sie weitereilend im stillen für sich fort, unglaubhaft merkwürdig war das alles. Morgen will ich es Melitta erzählen. Doch nein, ich werde es ihr nicht erzählen; sie würde mich schelten oder auslachen, mindestens nicht verstehen und es womöglich gar nicht glauben. – Aber ich werde eine Novelle darüber schreiben. Ja, das will ich, und gelingt es so, wie es jetzt in mir lebt, o, so werden nach Jahren sich noch Tausende daran erbauen!

Sie lenkte ihre Schritte durch ein Gartentor, einer kleinen, hölzernen Villa zu, und über deren Stiegen durch eine offenstehende Tür in den Vorraum, wo ein mißfarbenes Frauenzimmer Messinggegenstände putzte.

Die Zigeunerin haßte diese Aufwärterin ob ihres unfreundlichen, starrköpfigen Wesens und sprach nie mehr als das unumgänglich Notwendige mit ihr. Heute begrüßte sie die Aufwärterin liebevoll heiter: „Guten Morgen, Tatjana!“

Ein paar mürrische, unverständliche Worte kamen zurück. Dennoch bewahrte die Angekommene ein frohlauniges Lächeln, und so betrat sie, wie jemand, der im eignen Heim schaltet, ein Nebenzimmer. Dort schickte sie sich an, im Schubfach eines alten Empireschreibtisches zu kramen.

[18] „Tatjana!“

Die Aufwärterin zeigte sich zur Hälfte in der Türspalte. „Tatjana, deine Schuhe sind greulich zerrissen. Hier schenke ich dir fünf Rubel; kaufe dir neue dafür, hörst du, und schneide nicht immer solch garstiges Gesicht. Du hast hier doch leichten Dienst und – Tatjana – die Welt birgt so viel Schönes und Gutes!“

Unbeholfen, ohne Dank, ergriff die Aufwärterin das Geld und entfernte sich unsicher. Hinter der geschlossenen Tür steckte sie einmal die Zunge heraus, zog eine hämische Grimasse und knurrte tonlos, lettisch: „Das Luder ist besoffen. Eigentlich hätte ich mich zwar bedanken sollen.“

Nachdem sie eine Zeitlang den Samowar mit Leder und Putzstein bearbeitet hatte, ward ihre Neugierde wach. Vorsichtig schlich sie zurück, öffnete die Tür und machte sich an dem Messingschloß derselben zu schaffen.

Die Zigeunerin hatte sich, auf dem Bettrand sitzend, der Schuhe entledigt, schleuderte diese weithin über den Fußboden und – anscheinend glaubte sie sich unbeobachtet – deklamierte: „… Freunde, überm Sternenzelt –“

Sie riß mit einem Ruck das schwarze Haar von ihrem Kopf, um es im energischen Bogen von sich zu werfen, so daß es an der gegenüberliegenden Wand auf einer Devrientbüste hängen blieb.

„… muß ein lieber Vater wohnen!“

Sie zerrte sich die Bluse auf und brachte ein Paar eingerollte Strümpfe zum Vorschein.

[19] Da konnte Tatjana nicht mehr an sich halten, sondern lachte grell auf; und wie um das Derbe dieses Lachens wieder abzuschwächen, fragte sie untertänig in ihrem gebrochenen Deutsch: „Junge Herr haben gewiß sehr lustig gewesen auf Maskenb–“

Sie brach plötzlich blöde, erschrocken ab, denn sie sah zwei Tränen über die Wangen ihres Herrn fallen.