Das tote Hirn

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
>>>
Autor: Max Schraut
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Das tote Hirn
Untertitel:
aus: Vorlage:none
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1930
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Wikisource
Kurzbeschreibung:
Band 1 der Romanreihe Olaf K. Abelsen. Abenteuer abseits vom Alltagswege.
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[2]

[3]
Olaf K. Abelsen
Abenteuer
abseits vom
Alltagswege
Das tote Hirn
Einzig berechtigte
Bearbeitung a. d.
Schwedischen von
M. Schraut
– Band 1 –



Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16

[4]
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1930 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.


[5]
1. Kapitel.[1]

Die Nacht damals war kalt, regnerisch und finster. Eine bessere Nacht konnte ich mir kaum wünschen.

Wenn die Regenschauer und Windstöße über das Schieferdach hinwegfuhren, drang mir die Kälte durch die durchnäßten, muffig stinkenden Leinenhosen und die aus der grauen Wolldecke in heimlicher Arbeit zurechtgeschneiderte Jacke bis auf die Knochen.

Seltsam: meine Gebeine fühlte ich, als ob’s eisige, eiserne Stangen wären. Aber meine Haut und mein Gesicht brannten wie damals, als ich mitgeholfen hatte, der Jungfrau durch den felsigen Leib finstere Schlünde zu bohren: Höhensonne – Gletscherbrand!

Vom Dache liefen zwei dicke Drähte mit leichtem Gefälle über den Hof und die hohe Mauer hinweg bis zu einem nahen Hügel.

Zwei … der eine isoliert, der andere durch die Witterungseinflüsse oxydiertes Kupfer. Drähte, die den Tod leiteten, aber auch Licht, Kraft, Wärme spendeten.

Die Drähte lagen etwa fünfzig Zentimeter auseinander und schwankten im Winde. Ich bin nie ein Seiltänzer gewesen. Man wird alles, wenn Not am Mann ist. Und ich hatte dieses Leben [6] satt. Ich war in den letzten acht Monaten, wo ich lediglich häßliche Pantoffel genäht und nicht ein einziges Mal anständig diniert hatte, fraglos um dreißig Pfund leichter geworden. Ich schätzte mein Gewicht auf hundertzehn. Wenn die Drähte hielten und wenn ich das Kunststück fertig brachte, auf diesen Metallstrippen, die den Weg in die Freiheit darstellten – den einzig möglichen Weg, bis drüben zum dicken Holzmast der Starkstromleitung zu gelangen, so war immerhin etwas gewonnen. Noch lange nicht alles.

Vom Boden des roten Ziegelgebäudes hatte ich mir ein Stück von einer zerbrochenen Fahnenstange mitgebracht. Als Balancierstange.

Ich setzte mich auf den Lukenrand, streifte die plumpen Lederschuhe ab und zog die anderen über – aus Gummistoff, auch selbstgefertigt, genau wie die Gummihandschuhe, die ich über meine Finger zwängte. Mit solchen Drähten muß man vorsichtig sein, zumal wenn die Isolation des Plusleiters vom Zahn der Zeit schon arg benagt ist und man nicht dafür gutsagen kann, das Gleichgewicht trotz totaler Nüchternheit nicht zu verlieren.

Unten im Hofe ging ein dunkler Schatten hin und her. Der Mann war mir gleichgültig, auch sein Karabiner. Die Instruktion verlangte, daß er die hohe Ziegelmauer überwache, die oben noch eine nach innen geneigte Verlängerung von acht Stacheldrähten trug. Bisher war noch keiner meiner Kameraden über diese Mauer hinweggelangt.

Ich packte die Stange und begann diesen Weg zu beschreiten, der wahrhaftig kein Alltagsweg war. Die Dachluke hatte ich wieder zugeklappt. [7] Und das war gut. So hat man sich denn wochenlang die Köpfe zerbrochen, wie Ingenieur Olaf Karl Abelsen das Hotel Düsterburg wohl verlassen haben könnte.

Die ersten gleitenden Schritte auf den beiden Drähten hätten vielleicht noch vor acht Monaten meine Unternehmungslust bis zum Gefrierpunkt abgekühlt. Die acht Monate Pantoffeln und Staatshotelkost – und die Aussicht auf noch sechzehn Monate: Lieber das Genick brechen oder eine elektrische Hinrichtung hier am eigenen Leibe durchmachen!

Weiter …

Linken Fuß auf dem isolierten Draht vorgeschoben, rechten Fuß auf der Kupferstrippe breitbeinig folgen lassen …

Zähne zusammengebissen …

Aha – das Knochengerüst wird gleichfalls warm, die Gelenke werden geschmeidig, die frische Luft tut wohl …

Spiel mit dem Tode …

Mein[2] Gott – nicht das erste Mal …

Als damals im Jungfrau-Tunnel der Sprengschuß zu früh losging, lag ich eigentlich schon mit beiden Beinen im Grabe … Der Sprung hinter den Geröllhaufen hätte keinen Bruchteil einer Sekunde später erfolgen dürfen.

Verdammt – Dieser Windstoß eben hätte mich beinahe unten dem Posten vor die Füße befördert. Der arme Kerl hätte keinen schlechten Schreck über den Haufen blutigen Menschenfleisches bekommen.

Ich wurde wieder vorsichtiger. Wenn der Wind mal Pause machte, schaffte ich immerhin fünf Schritte vorwärts.

[8] So – nun lag die Mauer hinter mir …

Bis zum Hügel und Holzmast noch etwa dreißig Meter …

Ich schwitze. Früher hatte ich nie geschwitzt. Auch damals nicht, als ich den Schienenbruch entdeckt hatte und dem Schnellzug Malmö-Stockholm entgegenlief. Und in jener Nacht handelte es sich um zahlreiche Menschenleben, die auf dem Spiele standen. Heute nur um mein eigenes, und daran lag niemandem etwas. Die Welt hatte Karl Olaf Abelsen gestrichen.

Aber mein einst so trefflich trainierter Körper besann sich doch so allmählich auf seine einstige Leistungsfähigkeit. Mit dem wachsenden Selbstvertrauen ging’s auch schneller voran.

Tückischer Nachtwind … Bestie!! Tut so, als ob sie wieder mal Atem schöpfen wollte und bläst mir ganz plötzlich derart in den Rücken, daß mein linker Fuß ausgleitet …

Die Stange saust in die Tiefe … Ich hänge an der Kupferstrippe … pendele hin und her …

Die beiden Drähte schwingen … schwingen … Der schwarze, umwickelte berührt meinen Handschuh … Schwingt zurück … Für einen Moment ist mir das bekannte Kribbeln durch die linke Hand gelaufen … Der Handschuh isoliert doch nicht vollständig.

Die Bestie Wind stellt das Fauchen wieder ein …

Und ich hänge nur mit einer Hand an der Kupferstrippe, recke die andere weit vor, umklammere den Draht, öffne die erste … arbeite mich so bis zum dicken, geteerten Mast …

Dank auch, fürsorgliche Kollegen, die ihr an diesem Mast Steigeisen befestigt habt …!

[9] Ich habe die erste Etappe hinter mir.

Meine Beine zittern, meine Armmuskeln flattern. Ich lehne unten am Mast, und Regen und Wind fächeln mein schweißtriefendes Gesicht. Ich schelte den Wind nicht mehr Bestie. Jetzt erscheint er mir wie kühle liebkosende Frauenhände, die mir streichelnd Glück wünschen. Hinter mir liegt der große dunkle Bau mit den zahllosen Fensterchen …

Einzelne Fenster sind hell: die Flurfenster! Zuweilen gleitet ein Schatten hinter diesen Fenstern vorüber. Die armen Angestellten des Hotel Düsterburg haben nicht einmal nachts Ruhe. Die Hotelgäste haben es besser. Die dürfen ab neun Uhr ungestört ihren jagdsportlichen Neigungen nachgehen. Meine Jagdbeute pro Nacht betrug durchschnittlich dreißig Wanzen und ein Dutzend Flöhe.

Meine überanstrengte Muskulatur beruhigte sich wieder. Ich mußte daran denken, den zweiten Teil meines Programms zu erledigen, denn die Nächte im April sind hier in Südschweden nicht allzu lang. Um sieben wird es hell, und bis dahin mußte ich den Boden meines Vaterlandes unbedingt verlassen haben.

Ich wandte mich der im Tale liegenden Stadt zu, kam über ein reißendes Flüßchen, dessen Holzbrücke unlängst von meinen bisherigen Kameraden erneuert worden war, und sah nun links die Lichtreihen des Bahnhofs und rechts einzelne helle Villen in alten, dicht bewachsenen Gärten herüberwinken.

Um die literarischen Größen meiner Heimat hatte ich mich gerade nur so viel gekümmert, daß mir noch rechtzeitig im Hotel Düsterburg eingefallen [10] war, hier in der Stadt wohne die berühmte geistvolle Frau, deren Werke in alle Sprachen übersetzt worden sind. Ich wußte auch, daß sie hier eine burgähnliche Villa besaß, die in einem uralten Schloßparke lag.

Es galt also, die Villa zu suchen. Denn nur diese Frau mit dem goldenen Herzen würde mir helfen. Ohne sie war diese Vergnügungsreise sehr bald zu Ende.

Die Straßen des Villenvororts waren wie ausgestorben. Nur Katzen und Hunde verrieten trotz des erbärmlichen Wetters das Nahen des Frühlings. Ich beobachtete verschiedene vierbeinige Liebespärchen, die je nach Charakterveranlagung die Schäferstündchen laut oder leise vorbereiteten. Katzen pflegen sich hierbei ja zumeist ziemlich pöbelhaft zu benehmen. Wenn all die süßen menschlichen Fräuleins auch so Mark und Bein durchdringend kreischen wollten, würde die vielgequälte Polizei noch mehr zu tun haben.

Unter einer Laterne lehnte schlaftrunken ein Polizist. Es ist ein wahres Glück, daß die Herren Polizeiminister noch immer so rückständig sind, ihre Leute in eine weithin erkennbare Uniform zu stecken. Wie leicht könnte man, wenn die Beamten schlichten Spießbürgern glichen, ihnen in die Arme laufen.

Ich machte einen Bogen um besagte Laterne und spähte emsig nach einem burgähnlichen Gebäude aus. Dann stand ich vor einer Gitterpforte und betastete die eingravierten Buchstaben des Messingschildes mit den Fingerspitzen, kletterte über den Zaun und schlich die Allee entlang, bis ich rechts zwei helle Fenster im hohen Erdgeschoß bemerkte – die einzigen erleuchteten Fenster des [11] mächtigen Heims der großen Dichterin. Vor den Fenstern zog sich ein Balkon hin, und dort stand ein Mensch, ein Mann, halb zusammengeduckt. Der matte Lichtschein zeigte mir einen verregneten Velourhut, einen hochgeklappten Ulsterkragen und ein besonnenes Profil mit sehr gerader Nase und blondem Spitzbart.

Dieser Herr störte mich. Er paßte nicht in mein Programm hinein. Wenn er stehlen wollte und wenn er sich dabei ungeschickt benahm, konnte das auch für mich unangenehme Folgen haben.

Jeder ist sich selbst der Nächste. Zumal nach acht Monaten Freiquartier im Staatshotel. Ich begann an dem eisernen Träger des Balkons emporzuklettern. Daß der Mann mich nicht hörte, dafür sorgte der Wind und der Regen und ein Katzenpaar in den nahen Büschen. Als ich den Kopf über die Balkonbrüstung hob, stand der eine Flügel der Fenstertür halb offen, und der Herr war verschwunden. Ich war zu spät gekommen und mußte die beabsichtigte Aussprache mit dem Fremden, der fraglos der Faust des einstigen Amateurmeisters des Boxklubs „King Tor“ nicht gewachsen gewesen wäre, vorläufig aufgeben.

Umkehren etwa?! – Nein, denn das wäre gleichbedeutend mit freiwilliger Rückkehr ins Hotel Düsterburg gewesen. – Vor der halboffenen Tür hing innen ein Vorhang. Er bewegte sich leicht hin und her, und als ich ihn nun ein wenig zur Seite schob, erblickte ich links in einem weißlackierten, geschnitzten Bett eine blonde junge Frau aufrecht sitzen und mit beiden Händen eine blauseidene Steppdecke gegen die Brust pressen. Ihr Gesicht lag im Schatten, da die kippbare Nachttischlampe mit gelbem Trichterschirm so gedreht [12] war, daß der Lichtschein den Fremden traf, der noch weiter links neben einem dreiteiligen Frisiertisch stand.

Der Mann sprach. Ich erhaschte nur einzelne Worte.

Eine gewisse junge Dame, deren Namen hier zu nennen zu viel Ehre für sie wäre, kann darüber Auskunft geben, weshalb Olaf Karl Abelsen niemals mehr irgend welche Gefühlsdummheiten begehen wird, zu denen ich auch meine damalige Rettung des Schnellzuges Malmö-Stockholm rechne. Die Menschen sind es nicht wert, sich irgendwie für sie aufzuopfern, und Weiber erst recht nicht.

Hier lagen die Dinge anders. Hier gedachte ich nicht den Lohengrin zu spielen, der Elsa von Brabant von einem Feinde befreit. Hier handelte es sich um mich selbst, und ich selbst war’s mir schuldig, dieser Szene da drinnen schleunigst ein Ende zu machen.

Die Stimme des blonden Kindes dort im Bett hatte eben nochmals beteuert, daß sie dem Erpresser beim heiligen Gott nichts … nichts mehr aushändigen könne, als ich den jämmerlichen Wicht schon beim Genick hatte …

Vom Bett her ein leiser Schrei …

Der Kerl flog über die Balkonbrüstung unten in eine Taxushecke, rappelte sich auf, suchte seinen Hut und rannte die Allee entlang.

Ich kehrte in das Schlafzimmer zurück. Das junge Mädchen starrte mich an und meinte weinerlich: „Ist er fort …? Sie sind wohl ein Kriminalbeamter, mein Herr?“

„Ja … Und Sie, Fräulein?“

[13] Sie zögerte … „Sie … kennen mich also nicht?“

„Nein. Ich bin erst kurze Zeit hier in dieser Stadt, ganz kurze Zeit. Ich war bisher in einer staatlichen Anstalt beschäftigt. Ein eiliger Auftrag ruft mich außerdem noch in dieser Nacht nach Trelleborg, mein Fräulein. Könnten Sie mir irgendwie einen Anzug, einen Mantel und Wäsche und so weiter beschaffen und mir ein Fahrrad leihen?“

Ihr Gesicht konnte ich immer noch nicht deutlich erkennen, zumal ihr jetzt noch das aufgelöste blonde Haar nach vorn gefallen war.

Sie schwieg sekundenlang. Ich fühlte ihre forschenden Blicke. Und ahnte, daß sie mich durchschaut hatte.

„Sie … kommen aus Hafdengarden?“ flüsterte sie …

„Ja. Ich bin der Ingenieur Olaf Karl Abelsen, der wegen Totschlags zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Vielleicht haben Sie in den Zeitungen davon gelesen. Es ist freilich schon über acht Monate her.“

„Mein Gott – – Abelsen!! – Oh, ich will Ihnen helfen … Ich … ich bin das Stubenmädchen der Dame, der diese Villa gehört. Die Dame ist verreist, und auch der Chauffeur hat Urlaub. – Drehen Sie sich um … Ich will nur einen Morgenrock überwerfen. Ich bringe Sie in die Garage, in die Stube des Chauffeurs.“

„Ich werde wieder in den Garten hinabklettern,“ vereinfachte ich ihre Vorschläge. „Kommen Sie in den Garten, bitte …“

Sie kam. Sie hatte einen langen Ledermantel an, eine Autokappe auf und eine Schutzbrille vor den Augen.

[14] In der Stube des Chauffeurs ließ sie mich allein, um das Auto zur Fahrt nach Trelleborg fertig zu machen. Die Kleider des Chauffeurs paßten mir leidlich, und nachher nahm ich auch noch einen kleinen Koffer mit, um mehr den Eindruck eines schlichten Reisenden hervorzurufen.

Wir fuhren davon. Sie saß am Steuer. Ich neben ihr. Wir tauschten wie bisher nur wenige Worte aus. Und kurz vor sechs Uhr hielten wir unweit Trelleborgs auf der Chaussee. Ich stieg aus, nahm den Koffer, dankte dem Mädchen und übersah ihre Hand, die sie mir zwanglos hinreichte – wollte sie übersehen …

„So nehmen Sie doch,“ rief sie ungeduldig. „Sie brauchen doch Geld, und die drei Schminkstifte werden Sie auch zu benutzen verstehen …“ – Als Nachsatz kam ein wenig verlegen: „Man würde es Ihrer Gesichtsfarbe ansehen, Herr Abelsen, woher Sie kommen …“

Ich nahm. Bevor ich jetzt jedoch, gerührt durch ihre Fürsorge, meinen Dank nochmals in herzlichere Worte kleiden konnte, wurde das Auto geschickt gewendet, sauste den Weg zurück, entschwand. Mein Händewinken, meine Zurufe blieben unbeachtet, und meine Retterin, die niemals, das hatte ich ja längst gemerkt, eine Kammerzofe war, entglitt mir vielleicht für immer. Ich hatte sie nicht nach ihrem Namen gefragt, ich hatte nur still in mich hineingelächelt, wenn sie während der spärlichen Unterhaltung sich mit geringem Erfolg bemüht hatte, in ihrer Ausdrucksweise den Ton eines halbgebildeten Mädchens zu treffen. Und doch wußte ich ihren Vornamen: Gerda! – Der Mann mit dem blonden Spitzbart hatte ihn mehrfach über seine elenden Lippen gebracht, bevor [15] ich ihn in die Taxushecke hinabschleuderte, diesen jämmerlichen Halunken. Gerda also. Immerhin etwas. Aber ein niedliches Zöfchen – niemals! Schon das Schlafzimmer hatte dagegen gesprochen, erst recht ihr Benehmen, ebenso sehr ihre Sicherheit in der Führung des Kraftwagens.

Schade, daß ich mir von ihren Gesichtszügen keine rechte Vorstellung machen konnte. Nur die großen dunklen Augen, das blonde Haar und ein Paar sehr frische, sehr schön geformte Lippen hatten sich meinem Gedächtnis fest eingeprägt.

Vielleicht war Gerda eine Freundin oder Verwandte der berühmten Schriftstellerin, – es mußte wohl so sein: Verwandte, vielleicht eine Nichte, denn die große Dichterin zählte mindestens fünfzig Jahre und entstammte einer zahlreichen Familie.

Gerda …

Das Leben würfelt mit Menschenschicksalen. Blinder Zufall regiert unser Dasein. An ein Datum, eine Vorausbestimmung unserer Lebenslinie, glaube ich nicht. Wäre dieses Rückgrat der Lehre des Propheten Mohammed unentwirrbar von der Wiege an in unseres Daseins buntes Netz mit hineingewirkt, wären wir Menschlein nur Marionetten, die am unsichtbaren Faden eine vorgeschriebene Bahn entlanggeleitet würden, so täten wir besser, am Tage der Vollreife geistiger Erkenntnis uns eine Pistole an die Schläfe zu drücken und diese Marionettenfäden zu durchlöchern, um wenigstens in diesem einen Augenblick, wo der tödliche Schuß knallt, Herr über uns selbst zu werden und nicht bis zum „vorgeschriebenen Verrecken“ elende Hampelmänner zu bleiben.

Das Leben würfelt … Und auf zwei Flächen zweier Würfel standen zwei Namen. Das [16] Leben schüttelte den Schicksalsbecher, und diese Namen fielen nach oben, – aber der meine war nicht darunter.




2. Kapitel.
Doch entwischt.

Chaussee nordöstlich von Trelleborg. Es regnet noch immer. In der Strohhütte einiger Steinschläger, die ihre Arbeit noch nicht begonnen hatten, schaute ich in den Spiegel hinein, den ich aus der Chauffeurstube gleichfalls entliehen hatte. Ein Rasierspiegel zeigte mir so ein kittgraues mageres Gesicht mit hoher eckiger Stirn, dünnem Blondhaar, einer schmalen, ganz leicht gekrümmten Nase und einer Mund- und Kinnpartie, die der Herr Staatsanwalt vor acht Monaten zum Gegenstand besonderer Bemerkungen gemacht hatte: brutal, selbstbewußt, fast roh in der Linienführung, auf Jähzorn hindeutend – und so weiter! Der Mann hatte nicht so ganz unrecht gehabt. Nur eins stimmte nicht. Von Jähzorn hatte ich bei mir nie etwas gespürt. Lächerlich – ich, der schon als Schüler die Kunst der Selbstbeherrschung mit allen Kniffen modernster Seelenforschung geübt hatte!

Wie unheimlich ich jetzt doch mit diesen eingefallenen Wangen und mit diesem ungesund bleichen Gesicht meiner Mutter glich! Eine frohe, [17] lebensprühende Berlinerin war’s gewesen, die den Oberlehrer Doktor Abelsen heiratete, einen schwerblütigen, stumpfen echten Schweden von der Art, wie dieses Land sie nur zu oft hervorbringt, – Männer, zu tief veranlagt, um dem schnellen Rhythmus der modernen Zeit folgen zu können, – so tief veranlagt, daß das Einerlei des Alltags sie vorzeitig zu melancholischem Vegetieren verdammt. Daß zwei so grundverschiedene Naturen wie meine sonnige Mutter und mein niemals lächelnder Vater sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen mußten, daß meine Mutter dahinwelkte und früh starb und mein Vater ihr aus Gram sehr bald folgte, denn auf seine Art hatte er sie ja geliebt, – war das ein Wunder?! Und das einzige Kind dieser unseligen Daseins-Nichtverwandtschaft war ich. Ich, in meinem Fühlen, Denken, Handeln weit mehr Deutscher als Schwede, ich, der die tote Mutter in seinem Herzen als Heilige verehrte und nie von ihr sprach – nie!

Die Schminkstifte unauffällig zu benutzen, war nicht ganz so einfach für einen Laien auf dem Gebiete der Gesichtsveränderung. Nach mehreren mißglückten Versuchen war ich mit dem rotwangigen Gesicht Olaf Karl Abelsens – nein doch, des Chauffeurs Gunnar Aalfström zufrieden. Ich hatte ja auch Aalfströms Paß an mich genommen, ohne den ich niemals das Fährschiff nach Saßnitz hätte betreten können, da jetzt so kurz nach dem Ende des großen Völkermordens die Grenzkontrolle noch sehr scharf gehandhabt wurde.

Ich wanderte dem Hafen zu. Trelleborg ist ein elendes, reizloses Nest, und wer von den [18] eindrucksvollen Gestaden Rügens zum ersten Male nach Trelleborg kommt, muß unsagbar enttäuscht sein.

Ich wußte, daß der Trajekt um sieben Uhr Trelleborg verläßt. Ich hatte gerade noch Zeit, mir eine Fahrkarte zu lösen. Gerda hatte mir in das Päckchen auch fünfhundert Kronen hineingelegt, dazu noch, mir sehr wertvoll, eine jener Damen-Miniaturpistolen, wie die Stockholmer Waffenfabrik sie neuerdings mit Patronenrahmen zu sieben Stück auf den Markt gebracht hat.

Die Paßkontrolle ging ohne Weiterungen vonstatten, desgleichen die Zollkontrolle. Mein kleiner Koffer enthielt ja nur die allerbescheidensten und allernotwendigsten Reiseutensilien. Die Schminkstifte hatte ich weggeworfen.

So betrat ich denn den Rauchsalon der eleganten „Drottning Viktoria“, setzte mich in einen Klubsessel und bestellte beim Steward Frühstück.

Die Schiffsglocke am Kai begann zu läuten. Ich atmete doch ein wenig erleichtert auf. Gleich mußte der große Dampfer, den D-Zug unten in seinem weiten Bauche, die Liegestelle verlassen.

Die Schiffsglocke hörte jäh mit ihrem Gebimmel auf.

Die Maschinen, die bereits in Gang gewesen, stoppten wieder, und das dumpfe Dröhnen, das sie hier zum Oberdeck emporgeschickt hatten, verstummte.

Ich nahm den ersten Schluck Kaffee und den ersten Happen des noch bäckerwarmen Brötchens, dann schob ich die kleine Pistole in den rechten Ärmel – entsichert. Lebend fing mich niemand. Und aß weiter, nur die Linke benutzend.

[19] Außer mir befanden sich nur noch zwei Herren im Rauchsalon, – ein fetter Handelsbeflissener und ein schlanker Mann mit bartlosem Gesicht, der nach mir hereingekommen war und mir nun den Rücken zukehrte und Zeitung las.

Was ich vermutet, geschah: drei Herren in Zivil betraten den Salon und näherten sich mir. Mein Herz tat zehn raschere Schläge, beruhigte sich wieder. Mein kurz geschorenes Blondhaar wurde durch die tief herabgezogene Reisemütze verdeckt, und mein rotes, gesundes Gesicht, die dunkel gefärbten Augenbrauen und die Schatten um den Mund hatten von dem Aussehen eines vor fünf Stunden aus dem Staatshotel urplötzlich verschwundenen Gastes mit der Nummer 311 wenig übrig gelassen.

Polizeibeamte … Fragten nach meinem Paß.

„Bitte …“

War in Ordnung …

Ich kaute und nahm wieder einen Schluck Kaffee. Sechs Augen musterten mich, ließen sich täuschen.

Die drei wandten sich dem Zeitungsleser zu. Der erschien mir sichtlich nervös, und als ich nun sein Profil gegen die dunkle Wandtäfelung als klare Silhouette sah, kam er mir merkwürdig bekannt vor. Nun, ich kenne viele Herren in Schweden, die mich nicht mehr kennen wollen.

Und ich frühstückte weiter. Die drei zogen ab, und sehr bald bimmelte die Kaiglocke von neuem. Die „Drottning Viktoria“, jeder Schwede ist mit Recht stolz auf sie, dampfte in die stark bewegte Ostsee hinaus.

Der zweite Punkt meines Programms war erledigt. Wenn der dritte, die Landung in Saßnitz, [20] ebenso tadellos klappte, war ich nach fünf Stunden in Sicherheit.

Der Steward brachte mir Zeitungen. Ich nahm ein Berliner Blatt und orientierte mich über die Weltgeschichte, denn das Hotel Düsterburg hatte in dieser Beziehung miserabel für seine Stammgäste gesorgt.

Der Krieg war aus. Wilsons zehn Punkte beschäftigten die Herren Politiker. Ich habe für Politik nie etwas übrig gehabt. – Ich blätterte weiter … Berlin feierte den Frieden … Die Annoncen der Amüsierlokale füllten Seiten: freche Anpreisungen unwürdiger, angekränkelter Spekulation auf die Vergnügungssucht derer, die vier Jahre den Tod als steten Mahner in allernächster Nähe gehabt hatten!

Der Trajekt schaukelte sanft, und die eintönige Musik des Regens, der gegen die Fenster des Salons klatschte, ließ mich in dem tiefen, weichen Klubsessel einschlafen. Als ich erwachte, war der Salon leer. Draußen schien die Sonne, und die Fahrgäste wanderten auf und ab. Der Steward räumte den Tisch leer, ich bezahlte, bestellte noch Zigaretten und begab mich gleichfalls auf das Promenadendeck hinaus, ging bis zum Bug und beobachtete die Leute des Minenauslugs, denn es sollten sich noch zahllose, vom Sturm losgerissene Minen in der Ostsee umhertreiben, hatte mir der Steward vertraulich mitgeteilt.

Ich stand an der Reling halb hinter einem der Rettungsboote und sah nun von Westen her, aus dem berüchtigten Regenloch, eine pechschwarze Wolke heransegeln. Die Sonne verschwand, die ersten Tropfen fielen, und das Deck leerte sich schnell.

[21] Es goß. Ich hatte den Mantelkragen hochgeklappt. Das Rauschen des Regens erquickte mich. Auch der Wind blies schärfer. Es wurde sehr dunkel, und die „Drottning Viktoria“ fuhr langsamer, ließ ihre Scheinwerfer spielen, um die gefürchteten Riesentöpfe aus Eisen rechtzeitig sichten zu können.

Das Schiff, von den Wogen breitseits getroffen, rollte jetzt ziemlich schwer, da der Kapitän aus Vorsicht die Geschwindigkeit noch weiter mäßigte und die Kraft der Schrauben gegenüber den anrollenden Wasserbergen keinen genügenden Ausgleich mehr schaffte. Die Wellenkämme schickten ihren Gischt nur zu oft bis auf das Promenadendeck empor, und Regentropfen und das salzige Naß der Ostsee suchten mit keckem Übermut mein geschminktes Gesicht zu treffen, was für mich doch unangenehme Folgen hätte haben können, denn verlaufene Schminke würde wohl nur zu bald Argwohn erregt haben. Ich zog die Mütze noch tiefer, knöpfte den Mantelkragen zu und schritt breitbeinig, dem Unwetter den Rücken kehrend, davon, näherte mich wieder dem Rauchsalon und schwenkte plötzlich nach rechts ab – zur Haupttreppe, die in die unteren Decks des Trajekts hinabführte.

Wie wenig ich, der wegen Totschlags zu zwei Jahren Zuchthaus Verurteilte, doch die Kniffe der Polizei kannte! Ich armseliger Tor hatte mir eingebildet, daß die drei Polizeibeamten in Zivil die „Drottning Viktoria“ noch im Trelleborger Hafen verlassen hätten! Und soeben hatte ich zwei von ihnen oben auf der Brücke neben dem Kapitän im Lichtkreis der Strahlenflut eines Scheinwerfers erkannt, und den dritten rechts von [22] mir an der Reling, mich mit eindeutiger Schärfe beäugend.

Wieder hatte da mein im Hotel Düsterburg doch ein wenig nervös gewordenes Herz, das einst selbst bei den waghalsigsten Kletterpartien in den Felsschluchten der Jungfrau nie versagt hatte, zu hüpfen begonnen …

Ein wahres Glück, daß ich die „Drottning Viktoria“ in all ihren Teilen so genau kannte. Wär’s nicht der Fall gewesen, hätte der Mann an der Reling, der mir tatsächlich jetzt folgte und mir so den Beweis lieferte, daß ich mich einem völlig verfehlten Sicherheitsgefühl hingegeben hatte, die kleine Pistole mir wieder in die Hand gezwungen, und die drei Herren, die schließlich nur ihre Pflicht taten, wären von Saßnitz lediglich mit der toten Nummer 311 nach Schweden zurückgekehrt.

Nach wenigen Minuten hatte ich den Verfolger abgeschüttelt und stand unten in dem matt erleuchteten langen Raume, der mehr einer Waggonwerkstatt als einem der tieferen Decks eines Dampfers gleicht. Ölgeruch, rauchige stickige Luft … Auf blanken Schienen der D-Zug … An den Wänden Tische mit allerlei Werkzeugen. Und am Heck und Bug die gewaltigen eisernen Flügeltüren, durch die der Zug im Hafen hinein- und hinausgleiten kann, Türen, jetzt verschlossen und doch unschwer zu öffnen …

Ein anhaltendes Klirren von Eisenteilen und Poltern und Stoßen und Vibrieren verschiedenartigster Töne erfüllt den Raum, unter dem die Kessel stöhnen und fauchen und die Schraubenwellen kreisen.

[23] Wieder ein Blick in die Runde. Ich bin hier am Heck allein. Und ich will nicht sterben. In meinen Jahren klammert man sich an das Leben, besonders wenn man noch eine Aufgabe zu erfüllen hat wie ich … Zwei Jahre Zuchthaus!! Sollte ich das auf mir sitzen lassen! Niemals! Totschläger, wo nur die Aussage eines jämmerlichen Weibes mir den Schutz des Notwehrparagraphen geraubt hatte! Niemals!

Noch ein Blick in die Runde. Dann klappte ich den Deckel des Holzkastens empor. Daß der Kasten Korkwesten enthielt, wußte ich. Zwei davon genügten. Und wenn das Wasser der Ostsee nicht gerade allzu unbarmherzig mit mir umging und die nasse Kälte mir den Lebensodem nicht raubte, würde ich schon die Küste Rügens erreichen.

Dicht vor der Flügeltür war es noch dunkler. Jetzt erst sah ich, daß der eine Torflügel eine kleine Pforte besaß. Ein schwerer Klappriegel verschloß sie. Als ich sie geöffnet hatte, brodelten und schäumten gerade unter mir die von den Schrauben gepeitschten[3] Wasser. Ich mußte einen Anlauf nehmen, mußte durch weiten Sprung aus dem Bereich der saugenden Kraft der Schrauben heraus. Aber durch das Schlingern des Schiffes schlug die Pforte krachend wieder zu, und in wilder Hast rückte ich eine große Ölkanne vor das rasch wieder geöffnete Eisentürchen, trat ein paar Schritte zurück, duckte mich zusammen und wagte den Sprung, versank in den schäumenden Wogen, tauchte wieder auf und war den wirbelnden Schrauben glücklich entronnen.

Bange Minuten dann … Würde die „Drottning Viktoria“ wenden, war meine Flucht von Bord bemerkt worden?

[24] Ich sah, daß das Türchen noch immer offen war. Niemand erschien in der Türöffnung. Niemand war oben auf dem im Sommer so prächtig mit Blattpflanzen geschmückten Heckausbau sichtbar.

Ich war allein inmitten der heranstürmenden Wasserberge … Ich war längst bis auf die Haut durchnäßt. Noch fror ich nicht. Noch kreiste das erregte Blut wärmend durch die Adern.

Noch …




3. Kapitel.
Die Mine.

Wie lange noch?!

Ich begann zu schwimmen … Mußte schräg gegen die Wogen ankämpfen, wenn ich nicht nach Osten abgetrieben werden wollte. Im Osten gab es kein rettendes Inselgestade. Ich mußte die Küste Rügens erreichen, oder ich war verloren.

Die beiden Korkwesten behinderten mich. Der Mantel war noch lästiger. Ich hätte ihn ausziehen sollen, bevor ich den Sprung wagte. Schon nach kurzer Zeit merkte ich, daß mein Kampf gegen die seitlich herandrängenden Wellenberge völlig aussichtslos war. Meine Arme waren abgestorben, meine Beine hingen gleichfalls wie Eisklumpen schlaff herab und selbst die äußerste Anspannung meiner Energie reichte nicht mehr hin, diese Vorboten [25] des nahenden Endes zu verscheuchen. Ich erinnerte mich noch genau, daß ich mit einer gewissen Neugier dem Kommenden entgegensah – wie ein Unbeteiligter, wie ein kaltherziger Zuschauer, der einen mit dem Tode Ringenden beobachtet und jede einzelne Phase des allmählichen Nachlassens der Kräfte und des letzten Aufflackerns des Lebensflämmchens voller Interesse aufzeichnet. Meine Persönlichkeit war gleichsam geteilt worden. Mein Körper starb dahin, mein Geist spielte den Arzt, der ein Tier viviseziert hat und das Nachlassen der Arbeit der einzelnen Organe mit der Gefühllosigkeit des begeisterten Wissenschaftlers feststellt.

Ich schluckte viel Seewasser. Mein Kopf pendelte hin und her. Traf mich ein Wellenkamm mit voller Wucht von vorn, so war’s, als erhielte ich Ohrfeigen – wie einst von meinem Vater, den ich – damals wurde es mir klar – insgeheim gehaßt hatte, aus jenem feinen Instinkt der Kindesseele heraus, der mich belehrte, daß dieser kühle, verschlossene Mann meine Mütter langsam ermordet hatte.

Wie lange ich in diesem Zustande merkwürdiger Gleichgültigkeit ein Spiel der Wellen gewesen, habe ich erst später ungefähr feststellen können: etwa anderthalb Stunden!

Dieser Zustand fand bei noch immer völlig verfinstertem Himmel und bei noch immer in Gießbächen herabplätscherndem Regen und orkanartigen Sturmstößen durch einen überaus schmerzhaften Stoß ein Ende, der meine linke Schulter traf.

Der Schmerz war’s, der mir Siedehitze über den Leib jagte, der meine Lebensgeister wieder [26] weckte und meine geteilte Persönlichkeit jäh wieder zusammenschmolz. Ich war Olaf Abelsen, und ich sah, fühlte, hörte, schmeckte.

Ich sah die mächtige Eisenkugel, die dort im Wellentale davontaumelte – eine Mine … Sie hatte mir den Schlag versetzt.

Ich fühlte die stechenden Schmerzen in der getroffenen Schulter, hörte das Toben des Meeres ringsum und schmeckte den bitteren Salzgeschmack der erbarmungslosen Ostsee auf meiner Zunge.

Ich erbrach mich … Ich kämpfte gegen eine Ohnmacht … Mir wurde noch heißer … Ich konnte Arme und Beine wieder bewegen … Auch meine Halsmuskeln hatten wieder Spannkraft gewonnen. Mein Kopf war kein Kürbis mehr, der mir lediglich an einem halb verfaulten weichen Stiel zwischen den Schultern baumelte. Ich schaute mich um. Ich wurde gerade von einem Wellenberg emporgetragen, und erspähte so links von mir einen dunklen Fleck, der in seinen verwischten Umrissen immerhin dem Bug eines kleineren Dampfers glich. Es war ein Dampfer. Wenn er diesen Kurs beibehielt, war er verloren und ich ebenfalls, denn er mußte gerade auf die treibende Mine aufrennen. Ich wollte brüllen, rufen. Eine Welle füllte mir den Mund. Ich spuckte, spuckte. Da schwenkte der Dampfer scharf nach Norden ab. Ich sah, daß offenbar die ganze Besatzung vorn am Bug versammelt war und sich wie eine Rotte Tollhäusler benahm. Die meisten hatten Stangen in den Händen, mit denen sie andauernd hinab in die Wogen stießen. Es war nur ein kleiner Frachtdampfer, und am Heck wehte eine Flagge, die ich schon als Kind gehaßt hatte, als ich noch am Hafen in Göteborg unter [27] den uralten Kastanienbäumen spielte. Haß, den mir meine Mutter beigebracht, die stets gesagt hatte: „Das ist der schlimmste Feind der Deutschen, mein Junge … Dieses Volk ist hinterlistig, heuchlerisch, pharisäisch, läßt andere für sich bluten, und neidet Deutschland den schnellen Aufstieg.“ Nun, inzwischen war aus dem Kinde ein Mann geworden, der die halbe Welt bereist und die andere flüchtig durchstreift hatte, der dabei überall den Vertretern dieser Nation begegnet war, die alle mit demselben frechen Selbstbewußtsein und derselben aalglatten Höflichkeit gelogen und betrogen hatten. Der Haß war geblieben. Freilich gemildert durch die Reife des Mannestums. Für Empfindungen mit so krassen Bezeichnungen war in Olaf Karl Abelsen, dem Ingenieur, niemals ein freies Plätzchen gewesen.

Diese Flagge also …!! Diese …!! Und doch – hier ging es um mein Leben …

Also Lungen voll Luft gepumpt …

Ein Schrei sollte das werden, den die Leute drüben unbedingt hören mußten …

Wurde es nicht …

Drüben ein Knall, als ob das Himmelsgewölbe auseinander riß …

Dort, wo soeben noch der Dampfer seinen Bug in die Wogenberge gebohrt hatte, wo noch soeben vielleicht fünfzehn Menschen sich eng zusammengedrängt hatten, gab es nur mehr eine Fontäne von Wrackteilen und menschlichen Leibern.

Das sah ich noch. Dann hatte mich der Luftstoß der Explosion tief in die See hineingedrückt, und als ich wieder emportauchte, konnte ich nur gerade noch feststellen, daß der von dem Dampfer übriggebliebene Teil langsam versank. Die Kessel [28] explodierten erst unter Wasser und warfen zwei mächtige grüne Berge empor.

Um mich her hagelten nun die Einzelheiten der Fontäne herab … Und mit einer gewissen Ungeduld wartete ich darauf, daß ein Balkenstück mich treffen würde, was alle weiteren Gedanken, ob ich die Rügenküste jemals noch zu Gesicht bekäme, überflüssig gemacht hätte.

Balken fielen herab, trafen mich jedoch nicht. Bald war die Luft von umherfliegenden Gegenständen wieder befreit. Ein halber Lukendeckel schwamm vorüber, in dessen geborstene Bretter zwei Tote eingeklemmt waren, Beine nach oben. Köpfe und Rümpfe sah ich nicht. Ihnen folgte ein menschliches Bein, das durch das Drahtgeflecht eines Hühnerkäfigs geflogen war. Der in einem gelben Halbschuh steckende Fuß leistete so vier toten Hühnern Gesellschaft. Dem Beinkleid nach zu urteilen, hatte das Bein einem Fahrgast des Dampfers gehört. Es war eine gestreifte Hose mit scharfen Bügelfalten. – Auch der Käfig glitt vorüber.

Dann ein menschlicher Rumpf ohne Kopf. In der Brust steckte wie eine Harpune ein spitz zulaufendes langes Brett. Die Jacke des Toten hatte an den Ärmeln drei große goldene Streifen, wahrscheinlich also der Kapitän. In treuer Anhänglichkeit folgte diesem Opfer der jähen Katastrophe ein toter Pudel, schwarz, nach Löwenart geschoren … Armes Tier …! Deine letzte Seereise …

Dann war die Prozession von Leichen vorüber. Ich wunderte mich, daß dieser Anblick mich so vollständig kalt gelassen hatte. War ich wirklich roh, abgebrüht, vertiert?! Hatte nicht der Herr [29] Untersuchungsrichter mir damals vor acht Monaten bei einer Vernehmung ins Gesicht geschrien, ich hätte Mörderaugen, und ich sollte nur gestehen, daß ich Sir Stuart Barclag mit Vorsatz und Überlegung getötet hätte.

Mörderaugen … – roh, abgebrüht?!

Nein, doch wohl nicht … Nur Nerven, die mir besser gehorchten als Löwen ihrem Dresseur, – trainierte Nerven …

Ich hielt nun in weiterem Umkreis Ausschau nach irgend etwas, das mir gestattete, das eisige Wasser zu verlassen und auf einem Wrackstück vielleicht diese Fahrt ins Ungewisse fortzusetzen. Ich erkannte im Wogengischt zunächst nur einen menschlichen Kopf, der halb in ein großes Blechstück wie in eine Tüte eingerollt war. Das Blechstück wieder war ein Teil des Bodenbeschlags eines der Boote des versunkenen Dampfers und saß noch an mehreren Planken fest, die nach der einen Seite fächerartig auseinanderstrebten, während sie sich am anderen Ende an einem Zinkblechkasten zusammenschlossen – an dem noch unversehrten Luftkasten des zerstörten Bootes.

Sechs Planken, ein Luftkasten, dazu ein zwischen den Planken festgeklemmtes Tau, das sich im Wasser wie eine Seeschlange ringelte und bewegte: ein besseres Floß konnte ich mir kaum wünschen!

Gewiß, der in den Blechtrichter eingekeilte Kopf, der mit seinen grauenvoll verzerrten Zügen und mit der aus dem aufgerissenen Munde heraushängenden Zunge wahrhaft abschreckend wirkte, war eine wenig angenehme Zugabe. Das Blechstück ließ sich jedoch leicht auseinanderbiegen, und der [30] scheußliche Schädel rollte aus dem Trichter in die Tiefe.

Nachdem ich die Planken dann an ihren freien Enden mit dem Tau zusammengebunden und außerdem daran noch eine meiner beiden Korkwesten befestigt hatte, setzte ich mich auf den Zinkkasten und war mit meiner Arbeit durchaus zufrieden. Nur meine Beine hingen noch bis zu den Knien im Wasser, und mein Floß bewährte sich auch gegenüber den gefährlichsten Wellenbergen so vorzüglich, daß ich hoffen durfte, mit diesem primitiven Fahrzeug der unfreundlichen Ostsee noch viele Stunden trotzen zu können.

Die Arbeit des Zusammenbindens der Planken hatte meinen durchkälteten Leib noch mehr erwärmt. Freilich, meine zerschundene Schulter schmerzte derart, daß mir zuweilen alles vor den Augen verschwamm. Aber ich war jetzt nicht mehr willens, hier elend zu versaufen, und der Lebensdrang verscheuchte diese Ohnmachtsanwandlungen immer wieder …

So mochte ich vielleicht fünf Minuten auf meinem Flosse dahingetrieben sein, als ich rechts von mir denselben Lukendeckel sichtete, der vorhin mit den beiden eingeklemmten Toten an mir vorübergeschwommen war.

Es war derselbe Lukendeckel. Bestimmt. Nur die eingeklemmten Beine fehlten, und an deren Stelle lag nun quer über den halb zerfetzten Brettern ein Mensch, der einen Matrosenanzug trug und dessen dunkles triefendes Haar tief ins Gesicht hing.

Ein Toter? – Nein – der Mann bewegte sich … Der Mann hatte die Hände um den [31] Lukenrand gekrallt, hielt sich daran fest, kämpfte um sein Leben …

Wogenkämme gingen über ihn hinweg. Zuweilen wurden seine Beine von den Wellen hochgerissen, und jeden Augenblick mußte der Ärmste, der vielleicht der einzige Überlebende des Dampfers war, vor Erschöpfung in diesem unheimlichen Ringen gegen den nassen Tod der Verlierer sein.

Ihm helfen?!

Mein Floß war gut dreißig Meter entfernt. Ich besaß nichts, um die Richtung meines Fahrzeugs zu ändern, war wie mein Unglücksgefährte ein Spielball der unberechenbaren Launen von Wind und Wetter.

Und doch – ich durfte ihn nicht elend umkommen lassen. Ich hatte ja zwei Korkwesten zur Verfügung.

Einen Moment erinnerte ich mich daran, daß ich mir einst fest vorgenommen hatte, nie wieder eine Hand hilfreich für einen Mitmenschen zu rühren.

Hatte ich diesen Vorsatz nicht schon durchbrochen, als ich den Kerl vom Balkon in die Hecke beförderte?!

Ich verließ den Luftkasten, band die Korkweste vom freien Ende der Planken los und suchte den Lukendeckel schwimmend zu erreichen. Es gelang. Als ich neben dem Kopf des Matrosen auftauchte und dem Manne in die Ohren brüllte, er solle die Korkweste umschnallen, ich würde ihn derweil festhalten, da schüttelte er die nassen Haare aus dem mageren Gesicht, blickte mich aus grauen, klaren Augen merkwürdig an und brüllte zurück:

[32] „Sehr anständig von dir …!“ Das weitere verstand ich nicht, da eine Woge uns überflutete.

Ich hatte mich, als ich ihn anrief, der deutschen Sprache bedient, und auch er hatte mir in derselben Weise geantwortet.

Ich half ihm. Als er erst einmal in der Korkweste steckte, hatten wir gewonnenes Spiel. Wir nahmen den Lukendeckel mit und gelangten glücklich wieder an mein Floß, banden nun auch den Lukendeckel an den Planken fest und erhöhten so die Tragfähigkeit unseres Fahrzeugs. Mein Gefährte, dem sicheren Tode entrissen, bewies mir bald, daß er mir an Zähigkeit zum mindesten gleichwertig, an praktischem Sinn aber überlegen war. Nachdem er sich neben mir auf dem Zinkkasten ein wenig ausgeruht hatte, wo wir eng umschlungen dasitzen mußten, öffnete er den Mund zu einer zweiten Bemerkung – für überflüssige Worte war er nicht zu haben, schien’s:

„Dort schwimmt das Dach der Achterkajüte, Kamerad … Wir können’s brauchen …“

Und schon glitt er von unserem schmalen Sitz in die Flut, schwamm hinüber.

Vortrefflich konnten wir’s gebrauchen …! Der Matrose und ich drückten das große viereckige Dach unter unser Floß, vertäuten es und hatten die Genugtuung, daß wir jetzt auf dem Luftkasten völlig trocken saßen.

Über dieser Arbeit war eine geraume Zeit verstrichen. In unserem Eifer hatten wir gar nicht bemerkt, daß das schwarze Regengewölk sich zerteilt hatte, daß es nur noch ganz schwach regnete und nun mit einem Male die Sonnte strahlend hervorbrach.

[33] „Kamerad,“ sagte ich da, „du hast mir Glück gebracht. Die Sonne scheint. Wir werden leben. – Wie heißt du? Mein Name ist …“ – ich zögerte – aber ich wollte doch vorsichtig sein – „… ist Gunnar Aalfström …“

Wieder schaute er mich seltsam an. In seinem Blick war etwas Geistesabwesendes …

„Hm – wie ich heiße …?!“ meinte er achselzuckend. „Kann dir mit meinem Namen leider nicht dienen … Habe keinen, Kamerad … Habe ihn vergessen … Außerdem ist das jetzt auch sehr gleichgültig, denn dort der große Kutter, Kamerad, der hat uns bemerkt … Und das ist wichtiger.“

Unser Floß, das sich willkürlich drehte, hatte soeben erst die Aussicht nach Norden freigegeben.

Ein Kutter mit zwei Masten schoß mit gerefften Segeln herbei. Vorn erkannte ich einen graubärtigen Mann in Ölzeug, hinten am Steuerrad einen zweiten …

Der Kutter trug am Bug die Inschrift „Torstensen[4], Trelleborg“. Ich las es, während der Alte mit einem Bootshaken unser Floß geschickt ins Schlepp nahm.




4. Kapitel.
Seltsame Gefährten.

Mir sind auf meinen Reisen, die mich ja nicht nur bis Trelleborg geführt hatten, wirklich schon seltsame Exemplare aus dem menschlichen Zoologischen [34] Garten begegnet. Einer meiner Kollegen vom Jungfrau-Tunnelbau, ein Belgier, hieß bei uns der Einsiedler. Er hatte sich ein Felsloch als Behausung eingerichtet, das er nur mit Hilfe eines zwanzig Meter langen Taus erreichen oder verlassen konnte. Niemals gestattete er einem von uns, dies Eremitenheim zu betreten, das freilich mit allen Schikanen eingerichtet war: Ofen, elektrischer Beleuchtung, Bad, Radio, Telephon und so weiter. Der Mann war jung, verschlossen und doch heiterer Natur, hielt sich von uns fern und war in seinem Bestreben, seine Höhle vor jedem Fremden zu versperren, geradezu unhöflich. Erst nach fünf Monaten kam sein Geheimnis an den Tag: Er war jung verheiratet, hatte eine bildschöne Frau, die ihn dann in der Grotte mit einem prächtigen Knäblein beschenkte. Und die ganzen Monate über hatte er sein Weib dort in der Höhle vor uns versteckt gehalten, bis er eben einen Arzt, einen Geburtshelfer brauchte. Übrigens verblieb die Frau noch weitere zwei Monate in dieser Eremitage, von der sie nachher strahlend behauptete, sie habe dort die glücklichsten Stunden ihres Lebens verbracht. – In Sydney in Australien wieder war ich beim Bau des neuen Hauptbahnhofs mit beschäftigt. Einer unserer europäischen Arbeiter fiel mir sehr bald durch sein Benehmen und seine tadellosen Umgangsformen auf. Nachher brachte ein Zufall an den Tag, daß der Betreffende der jüngste Sohn des englischen Herzogs von G. war, der infolge einer Wette den schlichten Nieter spielte. Seine Nieten „rissen“ nie. Er verstand seine Sache. Den erarbeiteten Lohn verteilte er unter seine Kollegen, denn er selbst wurde auf etwa eine halbe Million Pfund [35] Jahreseinkommen geschätzt. – Und schließlich: Beim Lachsfang an der isländischen Küste stießen wir mal in einem entlegenen, schwer zugänglichen Fjord auf eine bisher keinem Menschen bekannte Niederlassung von drei Familien, die in sauberen, praktischen Steinhäusern wohnten. Die Leute, insgesamt etwa zwanzig Personen, verweigerten über ihre Herkunft und Nationalität jede Angabe, und auch später konnte nicht festgestellt werden, wer sie waren. Es schienen Holländer zu sein. Sie bewahrten ihr Geheimnis aufs strengste, und ihr Ältester, ihr Oberhaupt, war uns gegenüber von einer verblüffenden und durch nichts begründeten Grobheit, gestattete nicht mal, daß wir die Häuser betraten. Und doch war er bestimmt ein gebildeter Mann, wenn er auch wie alle anderen in Seehundsfelle gekleidet ging. –

Nun, die drei Personen, mit denen mich jetzt das Schicksal hier auf dem Hochseekutter Torstensen zusammengeführt hatte, gehörten genau so zu den Raritäten aus dem bunten Lebensladen wie die oben Genannten. Und im Grunde paßte ich ganz gut zu ihnen, denn auch ich hatte ja allerhand zu verheimlichen und gab mich anders, wie ich war.

Zunächst mein Kamerad, der angeblich seinen Namen vergessen hatte. Bei dieser Behauptung blieb er. Er habe im Weltkriege an der Westfront beim Sturmangriff einen Kopfschuß erhalten, sei in feindlichen Lazaretten und Gefangenenlagern gewesen und stets nur unter dem Namen „Boche Boche“ in den Listen geführt worden. Seine Erkennungsmarke, seine Papiere, sein Waffenrock – alles war bei seiner Gefangennahme verloren gegangen.

[36] Dies erzählte er mir in der gut geheizten Heckkajüte des Kutters, während wir mit wahrer Gier den heißen Kaffee tranken und dick gestrichene Brotschnitten vertilgten und unsere nassen Sachen neben dem heißen Ofen trockneten. Wir waren allein, denn der alte Jörnsen und sein Weib (das war der „Mann“ am Steuer gewesen, der Mann im Ölzeug) hatten ja oben an Deck zu tun, und wir hatten mit ihnen bisher nur ein paar Worte gewechselt. Aber auch die hatten genügt, bei mir den Eindruck zu hinterlassen, daß dies Ehepaar Jörnsen genau wie ich mit geschlossenem Visier durch diese schlechte Welt zu wandern wünschte. Weshalb – das würde sich schon noch herausstellen.

Kamerad „Boche Boche“ mit seinem eingetrockneten[5] braunen Mumiengesicht füllte sich den Blechnapf von neuem mit Kaffee und starrte gedankenverloren vor sich hin. „Ja, ja,“ meinte er dann, „es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn man so keine – keine Ahnung mehr hat, wer man eigentlich ist. Kamerad, ich komme mir wie ein zehnjähriges Kind vor, denn meine Erinnerung hört von dem Augenblick auf, wo ich den Kopfschuß erhielt. Hier ist der Einschuß …“ – er tippte auf eine Stelle der Wange links von seiner kühnen Nase – „und hier am Hinterkopf der Ausschuß. Ein Wunder, daß ich überhaupt noch lebe … Was man so leben nennt, Kamerad … Denn glaube mir, das Dasein ist mir eine Last … Was du begreifen wirst. Nach dem Kriegsende reiste ich in Deutschland umher, um vielleicht durch dieses oder jenes Städtebild mein Gedächtnis wieder aufzufrischen. Gutherzige Menschen hatten mir das nötige Geld zur Verfügung gestellt. Aber [37] es war alles umsonst. Berlin, Hamburg, Dresden – – na, wozu soll ich all die Städte aufzählen. Und dann verloren auch meine bisherigen Helfer so allmählich das Interesse an mir. Gewiß, Behörden und Ärzte kümmerten sich weiter um mich, und ich wäre ungerecht, wollte ich behaupten, man hätte nicht weitgehendstes Mitleid mit mir gehabt. Doch was nützte das mir, Kamerad?! Ich war ein Fremder unter Fremden, ich war Deutscher und war’s auch wieder nicht. Vielleicht – vielleicht bin ich einer von denen, die nach Kriegsausbruch aus allen Ecken der Welt das alte Vaterland zu erreichen suchten. Vielleicht habe ich zuletzt irgendwo im Auslande gewohnt – – irgendwo …“ Er machte eine hilflose Handbewegung. „Ich weiß es nicht … Ich weiß es nicht … Und weil ich ein Heimatloser, ein Namenloser geworden, folgte ich schließlich dem unruhigen Drängen einer geheimen Stimme meines Innern und begann als Seemann, als Steward, Schiffskoch oder Matrose die Welt zu durchreisen. Es ist da etwas in meiner Seele, Kamerad, das mich von Hafen zu Hafen treibt – wie Ahasver, den ewigen Juden, der auch zu ziellosem Wandern bis ans Ende der Dinge verurteilt ist …“

Ich hatte ihn, während er mir dies alles anvertraute, heimlich beobachtet. Eins wußte ich jetzt: Er log nicht! Er war kein Abenteurer, der sich irgendwie interessant machen wollte oder der wie ich Grund hatte, seine Persönlichkeit in Dunkel zu hüllen. Und noch etwas war mir gewiß: Dieser Unglückliche war ein gebildeter Mann! Schon seine letzte Bemerkung über Ahasver bewies dies, ebenso seine Ausdrucksweise und sein Benehmen. In [38] seinen Handbewegungen, mit denen er Messer und Gabel bediente, den Blechnapf zum Munde führte und die Brotschnitten zerteilte, lag das Abgerundet-Sichere eines Mannes von tadelloser Kinderstube. Hinzu kam noch eine abgeklärte, halb träumerische Ruhe, und mitunter flackerte auch in dem stillen, in sich gekehrten Blick ein hartes Leuchten auf, das unfehlbar auf einen außerordentlich energischen, zielbewußten Charakter hinwies, der jetzt nur noch gleichsam in Fesseln lag – noch! Denn daß auch für diesen Ärmsten die Stunde kommen würde, wo sein totes Gedächtnis wieder auflebte und die Vergangenheit sich ihm wie ein bis dahin verschlossenes Paradies öffnete, daran zweifelte ich nicht. Es bedurfte vielleicht nur eines ganz geringfügigen, aber eben des rechten Anstoßes, um den Riegel von der versperrten Pforte des weiten Reiches früherer Erlebnisse wegzuschieben. Hatte man doch gerade bei solchen Kranken, die an derartigem Gedächtnisschwund infolge einer Kopfverletzung litten, die eigenartigsten Erfahrungen gemacht.

Abermals betrachtete ich nun verstohlen sein mageres faltiges Gesicht. Das noch feuchte braune Haar, in dem sich nur an den Schläfen einige Silberfäden zeigten, hatte er glatt zurückgestrichen. Die hohe, etwas eckige, kluge Stirn lag frei. Und unter dieser Stirn die grauen Augen – wohl das Seltsamste an diesem früh gealterten Antlitz mit den zahllosen Fältchen und dem verbitterten, vergrämten Zug um den ein wenig breiten Mund, dessen dünne Oberlippe in ihrer besonderen Linienführung dem Kenner noch eine weitere Seite des Charakters dieses Namenlosen mit einiger Gewißheit andeutete: ein wenig Hochmut – aber der [39] Hochmut eines Mannes, der frühzeitig an Befehlen gewöhnt gewesen und der zugleich auch einer großen Verantwortung für Menschen, die ihm blindlings ergeben, sich bewußt war.

So saß denn nun hier in der nach Teer, Benzin, Kaffee und schlechtem Tabak duftenden Kajüte dieses lebende Rätsel mir in des alten Holger Jörnsen fleckigen blauen Büxen und in einem vielfach gestopften Wollsweater gegenüber und ahnte nicht, wie unendlich nahe mir sein trauriges Geschick ging. Entsetzlich mußte der Gedanke für ihn sein, daß er vielleicht irgendwo in Deutschland oder sonstwo in der Welt als tot betrauert wurde und doch lebte – als Boche-Boche – – noch heute, denn – so hatte er mir vorhin erklärt, er hatte an diesem Namen, der nichts als eine Beschimpfung war, mit Zähigkeit festgehalten … „Es ist doch immerhin ein Name, Kamerad … Es ist etwas Positives von mir, da meine Entlassungspapiere aus der Gefangenschaft genau so lauteten: Boche Boche …! Was tut es mir, daß es „Schwein Schwein“ bedeutet?! Über derartiges ist unsereiner erhaben.“ –

Holger Jörnsen, der Besitzer des Kutters, hatte uns vorhin auch eine halbe Kiste Zigarren und ein Päckchen Zigaretten auf das Tischchen gestellt. Mein Gefährte blickte mich an. „Du gestattest wohl, daß ich rauche …“ und seine schmale, sehnige Hand, die schmutzig und ungepflegt wie die eines einfachen Matrosen war, nahm zierlich eine der Zigaretten.

Ich nahm eine Zigarre. Höflich rieb er ein Zündholz an … „Bitte …“

„Nach dir …“

[40] Er nickte, zündete seine Zigarette an und reichte mir das Zündholz … Dieses leichte Kopfnicken war abermals eine Bestätigung dessen, was mir seine dünne, gekrümmte Oberlippe verraten hatte: Er war’s gewöhnt, seine Person als bevorzugt behandelt zu sehen! – Ich hatte ja ihm und Jörnsen nur erklärt, ich sei Chauffeur und durch einen unglücklichen Zufall von der „Drottning Viktoria“ in die See gestürzt. Ob sie mir’s geglaubt hatten, erschien mir vorläufig ohne Belang. –

Polternde Schritte über uns, und dann kam Holger Jörnsen in seinen schweren Seestiefeln die schmale Treppe hinabgestampft, – Jörnsen mit seinem grauen Kinnbart und der von Wind und Wetter gegerbten faltigen Gesichtshaut, ein echter Jan Maat alten Schlages. Breitbeinig pflanzte er sich vor dem Tischchen auf. In Rücksicht auf Boche Boche, der des Schwedischen nicht mächtig war, fragte er in seinem holperigen Deutsch: „Na – satt jetzt, die Herren? – Und nun?“

Unter seinen dicken Augenbrauen, die ihm bis auf die Oberlider hinabhingen, blitzten ein Paar junge Augen, deren nadelscharfer Blick jetzt auf mir haften blieb.

„Und nun, Herr Gunnar Aalfström? – Nicht viel Worte, denke ich … Ehrlich Spiel! Als ich heute früh Trelleborg mit meinem Kutter verließ, schnüffelte ein Polizeiboot nach einem gewissen Ingenieur Olaf Karl Abelsen … Der war nachts aus dem Zuchthaus M… entflohen … – Geht mich nichts an, die Sache, zumal der Herr Abelsen die zwei Jahre Zuchthaus nicht verdient haben soll …“

Sein Blick ruhte unverwandt auf mir …

[41] „… Und einer, der von dem Trajekt ins Wasser fällt, hat nicht Zeit, zwei Korkwesten mitzunehmen … Auch das geht mich nichts an.“

Da lachte Boche Boche leise auf … „Hast recht, Holger Jörnsen: ehrlich Spiel!! Besonders wenn einem der blonde Kopf so kurz geschoren ist wie dir, Kamerad! Und die zwei Korkwesten, stimmt, die passen nicht recht in deine Geschichte hinein, das merkte ich gleich. Du hast mir das Leben gerettet, Kamerad … Und das ist ein Kitt zwischen zwei Menschen, fester als Bande des Blutes. – Was soll in deinem Interesse geschehen?“

„Bringt mich bei Nacht in die Nähe von Saßnitz auf Rügen, und – dann helfe ich mir schon weiter,“ erwiderte ich.

„Wird gemacht …“ – und Jörnsen begab sich wieder an Deck.

Der Namenlose fragte nach einer Weile:

„Weshalb?!“

Ich verstand ihn. „Weil meine Braut hinter meinem Rücken ein Liebesverhältnis mit einem englischen Kollegen unterhielt, den ich dann in ihrer Gegenwart mit der Faust niederschlug. Der Bursche hatte leider eine sehr dünne Hirnschale. Und meine Braut sagte nachher aus, ich hätte ohne vorherigen Wortwechsel die kantige Krücke meiner dicken Weinrebe als Waffe benutzt. Es war mein Pech, daß meine Faust zu hart ist …“

„Ich glaube dir … – – Wie denkst du über Jörnsen und sein Weib?“

Diese Frage überraschte mich.

„Jörnsen ist niemals das, wofür er gelten will,“ fügte Boche Boche leiser hinzu. „Er behauptet, Fischer zu sein … Sahst du seine Hände? [42] Es sind die Hände eines Gelehrten. Und – bitte, dort das Wandbrett mit den Büchern … Hast du die Titel gelesen? – Schließlich noch: Jörnsen spricht perfekt deutsch wie du und ich. Sein scheinbares Suchen nach dem passenden deutschen Ausdruck ist beabsichtigt.“

Ich war aufgestanden und hatte mich umgewandt. Auf dem Bücherbrett fand ich: „Professor Dr. Mieke, Künstliches Gold.“ – „Oskar Branden, Die Goldlager Klondykes.“ – „Dr. James Garder, Der Goldgehalt der Ozeane.“ – „Professor Jörn Hebecly, Edelmetalle und Wünschelrute.“ – „Major a. D. v. Blocknitz, Als Rutengänger in Südwest.“ – „Edler Freiherr von Graewe, Die Wünschelrute und ihre Erfolge.“ – „Samuel Gelling, Professor, Die Strahlung der Edelmetalle.“ Und als letztes ein uralter in Schweinsleder gebundener Schmöker aus dem fünfzehnten Jahrhundert: „Von der wunderbahren Hystorie des Gottlieb Scharffer, Kapitän des Dreimasters Britannia, und von der Insel Arbusa, allwo die Reichtümer im Innern ruhen.“ – Dieses Buch hatte ich aufgeschlagen, um mir über den Titel Aufschluß zu verschaffen. Hinter dem Titelblatt ragte ein Stück Papier fingerbreit hervor, das ich sofort als feinstes Büttenpapier erkannte. Neugierig zog ich den Zettel heraus. Er war mit lila Schriftzügen, einer sehr schmucklosen, energischen Schrift, auf der einen Seite bedeckt. Ich las – deutsche Worte, deutsche Sätze, las nochmals …

Dann reichte ich Boche Boche den Zettel.

Der überflog ihn …

Meines Gefährten Gesicht war genauso grenzenlos erstaunt wie das meine.

[43] „Rufe Jörnsen!“ meinte er und gab mir den Zettel zurück.

Ich stellte die alte Scharteke an ihren Platz auf das Wandbrett zurück. Der Zettel lag wieder zwischen den ersten Seiten.

Ich hatte es am nächsten zur Treppe, schob oben den Türdeckel zurück. Vor mir stand der alte Schiffer.

„Gilt das Papier in dem alten Buche Boche Boche und mir?“ fragte ich kurz.

„Fragen sind verboten, Herr Abelsen. Das wissen Sie. – Wollen Sie?“

„Ich – Ja!!“

„Und Boche Boche?“

„Ohne Zweifel auch …“

„Dann ist alles in Ordnung, Herr Abelsen …“ Und er brüllte seinem Weibe zu: „Helga – wenden!! Die Sache ist abgemacht!“

Um mich kümmerte er sich nicht mehr. Er hatte mit den Segeln zu tun. Ich kehrte zu meinem neuen Freunde zurück.

„Nun?“ fragte er gespannt.

„Es stimmt schon … Nur … Fragen stellen dürfen wir nicht – auch das stimmt!“

Er lächelte fast freudig. „Schadet nichts! Ich habe doch wohl einen starken Schuß Abenteuerblut in den Adern … Diese Sache reizt mich.“




[44]
5. Kapitel.
Jörnsen lüftet ein wenig die Maske.

„Ein Saufraß, den die dreckige Vettel zusammenkocht,“ sagte mein Kamerad drei Tage später, als der Torstensen bereits auf den langen Wogen des Atlantik schaukelte, Kurs Nordwest. „Keine Ahnung hat sie vom Kochen! Der Raum unter uns ist vollgepfropft mit bestem Proviant, und das Weib pantscht uns hier etwas zurecht, das ich nicht mal meinem Hunde vorgesetzt hätte.“

Wir waren schon am ersten Tage in die vordere, noch kleinere Kajüte umquartiert worden. Achtern hauste das Ehepaar Jörnsen.

Boche Boche saß auf seinem schmalen Bett, löffelte trotz seiner gereizten Reden den allerdings undefinierbaren Saufraß mit bestem Appetit. „Hattest du denn einmal einen Hund?“ fragte ich, an seine letzte Bemerkung anknüpfend. Es geschah häufiger, daß ihm derartige Andeutungen über seine Vergangenheit unbewußt über die Lippen kamen. Wenn ich dann näher nachforschte, ob sich diese Andeutungen nicht vielleicht zu einem klaren Erinnerungsbild umformen ließen, versagte sein Gedächtnis regelmäßig. Solche Bemerkungen waren lediglich wie ein schwaches Wetterleuchten ferner dunkler Eindrücke von einst. Auch jetzt schaute er mit zusammengekniffenen Augen vor sich hin und spannte die Haut über den Backenknochen straff, so sehr mühte er sich ab, die Fesseln zu sprengen, die ein gewisses Zentrum seines Hirns eingeengt hielten. „Einen Hund … [45] einen Hund …“ murmelte er. „Ja, ich muß wohl mal einen Hund besessen haben, an dem ich sehr hing … sehr …“ Dann zuckte er mutlos die Achseln. „Mein Hirn will nicht, Olaf … Es ist bockbeinig wie ein störrischer Esel …“

„Wird schon werden …“ tröstete ich.

Zwischen unseren Betten stand der kleine Klapptisch. Über uns pendelte die Karbidlampe hin und her. Es war abends neun Uhr.

Ich goß mir in den Teebecher einen gehörigen Schuß Rum hinein, und mein Freund griff nach einer Zigarre. Wir waren schweigsamer als sonst. Ich hatte mittags zufällig festgestellt, daß die Rückwand unserer Bugkajüte, die an die noch winzigere Küche stieß, in den dicken Eichenbrettern zwei durch Pfropfen verschlossene Löcher in Augenhöhe hatte. Diese Pfropfen waren mit derselben grauen Ölfarbe überpinselt wie die Bretter. Aber ich hatte doch gemerkt, daß sie schon wiederholt herausgezogen worden waren. Die Farbe war an den Rändern der Pfropfen abgeblättert. – Diese Entdeckung hatte uns vorsichtiger gemacht. Frau Helga Jörnsen, die nur in Männertracht herumlief und die anscheinend ihren Südwester selbst beim Schlafen nicht abnahm, konnte uns von der Kombüse aus, die wir nie betreten durften, unschwer beobachten und belauschen.

Boche Boche sog an seiner Zigarre und betrachtete seine Hände, die er in diesen drei Tagen bei dem leichten Dienst an Bord wieder tadellos gesäubert und gepflegt hatte. Dann schielte er nach der Rückwand hin und meinte gedämpft: „Wollen nach oben gehen … Ich habe mit dir zu reden, Olaf …“

[46] Ich trank den Tee aus, steckte mir ebenfalls eine Zigarre an und folgte ihm, der bereits das steile Treppchen emporgeklettert war.

Das Meer lag unter dem ausgestirnten Himmel in ruhiger Pracht da. Lange, gleichmäßige Wogen hoben und senkten unser tadelloses Schifflein, dessen starker Hilfsmotor jetzt bei dem schwachen Winde taktmäßig arbeitete. Wir machten so etwa acht Knoten Fahrt.

Hinten am Steuer stand Holger Jörnsen, wie stets die kurze Holzpfeife im Munde. Aus dem Kombüsenniedergang erklang das Klappern von Geschirr nach oben.

Der Torstensen hatte bei etwa neunzehn Meter Länge einen Gehalt von hundertfünfzig Tonnen, war scharf gebaut, sehr seetüchtig, so daß er den bösen Sturm, den wir im Kattegatt erlebten, leicht abgewettert hatte. Mit seinem mächtigen Gaffelsegel, dem etwas nach vorn geneigten Hauptmast und dem Treiber am Heck, dazu mit dem wagerechten, sehr langen Bugspriet und dem unverhältnismäßig großen Außenklüver glich er mehr einer Jacht als einem Hochseekutter. Jörnsen hatte uns bestätigt, daß der Kutter erst vor einem halben Jahr vom Stapel gelaufen war, und mein Kamerad und ich waren uns längst darüber einig, daß der Torstensen niemals für die Hochseefischerei bestimmt gewesen und daß die Inneneinrichtung absichtlich so einfach gehalten war. Ohne Zweifel hatte Jörnsen den Kutter von vornherein für einen bestimmten Zweck bauen lassen, eben für eine weite Seereise, und ebenso zweifelsfrei war es, daß der Alte über beträchtliche Geldmittel verfügte. Das bewies schon der moderne Vierzylindermotor, der als Hilfsmaschine eingebaut [47] war und an dem nichts fehlte, was die Motorenindustrie in den letzten Jahren ausgeklügelt hatte.

Wir saßen auf der Vorderluke. Ich hatte mich mit dem Rücken an die kleine Ankerwinde gelehnt. Die Reling war so niedrig, daß wir bequem darüber hinwegsehen konnten. In Lee zog ein großer Passagierdampfer mit hell erleuchteten Decks vorüber. Wir kreuzten gerade die Route Hamburg-Neuyork.

Mein Freund rauchte und starrte dem schwimmenden Luxushotel nach. Dann – ganz leise: „Die wissen, wohin es geht. Wir wissen nichts, Olaf. Wir haben nun schon so oft zwischen uns erörtert, was der Alte wohl vorhaben mag … Jedenfalls Seemann ist er! Bestimmt! Er wird Kapitän gewesen sein, hat sich dann zur Ruhe gesetzt und sich mit zweierlei beschäftigt: mit den Goldlagern der Erde und mit der Rutengängerei. Und jetzt?!“

„So weit sind wir schon oft gewesen,“ meinte ich gleichgültig. „Bis zu diesem „Und jetzt“?! … Darüber hinaus kommen wir nicht, Kamerad.“

„Er will irgendwo mit der Wünschelrute Gold suchen,“ murmelte Boche Boche vor sich hin, – und auch diese Bemerkung brachte nichts Neues.

„Du wolltest doch mit mir reden,“ ermunterte ich ihn …

„Ja … reden …! – Soll das so weitergehen, Olaf?! Sollen wir beide als Männer, denen manch’ böser Wind die Nase gefächelt hat, wie die Kinder geduldig abwarten, was uns der Weihnachtsmann bescheren wird?! Wohin geht’s?! Was will der Alte?! – Es ist ein unwürdiger Zustand für uns, Olaf.“

„Irrtum, Kamerad … Wir sind die Verpflichtung eingegangen, nichts zu fragen und zu [48] gehorchen. Dafür erhalten wir nach Beendigung der Fahrt jeder fünfzigtausend Kronen.“

„Auf dem Papier, Olaf … Papier ist geduldig.“ Er wurde erregt. „Ich mache nicht mehr mit … Der Alte soll Farbe bekennen … Komm’ mit …“

Er litt des öfteren an solchen Anfällen, die sein ganzes Wesen vollkommen veränderten. Dann war er jedem beruhigenden Wort unzugänglich[6]. Dann brüllte er die Frau des Alten wie eine Dienstmagd an, machte ihr die gröbsten Vorhaltungen über ihre Unsauberkeit und den Schweinefraß, stritt auch mit mir wegen Kleinigkeiten, wurde beängstigend blaurot im Gesicht und hatte Augen, die wie diejenigen eines Tollhäuslers funkelten. Der Alte und die Vettel ignorierten diese kritischen Ausbrüche vollständig, und ich blieb dem gegenüber gleichfalls stumm. So kam Boche Boche am schnellsten wieder zur Vernunft.

Auch jetzt erhob ich mich schweigend und lehnte mich ein paar Schritt weiter an die Wanten. Im Kombüsenniedergang erschien das braune, schmierige Gesicht Frau Helga Jörnsens. Unter dem Ölhut hervor hingen ihr die grauen Haarzotteln bis in die kleinen Äuglein, deren verminderte Sehkraft sie zumeist durch eine einfache Stahlbrille auszugleichen suchte, deren Steg sie, damit er die Nase nicht drücke, dicht und dick mit weißer Wolle umwickelt hatte. – Sie war unglaublich schlumpig, die Alte, und ohne Rußflecken am Kinn hatte ich sie noch nie angetroffen. – Ein Weib, das doch fraglos den gebildeten Ständen angehörte und das doch so gar nichts auf das Äußere gab, war mir noch nie begegnet. Helga Jörnsen hätte mal einen Monat das Hotel Düsterburg [49] beziehen müssen. Dort würde sie zunächst mal in die Badewanne gesteckt worden sein.

Blinzelnd schaute sie sich um, rief mir dann zu:

„Hol’ Kaffee aus dem Raum, Abelsen … Kannst Vorrat mahlen … Hier ist die Mühle und die beiden Blechbüchsen …“ – Ihre keifende Stimme, die schrill wie eine Drahtsaite klang, lockte sofort Boche Boche herbei.

Ja – es waren seltsame Verhältnisse hier an Bord. Boche Boche hatte den allgemeinen Duz-Komment eingeführt. Er behauptete, er könnte sich an das lächerliche „Sie“ nicht mehr gewöhnen … „An der Front duzte sich alles … War recht so … Weshalb hier auf dem Torstensen Salonmanieren?!“

Er kam herbei, die Fäuste in den Außentaschen der Bordjacke, den prachtvollen Kopf angriffslustig vorgereckt, die Zigarre im Mundwinkel …

„Wirst dich doch von der Alten nicht kommandieren lassen, Olaf!“ knurrte er grimmig. Das rote Licht der Backbordlaterne traf sein wütendes Gesicht. „Mahl’ dir selber deinen Kaffee, Alte …! Wir haben als Matrosen Heuer genommen und nicht als Schiffsjungen … Überhaupt …“ – seine Stimme schwoll beängstigend an – „diesem Schweinerei hört auf …! Wenn der Käpten deine Saumahlzeiten verträgt – gut! Der Olaf und ich werden jetzt für uns selber kochen! Was war das heute abend wieder für ein Ragout – – he?! Büchsenfleisch, Bohnen, Schoten und Setzei darüber, – – zeig’ mir mal ein Kochbuch, du schmieriges Weibsstück, wo das drin steht!!“

Ich hatte inzwischen der Alten die Mühle und die beiden großen Blechbüchsen abgenommen und ging zur Hauptluke, öffnete den Verschluß und [50] stützte den Deckel aufrecht. Frau Jörnsen verschwand wieder wortlos in der Kombüse. Sie hatte Boche Boche nur einen eigentümlich mitleidigen Blick zugeworfen.

Mein Kamerad geriet jetzt ganz aus dem Häuschen. Wie ein Verrückter mit den Armen umherfuchtelnd rannte er nach hinten …

Was er dort am Steuer dem Alten ins Gesicht brüllte, konnte ich nicht verstehen. Ich sah nur, daß mein Kamerad plötzlich die kleine Pistole, die er heimlich aus meinem Wandschrank herausgenommen haben mußte, auf Jörnsen anschlug …

Da sprang ich zu. Aber ich kam zu spät. Wir beide hatten Holger Jörnsen unterschätzt. Ein Fausthieb – und die Pistole flog im Bogen über Bord … Ein zweiter, und Boche Boche kugelte mir nach Luft schnappend in die Arme.

Aber dieser Stoß vor die Brust hatte ihn wieder zur Vernunft gebracht.

„Laß mich los,“ sagte er nur …

Und zu dem Alten: „Entschuldige, Käpten … Bei mir im Oberstübchen ist’s doch nicht ganz richtig … Entschuldige … Ich werde mir diese Abfuhr merken …“

Der Torstensen hatte ein Steuerrad, keine Ruderpinne. Jörnsen umklammerte die eine Speiche des Rades mit der Linken, und mit der Rechten hielt er uns eine große Repetierpistole entgegen. Er traute offenbar Boche Boches Friedfertigkeit nicht recht.

„Steck’ das Ding nur wieder weg,“ meinte mein Kamerad mit einer halben Verbeugung. „Mehr als um Entschuldigung bitten kann ich nicht. Ich werde mich fernerhin zu beherrschen [51] wissen. – Du hast doch nichts dagegen, Käpten, daß Olaf und ich uns die Mahlzeiten selber zubereiten?“

„Nein … Aber nicht in der Kombüse. Ihr habt ja den kleinen Ofen in eurer Kajüte. Nur geht mir vorsichtig mit dem Feuer um.“ Er schob die Waffe wieder in die Tasche, und seine sehnige, gestraffte Gestalt nahm wieder lässigere Haltung an. Indem er nach seiner Pfeife griff, die er auf den Kompaßstock gelegt hatte, fügte er hinzu: „Damit deine Neugier befriedigt wird, Boche Boche, unser Ziel ist Punta Garras, der südchilenische Hafen!“

Punta Garras bedeutete für mich nichts, gar nichts. Ich kannte es nicht. Aber mein Freund rief staunend: „Was willst du denn in dem gottverlassenen Nest?! Und – Monate brauchen wir bis dorthin!“

„Nein, genau einen Monat,“ erklärte der Alte gelassen. „Ihr wißt noch nicht, was der Kutter zu leisten vermag. Wir werden Kap Horn vermeiden und durch den Panama schleusen, dann südwärts gehen … Wenn das Wetter nur einigermaßen günstig ist, schaffen wir’s in drei Wochen.“ Und als wollte er uns beweisen, daß unser Motor bisher nur gespielt hatte, ließ er nun auch die beiden anderen Zylinder an … Durch den Rumpf ging’s wie ein Beben … Ein dicker, sprudelnder Schwall quoll am Heck hoch … „Wir haben nämlich zwei Schrauben,“ sagte der Alte kühl. „Jetzt läuft der Torstensen zwölf Knoten, und frischt der Wind auf, fünfzehn. – Bist du zufrieden, Boche Boche?“

Der hatte sich in einen anderen Gedanken festgebissen. „Hm – gedenkst du etwa dort bei [52] Punta Garras herum in den Bergen mit der Wünschelrute Gold zu suchen, Käpten?!“

Ein Lächeln glitt um Jörnsens harten Mund. Der Widerschein der Kompaßlampe fiel auf seine verwitterten Züge. In den jungen Augen erschien ein verächtlicher Ausdruck.

„Gold?! Was sollte ich wohl damit?!“ erwiderte er ernst. „Nein, Gold hat mich noch nie gereizt, denn was man im Überfluß besitzt oder doch besitzen könnte, mein lieber Boche, das lockt niemand mehr …“

Mich überraschte diese Äußerung offensichtlich viel weniger als Freund Boche Boche, denn ich hatte nie recht daran geglaubt, daß Holger Jörnsen in seinem Alter – er mochte siebzig sein – sich noch auf Goldsucherabenteuer einlassen würde.

Mein Kamerad verhehlte sein Erstaunen, das gleichzeitig Enttäuschung über eine unrichtige Mutmaßung war, in keiner Weise. „Wie – – wirklich sollte es sich nicht um Gold handeln?!“ rief er kopfschüttelnd. „Dann bist du mir erst recht unverständlich, Käpten … Das Geheimnisvolle, das deine Person und die deiner Frau umgibt, wird nur noch verstärkt, wenn …“

Jörnsen unterbrach ihn. Und auch jetzt war in seiner ganzen Art die kühle, selbstsichere Überlegenheit des gebildeten und auch ans Befehlen gewöhnten Mannes so hervorstechend wie bei all den bisherigen unliebsamen Auftritten mit dem zuweilen so krankhaft reizbaren Boche Boche.

„Mein Geheimnis bleibt mein Geheimnis, bis es mir selbst geeignet erscheint, euch beide einzuweihen … – Gute Nacht … Um elf Uhr beginnt deine Wache, Abelsen … Gute Nacht.“

[53] Wir waren entlassen.

Wir faßten stumm an die Mützen und kletterten wieder in unsere Back hinab. Mein Kamerad sprach kein Wort, warf sich in Kleidern auf sein Bett und kehrte das Gesicht nach der Wand.

Ich nahm mir eins der Bücher vor, das Jörnsen mir geliehen hatte. Keins von denen auf dem Wandbrett. Nein – ein Spezialwerk über den Magelhaens-Archipel bei Kap Horn … Es führte den Titel „Letztes Land am Ende der Welt“, und der Verfasser war der chilenische Professor Rodrigo Pascaro. – Diese Lektüre sollte für mich später außerordentlich wertvoll werden.




6. Kapitel.
Aus dem „Trompeter“ …

Am nächsten Tage zeigte sich Jörnsen wieder genau so zugeknöpft wie bisher. Die Scheidewand, die Boche Boche und mich unsichtbar von dem Ehepaar trennte, blieb bestehen. Freilich, zu Zwistigkeiten kam es nicht mehr. Die Reise bis zum Panamakanal verlief ohne jeden Zwischenfall, und als wir dann erst im Stillen Ozean bei andauernd gutem Winde an der Westküste Südamerikas in unaufhaltsamer, gleichmäßiger Fahrt dem Hafen Punta Garras zustrebten, wurde die Langeweile oft geradezu geistestötend. So viel [54] wie in jenen Wochen hatte ich bis dahin in meinem ganzen Leben noch nicht gelesen. Das Überraschende war, daß die Bibliothek Jörnsens unerschöpflich schien. Und doch ist es für einen gebildeten und an Sport und andere körperliche Bewegung und besonders an schaffende geistige Tätigkeit gewöhnten Menschen unmöglich, tagaus tagein lediglich Bücher zu verschlingen, nur damit die Zeit irgendwie ausgefüllt werde. So hatten denn Boche Boche und ich uns ein geregeltes Tagesprogramm geschaffen, bei dem Freiübungen, Boxen und Scheibenschießen mindestens vier Stunden ausfüllten.

Scheibenschießen …

Gewiß, die Damenpistole, die meine Retterin mir damals nachts übergeben hatte, lag auf dem Grunde des Atlantik. Aber eine gelegentliche Bemerkung dem Alten gegenüber, wie gern wir mal zum Zeitvertreib nach der Scheibe schießen würden, brachte uns in den Besitz von zwei tadellosen neuen Repetierbüchsen, Modell Sniders, neunschüssig, Kaliber sieben, und auch ein paar Pakete Patronen wurden uns anvertraut. – Es unterlag keinem Zweifel, daß der Kutter noch mehr Waffen und Munition in einem guten Versteck an Bord hatte. Bei der Zollkontrolle in Panama war ja der Torstensen aufs allergenaueste durchschnüffelt worden, denn den Herren Yankees dort wollte es durchaus nicht einleuchten, daß ein schwedischer Fischer nur zum Vergnügen ein Viertel der Weltmeere durchkreuzt hatte und sogar noch weiter wollte. Die Schiffspapiere waren jedoch in Ordnung, und Boche Boche und ich galten eben als unterwegs aufgelesene Schiffbrüchige. Verdächtig waren wir den Zöllnern [55] – sogar sehr. Stundenlang hatten sie den Kutter durchstöbert, und schließlich gewann ich den Eindruck, daß Jörnsen die lästigen Herrschaften wohl nur durch einen dicken wertpapiernen Händedruck losgeworden war. – Das so nebenbei. Und noch etwas aus jenen zwei Tagen, da ich mit dem Backofen Panama und den großartigen Kanalanlagen ein unverhofftes Wiedersehen feierte. (1914 war ich zum ersten Male dort gewesen.) Im Hafen von Panama lag ein dänischer Frachtdampfer neben uns. Ich war gerade dabei, die Gallionfigur unseres Kutters, die den Oberleib eines gepanzerten Ritters wohl als Anspielung auf das bekannte wehrhafte Geschlecht der Torstensen darstellte, frisch zu vergolden und den Küraß zu versilbern, als ich in einer Ruhepause unseren Ankernachbar genauer ins Auge faßte. Hecksöör, Kopenhagen, stand in weißen Buchstaben am runden Heck. Und oben am Heck lehnte an der Reling ein Mann in weißer Bordjacke und mit weißer Schirmmütze, der mich unverwandt anglotzte. Als unsere Blicke sich begegneten, drehte er sich rasch um und verschwand hinter dem Heckaufbau. Nicht schnell genug, denn meine guten Augen hatten sein scharfes Profil bereits erfaßt. Es war zweifellos derselbe Herr, der sich im Rauchsalon der „Drottning Viktoria“ beim Erscheinen der drei Kriminalbeamten weit nervöser gezeigt hatte als ich. – Ich hatte das Gefühl, daß auch er mich erkannt hatte, und diese leise Befürchtung gewann noch dadurch an Wahrscheinlichkeit, daß ich denselben Mann gleich darauf mit dem Liggy zum Bollwerk rudern sah, wo soeben die Zöllner, die unseren Kutter so eingehend beehrt hatten, ihr Boot verließen. Der [56] Mann sprach sie an und schlenderte mit ihnen davon. Zum Glück lichteten wir schon eine Viertelstunde später die Anker, und meine geheime Angst, hier womöglich als steckbrieflich verfolgter Ausbrecher festgenommen zu werden, war überflüssig gewesen. –

Abenteuer abseits vom Alltagswege … – Möglich, daß der Leser das, was ich bisher seit meiner Flucht aus dem verwanzten Staatshotel erlebt hatte, nicht gerade als so außerordentlich eigenartig einschätzt. Nun, all das bis jetzt nach den Notizen meines damaligen Tagebuchs hier in Erzählungsform Wiedergegebene bildet ja nur den Auftakt zu den Ereignissen in Ultima Thule, im „Letzten Lande am Ende der Welt“. Jeder kennt wohl das deutsche Studentenlied vom König Thule, dem sterbend seine Buhle einen goldenen Becher gab. Ultima Thule war für die Menschen des Altertums jenes märchenhafte Reich, in dem, wie man sich heute ausdrücken würde, die Füchse sich Gute Nacht sagten und die Hunde mit dem Schwanz bellten. Südamerikas äußerste Spitze ist für uns Moderne ein ähnliches Ultima Thule. Den Magelhaens-Archipel hat noch niemand gründlich erforscht. Und in diesem Gewirr von Inseln und Inselchen, Klippen, Kanälen und Buchten ruhte Holger Jörnsens Geheimnis …

Mancherlei geschah noch, bevor unser Kutter in dieses Labyrinth trostloser Öde hineinsteuerte, mancherlei, das zu denken gab, das nie geahnte Überraschungen brachte und das den Torstensen samt seiner kleinen Besatzung immer mehr zu einem verschwiegenen Fahrzeug der Rätsel stempelte …

[57] Der Alte hatte als ersten Hafen nach Panama das gottverlassene Punta Garras anlaufen wollen. Als wir jedoch auf der Höhe von Iquique waren, änderte er den Kurs, und zwei Stunden später lagen wir inmitten einer Flotte von Salpeterschiffen: mindestens achtzig Viermastschoner, Vollschiffe und amerikanische Schoner mit sogar sieben Masten! Nie hatte ich vermutet, daß der Salpeterhandel eine solche Menge von Fahrzeugen und ein solches bunt zusammengewürfeltes Gesindel von Matrosen benötigte.

Boche Boche lachte über mein Erstaunen. Er wußte Bescheid. „Sieh’ mal, all diese Segler müssen zwecks Ersparnis um Kap Horn herum. Was das bedeutet, weißt du. Man rechnet bei den Reedereien mit einem Durchschnittsverlust von fünfundzwanzig Prozent. Deshalb findest du auch nie ein Salpeterschiff aus Eisen. Holz ist billiger, und ein eiserner Kahn entgeht den Kap Horn-Stürmen genau so wenig wie ein Holzkasten, wenn’s sein soll. Ich hatte selbst mal Heuer auf einem Fünfmastschoner genommen. Die Offiziere waren bis an die Zähne bewaffnet, und die farbige Besatzung zumeist betrunken. Nie wieder bekommt mich jemand an Bord eines dieser schwimmenden Zuchthäuser.“

Wir hatten also mit unserer Nußschale zwischen diesen Segelriesen Anker geworfen. Es war blödsinnig heiß. Der Landwind führte aus dem Inneren Chiles wahre Höllenglut mit. Was wir hier sollten, wußten weder mein Kamerad noch ich. Wir hatten noch übergenug Proviant und Trinkwasser. Es fehlte uns an nichts. – Da rief mich, kaum daß das Hafenpolizeiboot uns wieder verlassen hatte, der Alte nach achtern.

[58] „Abelsen, du wirst meine Frau an Land begleiten. Sie hat verschiedenes einzukaufen.“

Frau Helga Jörnsen hatte sich für den Besuch der Stadt auf ihre Art herausgeputzt und sich ausnahmsweise mal gewaschen. Unbegreiflich, daß Jörnsen sie sonst immer als Schmierlappen umherlaufen ließ.

Sie glich jetzt einer Vogelscheuche, und der große braune Leberfleck, den sie links am Kinn hatte und der sich bis zur Nase hinaufzog, trat nun erst so recht deutlich hervor, ebenso die häßliche Nase mit den Pferdenüstern und die aufgeworfene Oberlippe, die die ungepflegten Zähne sehen ließ. Auch die Brille mit dem dick umwickelten Steg fehlte nicht. Frau Helga war abschreckend – auch mit dem schwarzen Strohhut mit grünen Seidenblumen und mit dem hellen Staubmantel.

Als Boche Boche ihr ins Boot half – er sollte uns an Land rudern – konnte er sich eine spöttische Bemerkung doch nicht verkneifen. Das Weib schaute ihn nur wieder so merkwürdig an und schwieg. Ich wurde aus diesem Blick nicht recht klug, den ich nun ja schon verschiedentlich beobachtet hatte.

Iquique hat ein paar ganz moderne Läden. Und – was kaufte die Alte nach langem Wählen und Feilschen? Sie schien mit einem Male eitel geworden zu sein: Einen weißen Damenstrohhut mit hellblauem Seidenband, eine hellblaue Seidenbluse und einen weißen Leinenrock, Unterwäsche, Schuhe, Seidenstrümpfe und einen … roten eleganten Sonnenschirm.

Ich war nachher wie ein Packesel mit Kartons beladen, und noch mehr ärgerte ich mich darüber, [59] daß die alte Vettel mich während der ganzen zwei Stunden auch nicht eines Wortes gewürdigt hatte.

Wir kehrten an Bord zurück. Boche Boche grinste wie ein Satan und fragte scheinheilig: „Der feine Sonnenschirm ist wohl mein Geburtstagsgeschenk, Frau Helga … Ich danke dir schon im voraus … Den hab’ ich mir schon lange gewünscht.“

Eine Stunde später war der Torstensen wieder auf hoher See und die Alte wieder in ihren dreckigen Hosen und der fettbesäten Jacke. Als ich Boche Boche die Neuanschaffungen aufzählte, wollte er sich vor Lachen ausschütten.

Das war am Vormittag gewesen. Nachmittags vier Uhr begannen wir wieder wie stets mit dem Scheibenschießen, wofür Jörnsen sich lebhaft interessierte. Es schien ihm sehr angenehm zu sein, daß wir unsere Fertigkeit im Handhaben der Repetierbüchsen wesentlich gesteigert hatten.

Boche Boche war heute in bissiger Ulkstimmung. Als er eine Stummelschwanzmöve, die über dem Kutter hinwegstrich, gefehlt hatte, rief er der im Niedergang der Kombüse stehenden Alten gereizt zu:

„Scher’ dich hinunter, – Hexen bringen Unglück!“

Das war seit langem mal wieder seinerseits eine Grobheit.

Die Frau Käpten kam langsam vollends an Deck, nahm mir ohne weiteres die Büchse aus der Hand, legte auf einen ziemlich weit entfernten Albatros an und drückte ab. Der große Vogel fiel wie ein Stück Blei tot in die See.

[60] Boche Boche starrte die Alte verdutzt an. Und vom Steuer her schallte des Käptens vergnügtes Lachen herüber. Zum ersten Male hatte ich ihn lachen gehört. Seine Perle von Frau kletterte auf ihren ausgelatschten Leinenschuhen wortlos wieder in die Kombüse hinab. Boche Boche meinte nachher zu mir: „Du – die kann mehr wie wir!!!“ – Sie war entschieden in seiner Achtung gestiegen.

Abends nach der Mahlzeit hatte ich mich sofort niedergelegt, da ich von Mitternacht Wache hatte. Ich mochte kaum eine Stunde geschlafen haben, als mein Kamerad mich weckte. Die Karbidlampe beschien sein bleiches verzerrtes Gesicht … Und diese entstellten Züge machten mich sofort völlig munter.

„Olaf,“ flüsterte er heiser … „ich glaube, ich werde verrückt … Ich leide an Gehörtäuschungen … Oder … hörst auch du etwas Besonderes? Horche mal …“

Ich horchte.

Und hörte ganz leisen Gesang, dazu die weichen Klänge einer guten Gitarre als Begleitung …

Boche Boche hatte sich keuchend auf den Bettrand gesetzt …

„Hörst du was?“

„Ja … Es ist das bekannte Lied aus dem Trompeter von Säckingen … und eine Gitarre.“

Er stützte den Kopf in die Hände. Mit der Linken umspannte er die Stirn …

„Mein Gott!!“ stöhnte er …

Ich rüttelte ihn. „Was hast du denn …?! Von Gehörtäuschungen ist doch keine Rede …! Es wird die Alte sein …“

[61] „Mein Gott!!“ Er ließ die Hände sinken und stierte mich wild an. „Olaf … ich weiß nicht, was mir fehlt … Dies Geklimper regt mich auf … Ich fiebere …“

Wahrhaftig – er zitterte …

Da brachen Spiel und Gesang jäh ab …

Boche Boche achtete nicht darauf. Er hatte meinen Arm umkrallt. „Olaf, es war soeben, als glitte in meinem Hirn blitzschnell ein Bild vorüber – irgendeine ferne Erinnerung, Olaf … Zu schnell … Ich konnte nichts erkennen. Nur der Eindruck ist geblieben, daß dieses … dieses Gitarrenspiel einst irgendwo für mich von … Bedeutung gewesen – ja, von Bedeutung, das ist das rechte Wort. Genau wie damals mit dem Hund, Olaf … Ich habe sicherlich mal einen Hund besessen, der mir lieb und wert war …“

Er stöhnte wieder …

„Mein Gott, was ist das doch für ein jämmerliches Dasein, – – jämmerlich! Immer wieder fühlen müssen, daß man eine Zeit durchlebt hat, in der man vielleicht glücklich und voll frohen Tatendranges war! Und diese Jahre sind tot in meinem Hirn – – tot – ausgelöscht!! Mein Gott, soll ich denn nie erfahren, wer ich … war, wer ich bin?!“ – Wie ein Rasender schlug er sich mit der geballten Faust vor die Stirn … „Weg mit dem verfluchten Riegel von der Kammertür meines Einst – – weg damit! Ich will wissen, wer ich bin, ich will – ich will!“

Er kreischte die letzten Worte heraus, daß es mich eiskalt überlief.

Das war aber auch der Höhepunkt seines verzweifelten Aufbegehrens gegen sein trauriges Schicksal. Er schämte sich plötzlich seiner Schwäche, [62] und mit einem hastig gemurmelten „Entschuldige“ erhob er sich, taumelte zur Treppe und begab sich nach oben an Deck. Allein wollte er sein, allein den bitteren Kampf vollends ausfechten und sich wieder zur Ruhe zwingen.

Bis ins Tiefste erschüttert blieb ich zurück. Mitleid, grenzenloses Mitleid krampfte mein Herz zusammen. Und all das, was ich mir einst als Gast des Hotel Düsterburg so felsenfest vorgenommen und mir immer wieder in die Seele hineingehämmert hatte: niemals mehr weich zu sein, niemals mehr für einen anderen Menschen irgendwie einzutreten, – es war ja längst vergessen – schon in dem Augenblick, als ich den elenden Erpresser vom Balkon in die Hecke hinabbefördert hatte.

Niemand kann wider seine Natur handeln, niemand. Alle Energie reicht nicht aus, das in uns zu unterdrücken, was als Kern unseres Wesens in uns hineingepflanzt ward schon in dem Moment, wo unsere Mutter ein zweites Geschöpf unter dem Herzen spürte, ein neues werdendes Leben. Meine Hilfsbereitschaft, das, was meine Kollegen überall in den plumpen Satz „Abelsen, Sie sind ein guter Kerl …“ zusammengedrängt hatten, war unausrottbar.

Armer Kamerad da oben!! Ich sah ihn in Gedanken vor mir wie schon so oft: an die niedere Reling gelehnt, mit traurigen Augen ins Weite starrend und um die Lippen das nervöse Zucken aufgescheuchter Seelenqualen!

Wenn ich ihm nur helfen könnte? – – Helfen, wo nicht einmal die Kunst der größten medizinischen Autoritäten Berlins ihm geholfen hatte?! Ich – – helfen?!

[63] Mit dem niederdrückenden Bewußtsein, daß mein eigenes Geschick im Vergleich zu dem meines Kameraden geradezu bedeutungslos und überaus alltäglich sei – denn was besagte schließlich eine zu Unrecht verhängte Zuchthausstrafe?! – schlief ich wieder ein … Das gleichmäßige Plätschern und Gurgeln und Raunen der vom breiten Bug des Kutters getroffenen Wogen hatten meine erregten Sinne wohltuend eingeschläfert.

Kurz vor Mitternacht rüttelte Boche Boche mich munter …

„Ablösen, Olaf …!“

Und ohne ein weiteres Wort kroch er in sein Bett.

Oben am Steuer stand der alte Jörnsen.

„Was war vorhin mit Boche Boche?“ fragte er kurz. „Ich hörte ihn schreien … – Mir wollte er nichts sagen … Was war’s mit ihm, Abelsen?“

„Weiß nicht, Käpten … Gute Nacht.“

Er verschwand in der Heckkajüte. Meine schroffe Ablehnung hatte keinerlei Eindruck auf ihn gemacht. Nur sein Kopfnicken, mit dem er meinen Gute-Nacht-Gruß erwiderte und mir das Steuerrad überließ, war noch knapper und – ja – hochmütig – verschlossener als sonst.

Ich war allein an Deck. Der Motor sang sein ratterndes Lied, das Tauwerk der prall gefüllten Segel knarrte und der Torstensen jagte gen Süden.

Allein unter dem klaren ausgestirnten Firmament, allein in der großen erhabenen Feierlichkeit der Wasserwüste.

Hin und wieder ein Blick auf den Kompaß … Die Zigarre im Munde – erloschen … Die Gedanken die jüngste Vergangenheit umspielend … [64] Für wen hatte die Alte die jugendlichen Sachen in Iquique gekauft? Und – wer hatte Gitarre gespielt und gesungen? Weshalb durften wir beide nie in die Kombüse hinab und auch nie in die Heckkajüte mit ihren beiden Seitenkammern hinein, – denn auch dies hatte uns Jörnsen ein für allemal verboten. Befand sich etwa noch eine fünfte Person an Bord – – ein Mädchen?! Es war ja eine junge frische Stimme gewesen, die das Lied aus dem Trompeter „Es wär so schön gewesen …“ gesungen hatte!

Fünfte Person?! – Das wollte mir nicht aus dem Kopf. Das verdarb mir die Feierlichkeit dieser Tropennacht …

Eine Schonerbark tauchte in Lee auf, zog wie ein Riesenvogel im Dämmer der Ferne vorüber. Die Klänge einer Ziehharmonika trug der Wind bis zu mir herüber. Salpeterschiff – Neger an Bord … Wo Neger, da auch Musik … Und wo Mulatten, da Zank und Streit … Und wo gar gelbe Mestizen, da Hinterlist und Niedertracht und heimtückische Messerstiche … Jede Farbe hat ihr Besonderes. Das verwaschene schmierige Gelb ist am gefährlichsten.




[65]
7. Kapitel.
Das Bad im Hafen.

Fünfte Person?!

Und wie gebannt starrte ich nun auf die kleinen dicken vergitterten und verhängten Oberlichtfenster der Heckkajüte. Sie waren noch hell. Und es war halb zwei morgens …

Ich griff nach der Tauschlinge, die am Kompaßbock befestigt war, legte das Ruder fest. Ein paar Minuten würde der Kutter bei diesem ständigen Winde auch ohne mich Kurs halten.

Meine braunen Segeltuchschuhe verrieten mich nicht. Ich lag lang auf dem Deck, suchte nach einer Ritze in den Vorhängen der Oberlichtfenster … Nicht zum ersten Male … Auch mein Kamerad hatte bereits dasselbe probiert – umsonst.

Heute – ein Zufall – rechts auf Backbord ein fingerbreites Stück unbedeckten Glases.

Dort saß Jörnsen vor dem in die Wand eingelassenen Schreibtisch. Die Platte war hinabgeklappt.

Zurückgelehnt saß er, die Pfeife wie immer im Munde, hatte Papier in den Händen, suchte ein Bild heraus, Photographie, Kabinettgröße: ein Männerkopf!

Das Lampenlicht fiel auf das Bild. Jörnsen starrte es an …

Und ich, der Spion, fühlte mein Herz rascher hämmern.

[66] Was bedeutete das?! – Nur eine Ähnlichkeit?! Wie kam gerade dieses Bild an Bord eines Kutters, dessen schweigsamer Besitzer und Kapitän ein Landsmann von mir, ein Schwede war? – Daß das Ehepaar Jörnsen innige Beziehungen zu Deutschland gehabt hatte, ging freilich schon daraus hervor, daß es die Sprache der Heimatgefilde meiner Mutter so vollkommen beherrschte. Und doch – – dieses Bild?!

Ich konnte mich jetzt auch auf meine Augen und auch insbesondere auf meine Fähigkeit, Gesichtszüge selbst nach Jahren noch wiederzuerkennen, wenn ich mir nur deren charakteristische Merkmale eingeprägt hatte, unbedingt verlassen. Dieses Gesicht, diese eckige, hohe, kluge Stirn, diese Nase, diese Mundpartie – das war die verjüngte Wiedergabe des Antlitzes meines Kameraden Boche Boche. Bestimmt war er’s. So über jeden Zweifel erhaben diese verblüffende Feststellung, daß ich darüber meine Pflicht völlig vergaß und erst das Knallen des Außenklüvers, der im Winde bedenklich flatterte, mich rasch zurück ans Ruder rief. Ein Griff in die Radspeichen, ein Blick zum Kompaß, und der Torstensen, der inzwischen beträchtlich abgefallen war, neigte sich wieder unter der Segellast im vollen Winddruck zur bisherigen Schrägung und hüpfte lustig über den nächsten Wogenkamm hinweg. Nur ein einziger Spritzer war über Bord gekommen, nur ein einziges Mal hatte der Klüver verräterisch geknallt. Dennoch tauchte schon des Alten grauer Kopf über dem gewölbten Bleche des Niedergangs auf.

„Eingenickt, Abelsen?“

„Ja, leider …“

[67] „Werde euch beiden den Rum entziehen, Abelsen … Für Boche Boche ist der Alkohol schon gar nichts … – Was war’s heute mit Boche Boche?“

Er stand auf der Treppe und hatte die Arme auf die Schiebetür des Daches gestützt.

Vorhin hatte mich ein unbestimmtes Etwas, nennen wir’s innere Stimme, dazu veranlaßt, jede Auskunft abzulehnen. Jetzt hatte ich das Bild gesehen. Und daß Jörnsen genau wußte, wen es darstellte, daß er also auch meines Kameraden tote Vergangenheit kannte, war selbstverständlich. Dem Alten einzugestehen, daß ich vor dem Oberlichtfenster spioniert und das Bild in seiner Hand erkannt hatte, erschien mir nicht ratsam. Ich wollte auf Umwegen, durch Diplomatie die Lage klären. Diplomatie ist zielbewußtes Verbergen der eigenen wahren Gedanken, zielbewußtes Lügen und Heucheln. Also etwas, das mir wenig lag. Hier wurde es zur Notwendigkeit. Die Rätsel, die das Ehepaar Jörnsen umgaben, mehrten sich. Boche Boche hatte damals ganz recht gehabt: Sollten wir als erwachsene Männer noch weiter im Dunkeln umhertappen?!

„Die Musik war’s,“ erwiderte ich auf des Alten Frage.

Leider war sein Gesicht im Schatten, und das meine im Widerschein der Kompaßlampe. Dennoch: Jörnsen hatte eine Kopfbewegung gemacht – aber keine, die etwa Überraschung angedeutet hätte. Nein – mehr ein halb unbewußtes Nicken …

„So, die Musik also …“ sagte er bedächtig … „Die Musik … Was äußerte er denn dazu?“

[68] „Sie schien in ihm irgendwelche unklaren Erinnerungen zu wecken …“

Jörnsen sog an seiner unvermeidlichen Pfeife und qualmte dicke, schnell zerflatternde Wölkchen. Mir kam es vor, als ob er, an den kaum eine Erregung heranreichte, geradezu nervös war. Seine Finger trommelten auf dem mit Zinkblech benagelten Dach, dessen grüner Ölfarbenanstrich erst letztens erneuert war und doch infolge der Hitze bereits wieder abblätterte.

Ich wartete voller Spannung auf seine nächste Äußerung. Inzwischen war er jedoch wohl selbst zu der Einsicht gelangt, daß er sein Verhalten anders einrichten müsse, wollte er mich nicht argwöhnisch machen. Er zuckte in übertriebener Weise die Achseln und meinte: „Wenn meine Frau aus Langeweile mal auf der Gitarre klimpert, – wie sollte das den armen Boche Boche beeinflussen?!“

Er wollte mir also ausweichen. Mein anfänglich nur schwacher Verdacht hatte nun ganz bestimmte Formen angenommen.

„So, Käpten?! So?!“ Meine Stimme klang ungewollt drohend und scharf. „Vielleicht hat deine Frau auch absichtlich die Gitarre hervorgeholt … Vielleicht wißt ihr beide weit mehr über meinen bedauernswerten Kameraden als ihr zugeben wollt …!“

Narr ich!! Das sollte Diplomatie sein?!

Jörnsen hatte plötzlich die rechte Hand in der Tasche seiner blauen Jacke verschwinden lassen …

Das schwarze Mündungsloch seiner Pistole war keine drei Meter von meinem Kopfe entfernt …

„Abelsen,“ sagte er mit unheimlicher Entschlossenheit, „du hast gelogen … Der Klüver [69] knallte … Ein Spritzer kam über Bord. Du hast durch das Oberlicht geschaut. Ich hatte gerade das Bild in der Hand. Wenn du mir jetzt nicht sofort dein Ehrenwort gibst, dieses Bild und diese Unterhaltung aus deinem Gedächtnis zu streichen, schieße ich dich nieder und werfe dich über Bord. Hier geht es um Dinge, die durch deine Einmischung eine ungünstige Wendung nehmen könnten, hier ist dein Leben … ein Dreck, Abelsen, den man mit dem Fuße in die Gosse scharrt … Du kennst mich, Abelsen. Also …!“

Sein Arm reckte sich noch weiter vor …

Er zielte auf meine Stirn … Sein Gesicht war bleich. Das sah ich. Und in diesem Gesicht leuchteten die jungen Augen in demselben Glanze wie damals, als er Boche Boche die Pistole aus der Hand schlug.

Daß er mich tatsächlich niederknallen würde, wußte ich. Hätte es Sinn gehabt, mein Leben hier lediglich deshalb wegzuwerfen, um nicht feige zu erscheinen, um Jörnsen zu beweisen, daß dieses Leben mir nichts wert war?!

„Ich gebe mein Wort, Käpten …“ erklärte ich fest. „Aber diese Szene hat auch den zwischen uns geschlossenen Kontrakt aufgehoben … Ich werde mit Boche Boche in Punta Garras den Kutter verlassen.“

Er schien zu überlegen … Die Waffe behielt dieselbe Richtung bei. Ich beobachtete den Zeigefinger, der am Abzug der Pistole lag. Dieser Finger krümmte sich mehr und mehr. Wie hypnotisiert starrte ich in das schwarze Mündungsloch, aus dem jede Sekunde der kleine Feuerstrahl hervorschießen konnte.

[70] So dicht wie damals hatte Gevatter Tod doch noch nicht neben mir gestanden.

Ein kühles Rieseln lief mir über den Rücken.

„Wenn er doch nur Schluß machen wollte!“ dachte ich …

Und mein Blick flog zum Sternenhimmel empor. Ich nahm Abschied von den blinkenden Lämpchen Gottes …

Jörnsens Stimme drang wie aus endloser Ferne an mein Ohr …

„Gut, ihr könnt in Punta Garras an Land … Aber – vergiß dein Ehrenwort nicht, Olaf Karl Abelsen! Glaube mir, du könntest deinem Freunde keinen schlechteren Dienst erweisen, als durch ein unüberlegtes Wort … Vergiß das nicht … – Gute Nacht, Abelsen …“

Er wollte die Treppe hinab. Machte wieder halt. Drehte den Kopf … „Wie gedenkst du es Boche Boche zu erklären, daß ihr uns verlaßt?“

„Ich bin heut’ hier am Steuer eingeschlafen, Käpten, und du hast mich angeschnauzt … Das genügt …“

„Vielleicht!“ nickte er und schritt weiter die Treppe hinab. –

Vormittags zehn Uhr beim Frühstück nahm ich Gelegenheit, Boche Boche zu belügen …

„… Ich lasse mir diese Behandlung nicht länger gefallen … Und Jörnsen scheint auch nichts mehr daran zu liegen, daß wir hier noch länger Matrosen spielen … Ich jedenfalls bleibe nicht auf dem Torstensen …“

Wir saßen in unserer Kajüte am Tisch. Mein Kamerad tauchte den dick mit Butter bestrichenen Zwieback in den Kaffeetopf und biß dann ein Stück ab, kaute und blickte mich nachdenklich an. [71] Zuweilen verfiel er bei Tisch in gewisse Unmanieren, die so gar nicht zu ihm paßten. Wo mochte er sich nur dieses scheußliche Eintunken des Zwiebacks angewöhnt haben?! Er, der doch sonst in allem eine so zwanglose Sicherheit, so viel Kultur besaß?!

„Eigentlich schade …“ meinte er. „Ist es dir denn wirklich so gleichgültig, Olaf, diese abenteuerliche Fahrt aufzugeben?“

Ich lachte … „Sind wir unmündige Kinder?! Sollen wir uns mit verbundenen Augen irgendwohin schleppen lassen?! Ich mache nicht mehr mit …“

„Und wenn der Alte sich entschuldigt …?“

„Auch dann nicht!“ Und das war ehrlich. Ich hatte Jörnsen jetzt kennengelernt. Ein Verbrecher war er nicht, aber ein Mann, der auf der messerscharfen Grenze zwischen rücksichtsloser Energie und gewissenlosester Brutalität dahinwandelte. Ich traute ihm alles zu … Und so, wie mein Kamerad und ich veranlagt waren, mußte es früher oder später auf dem Kutter zum Blutvergießen kommen. Wir drei Männer hier an Bord waren die gleichen Eisenköpfe, waren verwandte Naturen, und mein Kamerad dazu noch völlig unberechenbar. Nein – – ich war entschlossen, diesem Geheimnis Jörnsens auf andere Weise auf den Leib zu rücken. In Trelleborg gedachte ich mit meinen Nachforschungen zu beginnen. Dann würde sich schon herausstellen, wie der Alte zu dem Bilde gekommen war. Und nach Trelleborg, – nun, wir brauchten nur Heuer auf einem Salpetersegler zu nehmen. Wir würden schon wieder irgendwie nach Schweden gelangen.

Boche Boche hatte sich plötzlich erhoben …

[72] „Da!!“ brüllte er …

Brüllte …

Seine Hand deutete auf die Rückwand, wo er schon im Atlantik die beiden Löcher mit einem Stück Blech und unterlegter Leinwand übernagelt und mit Ölfarbe überpinselt hatte.

Das Blech fehlte – fehlte fraglos erst seit heute morgen …

„Die Drecksau hat wieder gehorcht!“ kreischte Boche Boche in jäher Wut … „Da – jetzt erst wird der Pfropfen in das eine Loch geschoben!“

Blitzschnell griff er nach einer Gabel, stieß zu, traf den Kork, trieb ihn drüben aus dem Loche heraus …

Dann raste er an Deck … Mit der Gabel. Ich hinterdrein, um ein Unglück zu verhüten.

Aber die Schiebeluke des Kombüsenniedergangs war verschlossen …

Ich packte Boche Boche, der mit den Füßen die kleine Flügeltür eintreten wollte …

Vom Heck Jörnsens metallne Stimme:

„Weg da mit euch – – weg da!!“

Boche Boches wilde Augen stierten hin …

„Warte, Käpten … warte – – deine Pistole – – warte!“

Er riß sich los … Stürmte wieder hinab … Ich ahnte: seine Büchse wollte er holen …

Und wieder war ich hinter ihm drein … Er stand vor seinem Wandschrank …

„Nicht mehr da … weggenommen …“ murmelte er …

Es stimmte: unsere Büchsen waren verschwunden.

Boche Boche lachte schrill …

„Der Schuft – – der Schuft!!“

[73] Dann kam bei ihm wieder der Rückschlag … Er sank auf einen Schemel … Mit zitternder Hand goß er seinen Kaffee hinab …

„Olaf, in Punta Garras – ja … fort von hier!! Ich kann für mich nicht mehr einstehen.“

„Dann sind wir einig, Kamerad …“

Wir verloren über die Sache kein Wort mehr. –

Als wir eine halbe Stunde später an Deck kamen, lehnte das zottelige, schmierige Weib im Kombüsenniedergang. Sie hatte jetzt einen Ledergurt über die fleckige Männerjacke geschnallt, und an dem Gurt hingen die Lederfutterale zweier Repetierpistolen …

Ihre bebrillten Augen blickten uns kühl entgegen … Nachlässig holte sie die eine Pistole hervor und schob die Sicherung zurück …

Daß sie schießen und treffen konnte, wußten wir.

Wir kehrten ihr den Rücken und setzten uns auf die Vorderluke.

Fortan bekamen wir keinen Tropfen Rum mehr, brauchten nichts mehr zu tun, durften uns achtern nicht sehen lassen, brauchten keine Wache mehr zu übernehmen, wurden selbst überwacht.

Wir waren wie wilde Tiere im Käfig.

In der folgenden Nacht gegen zwölf Uhr tauchten die hellen Sanddünen auf, die den kläglichen Hintergrund dieses gottverlassenen Hafennestes Punta Garras bilden. Wir hatten mit dem Ehepaar kein Wort mehr gewechselt.

Jetzt, als wir kaum die Hafeneinfahrt passiert hatten, kam die alte Vettel mit ihren schlurfenden Schritten nach vorn und keifte uns an …

„Buganker bereit! Los!!“

[74] Boche Boche faßte überhöflich an den Mützenrand …

„Mit Vergnügen, meine Gnädigste … Denn je früher wir diesen famosen Kutter verlassen können, desto besser für uns!“

Gleich darauf klatschte der Anker ins Wasser. Der Motor schwieg, und der Torstensen schwenkte mit der ausströmenden Ebbe herum und wandte seinen Bug dem offenen Meere zu. Jörnsen ließ auch den Heckanker fallen, und der Kutter lag abseits der anderen hier ankernden Schiffe – es waren nur fünf – ohne jede Bewegung fest.

Der Alte kam nach vorn.

„Wenn morgens die Hafenpolizei hier gewesen ist, könnt ihr an Land,“ sagte er unfreundlich. „Ich werde jedem von euch tausend Kronen zahlen. Von eurem Anstandsgefühl erwarte ich, daß ihr mir keine Schwierigkeiten macht. Wir wissen gegenseitig voneinander so mancherlei, was besser verschwiegen bleibt … Besonders du verstehst mich wohl, Abelsen … Nun geht schlafen … Ich wünsche euch nicht mehr an Deck zu sehen …“

Boche Boche nahm stramme Haltung an und schnarrte ironisch: „Zu Befehl, Herr Kapitän … Wir werden in dieser Nacht in der frohen Hoffnung, Ihrer Visage nicht wieder zu begegnen und der … Drecksau erst recht nicht, besonders gut schlafen … Ihre tausend Kronen können Sie getrost behalten. Wer so vornehm ist, meinem Freunde Olaf in so versteckter Weise zu drohen, ist ein Lump … – Gute Nacht …“ –

Boche Boche schlief denn auch sehr bald ein, obwohl’s in der engen Kajüte stickend heiß war. Ich wälzte mich ruhelos auf meinem Lager hin und her. Es war seltsam: jetzt, wo der Abschied [75] von Holger Jörnsen so dicht bevorstand, sträubte sich irgend etwas in meinem Innern gegen diese Art des Auseinandergehens – irgend etwas, das ich selbst nicht klar ergründen konnte. Zweifel kamen mir, ob ich die Dinge meinerseits nicht allzu sehr auf die Spitze getrieben hätte, Zweifel auch darüber, ob Jörnsen wirklich in der verflossenen Nacht mich niedergeknallt haben würde, ob er nicht vielleicht mich gar geblufft haben könnte. Ich wurde aus seinem Verhalten nicht klug. Es erschien mir widerspruchsvoll und dunkel wie seine ganze Persönlichkeit, zu der mich trotz allem etwas wie Sympathie hinzog.

Ich erhob mich leise, schlüpfte nur in die Leinenbeinkleider und schlich an Deck …

Es war leer … Der Himmel wolkenbedeckt. Die Luft dick und schwer, übersättigt mit Elektrizität … Die Lichter des Städtchens und der ankernden Schiffe schimmerten wie durch feinen Nebel hindurch. Still lag der Kutter. Selten knarrten oder klirrten die Ankerketten … – Ich hatte mich auf die kleine Ankerwinde gesetzt. Ich war enttäuscht. Wenn Jörnsen an Deck gewesen wäre, würde ich zu ihm gegangen sein und hätte ein offenes Wort mit ihm gesprochen. Er war doch ein gebildeter Mensch wie ich … Sollte es denn wirklich zwischen uns keinen Weg der Verständigung geben?!

Verständigung …

Es wäre ein alltäglicher Weg gewesen. Und das Schicksal hatte mich nun einmal aus der Alltagsbahn gedrängt – immer mehr … Es war so.

Ich blickte von meinem erhöhten Sitz über die Reling hinweg auf die dunkle Flut. Kein [76] Lüftchen wehte. Das Hafenbecken war wie ein stiller Binnensee.

Ich blickte ohne Ziel und Zweck …

Und der Weg abseits vom Alltag war die finstere Wassermasse, in deren Tiefen Leuchtquallen von Eimergröße wie Glühkäfer sich träge bewegten. Über das Wasser glitt ein hellerer Fleck … Der Kopf eines Schwimmers … Blondes Haar erkannte ich, zu hohem Schopf aufgesteckt …

Ein Weib … Es kam aus der Richtung des großen Fünfmasters drüben, auf dem so viel Laternen brannten, daß es wie eine Illumination aussah.

Ich beobachtete die Schwimmerin …

Nun war sie dicht heran, hob den nackten Arm, winkte …

Ich lehnte mich weit über die Reling …

„Werfen Sie mir ein Tau herab, Herr Abelsen …!“ – halblaut nur … Und doch: diese Stimme kannte ich!

Ich war so überrascht, so fassungslos, daß ich mich zunächst überhaupt nicht rührte …

„Ich bin’s!“ erklang die Stimme abermals. Und sie tönte so übermütig-schalkhaft, daß ich rasch ein Tau ergriff und meiner Retterin an Bord half.

Sie trug einen dunklen Badeanzug … Sie stand triefend vor mir mit ihrem wundervollen knospenden Körper … Streckte mir die nasse Hand hin …

„Unverhofftes Wiedersehen, Herr Abelsen …“ Sie sprach sehr leise, sehr hastig … „Auf der Chaussee vor Trelleborg trennten wir uns … Hier treffen wir uns, und hier komme ich als [77] Bittende zu Ihnen … Fragen Sie nichts … Ich muß sofort wieder zurück … daß Sie hier an Bord, war mir bekannt …“

Ich hielt ihre kühle Hand noch immer in der meinen …

Oh – dieses Mädchen war schön …

„… Eine Bitte, Herr Abelsen … Bleiben Sie an Bord des Kutters … Bleiben Sie, mag auch noch so Arges geschehen … Und gehen Sie mit Jörnsen nicht allzu schwer ins Gericht. Was er ist – vielleicht lüftet er einmal die Maske. Bleiben Sie in meinem Interesse, Herr Abelsen. Es handelt sich für mich um Dinge von außerordentlicher Wichtigkeit … Ich möchte einen Verbündeten hier an Bord haben … Wir sehen uns wieder – später … Und halten Sie die Augen gut offen … – Wollen Sie …?“

Noch immer ruhten ihre Finger in meiner Hand …

„Ich will!“ – da hatte sie mir auch schon ein kleines Päckchen in die Hand gedrückt – wie damals … war schon über die Reling gestiegen, glitt ins Wasser … schwamm davon – in langen kräftigen Stößen …

Ihr blondes Haar wurde immer undeutlicher … Der helle Fleck zerrann …

Es war wie ein Traum gewesen …

Aber in der Hand hielt ich das feuchte Päckchen … Es war eine fest zugebundene Gummiblase. Ich fühlte darin etwas Hartes. Die Neugier trieb mich in die Kajüte zurück … Hier öffnete ich die wasserdichte Umhüllung …

Was lag darin, in Seidenpapier gewickelt? …: ein kleiner ovaler Bilderrahmen aus Bronze, umgeben von einem Kranz Bernsteinperlen … [78] In dem Rahmen die Photographie eines etwa neunjährigen Knaben im Matrosenanzug …

Das war alles …

Der Knabe war mir fremd …

Und als ich den Rahmen hinten öffnete und das Bild herausnahm, sah ich, daß auf der Rückseite die Firma des Photographen und noch etwas ausgekratzt war – vielleicht eine Widmung …




8. Kapitel.
Feuertaufe.

Ich hatte mir, als ich schon als Junge Körper und Geist ganz systematisch zu trainieren begann, damals bereits zum Grundsatz gemacht, nie vorschnell zu urteilen und jeden Entschluß nochmals zu überprüfen.

Dieses Bild mit dem Bernsteinrahmen hatte ich soeben, in den Fehler der meisten Menschen zurückfallend, für mich als bedeutungslos abgetan. Was sollte diese Photographie eines mir unbekannten Knaben?! – An diesem Rückfall war wohl zweierlei schuld. Erstens die starke Erregung, in die mich der Besuch der Schwimmerin versetzt hatte, und zweitens die noch immer nicht völlig überwundenen Folgen der acht Monate Zuchthaus. Ich war noch nicht wieder der Olaf Karl Abelsen von einst.

[79] Ich betrachtete den Rahmen, das Bild von neuem. Ich saß auf meinem Bett und ließ die feingeschliffenen Bernsteinperlen im Lichte der Karbidlampe, die nach Boche Boches Bett hin durch ein Stück gebogene Pappe abgeblendet war, ihre zarten Strahlenbündel meine Sehnerven sanft reizen. Jetzt sagte ich mir, daß dieses Geschenk meiner Retterin doch unfehlbar zu meiner Person irgendwie in Beziehung stehen müsse. Allmählich überkam mich eine müde, träumerische Stimmung, wie auch behagliche Dämmerstunden sie erzeugen. Meine Gedanken entglitten mir gleichsam und wandelten ihre eigenen Wege, schlichen sich in meiner Jugend freudlose, ernste Tage zurück … Ich sah mich als kleines Bürschlein in einem Garten unter blühenden Obstbäumen stehen … Vor mir ein Mädelchen in weißem Kleidchen mit blonden üppigen Locken … Sie weinte, und wir hielten uns bei den Händen: Abschied zweier Jugendgespielen, schwerer, tränenreicher Abschied, denn mein Vater war in eine andere Stadt versetzt worden, und unser Häuschen, unseren Garten und die kleine Gerda Arnstör und deren jüngeres Schwesterlein, unsere lieben Nachbarn, würde ich vielleicht nie mehr wiedersehen.

Gerda Arnstör …

Mit einem Schlage war diese Jugendzeit in mir wieder zu frischem Leben erwacht, sogar der Name war mir zugeflogen ohne jegliches Bemühen.

Nun wußte ich, wer meine Retterin war, wen dieses Bild im Bernsteinrahmen darstellte. Ich selbst war’s. Ich selbst hatte Gerda das Bild damals beim Abschied geschenkt, und meine Mutter, [80] die zwei Jahre später starb, hatte den Rahmen ausgewählt.

Vieles war mir nun verständlich, was ich in jener Nacht meiner Flucht nicht recht begriffen hatte. Gerda, mit der ich nachher nie wieder zusammengetroffen war, hatte mich damals in ihrem Schlafzimmer wohl sofort erkannt. Ihre weitgehende Hilfsbereitschaft galt nicht lediglich dem zu Unrecht Verurteilten, sondern dem Jugendgespielen.

Was tat Gerda jetzt hier in Punta Garras auf dem großen Fünfmaster?! – Wenn ihr Vater noch Schiffskapitän gewesen wäre! Aber ich erinnerte mich genau: er war deutscher Vizekonsul – damals!

Ich mußte Gerda sprechen, entschloß ich mich. Sie mußte mir Auskunft geben, welches Interesse sie für unseren Kutter hatte. Sie würde es begreifen, daß ich mich nicht mit ihren unklaren Andeutungen begnügen könnte.

Ich behielt nur die Leinenhosen an, schlich wieder an Deck. Es war leer wie vorhin. Drüben leuchteten die vielen Laternen des Fünfmasters noch verschwommener durch die Nacht. Es hatte zu regnen begonnen. Ein warmer erschlaffender Regen, den mein nackter Oberkörper nicht als Erfrischung empfand.

Ich ließ mich ins Wasser gleiten. Es war kühler als der Regen, und dieses Bad feuerte mich an. Ich schwamm langsam, kraftvoll. Meine Muskeln freuten sich der Arbeit. Etwas wie ein glücklicher Übermut überkam mich.

Wie schön Gerda geworden … Und wie beseligend das Bewußtsein, daß ich, der Ausgestoßene, nicht nur einen treuen Kameraden, [81] sondern nun auch ein beglückendes Teil meiner Kindheit wiedergefunden hatte: Gerda!

Die Entfernung bis zu dem Fünfmaster betrug etwa vierhundert Meter. Ich näherte mich dem Schiffe. Ich sah, daß an Deck Leute bedächtig hin und her gingen …

Leute?!

Nein – chilenisches Militär war’s, Infanteristen in blauer Uniform mit schwarzen Helmen, wie ich sie schon in den Straßen Iquiques getroffen hatte … Uniformen, die so sehr an preußisches Militär von ehedem erinnerten.

Soldaten, Gewehr im Arm. – Posten, Wachen.

Der Fünfmaster wurde also bewacht. Daß Punta Garras eine kleine Garnison hatte, war mir durch Boche Boche bekannt. Und daß Meutereien auf den Salpeterschiffen nicht selten, hatte er gleichfalls gelegentlich erwähnt.

Also wohl Meuterei, – wahrscheinlich lagen die Meuterer unten im Raum in Eisen. Daher auch die Illumination …

Ich war auf dreißig Schritt heran, war im Lichtbereich der Laternen und auch schon entdeckt. Eine der Wachen rief mich an …

Bedauere – spanisch ist mir spanisch …

Da hebt die Pickelhaube dort an der Reling das Gewehr, zielt …

Schießt wahrhaftig …

Mit feinem Zischen, als ob man ein glühendes Eisen ins Wasser stößt, schlägt das Geschoß halbrechts vor mir ein und wirft eine Tropfenkaskade hoch …

Die Pickelhaube erhält Verstärkung …

Ich brülle hinüber „Gut Freund“ …

[82] Die anderen Pickelhauben feuern gleichfalls. Rasch lasse ich mich hinabsinken, schwimme unter Wasser, bis mich der Luftmangel hochtreibt …

Die Chilenen scheinen mich für einen Helfer der Meuterer zu halten … Kaum erscheint mein Kopf, als die Knallerei auch schon von neuem beginnt.

Meine Feuertaufe …

Wie die Bienchen summen die Kugeln …

Ein leichter Schlag gegen die Stirn …

Ein rasch wieder schwindendes Ohnmachtsgefühl … Ich sinke wieder mit vollgepumpten Lungen in die Tiefe …

Die Dunkelheit nimmt mich dann schützend auf. Es regnet stärker. Boote mit Laternen beleben den Hafen. Die Verfolger sind hinter mir her. Warm rieselt es mir von der linken Schläfe herab. Der Streifschuß kann doch nicht so ganz harmlos sein. Meine Kräfte schwinden. Ich muß Pausen machen. Und das schlimmste: ich habe die Richtung verloren! Ich bin fraglos längst an unserem Kutter vorüber …

Gevatter Tod streckt wieder einmal seine Knochenhände nach mir aus. Um Hilfe rufen?! Eins der Boote herbeilocken?! Und dann?! Soll ich verraten, daß ich Gerdas wegen zum Fünfmaster schwamm …?!

Wo ist der Kutter?! Alles Umherspähen nützt nichts … Die Regenschleier haben alles verschluckt … Und der Regen ist jetzt eisig – zum Glück … Die Luft hat sich abgekühlt. Temperaturstürze von zwanzig Grad sind in dieser schönen Gegend nichts Seltenes.

Ich sehe jetzt nur noch Regen … Regen …

[83] Werde matter und matter … Sollte diese Feuertaufe meine erste und letzte bleiben?! Ersaufen – – wie ein angeschweißter Hund?!

Ich biß die Zähne zusammen …

Zum Teufel, bin ich nicht Olaf Karl Abelsen, der bei den Streiktumulten am Jungfrautunnel hundert besoffene Italiener mit einem uralten Revolver auseinandertrieb!

Zähne zusammengebissen …! Oho – noch ist’s nicht so weit, Gevatter Knochenmann! Noch haben wir keine Muskelkrämpfe …

Aus der Finsternis vor mir löst sich ein schnell dahingleitender schmaler Kahn … drei Gestalten darin …

Ich will ausweichen … Will … Der Schlag der Bootsspitze gegen den Schädel gibt mir den Rest … Ich rufe, schlucke Wasser … Man packt mich, reißt mich empor … im letzten Moment. Ich sinke auf dem Boden des Kahnes zusammen … Ein dunkles Gesicht ist vor dem meinen … Das eines Indianers …

Mit letzter Kraft englisch gelallt: „Bringt mich zum Kutter Torstensen – hohe Belohnung!“ – und die Sinne schwinden mir für kurze Zeit.

Ich erwache, liege auf meinem Bett …

Jörnsen verbindet mir die Wunde. Boche Boche steht dabei …

„Du mußt dich schlafend stellen,“ befehlt der Alte. „Decke dich bis oben zu … Die Soldaten werden sofort hier sein …“

Und er zieht mir einen Ölhut über den Kopf …

„Boche Boche – über Bord mit der nassen Hose!! Schnell!! Dann hier die Nässe aufwischen – schnell!“

[84] Nun – die Pickelhauben ziehen bald wieder ab. Der schwedische Kutter erscheint ihnen harmlos. Ich habe geschnarcht, daß ein Tierstimmenimitator mich um die Leistung beneidet hätte!

Der Kamerad meldet, daß die Luft wieder rein. „Wo warst du, Olaf?“ fügt er mißtrauisch hinzu.

„Gebadet habe ich … Wollte dann sehen, weshalb der Fünfmaster so hell erleuchtet war. – Waren es wirklich Rothäute, die mich an Bord brachten?“

„Ja, Olaf … drei. Sie hatten so allerhand mit Jörnsen zu flüstern. Sie waren auf dem Wege hier zum Kutter, als sie dich auffischten. Der Alte war wütend, weil ich merkte, daß er mit den drei Kerlen Palaver abhielt. Ich wette, wir sind nur deshalb hier eingelaufen, weil Jörnsen mit den Indianern sich treffen wollte. Mir macht er nichts vor.“

Er lehnte am Tischchen, und seine grauen Augen tasteten mein Gesicht ab …

„Also ein Bad … so, so …! Ein Bad, Olaf. Sag’ mal, wie bist du mit einem Male zu dem Bilde unter deinem Kopfkissen gekommen. Als ich dich auf dein Bett legte, entdeckte ich es … Bisher hattest du kein solches Bild im Bernsteinrahmen.“

Er hätte ahnen sollen, daß mir das andere Bild in Jörnsens Kajüte weit wichtiger war!

„Bücke dich …“ Ich flüsterte … „Es ist ein Jugendbildnis von mir, Kamerad. Nur dir vertraue ich’s an: es war heimlicher Besuch an Bord …“ – Ich erzählte …

„… Ja, Kamerad, – auch der Name meiner Retterin fiel mir plötzlich ein – meiner Jugendgespielin … Dir bedeutet er nichts, mir [85] die einzigen frohen Stunden meiner Vergangenheit – Gerda Arnstör war …“

Seine vornübergeneigte Gestalt schnellte hoch. Ein heiserer Schrei kam über seine Lippen … Sein Gesicht war grauenerregend verzerrt. Dann sank er nach vorn – sank ohnmächtig über mein Bett. Sein Kopf schlug auf meine Brust. Im Nu war ich auf den Beinen, flößte ihm Kaffee ein, rieb seine Schläfen. Nichts half. Da lief ich nach achtern, pochte an das Oberlichtfenster …

„Käpten, Boche Boche ist umgekippt!“ rief ich. „Bitte – – Rum!!“

Der Alte erschien sofort, begleitete mich …

Wir mühten uns um den Bewußtlosen.

„Wie ist das gekommen?“ fragte der Alte und goß Boche Boche einen neuen Löffel Rum in den Mund.

„Ohne jede äußere Ursache … Viel los ist mit dem armen Kerl ja überhaupt nicht … Ein Kopfschuß bleibt ein Denkzettel fürs Leben … Ich berichtete ihm von meiner Schwimmtour zum Fünfmaster, dessen Lichter mich lockten – – Neugier! Und mit einem Male klappte er um!“

Boche Boche regte sich. Wenige Minuten später war er wieder bei Kräften, bat um eine Zigarre, bedankte sich bei uns und meinte achselzuckend: „Das ist mir schon häufiger passiert … Man gewöhnt sich daran … Die Hitze vorhin mag schuld daran gewesen sein …“

Jörnsen packte am Tische die kleine Schiffsapotheke wieder zusammen. Sein Gesicht hatte bereits von neuem denselben ablehnend-verschlossenen Ausdruck angenommen, den wir nun bereits zur Genüge an ihm kannten. Es wurde mir daher auch nicht ganz leicht, hier nun die günstige [86] Gelegenheit zu benutzen und ihm vorzuschlagen, Boche Boche und mich weiter auf dem Torstensen zu behalten.

„Käpten,“ begann ich ohne jede Einleitung, „ich habe mir’s überlegt … – Ich – und wohl auch mein Kamerad – wären bereit, weiterhin an Bord zu bleiben, wenn Sie das Geschehene vergessen wollen und wenn wir dagegen versprechen würden, den seinerzeit vereinbarten Vertrag genau zu befolgen.“

Boche Boche warf mir einen erstaunten Blick zu. Der Alte aber, dem es nicht entgangen war, daß ich das doch eigentlich recht unpassende bisherige „Du“ in das formellere, höflichere „Sie“ verwandelt hatte, klappte die kofferähnliche Apothekentasche geräuschvoll zu, faßte in die Jacke und holte jenen Büttenpapierzettel hervor, den ich damals in dem verwitterten Schmöker gefunden hatte. Mit Betonung einzelner Stellen las er vor:

Da ich Leute von Energie, Mut und rücksichtslosem Draufgängertum brauche, könnten Sie mich gegen entsprechende Bezahlung auf dem Kutter längere Zeit begleiten. Mein Vorhaben wird Sie in keiner Weise mit den Gesetzen in Konflikt bringen. Anderseits ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß Sie gezwungen sind, für meine Interessen Ihr Leben in die Schanze zu schlagen. Ich habe mit Gegnern zu rechnen, die sich außerhalb von Gesetz und Recht gestellt haben, und im Falle eines Zusammenstoßes mit diesen Leuten müßte ich darauf rechnen können, daß Sie mir auch in diesem Punkte unbedingt gehorchen. Einzelheiten unseres Abkommens bleiben einer mündlichen Festlegung vorbehalten.

[87] Nun, uns war der Inhalt dieses Blattes noch durchaus geläufig, und Boche Boche meinte daher auch nur nebenbei: „Wissen wir alles, Käpten … Wissen auch, daß wir nichts fragen dürfen, daß jeder nachher fünfzigtausend Kronen erhalten soll und daß es nicht um Goldgräberei geht, – falls du, was den letzten Punkt betrifft, nicht geschwindelt hast, – entschuldige die Offenheit.“

„Es geht nicht um Goldgräberei …“ erklärte Jörnsen sehr ernst, indem er das Wort an mich richtete. „Du hast mich soeben mit Sie angeredet, Abelsen. Wir wollen bei dem bisherigen Du bleiben. Wir haben uns daran gewöhnt, und ob Sie oder du – wir wissen, was wir voneinander zu halten haben …“

„Und ob!“ murmelte Boche Boche.

Jörnsen zog sich einen Schemel an den Tisch und nahm seinen Füllfederhalter zur Hand.

„Ihr könnt bleiben … Es wäre mir sogar lieb, wenn ihr bliebet … Ihr gefallt mir. Ich werde jedem von euch sofort 25 000 Kronen auszahlen. Ihr quittiert darüber auf dem Vertrag hier, den ihr dann gleichzeitig unterschrieben habt. Nur eins noch: spioniert ihr mir irgendwie nach oder unternehmt ihr irgend etwas ohne meine Einwilligung, so seid ihr sofort entlassen, ganz gleich, wo wir uns gerade befinden – – sofort![7]“ Sein Blick traf mich … „Deine Schwimmtour, Abelsen, hätte mir böse Scherereien bereiten können … Derartiges hat zu unterbleiben.“

Boche Boche lachte halblaut … „Na, deine drei indianischen Vertrauten sind ja noch rechtzeitig wieder verduftet, Käpten … Araukaner waren’s, Käpten … Habe hier in der Nähe ein halbes [88] Jahr auf einer Schaffarm gearbeitet … Kenne die Brüder … Sind unruhige Untertanen für Chile und Argentinien …“

Jörnsen hörte scheinbar gar nicht hin …

„Wollt ihr also unterschreiben?“

„Ja,“ erwiderte ich ohne Zögern.

„Langsam …!“ meinte Boche Boche dagegen. „Sag’ mal, Jörnsen, um mit dir als Mensch und nicht als Kapitän zu sprechen – würdest du einen solchen Vertrag unterzeichnen, wenn du wie wir nun bereits wochenlang hier mit ansehen müssen, daß die Rätsel, die deine Person umgeben, immer unlösbarer werden?“

Der Alte schraubte den Füllfederhalter auf, und dabei bewunderte ich abermals seine Hände, – entgegnete gleichmütig:

„Entweder schätzt ihr mich als Verbrecher oder als anständigen Menschen ein … In ersterem Falle würde ich nicht unterzeichnen, im zweiten Falle ohne jedes Bedenken.“

„Du bist schwer zu fassen, Käpten … Her mit der Feder … Nur – das Geld bewahre für uns noch auf … Was sollen wir damit … Bei dir ist es sicherer …“ So sprach Boche Boche.

Und so blieb’s …: wir blieben!

Jörnsen gab uns die Hand. „Ihr werdet’s nie bereuen! Gute Nacht! Und du, Boche Boche, – laß meine Frau in Ruhe … Wenn sie auch nicht gerade viel auf ihr Äußeres gibt: sie steht ihren Mann, wenn ich mich so ausdrücken darf. Das wißt ihr beide … Ihr habt auch eure Fehler … Jeder hat sie … Gute Nacht …“

Eine ungewöhnliche Weichheit, fast Zärtlichkeit klang durch die letzten Sätze …

[89] Schweren Schrittes stampfte er die Treppe nach oben. Wir waren allein …

Mein Kamerad hockte auf dem Rand seines Bettes … Als des Alten Schritte oben an Deck verklungen waren, flüsterte Boche Boche in seltsam müdem Tone: „Gott sei Dank …! Nun brauche ich nicht länger zu heucheln …“ Er schaute mich an … In seinen grauen Augen war wieder derselbe Ausdruck verzweifelter Schwermut wie so oft, wenn er mit den finsteren Gewalten kämpfte, die sein Hirn in Fesseln hielten. „Olaf, Olaf, … weißt du, weshalb ich vorhin wie ein hysterisches Weib umsank? Olaf – ich habe ja gelogen … Noch nie ist’s mir passiert … Aber der Name, den du aussprachst, der Name deiner Jugendgespielin – – der warf mich um … Erinnere dich an den Gesang und das Gitarrespiel. Damals sagte ich dir, daß in meinem kranken Hirn ein Bild aufblitzte und rasch wieder erlosch … Olaf, – – so war’s wieder, als der Name über deine Lippen kam … Der traf mich wie ein Hieb … Rote Glut sprühte mir vor den Augen … Es schien, als wollte der Riegel der Tür des Vergessenen zurückspringen … Aber – dann kam die Nacht der Bewußtlosigkeit!“ Er schrie das letzte … Bohrte die Fäuste in die Augenhöhlen … „Olaf, – – und jetzt … jetzt … weiß ich den Namen nicht mehr … Nein – – er ist wieder weggewischt … Olaf – der Name – – der!! Ich kannte ihn … Ich muß deine Jugendgespielin kennen … – Mein Gott, was leide ich …!!“

Ich setzte mich neben ihn … Legte ihm den Arm um die Schultern …

„Soll ich dir den Namen nochmals nennen?“

[90] Er fuhr hoch …

„Nein – – nein!! Nur das nicht! Nur nicht diese trügerischen Erwartungen immer aufs neue durchmachen, daß das Einst in mir wieder aufleben könnte … Nur nicht diese höhnischen Winke eines erbarmungslosen Geschickes, als ob es je mit mir besser werden würde …!“

Ich fühlte, wie er zitterte. Ich hatte ihn wieder auf den Bettrand zurückgezwungen.

Wollte ein tröstendes Wort anbringen …

Eine leise Erschütterung ging durch den Kutter. Ein Stoß … Als ob ein Boot angelegt hätte.

Mein Kamerad war im Augenblick wieder Mann … Sein Gesicht spannte sich … Wir lauschten …

„Es kann vielleicht ein Militärboot sein,“ raunte er mir zu … „Lege dich nieder – schnell! Hier ist die Ölkappe … Rasch … Es ist ein Boot …“

Ich war schon auf meinem Bett …

Boche Boche schraubte die Lampe kleiner …

Dann vom Heck her ein merkwürdiger Laut.

Huschende Füße über uns …

Auf der engen Treppe drei, vier Gestalten …

Matrosen … Neger …

Eine Menschenwelle quoll herein …

Ein riesiger Schwarzer im blauen Heizeranzug holte mit einer dicken Eisenstange aus … Boche Boche wich zurück … Seine Faust traf die Lampe …

Finsternis …

Und da – – eine Hand auf meinem Gesicht. Eine weiche Stimme … dicht an meinem Ohr …

„Kommen Sie – –“

Das weitere verstand ich nicht …

[91] Dieselbe Hand zerrte mich näher an die Wand, an der mein Bett stand. In den starken Brettern war ein längliches, niederes Loch – eine Tür – nie geahnt bisher – eine Klappe …

Die Hand ließ mich nicht los …

Die Angreifer fluchten im Finstern … Ein Zündholz flammte auf …

Sollte ich Boche Boche im Stiche lassen?!

Die weiche Stimme wieder: Gerda! …

„Wollen Sie alles verderben, Olaf …?! Es sind die Meuterer vom Fünfmaster … Schnell!“

Ich rutschte durch die Öffnung hindurch …

Holz knirschte … Die Tür war wieder zugedrückt worden …

Die kühle schmale Hand geleitete mich weiter – aus der engen Segelkammer in den Vorratsraum der Kombüse – im Dunkeln … Dann hinein in ein Gelaß, durch einen ganz engen Eingang – im Dunkeln …

Holz knirschte … Metall klappte: Riegel …

Ich stand dicht neben Gerda Arnstör … Ihr Atem schlug mir ins Gesicht …

„Sie werden uns hier nicht finden … – Da – – die Anker gehen hoch … Der Motor springt an … Es sind die Meuterer, Olaf …“

Ich horchte … Ich schämte mich …

„Gerda, ich habe Boche Boche diesen Schuften überlassen …“

„Sollten wir alle sterben?! Vielleicht töten sie ihn nicht …“

Mit einem Male lehnte sie an meiner Brust. Ihre Nerven versagten …

„Es … war … entsetzlich, Olaf …“ – und ihr Schluchzen ging in ein leises Weinen über.

Im Dunkeln …

[92] Sie – an meiner Brust … Gerda Arnstör …

Mein Arm stützte sie …

Im Dunkeln …

Wie ein Liebespaar standen wir …

„Was war entsetzlich, Gerda?“

Der Kutter schwankte …

Sie antwortete nicht …

Der Motor raste …

Der Kutter bebte … Wasser klatschte gegen die Bordwände …

Von oben das Kreischen des laufenden Tauwerks … Die Kerle setzten Segel …

„Was war entsetzlich, Gerda?“

Wieder keine Antwort … Nur ein leises Weinen … Wimmern …

Dann ein schwaches: „Fragen Sie nichts, Olaf. Fragen Sie nichts … Ich bitte Sie … Ich werde sprechen, wenn es Zeit ist …“

Nichts fragen!! – Genau wie Jörnsen … Und Gerda Arnstör war hier doch Gegenpartei! Wie[8] kam sie wieder auf den Kutter?!

Über uns das Trappeln zahlreicher Füße …

Der Kutter lag schräg. Wir mußten bereits auf offener See sein, wo die Sandberge von Punta Garras den Wind nicht mehr abfingen …

Auf Deck wurde es immer lebhafter. Jetzt brauchten die Meuterer, die sich des Torstensen so überraschend bemächtigt hatten, ihre Stimmen nicht mehr zu dämpfen … Die Regenfinsternis machte jede Verfolgung unmöglich … Zumal unser Kutter kaum einzuholen war.

Der Lärm von wilden Stimmen, gebrüllten Zurufen ließ Gerda leicht erbeben …

[93] Dann stürmte ein Teil der farbigen Piraten nebenan in die Kombüse, in den Vorratsraum … Flaschen klirrten … Gejohle … Unsere Rumvorräte, – – wenn die Horde sich nur bis zur Bewußtlosigkeit besaufen wollte!!

„Olaf …!“

„Gerda?“

„Du hast also das Bild erkannt?“

Du – – du … – wie einst, als sie mir die wenigen glücklichen Stunden meiner Kindheit schenkte …

„Ja, Gerda, und das Bild verriet mir, wer mich im Auto nach Trelleborg gebracht hatte: du!“ Ich drückte sie sanft an mich … „Ich danke dir, Gerda …“

Nebenan knallten Pfropfen … johlten die Schwarzen, feierten Sieg, Freiheit …




9. Kapitel.
Drei Tage.

… War keine lange Feier. War da plötzlich eine herrische Stimme, die fraglos einem Europäer gehörte. Eine Stimme, schrill und schneidend, so voller wildestem Drohen, daß Gerda noch stärker zitterte.

Englische Worte prasselten auf die Säufer herab … Nicht alles verstand ich …

[94] Ein tierisches Geheul kündete Rebellion gegen den Führer …

Schüsse folgten …

Körper krachten zu Boden. Gläser, Flaschen splitterten … Angstgebrüll derer, die nun von den Getreuen dieses Meutererkapitäns nach oben geschleift wurden und in die See flogen …

Der Mann fackelte nicht lange. So weit ich aus Zurufen und einzelnen Worten entnahm, hatte er vier erschossen und drei Ozeanwasser schlucken lassen.

Schade – ein anderer Ausgang wäre mir lieber gewesen. Dieser Mensch da, der nun den Torstensen kommandierte, war kein zu verachtender Gegner. Ich würde mit ihm ein schweres Spiel haben … Nun – abwarten …! Die Hauptsache, man würde uns hier nicht entdecken, denn daß dieses Gelaß so geschickt in den Kutter eingebaut war, daß nicht einmal die Zöllner in Panama und die Soldaten in Punta Garras es gefunden hatten, wußte ich: es war der geheime Raum, den ich längst vermutet hatte, Jörnsens Waffenkammer … Meine Linke war vorhin an der Wand entlanggefahren und hatte da die Kolben von sechs in Gestellen festgeklemmten Büchsen berührt. –

In der Kombüse wurde es nun still. Man hatte auch die Leichen der Erschossenen weggeschafft. Auch Gerda war ruhiger geworden. „Ich werde ein Zündholz anreiben … Wir müssen vor die Tür eine Decke hängen …“ – das Flämmchen flackerte … Ich schaute mich um. Der kleine Raum war etwa drei Meter lang und anderthalb Meter breit. Außer zwölf Büchsen sah ich noch verschiedene Kisten am [95] Boden stehen, die sämtlich durch Gleitleisten vor dem Rutschen gesichert waren.

Das Hölzchen erlosch. – „In der gelben Kiste sind zwei kleine Scheinwerfer und eine Menge Taschenlampen und Batterien, Olaf … Ich werde ein zweites Hölzchen anreiben … Öffne die Kiste … Ich habe auch dies schon ausspioniert! Ich weiß an Bord gut Bescheid …“

„Du warst, nachdem wir uns gesprochen hatten, gar nicht auf den Fünfmaster zurückgekehrt?“

„Nein …“

Das Hölzchen knisterte. Ein Blick über Gerdas Gestalt … Sie trug über dem Badeanzug einen Ölmantel – nichts weiter … Ihre Füße waren nackt…

Ich bückte mich. Rasch hatte ich aus der gelben Kiste eine der Taschenlampen herausgesucht, eine Batterie hineingeschoben und die Lampe eingeschaltet …

„Dort liegt die Decke, Olaf … Vielleicht hat sie Ringe zum Aufhängen … Hier sind die Umrisse der unsichtbaren Tür … Oben vier Haken …“

Die dicke schwere Decke hatte Ringe. Sie hing nun glatt herab.

Gerda setzte sich nun matt auf die nächste Kiste.

„Olaf, vielleicht findest du etwas Trinkbares. Ich fühle mich so elend …“

Ich fand: Kognak – zwölf Flaschen, auch Konservenbüchsen, und hinter der größten Kiste eine kleine Zinktonne mit einem Messinghahn: Trinkwasser! –, auch Aluminiumbecher, ein paar Bestecke, vieles andere, zum Beispiel sechs Mauserpistolen mit überreichlich Munition.

[96] Mein verrostetes Taschenmesser hatte einen Korkenzieher. Ganz langsam öffnete ich eine der Kognakflaschen, wie ich mich überhaupt aufs vorsichtigste bewegte, denn jetzt waren ein paar der Feinde auf der anderen Seite im großen Laderaum zu hören. Wahrscheinlich suchten sie Proviant.

Gerda trank in kleinen Schlucken. Ich hatte mich neben sie gesetzt und die Lampe auf den Gewehrständer gelegt und die Linse mit einem Fetzen Papier umhüllt, damit der Lichtschein gedämpft würde.

„Das Schicksal treibt ein merkwürdiges Spiel mit uns,“ sagte ich flüsternd aus tiefem Sinnen heraus.

Gerda reichte mir den Becher … „Trink’ aus, Olaf … – Wir selbst sind unser Schicksal. Wer sich vom Leben treiben läßt, ist ein Schwächling. Du bist es nicht, Olaf, und ich auch nicht … Wir sind beide durch eine harte Schule gegangen.“

„Was weiß ich von dir, Gerda, – nichts! Aus dem lieben kleinen Mädel ist eine junge Dame geworden … Achtzehn Jahre, Gerda, fast zwei Jahrzehnte … Nein, ich kenne deine Lebensschule nicht. Und ich darf nicht fragen …“

Ich trank. Der Kognak duftete. Und Feuer rann mir ins Blut …

Gerda saß da, die Unterarme auf den Knien, den Kopf gesenkt und schwieg. Ich sollte nicht fragen. Das war Unnatur …

„Gerda!“

„Olaf?“ Sie schaute vor sich hin …

„Begreifst du nicht, daß unsere Lage gegenseitige Offenheit verlangt?“

„Gewiß … – Wir werden den Kutter zurückerobern … Was ich beantworten darf, was [97] also mit dem zusammenhängt, worauf unsere ferneren Pläne abzielen, werde ich beantworten. Wenn du Schweigen gelobt hättest, würdest du dein Wort brechen?“

Nebenan wurde es immer lebhafter. Auch in der Kombüse schien nun ein neuer Koch mit einem Gehilfen eingezogen zu sein. Geschirr klapperte. Ein Kerl, der als Kunstpfeifer hätte auftreten können, pfiff einen Foxtrott. Im Laderaum kreischten die Nägel der Kistendeckel.

Ob ich mein Wort brechen würde? – Ich sah die Szene wieder vor mir, wie Holger Jörnsen mir mit der Pistole das Versprechen abgezwungen hatte, nichts von dem Kabinettbild zu erwähnen.

„Allerdings nicht, Gerda … Es muß etwas geben, das für jeden anständigen Menschen wie ein Schwur ist. Ich werde nichts fragen, obwohl mir unendlich viel geradezu unbegreiflich bleibt. Was tatest du auf dem Fünfmaster? Wie kamst du nach Punta Garras? – Das sind keine Fragen, Gerda … Mir wird der Kopf wirr, wenn ich zu denken beginne. Jörnsen hat uns schon Rätsel aufgegeben. Du bist ein ganzes Rätselbuch, – so würde Boche Boche sich vielleicht ausdrücken. Kamerad! Wenn sie ihn umgebracht haben, dann gnade ihnen Gott! Gerade er hätte es verdient, noch einmal glücklichere Tage zu sehen. Kennst du sein trostloses Geschick?“

„Ja … Seit dieser Nacht … Das Ehepaar Jörnsen sprach über ihn. Sein Gedächtnis ist tot. Für manchen wäre das ein Glück, Olaf.“

„Für dich?“

Ich sah ihr schwach beleuchtetes Profil, ihr schmerzliches Lächeln. „Vielleicht … vielleicht … Wenn man in die Zukunft schauen könnte, würde [98] ich dir bestimmter antworten. Die nächsten Wochen bringen die Entscheidung … – Wie vergnügt der Neger pfeift …! Es ist ein Neger. Diese Wurstigkeit gegenüber dem, was war, und dem, was kommen mag, bringt nur ein Nigger auf. Sie sind wie Kinder – grausame Kinder … Heute mittag wären sie gehängt worden, die ganzen fünfundzwanzig Farbigen vom „Pierpont Morgan“. Sie hatten den Kapitän und die Schiffsoffiziere erwürgt und eine Schaffarm geplündert.“

„Und du warst mit dabei?“

Keine Antwort. Sie gähnte nur.

„Du bist müde, Gerda …“

„Sehr müde …“

„Wenn wir nur ein paar Decken hätten. Du kannst doch nicht auf den bloßen Dielen schlafen. Lege dir wenigstens hier meine Jacke unter. Vielleicht kann ich uns nachher eine Decke stehlen, wenn die Kerle zur Ruhe gekommen sind …“

Sie nahm meine Jacke mit Dank an, rollte sie als Kopfkissen zusammen und streckte sich zwischen den Kisten aus. So wurde ich Wächter ihres tiefen Erschöpfungsschlafes, so saß ich stundenlang, selbst gegen die Müdigkeit verzweifelt ankämpfend, zuweilen auch flüchtig einnickend, sofort wieder aufschreckend.

Die kleine elektrische Lampe, deren Batterie sich rasch verbrauchte, glühte nur noch als mattes Pünktchen unter dem Papierfetzen. Es war dunkel um uns her. Draußen mußte es längst Tag sein. Aber ich hörte den Regen noch immer in schweren Tropfen auf das Deck klatschen. Der Torstensen bäumte sich zuweilen. Brecher kamen über Bord. Wind pfiff in der Takelage.

[99] Im Laderaum und in der Kombüse jetzt alles still. Die Meuterer hatten gegessen, waren wohl bis auf die Wachen in die Kojen gekrochen.

Ob ich’s wagte? – Es blieb ein gefährliches Spiel. Wurde ich außerhalb unseres Schlupfwinkels abgefaßt, – was würde dann aus Gerda?!

Dennoch: Gerda brauchte Kleidung, Schuhe, Strümpfe …

Ich erhob mich. Ich tappte zur Waffenkiste. Zwei Mauserpistolen, die Hosentasche voller Patronen: das war besser als eine halbe Flasche Kognak! Ich wollte wissen, was aus Boche Boche und den beiden Jörnsens geworden. Gerdas Andeutungen vorhin ließen vermuten, daß Jörnsens nicht mehr lebten. – Wie unbegreiflich Gerda war! Weshalb hatte sie mir nicht wenigstens über diesen Punkt Aufschluß gegeben?!

Ich schlich zur Tür. Betastete die beiden Riegel, hielt die Wolldecke hoch, schob die Riegel langsam zurück. Sie waren gut geölt. Dann zog ich die niedere kleine Tür, die sich so tadellos jedem unkundigen Auge verbarg, langsam auf. Meine Nerven meldeten sich nicht. Damals, als ich aus meiner Zelle ausgebrochen war und nach einer bangen, langen Stunde endlich bis oben auf das hohe Dach gekommen, hatte mein Herz gehüpft. Heute schlug es kaum merklich schneller.

Nur Handbreit zog ich die Tür auf. Ein Blick in den erleuchteten Vorratsraum hinein genügte. Vier lagen dort auf Decken, eng beieinander. Ihre Füße waren dicht vor mir. Ich schloß die Tür wieder. Die Decke fiel herab, und ich tastete mich zu der Kiste zurück.

[100] Schlechte Aussichten waren das. Meine Zuversicht, mit diesen Piraten irgendwie fertig zu werden, hatte einen argen Dämpfer erhalten. Ich saß und grübelte. Wenn Wind und Wellen einmal schwiegen, hörte ich Gerdas leise regelmäßige Atemzüge.

Grübelte … Wie sollte das werden?! Hier in einem Loch eingesperrt mit einer jungen Dame, – kein Badezimmer nebst Zubehör, wohin man sich zurückziehen kann, wenn einem danach zumute ist. Gerda war gewiß nicht prüde. Aber es gibt nun einmal Dinge, die allzu menschlich sind und die man nicht gern in Gegenwart anderer erledigt.

So kam mir erst jetzt allmählich zum Bewußtsein, daß unsere Lage Widerwärtigkeiten barg, die selbst das größte Taktgefühl nicht ausschalten konnte. Ja – wenn wir Wolldecken gehabt hätten. Dann hätte ich den engen Raum teilen können …

Wolldecken …!

Ein Gedanke reiht sich an den andern. Sollte Holger Jörnsen, der sich den Torstensen doch nach seinen Wünschen hatte bauen lassen, dieses Versteck wirklich nur mit einer Tür versehen haben?! Mit einer Tür war’s eine Mausefalle.

Holla – suchen wir die zweite Tür! Vielleicht … vielleicht …!

Und ich hole eine zweite Batterie für die verbrauchte. Gerda schläft. Gerda wird ja auch wohl schon an das fehlende Badezimmer gedacht haben. Trotzdem – sie schläft … Es ist genug, daß eine jede Stunde ihre eigene Plage hat – – stimmt!

Ich leuchte die andere Längswand ab, die nach dem Laderaum hin. Schöne dicke Bretter, dunkel gebeizt, die Ritzen mit Leisten übernagelt, [101] alles sehr solide. So komme ich in die Ecke, wo der Wasserkessel steht, bin über Gerda behutsam hinweggestiegen.

Also doch! Kein Vielleicht mehr! Ich habe die zweite Tür … Die beiden Riegel auch hier geölt. Ich muß den Wasserkessel etwas beiseite schieben … So … Spähe in den finsteren weiten Raum hinein, habe die Lampe mit der Hand bedeckt. – Die Großluke ist geschlossen. Ich bin vor unliebsamen Überraschungen sicher. An Deck ist alles still.

Ich kenne den Laderaum genau. Brauche nicht viel Licht. Eine Schande, wie das Gesindel hier gehaust hat. Wir hatten auf peinliche Ordnung gehalten. Jetzt sah es hier wie in einer Rumpelkammer aus. Dort links hinter den Konservenkisten lag ein Bündel Decken. Ist noch vorhanden.

Ich wähle mit Bedacht, was ich mitnehmen muß. Auch die Badezimmerfrage wird für mich gelöst – vorläufig. Ich verschwinde durch die Luke in den niederen Kielraum, wo die trockenen Ballastsäcke liegen. Der Torstensen ist dicht wie eine neue Blechdose. Saugt kein Tröpflein Wasser. Als ich wieder nach oben steige, pralle ich zurück. Gerda sitzt auf einer flachen Kiste und zieht dicke wollene Socken an, nickt mir zu. Wir schleppen gemeinsam unsere Schätze in die Kammer, und dann zieht Gerda sich für kurze Zeit in den Kielraum zurück.

Wir sind nun wieder „daheim“. Essen, trinken Wasser mit Kognak, sprechen flüsternd.

„Wußtest du von der zweiten Tür?“

„Ja … Ich hatte nur nicht daran gedacht, Olaf …“

„Du hast dann hier gründlich spioniert …“

[102] „Stimmt … Das mußte ich wohl.“

Rätsel …

Eine Frage drängt sich mir auf die Lippen. Ich verschlucke sie schnell wieder …

„Jetzt wirst du schlafen, Olaf …“

Weiß Gott – müde genug war ich!

Gerda erneuerte dann noch meinen Stirnverband – ohne viel Worte …

„Du warst ungeheuer leichtsinnig.“ – Das war so ziemlich alles …

„Dein Geschenk war daran schuld,“ erlaubte ich mir ihr einen kleinen Hieb zu versetzen.

Sie schweigt. Ich schlafe ein …

So begann unser dreitägiges Leben ganz abseits vom Alltagswege. Drei volle Tage … Im engen Raum mit der Jugendgespielin, die ein reizendes junges Weib geworden. Und Mann und Weib in dieser erzwungenen Gemeinschaft, beide jung, – eine Gemeinschaft mit tausend intimen kleinen Beziehungen. Ich hatte mich für alle Zeit gewappnet geglaubt gegen das unnennbare Fluid der Weibesnähe. Man täuscht sich über sich selbst am meisten. Es gab Augenblicke, in denen die Liebe mir zusetzte wie einem brünstigen Tiere. Gerdas gleichmäßige Freundlichkeit war der kühlende Wasserstrahl.

Drei Tage ohne jede Aussicht, den Schuften da oben einen Streich spielen zu können, ohne Licht und Sonne, mit heimlichen Gängen in den Kielraum, mit mancherlei, das ich hier nur angedeutet habe.

Es war eine Gefangenschaft unter Begleitumständen, die an den Nerven zerrten. Es war nicht die Nähe des Weibes allein, das ich in dieser kurzen Spanne Zeit lieben gelernt – vielleicht war [103] es auch eine Liebe, die in den Jugendtagen unbewußt bereits in mir geschlummert hatte und die sich dem Manne nur als größte und stärkste Offenbarung zeigte, – es war nicht nur das Peinliche mancher Situationen, sondern ebenso sehr die stete Gefahr, die dieser Kerkerhaft den Reiz eines dauernd verabfolgten starken Aufpeitschungsmittels verlieh. Es war fraglos in seiner Art das Abenteuerlichste, Seltsamste, Ungewöhnlichste, das mir je begegnet ist. Ein Abenteuer braucht nicht lediglich Sensation zu sein, auch komische Züge, lächerliche Einzelheiten vervollständigten hier das Empfinden, vollkommen abseits vom Alltag zu stehen, vom Schicksal hineingepflanzt zu sein in eine wunderliche Welt krassester Gegensätze. Wie oft waren wir, wenn wir den Laderaum aufsuchten, ganz nahe daran erwischt zu werden. Einmal haben Gerda und ich volle vier Stunden im Kielraum im äußersten Winkel hinter zwei Ballastsäcken gekauert, während die Meuterer (es waren zumeist Mulatten, Neger und nur wenige Mestizen, im ganzen schätzungsweise fünfzehn Mann) den Laderaum aufs genaueste durchstöberten und jede Kiste aufbrachen, – meine Schuld, denn ich hatte aus bestimmten Gründen unten im Kielraum eine große Flasche Lysol über die Säcke verspritzt, und dieser scharfe Geruch hatte den Verdacht der Piraten erregt, von denen sich keiner dazu bekannte, die Lysolflasche zertrümmert zu haben. In jenen Stunden war die Gefahr des Entdecktwerdens[9] für uns sehr oft scheinbar nicht mehr abzuwenden, und sowohl Gerda als auch ich hielten unsere Pistolen jeden Moment schußbereit, denn lebend wollten wir diesen Burschen nicht in die Hände fallen. Wir hätten unser bißchen Leben freilich [104] nicht gutwillig hergegeben. Nun – auch das ging vorüber … – Es war nur eine Episode von vielen ähnlichen. – Und dann: die Komik! Da war zunächst der Negerkoch, der Kunstpfeifer. Samuel wurde er genannt. Sein Repertoir umfaßte alle modernen Gassenhauer. Morgens begann er mit dem Sternenbannermarsch von Sousa, dann folgten Tänze … Und niemals änderte er sein Programm. Wir wußten schon am zweiten Tage genau, zu welcher Stunde uns dieser oder jener Kunstgenuß bevorstand. – Samuels Gehilfe war ein Niggerboy namens Manuel. Oft genug habe ich die beiden belauscht, indem ich die Tür nach der Vorratskammer neben der Kombüse vorsichtig ein wenig öffnete. Samuel hatte diverse Rumflaschen heimlich beiseite geschafft, und jeden Abend nahm er seinen Schlaftrunk, während er mit Manuel Halma spielte – tatsächlich Halma. Die Unterhaltung der beiden war köstlich – leider aber für uns insofern ohne Belang, da niemals ein Wort über das Schicksal des Ehepaares Jörnsen und Boche Boches fiel. Nein – auch bei anderen Gelegenheiten, wenn ich die Besatzung belauschen konnte, erhielt ich nie den geringsten Aufschluß über diesen wichtigen Punkt. – Die Unterhaltung war köstlich … Samuel und Manuel schwelgten in phantastischen Zukunftshoffnungen über kolossale Reichtümer, die ihrer warteten. Aus ihren Reden ging hervor, daß die ganze Bande, den weißen Anführer einbegriffen, fest überzeugt war, irgendwo im Adelaide-Archipel eine Goldader von märchenhafter Ergiebigkeit zu finden.

Daß diese Hoffnung mit der Person Jörnsens irgendwie zusammenhing, war aus dem Gespräch gleichfalls zu entnehmen – leider aber nichts [105] darüber, ob Holger Jörnsen noch lebte. – Wie Samuel und Manuel sich ihr Leben als vielfache Millionäre ausmalten, war zum Lachkrämpfe bekommen … Selbst Gerda, die sehr unter dieser Haft litt, preßte mir häufig den Arm, wenn der Bengel Manuel ganz ernsthaft erklärte, er würde sich einen ganzen Harem … kaufen … kaufen! Sobald Samuels Nachttrunk dann zu wirken begann, begannen sich die schwarzen Gentlemen zu zanken, warfen sich gegenseitig Mogeln vor und machten derartigen Krach, daß die Deckwache erschien und den Bengel Manuel mit einem Tauende verdrosch … – Übrigens hatte dieses ganze Elitegesindel vor dem weißen Kapitano jetzt einen ungeheuren Respekt. Zweimal brüllte dieser Kerl dem Koch von Deck einen Befehl zu, – das war alles, was wir während dieser Zeit von ihm hörten.

Genug hiervon. Übergehen konnte ich diese Einzelheiten nicht. Noch weniger darf ich’s mit dem, was Gerda allein betrifft.

Gerda, – – fragen durfte ich nichts … Und sie?! Von Stunde zu Stunde hoffte ich, daß sie den geheimnisvollen Schleier, der sie umgab und den ich beständig spürte, wenigstens etwas lüften würde … Nichts geschah. Und doch: Kleinigkeiten gaben mir noch mehr zu raten! Als ich einmal aus einer trüben Stimmung heraus sehr ernst die Befürchtung äußerte, Boche Boche sei von den Schwarzen erschlagen worden, brach Gerda in Tränen aus und wimmerte kaum verständlich: „Dann … will … auch ich … sterben …!“ – „Du, Gerda, sterben …?! Boche Boche ist dir fremd, und die Jörnsens sind für dich Feinde, mithin auch eigentlich Boche Boche … [106] Ich verstehe dich nicht …“ – Schweigen ihrerseits … Sie beruhigte sich schnell. – Ein andermal wieder meinte ich, der Meutererkapitän müsse doch ein ganzer Kerl sein, wenn auch ein Lump. Da fuhr sie auf … „Der erbärmlichste Wicht ist’s – nie ein ganzer Kerl!!“ Und das mit einem Haß, der mich fast erschreckte. – „Kennst du ihn denn so genau, Gerda?“ – Ein Blick traf mich – ein Blick …!! Und – – nichts weiter, kein Wort … – – Dann wieder erwähnte ich meine flüchtige Begegnung mit dem Fremden mit dem scharfen Profil in Panama. Gerda nickte nur … Dieses Nicken konnte nur besagen, daß sie hiervon bereits unterrichtet war. – Rätsel – Rätsel … Unklarheiten … Widersprüche …! Ich kam mir vor wie ein Mensch, der sich in einem Irrgarten bewegt, den Ausgang sucht – wie ein Verzweifelter, und von einem schönen Phantom immer wieder in falsche Wege gelockt wird – – Wege, abseits vom Alltag! –

Drei Tage … – Woher wir’s wußten, daß es gerade drei Tage waren, wo wir doch weder einen Lichtstrahl der Sonne sahen noch eine Uhr besaßen, als diese Gefangenschaft begann?! – Nun, zunächst konnten wir Tag und Nacht daran unterscheiden, ob es auf dem Kutter lebhaft oder ruhig war, – daraus auch, daß Freund Samuel nachts sein Konzert einstellte – – und an anderen einfachen Beobachtungen. Dann aber hatten wir auch in der einen Kiste in unserem Versteck zwei Dutzend billige Nickeltaschenuhren nebst anderem Kleinkram gefunden, – sicherlich alles Geschenke, die für die unzivilisierten Bewohner des südlichsten Südamerikas bestimmt waren. Diese Taschenuhren waren nicht schlecht und leisteten uns gute Dienste.

[107] Drei Tage …

In der Nacht nach Ablauf des dritten Tages merkten wir, daß der Kutter offenbar in einen Kanal zwischen Inseln eingelaufen war. Der Torstensen fuhr nicht nur mit halber Kraft, sondern schwankte überhaupt nicht mehr. Das Klatschen der Wellen gegen Bug und Bordwand hatte völlig aufgehört. Es war etwa elf Uhr, als ich diese Beobachtung machte. Gerda schlief bereits, – Gerda in ihrem blauen Wollsweater mit rotem Rande, den blauen, hoch aufgekrempelten Seemannshosen, den wollenen Strümpfen und den Leinenschuhen, Größe 45 – kleinere waren nicht aufzutreiben gewesen … Das war ihr Kostüm jetzt. – Sie schlief … Und ich saß und horchte. Ich hatte berechnet, daß der Kutter in diesen drei Tagen, wenn er beständig südwärts gefahren, den von Samuel und Manuel so häufig erwähnten Adelaide-Archipel bereits erreicht haben konnte. Und ich zweifelte nicht, daß die Nigger irgendwie in Erfahrung gebracht hatten, daß diese Insel-Wildnis Holger Jörnsens Ziel gewesen.

Ich horchte … Ja, der Motor arbeitete nur mit zwei Zylindern. Und an Deck blieb es heute unruhig … Man lief dauernd hin und her. Kommandorufe … bisweilen Stoppen der Maschine, – vieles deutete darauf hin, daß der Torstensen sich in unbekanntem gefährlichen Fahrwasser bewegte.

Eine leichte Erregung bemächtigte sich meiner. Ich fühlte geradezu, daß irgendeine Entscheidung nahe bevorstand.

Diese Erregung hielt mich bis ein Uhr wach. Dann streckte ich mich auf meine Decken aus und schlummerte schließlich doch ein. Es war jetzt [108] empfindlich kühl in unserem Versteck. Die sonnigen Gefilde Chiles lagen hinter uns. Wir mußten uns in der Region der eisigen Nebel, der eisigen Regengüsse und der gelegentlichen Schneefälle befinden: Ultima Thule! – Ich hatte mir die Wolldecke bis über die Ohren gezogen, und vielleicht schlief ich gerade in dieser Nacht besonders fest … Leider …

Ich erwachte …

Dunkelheit … Neben mir liegt die Taschenlampe. – Ich setze mich aufrecht, schalte die Lampe ein … Ziehe die Uhr …

Acht Uhr morgens …

Wende den Kopf, will sehend ob Gerda schon munter …

Ihr Lager ist leer … Auf dem primitiven Kopfkissen (ein zusammengerolltes Segel) schimmert etwas Weißes …

Papier …

Ein besonderer Gedanke treibt mich hoch …

Auf dem Zettel, einem rauhen Stück Einwickelpapier, steht mit Bleistift:

Olaf, die Pflicht ruft mich. Wir werden uns wiedersehen. Und – – schweige!! – Gerda.




[109]
10. Kapitel.
Das große Schweigen.

Ich hatte das Papier in der Rechten, in der Linken die Taschenlampe. Meine Gedanken flattern, kommen langsam zur Ruhe.

Ruhe …

Stille … Ja – jetzt wird’s mir erst bewußt, wie unheimlich still es auf dem Torstensen geworden. Totenstill. Auch nicht das geringste Geräusch … Nichts … nichts … Totenstille, so qualvoll, wie die Nächte im Zuchthaus in der Einzelzelle, wo nur Wanzen und Flöhe meine Gefährten waren …

Unheimlich, diese Ruhe … Ich lausche, ich horche … Hitze kriecht mir in die Wangen, deren Stoppelbart mir so widerwärtig. Mein Herz beginnt zu hämmern … Und dieses dumpfe, rasche Pochen in der Brust ist der einzige Ton, der mein Ohr erreicht … Bis ein feines Klingen hinzukommt: mein Blut, – – Ohrensausen – Nerven!

Das Hitzegefühl weicht plötzlich eisigen Schauern …

Bitterkalt ist’s in der Kammer. Ich sehe den Hauch meines Mundes, den stoßweisen Atem …

Dann nochmals ein Blick auf den Zettel …

… Pflicht ruft …! – Pflicht ruft …?! Welche – – wohin?!

Ich komme mir ohne Gerda so grenzenlos verlassen vor … Empfinde es nur zu deutlich …

[110] Bin ich noch Olaf Karl Abelsen, ein ganzer Kerl?! Hat Weibesnähe mir das Innerste verwandelt?! Hat Jörnsen, selbst ein ganzer Kerl, mich mal zu Unrecht so bezeichnet?!

Kognak her …!! Diese Stille macht mich verrückt …

Ich saufe – auf nüchternen Magen einen ganzen Aluminiumbecher …

Oho – das sengt und brennt … Das ist das Wunderelixier der Starken, wenn sie mal schwach werden …

Oho – – ich werde bald wissen, was auf dem Torstensen los ist! Dort liegen meine beiden Pistolen …

Dann – Vorhang hoch, Tür nach dem Vorratsraum auf …

Leise …!! Die Stille kann auch eine Falle sein …

Die Vorratskammer ist leer, die Tür zur Kombüse steht weit offen … Da sitzt der Neger Samuel neben dem Herde, schläft, den Kopf auf die Brust gesunken, die Arme schlaff herabhängend … Und dort hockt in der Ecke neben der Treppe der Bengel Manuel – – schläft …

Schlafen sie wirklich?!

Ihre Körperhaltung macht mich mißtrauisch. Meine Augen werden kritischer …

Ich sehe, daß Samuel das Maul halb offen hat, daß die Zunge über die Unterlippe hinabhängt … Und – – diese Augen?! Diese verdrehten Pupillen?!

Vorhin war ich noch … betrunken …

Jetzt nach Sekunden bin ich entsetzlich nüchtern.

Samuel und Manuel sind tot …

[111] Und von oben durch den Niedergang fällt düstere Helle auf diese entstellten Gesichter, die sich im Tode schmutzig-grau verfärbt haben.

Ich hole tief Atem … Feine Schweißperlen treten mir auf die Stirn …

Ein unnennbares Grauen beschleicht mich …

Diese Totenstille im Schiff …

Stille der Toten …

Wirklich – sollte hier das Ungeheuerliche geschehen sein …?!

Gewißheit will ich haben …

Drei Schritte – noch vier die Treppe hinan …

Ein Blick über das Deck …

Ich taumele zurück …

Gerade vor mir am Fuße des Hauptmastes drei verkrümmte Leichen …

Leichen überall …

Aschgraue verzerrte Züge … verdrehte Augen …

Nur Tote …

Ein Bild, das noch einen Becher Kognak erfordert …

Ich lehne am taufeuchten Schiebedeckel des kleinen Aufbaus, und meine Augen flüchten vor diesem Gemälde des Grauens in die Ferne … Trüber Himmel über einem schmalen Kanal zwischen zerklüfteten kahlen Granitwänden … Drüben, wo sich die Ausläufer der Kordilleren bis zu blauen Gletschern und Schneefeldern emportürmen, blinkt ein verlorener Sonnenstrahl durch das Gewölk …

Der Kutter liegt fest vertäut an einer Barriere von Steinblöcken, einer Art Naturmole … Rechts auf den Klippen erkenne ich eine Schar von [112] Mähnenrobben … Wenigstens etwas Lebendes. Stumpfsinnig glotzen die Tiere herüber.

Ich habe mich erholt. Die frische, kühle Luft hier im Freien ist doch besser als Kognak.

Ich lächle ehrlich … Leichen – nur Leichen?! Arme Kerle, ihr werdet mir nichts anhaben … Ihr werdet nie mehr meutern, nie mehr Piraten spielen und nie mit Gold beladen heimkehren! Was euch schon in Punta Garras durch die Kugeln der Pickelhauben zugedacht gewesen, hat euch nun hier erwischt …

Ich mustere die stumme Gesellschaft …

Die neben den Toten liegenden Becher und der verschüttete Kaffee, der als braune Lachen auf dem hellen Deck schimmert, lösen dieses Rätsel.

Gift!! Ohne Zweifel Gift!! Und es muß fast blitzartig gewirkt haben …!

Ich schreite zwischen den Toten hindurch nach vorn … Hier oben habe ich neun Leichen gezählt. Vorn in der Back, in Boche Boches und meinem Kajütchen, liegen weitere drei …

Dann nach achtern …

Was werde ich dort finden?

Sollten auch die Jörnsens wirklich tot sein, auch mein Kamerad?

Meine Schritte werden immer zögernder …

Die Tür des Heckniedergangs ist offen …

Auf der Treppe, Kopf nach unten, ein toter Mestize … Ich drücke mich an ihm vorüber. In der Kajüte ein zweiter Mestize, am Tisch zusammengesunken … in der Rechten noch den Aluminiumbecher, den seine Finger im Todeskrampf wie Pappe zusammengedrückt haben … Der Kaffee ist über eine Seekarte der Südspitze Amerikas geflossen …

[113] Ich stoße die rechte Kammertür auf …

Leer …

Die linke dann …

Dämmerlicht … Zwei bleiche Gesichter … Zwei Menschen auf den übereinander stehenden schmalen Klappbetten …

Die Jörnsens … – gefesselt … Der Alte mit verbundenem Kopf … Blut ist durch den Verband gedrungen – ein großer schwarzer Fleck. Der Alte mit Stoppelbart wie ich … Mit Blutkrusten am Kinn …

Und Frau Jörnsen, noch schmieriger als sonst, kreischt mir als erste zu:

„Abelsen – – rette uns!! Rette uns!!“

Das bringt mich wieder zu Verstand …

Ich löse ihre Stricke …

Jörnsen kann kaum sprechen …

Beide sind zu schwach, sich zu erheben …

„Hunger – Durst …!“ kreischt das Weib, und ihre Stimme geht mir durch und durch …

„Sofort … – ich hole alles …“ – und ich renne zur Kombüse, in unser Versteck …

Kognak, Zwieback, Keks …

Renne zurück …

Die beiden trinken, kauen …

Ich denke an die Toten … Sie müssen verschwinden … Der Anblick ist nichts für diese beiden halb Verschmachteten, deren Augen den Irrsinn unerhörter Qualen auszustrahlen scheinen.

Ich schließe die Kammertür … Schleppe den Mestizen nach oben … Dann den andern von der Treppe … Sie fliegen über Bord, versinken.

In wenigen Minuten ist der Kutter kein Leichenschiff mehr …

[114] Ich bin wieder bei meinen Kranken. Der Käpten fragt … Ich antworte …

„Alle tot, Jörnsen … Gift …!!“

„Unmöglich!“

„Wir können ja den verschütteten Kaffee nachher untersuchen …“

Ein kaltes Lächeln erscheint um den eingefallenen Mund …

„Es geschah ihnen recht, Abelsen … Sie hatten’s verdient …!“

Das Weib kreischt mit vollem Munde … „Und Boche Boche? Lebt er?“

Ihre Stimme läßt mich zusammenzucken … Nur Hexen aus Kindermärchen haben solch’ widerliches Organ …

„Bisher habe ich Boche Boche nicht gefunden, Frau Jörnsen …“ – und ich reiche ihr nochmals Kognak … Hoffentlich schläft sie ein … In ihrer Gegenwart werde ich ein Gefühl des Widerwillens nie los …

Ich hoffe umsonst. Ich muß erst sie, dann den Alten an Deck bringen. Sie haben Sehnsucht nach frischer Luft. Verständlich! In der Kammer war ein Gestank zum Umsinken … In der einen Ecke hatte ein Zinkeimer gestanden. – Ich schleppe Liegestühle nach oben, hülle die beiden in Decken. Sie ruhen mit geschlossenen Augen. Das Tageslicht blendet sie. Wie entsetzlich verändert nur Holger Jörnsen ist! Sein Haar erscheint noch grauer, die dicken Brauen noch weißer.

„Abelsen, suche meine Brille,“ bittet Frau Helga …

Ich kehre in die Kajüte zurück … Ich suche gern. Wer will’s mir verargen, wenn ich die [115] Gelegenheit nütze und auch nach dem Kabinettbild Ausschau halte.

Der Schreibtisch Jörnsens ist aufgeklappt … Alle Behälter hier sind offen. Aber ich suche umsonst. Die elende Brille freilich finde ich. Sie liegt auf dem Bücherbrett, auf den Werken über Gold und Rutengängerkunst. Ich durchschnüffele Papiere, ich schäme mich fast … Aber hier gilt es, derartige Bedenken zurückzudrängen und alles daranzusetzen, endlich vielleicht einen Teil der Rätsel zu lösen.

Was ich flüchtig an Geschriebenem und Gedrucktem prüfe, bezieht sich lediglich auf den Fischer Holger Jörnsen aus Trelleborg … Schließlich gebe ich diese Spioniererei auf.

Als ich mit der Brille an Deck erscheine, sind meine beiden Pfleglinge eingeschlafen. Jörnsen schnarcht sogar … Frau Helga hat sich die Decke bis an die Augen gezogen. Ihr graues Haar hängt ihr wie ein Schleier über der Stirn. Ich lege die Brille in ihren Schoß und schleiche hinweg, – in unsere Kammer, unsere: Gerdas und meine Kammer …! –

Schweige!! – So hat Gerda geschrieben. Wenn ich schweigen, also lügen soll, dann muß alles verschwinden, was verraten könnte, daß ich hier nicht allein die drei Tage gehaust habe …

Ich werde schweigen und lügen. Gerda steht mir näher als jeder andere Mensch. Selbst als Boche Boche. Was gehen mich im Grunde die Jörnsens an?! Nichts! Sie haben mich mitgenommen, weil sie „einen ganzen Kerl“ brauchten – zwei ganze Kerle, zwei, die dem Schicksal hohnlachend ins wandlungsfähige Gesicht spucken, wenn’s nötig.

[116] Etwas wie Rührung spüre ich, als ich Gerdas Lagerstatt weggeräumt, als ich alles tilge, was an ein Weib hier in dem Versteck gemahnt.

Die Arbeit ist beendet. Nun werde ich nach dem Kameraden suchen … Ich steige in die Back hinab, in die Verschläge … Nichts … In unserer Kajüte liegt in meinem Schränkchen der Bernsteinrahmen mit meinem Kinderbilde. Eine Anzahl der gelben Perlen fehlen. Ich erinnere mich, daß ich in den Ohrläppchen einiger der toten Neger gelben Ohrschmuck gesehen habe. Die Bernsteinperlen schwimmen jetzt mit den Leichen zugleich in der Strömung irgendwohin – irgendwohin …

Zuletzt durchsuche ich noch den Heckverschlag, in dem der Vierzylinder steht. Auch hier nichts.

Armer Kamerad!!

Und wie ich nun achtern an der Reling lehne und die schlafenden Jörnsens betrachte, wie in meiner Erinnerung die Schreckensbilder der letzten Stunde wieder aufleben und ich krampfhaft an der langentbehrten Zigarre sauge, da entgleitet sie mir plötzlich und rollt in eine der Kaffeelachen …

Der Meutererkapitän!!

Wie war’s nur möglich, daß ich ihn bisher vergessen hatte – ihn, den einzigen Weißen, den einzigen, den ich nicht als Leiche gefunden?!

Wo war dieser Mann geblieben?!

Und meine Augen prüfen mißtrauisch die düstere Umgebung …

Entflohen?!

Und Gerda?!

Er verschwunden – sie verschwunden …

[117] Hat Gerda nur geheuchelt, als sie so voller Haß ihn einen erbärmlichen Menschen nannte?! War Gerda nicht auf dem Fünfmaster gewesen – und hatte nicht der Weiße die bereits zum Tode Verurteilten befreit?!

Meine guten Zähne pressen sich in die Unterlippe. Jenes böse, verächtliche Lächeln, das mir, dem Verbitterten, vor Gericht damals vor zehn Monaten alle Sympathien dieser satten Spießer von Geschworenen verscherzt hat – nicht ein Mann war darunter, der mein ehrliches Aufbegehren zu würdigen wußte! – dieses Lächeln eines Ausgestoßenen verzerrt meine Züge … Ich fühle es …

Weiber – – alle gleich!

Gerda mit dem Anführer auf und davon – Gerda, Komödiantin – – genau wie jene, die den Meineid vor Gericht schwor – – Meineid, – meine Braut …!

Und doch – es schmerzt. Es war Liebe – war! Jetzt ist es Verachtung …

Gerda und er, – nun haben sie wohl Jörnsens Geheimnis ausspioniert, nun brauchten sie die Schwarzen nicht mehr … Gift – weg mit dem lästigen Anhängsel! Tote reden nicht …

Jörnsens Geheimnis!

Jörnsen schläft …

Darf ich jetzt noch länger schweigen?!

Nein, – – und ich bin schon neben dem Liegestuhl, rüttele den Alten … flüstere ihm zu …

„Leise! Ich muß dich allein sprechen, Käpten. Ich trage dich nach vorn …

Und samt den Decken nehme ich ihn in die Arme, setze ihn auf die Luke, lehne ihn an die kleine Ankerwinde. Der kurze Schlaf hat ihn sichtlich [118] erquickt. Er hört aufmerksam zu, nickt zuweilen …

Und als ich fertig, als ich eine Gegenäußerung erwarte, als ich ungeduldig frage:

„Willst du noch immer nicht mit der Wahrheit heraus, Jörnsen?“ da sagte er nur, indem er mir fest die Hand drückt:

„Denke an unseren Vertrag, Abelsen …! – Wir wollen den Kutter besser mitten im Kanal verankern. Man kann nie wissen …“

Mir schießt das Blut zu Kopfe …

„Habe ich das verdient!“ – und meine geballten Fäuste reden ihre eigene Sprache. „Habe ich das verdient?! Jörnsen, was würdest du an meiner Stelle tun?!“ Ich fauche ihm ins Gesicht. „Rede!! Würdest du dich so behandeln lassen?!“

„Ich … würde gehorchen, Abelsen …“ und er nickt mir zu … „Gehorchen, Abelsen …! Das ist keine Schande! Wir alle sind Sklaven. Auch ich. Ich ein Sklave besonderer Verhältnisse, du desgleichen …“

Er steht auf …

„Wirf die Taue los …! Der weiße Schurke lebt, und wir müssen vorsichtig sein!“

Seine ruhige Freundlichkeit, der Blick seiner Augen entwaffnet mich.

Der Torstensen gleitet von der Steinmole ins offene Wasser des etwa achtzig Meter breiten Kanals. Die Ankerketten rasseln … –

Eine Stunde drauf wirtschaftet Frau Jörnsen schon wieder in der Kombüse umher. Der Alte und ich sitzen am Steuerrad, neben uns die Repetierbüchsen – für alle Fälle … Jörnsen erzählt.

„… Der Angriff der Meuterer kam ja so vollständig überraschend. Meine Frau und ich [119] waren in der Heckkajüte. Wir besprachen gerade den Besuch der drei Patagonier. Es waren keine Araukaner, Abelsen. Boche Boche hat sich geirrt. Es ist ja auch schwer, die Urbewohner des südlichsten Amerikas der Rasse nach heute noch auseinanderzuhalten. Indianer, Patagonier und Feuerländer sind durch zahlreiche Mischehen um die Charaktermerkmale und die äußeren Kennzeichen ihrer Volkszugehörigkeit gekommen. Ob meine Patagonier reinblütig sind, weiß ich nicht. – Die Meuterer drangen also in die Kajüte ein. Ich konnte noch die Pistole ziehen, hatte sie aber leider gesichert. Ich wurde niedergeschlagen. Meine Frau stieß noch einen Hilferuf aus. Dann hatten diese Unholde sie schon bei der Kehle. Erst als man uns in der Kammer auf den Betten festgebunden hatte, erschien der weiße Anführer und begann mit seinen Drohungen …“ Jörnsens Gesicht, das bereits wieder Farbe hatte, wurde steinern. Er drehte plötzlich seine Hände um und zeigte mir die Innenflächen. „Da, Abelsen, – mit glühenden Schraubenschlüsseln hat man mich gemartert …“

Ich konnte kein Wort hervorbringen. Diese entsetzlichen, eiternden Wunden, diese Stellen, an denen die weißen Handknochen durchschimmerten. – „Wie haben Sie das ertragen können!“ murmelte ich, und unwillkürlich kam mir wieder einmal das respektvollere Sie über die Lippen.

„Eiserner Wille vermag alles … Ich denke, Abelsen, du bist auch einer von denen, die Herr über Geist und Leib …“

„Nicht wie Sie, Jörnsen, nein, nicht wie Sie …“

„Laß diese Anrede … Wir sind bessere [120] Freunde, als du glaubst, und dich selbst unterschätzt du …“

„Dann … dann wollen wir doch erst deine Hände verbinden, Käpten … Du mußt doch …“

„… Später,“ unterbrach er mich. „Seewasser ist das beste Mittel, dann ein leichter Verband und Handschuhe darüber. In zwei Tagen spüre ich nichts mehr. – Sie marterten mich … Sie vermuteten dasselbe wie ihr: Gold!! Meine Bücher und ein Säckchen Goldkiesel, ein Andenken an früher, waren ihnen Beweis genug. Der Anführer …“ – er stockte – „… du kennst ihn übrigens, Abelsen … Du hast ihn bisher dreimal gesehen …“

„Nein, ich hörte hier nur seine Stimme,“ erklärte ich kopfschüttelnd.

„Du hast ihn dreimal gesehen … Das letzte Mal in Panama. Es ist ein schlauer Schuft … Er hat meine Fährte nicht verloren gehabt …“

Ein Blitz des Begreifens da … Urplötzlich die Erkenntnis: der Mann mit dem scharfen Profil war derselbe, den ich aus Gerdas Schlafzimmer hinausbefördert hatte!

„Wer ist der Mensch, Jörnsen? Wer ist’s?“ Und die Erregung in mir wuchs zu fiebernder Ungeduld. „Wer ist’s? Ich sah ihn zum ersten Male in Gerdas Schlafzimmer, dann auf dem Trajekt, dann auf dem dänischen Dampfer in Panama …“ Und verwirrt strich ich mir über die heiße Stirn … „Gerda, – – und sie soll jetzt mit diesem Manne verbündet sein?! Rede, Jörnsen! Da sind Widersprüche, die mich peinigen. Ich möchte Gerda nicht Unrecht tun … Vielleicht ist alles falsch, was ich mir da über ihr Verschwinden von Bord zusammengereimt habe … [121] Du hast dich dazu nicht geäußert … Rede, Jörnsen!“

Er betrachtete still seine entstellten Hände.

„Schließlich ließen sie von mir ab, als sie merkten, daß bei mir auf diese Weise nichts auszurichten war …“ fuhr er in seiner Schilderung fort. Für meine Bitten blieb er taub. „Hunger und Durst sollten mich gefügig machen. Außerdem hatten sie auch die Seekarte gefunden, in die ich den Weg mit roten Punkten eingezeichnet hatte.“

„Den Weg – wohin!“ Die nervöse Spannung wurde mir unerträglich. Meine Stimme war heiser und fremd.

„Den Weg, der hier im Adelaide-Archipel endete, ganz im Süden, wo bereits die Magelhaens-Straße beginnt, die der kühne Portugiese vor Hunderten von Jahren als erster mit primitiven Schiffen zu befahren wagte … Aber diese goldverblendeten Narren ahnten nicht, daß meine rot punktierte Linie nicht ganz bis zum Ziele lief. – So vergingen die drei Tage, Abelsen. Und dann kamst du uns befreien. Wir danken dir. Es wird dir nicht vergessen werden. Jetzt schöpfe mir einen Eimer Seewasser. Ich werde zwei Stunden die Hände hineinhalten.“

Ich blieb sitzen. „Jörnsen, heute will ich nicht drohen …“ Meine Stimme zitterte. „Jörnsen, heute bitte ich: Was ist’s mit Gerda?! Wisse denn: sie war mir einst der Trost meiner Kindheitstage, heute – – liebe ich sie!“

Die klaren, jungen Augen des Mannes, der so erbarmungslos zu schweigen verstand, ruhten mit besonderem Ausdruck auf meinem zuckenden Gesicht …

„Du liebst sie?! Noch?!“

[122] „Ich … weiß es nicht … Wenn sie keine Lügnerin, keine Heuchlerin wäre, dann …“

„Sie ist’s …! Töte diese Liebe, Abelsen … Und wenn das Mädchen ein Engel wäre: sie würde nie die Deine werden! – Geh’, hole mir den Eimer Wasser …“

Ich gehorchte wie im Traum.

Und als ich dann allein auf dem Vorschiff stand und hinüberschaute zu den düsteren Bergen mit den blauen Gletscherkappen und den weißen Schneehängen, da wurde ich mir meiner ganzen Wehrlosigkeit gegenüber Holger Jörnsens eiserner Unerbittlichkeit bewußt. Nein – Boche Boche und ich waren ihm niemals ähnlich. Wir waren Zwerge im Vergleich zu ihm, Außenseiter des Lebens, nicht Herren unserer selbst … –

Frau Helga rief mich zum Essen. Wir speisten zu dreien in der kleinen Kajüte. Eine schweigsame Mahlzeit, bei der ich abermals die unübersteigbare Scheidewand zwischen mir und diesen beiden seltsamen Menschen spürte. Nachher verband ich Jörnsens Hände. Und dann legte ich mich vorn in der Back zum Schlafe nieder, weil mir plötzlich schwindlig[10] wurde und ich die Ohnmacht der Erschöpfung nahen fühlte. Wie ein Toter schlief ich bis neun Uhr abends. Erwachte und hörte den Motor arbeiten. Der Kutter war in Fahrt, und oben an Deck sah ich Holger Jörnsen am Steuerrade lehnen.

„Zyankali …“ begrüßte er mich.

„Du hast den Kaffee untersucht, Käpten?“

„Ja, Zyankali aus der Schiffsapotheke …“ Er hatte die unvermeidliche Pfeife im Munde …

Der Kutter schlängelte sich durch einen Irrgarten von Kanälen, zwischen finsteren Felsinseln [123] hindurch gen Süden … Schwarzes Gewölk hing am Himmel. Ein Weststurm heulte in den Steinmassen des Archipels, und vorn im Bugspriet leuchtete das grelle Auge eines der Karbidscheinwerfer in die dunkle, gefährliche Flut mit ihren sensenscharfen Riffen hinab … Vorn am Bugspriet stand des Käptens Weib und winkte, wenn das weiße Licht ihr ein Hindernis enthüllte. Der Torstensen fuhr mit halber Kraft.




11. Kapitel.
Das Lied des Meeres.

Zehn Uhr … Der Kutter ankert in freiem Wasser im Schutze einer himmelhohen Inselwand, die den Wind abfängt. Den Wind, nicht die Wellenberge, die hier bereits dem Kundigen verraten, daß der Torstensen jene gefürchteten Gewässer erreicht hat, wo die Ungleichheit der Gezeiten zweier Weltmeere sich fühlbar macht, nie zu berechnende Strömungen erzeugt und noch weiter südlich Schiffe spurlos verschwinden läßt. Es ist die von allen Seefahrern am liebsten gemiedene Gegend, es ist das Ende der Welt, wo Satan sein Spiel mit hochbordigen schnellen Dampfern treibt. Hier ging der Hapagdampfer „Acilia“ verloren, hier verschwanden Vermessungsschiffe, Salpeterfahrer, Segler, Jachten … Die Archipeln der [124] Magelhaens-Straße sind ein riesiger Friedhof. Die Schiffsversicherungsgesellschaften wissen davon ein trübes Lied zu singen. Hier flüchteten klägliche Menschlein aus leckgeschlagenem Schiffe in die Boote und wurden tot, erfroren aufgefunden.

Der Kutter reißt an den Ankerketten, tanzt, bäumt sich, steckt die Nase in die kalte Flut, schüttelt die Nässe wieder ab, torkelt, stöhnt, ächzt …

Ich in Ölzeug habe Wache. Die Jörnsens schlafen. Es ist bitterkalt. Hin und wieder fegt Schnee aus dem fliegenden Gewölk herab. Drüben jenseits des Kanals, in dem wir hier liegen, eine flachere große Insel, dicht bewaldet – die immergrünen, faulenden, stinkenden Wälder Feuerlands. Die Musik von Sturm und Wogen und knarrenden Masten und klirrenden, kreischenden Ankerketten wird zuweilen übertönt von dem Sturz gewaltiger Stämme, die andere mit umreißen.

Ich habe einen Becher Kognak im Leibe und zwei Wollsweater auf dem Leibe, stampfe auf dem nassen Deck umher – hin und her – vom Bug zum Heck, vom Heck zum Bug …

Die Laternen kämpfen müßigen Kampf gegen die Finsternis, aus der die weißen Streifen der Wogenkämme heransausen wie flach fliegende Gespenster … Spritzer fahren in die Luft, klatschen auf Deck …

Ich bekomme eine ungefähre Vorstellung von dem, was hier ein Unwetter bedeutet.

Aber ich fühle mich frisch und voller Spannkraft, habe den Seelendruck überwunden. – Gerda – – Boche Boche … nicht daran denken! Ich ändere nichts! Armer braver Kamerad …! Wo mag seine Leiche von den Haien gefressen [125] worden sein?! In Punta Garras schon – erst später?! – Nicht denken …!!

Bevor ich um halb zehn diese einsame Wache antrat, hatte der Alte mich noch gewarnt. „Sei auf der Hut, Abelsen! Bilde dir nicht ein, daß dieser Seegang etwa die hier auf den Nachbarinseln als Fischer und Robbenfänger wohnenden Feuerländer irgendwie stört. Ihre hochbordigen Kähne halten jedem Unwetter stand.“

Diese Ermahnung war wieder so recht unklar gefaßt. Das Fehlende mußte ich mir selbst ergänzen. Jörnsen fürchtete offenbar, daß der Weiße und Gerda sich mit den Eingeborenen, die für blankes Gold zu allem fähig waren, verbünden könnten. Anders war diese Warnung kaum zu verstehen.

Ich hatte daher auch die Repetierbüchse entsichert im linken Arm hängen und in der rechten Tasche meines Ölmantels meine Pistole stecken. Was mich beruhigte, war die selbst mir als Nichtseemann einleuchtende Unmöglichkeit, daß bei diesem Toben der haushohen Wellen, deren Unregelmäßigkeit auf den Unterschied von Ebbe und Flut im Atlantik und im Pazifik zurückzuführen war, ein Kahn neben dem Torstensen anlegen könnte! Ausgeschlossen war das! Als Jörnsen schlafen ging, war’s noch nicht halb so schlimm her draußen. Überhaupt – daß das Ehepaar bei diesem Tanz des Kutters in den Kojen blieb!! Mitunter erklangen die überanstrengten Ankerketten so hell, daß dieser singende, metallische Ton mir der Vorbote des Reißens der Kettenglieder zu sein schien. Aber noch hielten sie … Ein Wunder, fürwahr!

Der eisige Wind fuhr mir bis auf die Haut. Ich fror. Und des öfteren befragte ich die [126] Aluminiumbuddel in der linken Manteltasche, wer stärker sei: guter Kognak oder ein eisiger Wind unweit Kap Horn. Der Kognak redete mir ein, daß er siegen würde. Allmählich kam ich immer mehr in Stimmung. Ich fühlte mich als Gott in meiner halben Trunkenheit und im Bewußtsein meiner zähen, unverbrauchten Kräfte. Was mir acht Monate Staatshotel seelisch und körperlich geraubt hatten, hatte mir der Torstensen zurückgegeben. Ich liebte den Kutter, von dem ich jeden Fußbreit kannte. Ich betrachtete ihn als meine neue Heimat, und das Meer als das unendliche Sanatorium all derer, die nicht mit der Nachtmütze über den Ohren durchs Leben schleichen.

Kognak …! Und dieser Kognak hier an Bord war kein stinkender Fusel. Ich war bisher nie Alkoholiker gewesen. Mein Vater hatte mir das Hochgefühl eines leichten Schwipses gründlich ausgebläut. Und doch hatte ich ihn einmal so betrunken gesehen, daß ich ihn nicht nur haßte, sondern verachtete: am Todestage meiner Mutter!! Später begriff ich ihn. Er hatte sich betäuben wollen …

Und letzten Endes wollte ich dasselbe heute ebenfalls. Auch ich hatte Tote zu beklagen, die meinem Dasein wieder Inhalt gegeben: Gerda und Boche Boche!

So stampfte ich denn weiter meine Runde, hielt mich an der Reling fest, starrte in die Finsternis, ließ die Sturzseen über mich hinweggleiten, spürte das beißende Salz des Ozeans in den Augen und im Munde, den faden Geschmack allzu reichlichen Kognaks … Hin und wieder, wenn der Torstensen wie ein armseliges Korkstückchen von den Wogen umhergeworfen wurde und die Ankerketten noch schriller sangen, taumelte [127] ich wohl auch gegen den Mast, den Kombüsenaufbau, das Oberlichtfenster oder unser Rettungsboot, das mittschiffs, Kiel nach oben, auf den festgeschraubten Stützen ruhte, bedeckt mit einer Ölplane. Ein tadelloses Eichenboot mit kleinem Motor, Luftkasten, vorn gedeckt … Es konnte bequem acht Mann fassen. – Zuweilen drohte ich auch auf den schlüpfrigen Deckplanken auszugleiten. Und ich triefte von oben bis unten vor Nässe … Meine Büchse triefte, meine Taschen waren halb voll Wasser, meine Hände aber innen zerschunden, denn so manche Sturzsee wollte mich allzu gern mitnehmen, hinein in die nasse Finsternis und sicheren Tod. Da half nur Anklammern am ersten besten Gegenstand, und dabei gingen Hautfetzen mit … Ich fühlte es kaum …

Ich war Gott in all meiner Verlassenheit und im Toben der Elemente, war Olaf Karl Abelsen von einst, der in Bombay im Chinesenviertel eines Nachts fünf gelbe Schufte niedergeboxt und dabei nur einen einzigen Stich in die Schulter bekommen hatte … Und drei von den Straßenbanditen wurden am nächsten Tage verscharrt. So hatte ich’s ihnen gegeigt …

Hallo – jetzt hätte mich’s doch um ein Haar erhascht! Das kommt davon, wenn man sich in diesem Schneesturm an Bombays heiße Tage und Chinesenpüppchen mit Katzenleibern und moschusduftendem Haar erinnert …! War das eine Sturzsee gewesen! Verdammt … das Boot hatte sie an der Heckseite aus der Stütze geschwemmt. Kam noch solch Ungetüm, schlug das Boot gegen den Mast und ging zum Teufel …

Ich legte die Büchse weg, stemmte mich gegen [128] das Heck, suchte das Boot wieder in die Einschnitte zurückzudrücken …

Es gelang … Polternd lag es fest, und noch hastiger zog ich die Leinen straffer, damit dieser üble Scherz sich nicht wiederholte. Ich keuchte vor Anstrengung, denn die nassen Leinen waren widerspenstig wie Drahtseile. Den Kopf drückte ich an die von der Ölplane geschützten Planken, arbeitete japsend, mit zitternden, klammen Händen.

Kopf an den Planken … zusammengeduckt … Duschen gehen über mich hinweg …

Plötzlich ein Straffen aller Sinne …

Was war das?!

Da – – wieder …

Bei Gott – – ein tiefes lautes Stöhnen …

Im Boot …

Im Boot – – ein Mensch …

Hoffnung – – vielleicht der Kamerad …

Ich krieche unter das Boot, löse die Schnüre der geteerten Persenning, bis ich hineinkriechen kann.

Taschenlampe heraus …

Und ich sehe aus dem offenen Türchen des gedeckten Bugteiles zwei Beine herausragen …

Boche Boche – – wirklich der Kamerad!

Ich zerre ihn hervor … einen Halbtoten …

Die Augen mit Eiter und Blut verklebt, gerade über der Nase eine entsetzliche Wunde mit zackigen Rändern … Das Gesicht, soweit es nicht mit Blut beschmiert ist, wachsbleich, – ein grausiger Totenkopf … Der Unterkiefer herabgesunken, die blau verfärbte Zunge dick wie ein Ball … Das Atmen nur noch ein Röcheln, Gurgeln, – zuweilen anschwellend zu gräßlichem Stöhnen – – wie [129] im letzten Kampf der letzten Kräfte gegen den Sensenmann.

Eine Wolke Gestank umgibt den Ärmsten …

Gestank von Unrat …

Ich fühle, wie ich selbst erbleiche … Es ist ja kein Fremder, der hier vor mir liegt, nein, es ist der Freund – der einzige, den ich habe…

Hier gibt’s kein langes Überlegen …

Handeln, helfen, retten, was noch zu retten ist. Und ich bringe es wirklich fertig, mit dem Kameraden im Arm die Back zu erreichen … Spritzer umrauschen uns … Ich stolpere, gleite. Ich spanne meine Muskeln bis aufs Äußerste an.

Nun ruht Boche Boche in seiner Koje …

Her mit der Kognakflasche … Her mit einem Löffel …

Aber – er schluckt nicht mehr … Die Zunge behindert mich. Ich kann den Löffel nicht tief genug in den Mund einführen. Ich brauche Hilfe. Jörnsen weiß in diesem Falle auch besser Bescheid als ich. Jörnsen muß geweckt werden …

Ich eile an Deck …

Der Kutter bäumt sich … Eine riesenhafte Woge überflutet das Heck … Die Ankerketten kreischen in den Klüsen, schrillen wie Stahlsaiten. Der Wasserberg packt mich … Im letzten Moment greife ich nach der Reling … Die Woge zerrt meine Beine hoch … Ich stehe mitten im gurgelnden Gischt wie ein Turner im Handstand … Habe das Gefühl, daß mir jeden Augenblick die Arme ausgerissen werden müssen … Dann reißt mich die jagende Wassermasse nach außen … Meine Beine schlagen gegen die Bordwand … Blitzartig das Empfinden des schwindenden Bewußtseins … Und doch noch die Energie, die [130] obere Relingstange nicht fahren zu lassen … – des Freundes wegen …

Ich hänge außenbords … pendele hin und her, muß die eine Hand lösen, um das Gesicht der Reling wieder zuzukehren …

Es gelingt. Ich ziehe mich empor, falle nach vorn auf die Deckplanken, liege da wie ein totgetretener Frosch, alle Viere von mir gestreckt … Und krieche vorwärts … Meine Beine schleppen nach wie Bleistücke … Krieche die Treppe der Heckkajüte abwärts, Kopf nach vorn … – drei Stufen …

Eine neue See, ein neuer Berg dunklen Glases, das donnernd über dem Kutter zerschellt.

Und durch die von mir geöffnete Tür des Niedergangs spült mich ein reißender Bach nach unten … Mein Schädel rammt die Kajütentür. Die obere Füllung fliegt heraus …

Der Stoß hat mich erledigt …

Ein Brillantfeuerwerk täuscht mir mein verdröhntes Hirn vor. Dann erlischt mein Bewußtsein. Aber im Unterbewußtsein, in dem die Sorge um Boche Boche weiterlebt und mich peinigt, ersteht mir der Wille zum Bezwingen auch dieses verhängnisvollen Zwischenfalls. Vielleicht ist’s auch das kühle Wasser, in dem ich hier wie in einer eckigen Badewanne liege. Als Jörnsen, durch den Knall der herausbrechenden Füllung geweckt, mich findet, bin ich schon halb auf den Beinen. Jörnsen hat hier in der Kajüte geschlafen, und so wie er ist – nur in Unterhosen – läuft er nach meinen ersten gelallten Worten mit dem Apothekenkasten zur Back. Ich taumele hinterdrein, wundere mich, daß meine Beine mir wieder gehorchen, wundere mich, daß der Kutter plötzlich so merkwürdig [131] ruhig liegt, umkralle die Reling und starre in das Dunkel hinein …

Der Torstensen treibt … treibt …

Beide Ankerketten müssen gerissen sein, als die letzte Riesenwoge mich gegen die Tür spülte …

Treibt mit irgendeiner Strömung – irgendwohin …

Verschwommen gleiten schwarze Felswände vorüber …

Knirschend schrammt der Kiel über Riffe …

Und diese mahnenden Laute, diese Erschütterung, die den Kutter zittern macht, bringt mich zu mir …

Jeden Augenblick kann der Torstensen gegen eine Klippe rennen … Dann sind wir vier erledigt … –

Jörnsen hat abends, als wir Anker warfen, in weiser Voraussicht die Reserveanker klar machen lassen …

Ein Sprung nach vorn. Ich werfe den Buganker über Bord. Bestes Manilaseil läuft durch die Klüse … Ein Ruck … Der Anker hat gefaßt. Ich jage nach hinten, – – Heckanker in die Tiefe, Leine gekürzt …

Und ein neuer Ruck … Der Kutter liegt in verhältnismäßig ruhigem Wasser – irgendwo in einem anderen Kanal …!!

Mein Gesicht glüht … Meine Hände brennen wie Feuer … Meine Beine zittern … Neue Ohnmacht naht. Aber Olaf Karl Abelsen beißt sich die Unterlippe blutig, reckt den Brustkasten vor, atmet ganz – ganz tief …

Und siegt.

Am Steuerruder lehne ich. Eine Schneebö peitscht mir das flammende Antlitz …

[132] Oh – wie wohl das tut!! Ich reiße die Kiefer auf … Schneeflocken zerrinnen mir auf der Zunge …

Wie wohl das tut …!! –

Als ich in die Back hinabsteige, als mir Jörnsen zuraunt: „Wir werden ihn schon durchbringen!“ da nehme ich die Kognakflasche – – saufe … saufe … sinke auf einen Schemel …

Und lache wie ein Verrückter …

Ja – man lernt selbst das Lachen wieder in den Gewässern der Inseln der Magelhaens-Straße …

Wie man dort auch das Sterben lernt … Aber die, die’s durchgemacht, sprechen nicht mehr darüber …

Das war die Nacht, die mir ein anderes Lied aufspielte als jene im Hafen von Punta Garras … Damals waren’s die Menschen, die die Melodie angaben. Hier war’s das Meer, der Sturm, die wilde, entfesselte Natur …




12. Kapitel.
Die blonden Haare.

Bleierner Schlaf, volle zehn Stunden. Schlaf, den nichts stören konnte. Unklare Erinnerungen, daß Jörnsen mir zwei Tabletten aufgezwungen hatte, weil er wohl fürchtete, daß das Lied des Meeres meinen Verstand verwirrt haben könnte. Ebenso unklar in meinem Gedächtnis das Bild, wie [133] Jörnsen und Frau Helga mich in meine Koje geschleppt und mir die zerfetzten Hände, die zerschundene Knie und die Schädeldecke bepflastert hatten.

Ich war aufgewacht und hatte mich aufrichten wollen …

Wollen … Ich hatte keine Gelenke, keine Muskeln mehr. Nur noch schmerzende Stellen … überall.

Durch den Treppenniedergang fiel in breitem weißen Strahl Sonnenlicht in dieses Lazarett, das nach Jodoform, Lysol und anderem duftete.

Neben meinem Kopf an einem Nagel hing an der Holzwand meine Nickeluhr.

Eins zeigte sie, genau eins. Also ein Uhr nachmittags. Zehn Stunden geschlafen … Der Kopf schwer und benommen. Die Augen so empfindlich, daß ihnen das grelle Licht wehtat. Und die Geschehnisse der Nacht nur noch wie verwaschene, unwirkliche Eindrücke aus der Welt der Träume.

Mühsam drehte ich den Kopf nach rechts. Drüben an des Kameraden Schmerzenslager saß Holger Jörnsen und nickte mir freundlich zu, sagte gedämpft: „Er ist ebenso zäh wie du, Abelsen … Vorhin hat er schon ein paar Worte geflüstert … Wir bekommen ihn durch. Das Fieber ist kaum nennenswert. – Und du? Wie fühlst du dich?“

Ich so zäh wie Boche Boche?! – Nein, wohl kaum … Ob ich mit der entsetzlichen Wunde drei Tage dort im Boot, doch fraglos ohne Speise und Trank, überdauert hätte – wohl kaum! Ich, der jetzt schon nur nach dieser Nacht hier wie ein Häuflein Unglück lag!! – Und diese Gedanken waren die beste Medizin … Der Gedanke ist [134] alles, der Wille steht obenan, die Tat Selbst ist nur ein Anhängsel …

Ich richtete mich auf … Ich hätte schreien mögen vor Schmerzen – die Augen tränten mir …

Der Wille ist alles.

„Ein bißchen steif die Knochen, Jörnsen … erwiderte ich und griff nach meinen Hosen.

„Bleib’ liegen!“ mahnte der Alte.

„Denke nicht dran! Sonnenschein ist die beste Medizin … An Deck will ich …“

„Du hast nicht ganz unrecht, Abelsen. Man muß sich nicht unterkriegen lassen. Der Wind hat gedreht. Vorhin waren’s fünfundzwanzig Grad in der Sonne. Der Pazifik spendet uns die Wärme. Das ist hier nicht anders, mal eisige Luft und Schnee, mal wieder Tropenluft. – Danke dir auch, daß du den Torstensen gerettet hast, Abelsen. Auch das kommt auf dein Pluskonto. Hast deine Sache gut gemacht für eine Landratte. Wir liegen hier in einem Triftkanal, wie wir’s nennen, in gleichmäßiger Strömung. Ist eine wunderliche Gegend hier unten. Hat noch kein Gelehrter erforscht, weshalb einzelne Kanäle trotz der Gezeiten stets gleiche Strömung haben, während andere, Wechselkanäle nennt der Schiffer sie, die reinen Hexenkessel sind.“

Ich stand aufrecht. Mir war ein wenig schwindlig. Aber der Wille ist alles. Mit meinen verbundenen Händen – nur die Fingerspitzen ragten hervor – war’s ein Kunststück, die Hosenträger anzuknöpfen und die Schuhe zuzuschnüren. Es ging – es mußte gehen.

Dann trat ich zu Boche Boches Lager. Er schlief. Von seinem Gesicht war nicht viel zu [135] sehen. Aber was ich sah, hatte schon wieder Farbe.

Dann stellte ich mich vor den Spiegel. Meine Nase war eine blaurote Kartoffel, die Oberlippe eine Wurst. Der Stoppelbart war mir am scheußlichsten.

„Ich will versuchen mich zu rasieren,“ meinte ich …

„Brav so!“ lobte Jörnsen. „Wer auf sein Äußeres etwas hält, wer dazu ein Mann von deiner Qualität ist, zwingt das Leben. Nur die Intelligenz, gepaart mit frischem Draufgängertum, ist eitel in gutem Sinne. Ich wünschte, meine Frau begriffe das. Hol’ dir nur warm Wasser aus der Kombüse. Du hörst ja, Helga wirtschaftet dort schon wieder herum. Die Schwarzen haben ihr all die schönen Aluminiumtöpfe versaut. Sie hat die Scheuerwut. Nur nicht für sich selbst.“

Die Treppe hinan – alle Qualen der Hölle … Aber nun der Sonnenschein, Licht, Luft, der Odem der Ozeane … Ich atmete tief, tief, und die Kraft wuchs.

„Morgen, Helga …“

„Morgen, Abelsen …“ Sie kniete am Boden der Kombüse und scheuerte die Planken mit weißem Sand, schaute gar nicht auf, trug wieder ihren Südwester, die ekle Brille, und Haarzotteln baumelten hin und her.

„Warm Wasser …? – Dort im Kessel … Nimm die Schöpfkelle … – Kaffee steht dort unter dem Wärmer.“

Eine Viertelstunde später war ich rasiert, hatte gefrühstückt, hatte gefressen, nicht gegessen, hatte obenauf einen halben Becher Kognak gesetzt. Und Jörnsen hatte mir dabei so mancherlei über die Wetterecke erzählt … vorsichtig flüsternd, [136] denn Boche Boche sollte nicht gestört werden. Aus dem, was der Alte erzählte, ging nun klar hervor, daß er Schiffskapitän gewesen, daß er Frachtdampfer geführt hatte, daß er hier im Magelhaens zu Hause war …

„… Vergangene Nacht, mein Junge, als der Torstensen sich wie ein wildes Pferd benahm, – hast das wohl für was Besonderes angesehen. Irrtum! War nur das Übliche hier … Als ich mit der Medusa 1912 von Honolulu kam und nach der La Plata-Mündung wollte, haben wir keine acht Meilen von hier volle zehn Tage vor vier Ankern gelegen, – was man so liegen nennt. Und diese zehn Tage, Abelsen, gab’s zwischen Vorschiff und Heck keine Verbindung, so kamen die Seen über … Neben uns trieb eine Salpeterbark vorbei … Fünf arme Teufel in den Wanten festgebunden, fünf Erfrorene … Acht Grad Kälte, Abelsen … Eine verrückte Gegend. – Nun schau’ dir mal von unserem Heck die Aussicht an. Sie ist sehenswert.“

Sehenswert … Stimmte! Alles sehenswert. Der Torstensen lag in einem Kanal von etwa vierzig Meter Breite, das Heck ragte über die scharfe Krümmung nach Süden hinaus. Ringsum kahle Felsenmauern – nur das … Nur dunkler Granit. Aber nach Süden zu erweiterte sich der Kanal wie eine Trompete, und vielleicht fünfhundert Meter entfernt konnte ich dasselbe Schauspiel wie nachts beobachten: dort zogen ungeheure Wogenberge dahin, dort war freies Wasser, und nur am Horizont erkannte ich düstere Gestade …

Jörnsen war neben mir erschienen.

„Die Magelhaens-Straße, Abelsen …“ Ganz ehrfurchtsvoll sagte er es … „Wir sind hier [137] unter Wind … Droben in den Zacken pfeifen die Orgeln … Aber die Töne verwehen. Gnade Gott dem Schiffe, das jetzt im Magelhaens ist. Stürme bei Sonnenschein sind am schlimmsten. Es stirbt sich schlecht, wenn die Sonne heuchlerisch lacht … Vor fünf Tagen beruhigt sich die See nicht. Wir haben also Zeit. Das Kunststück, jetzt die Santa Ines-Insel drüben zu erreichen, bringt selbst ein transtinkender Feuerländer nicht fertig. Unser Mann wird warten müssen, und wir werden als erste an Ort und Stelle sein …“

„Unser Mann?“ – Meine Augen forschten in seinem gegerbten Gesicht.

„Ja – er, der Feind, dein Feind, unser Feind … – Komm’, holen wir Boche Boche an Deck in die Sonne … Bring’ eine Matratze nach oben und Decken … Er ist aufgewacht …“

Boche Boches Hand lag in meinen umwickelten Fingern. Ich beugte mich über ihn. Mir schnürte die Rührung die Kehle zu …

„Gott sei Dank, – du lebst …“

Seine matten Augen winkten. In ihrem Blick war etwas, das mich verwirrte.

„Vielleicht … besser … tot …“ – jedes Wort quälte er über die verschwollene Zunge.

„Unsinn!!“ Ich zwang mich zur Munterkeit. „Oben an Deck werden dir andere Gedanken aufgehen … Die Sonne ist eine Zauberin …“

„Faß’ an!“ mahnte Jörnsen hinter mir.

Wir trugen ihn nach oben. Und nun lag er da und schaute zu den Felswänden empor, in deren tiefen Kluften die fröhlichen Möven hausten und unser Deck mit weißen Klecksen beehrten.

Jörnsen ging in die Heckkajüte, und ich setzte mich neben den Kameraden auf einen Klappstuhl, [138] rauchte und hatte Falten auf der Stirn. Soeben hatte der Kapitän mich beiseite genommen. „Abelsen, eine Bitte … Du wirst Boche Boche nichts von deiner Jugendfreundin Gerda Arnstör erzählen – nichts! Erzähle, gewiß … Es wird ihn ablenken. Aber – du bist allein in dem Versteck gewesen, verstanden! Hast es zufällig gefunden. Rege ihn nicht auf. Die Gefahr, daß das Wundfieber ihn packt, ist noch nicht vorüber.“

Und nun saß ich neben Boche Boche, dem einzigen Freunde, und wußte mit aller Bestimmtheit, daß er Gerda kannte … Vermutet hatte ich’s ja schon. Sein Ohnmachtsanfall, seine Andeutungen nachher, sein Kampf mit seinem toten Gedächtnis. Er kannte Gerda. Vielleicht besser als ich. Und ihre zweifelhafte Rolle hier in diesem Rätseldrama sollte, so wünschte Jörnsen es, geheim bleiben: Nicht aufregen!

Ich erzählte … Und Gerda blieb ausgeschaltet. Ganz allein hatte ich drei Tage Haft in der Kammer durchlebt. Ich berichtete halb scherzend von dem Kielraum und der Flasche Lysol. Ich machte Witze – ohne Erfolg. Boche Boche starrte in den blauen Himmel. Ich schilderte Samuel und Manuel … Boche Boche verzog keine Miene. Nur als ich dann von dem Ende meiner Haft berichtete, da schaute er mich an … Ich berichtete in knappen Worten von dem Leichenschiff: Zyankali!

Er bewegte die Lippen … „Wie … konnte der Weiße … entrinnen …?“ Und lauter: „Ich … glaube … nicht, daß er … den … Kaffee … vergiftet … hat – – nein!“

„Wer sonst?! Ich bitte dich …!“

„Nur … ein Dummkopf … hätte … den Kutter … aufgegeben …! – Olaf, bedenke … [139] das! Jörnsen … ist … auch jetzt … nicht ehrlich … mit uns … Hier … waren … stets … fünf an Bord, Olaf … Das Lied … damals … die Gitarre, Olaf …“

Er schloß die Augen … Und ich schwieg. Mein Hirn durchflog die jüngste Vergangenheit. Mein Hirn war nicht trainiert für folgerichtige Schlüsse. Die Widersprüche lösten sich nicht, schmolzen nicht ineinander. Ich tappte weiter im Dunkeln.

Der Kamerad war eingeschlafen. Schnarchte sogar. Die Sonne strahlte stechend auf uns herab. Aber sie heilte. Der feine Schweiß, der mir aus allen Poren drang, machte meine Gelenke geschmeidig. Ich erhob mich leise und ging wieder zum Heck. Drüben in der Ferne tobte das Meer. Auf den Riffen vor uns sonnten sich Robben, kaum vom dunklen Fels zu unterscheiden. Um den Torstensen spielte eine Horde Delphine. Das grünblaue Wasser war so klar, daß ich die Unterseeriffe schimmern sah – steinerne Schwerter, denen kein Schiffsboden, noch so gut gepanzert, widersteht.

Fünf an Bord!! Der Gedanke kehrte immer wieder. War hartnäckig wie ein italienischer Bettler, umschlich mich, winselte mir Fragen in die Ohren, die ich nicht beantworten konnte.

Frau Jörnsen rief mich zu Tisch. Jetzt war die Heckkajüte kein verbotenes Gebiet mehr. Wir drei aßen, und der Alte würzte das Mahl mit Berichten über Feuerland … Manche humorvolle Bemerkung streute er ein, manch’ geradezu unwahrscheinlich Abenteuerliches schöpfte er aus dem Vorrat eigenen Erlebens. Den argentinischen Gelehrten Gonzales Silvio, der nach dem Schiffbruch seiner Jacht auf einer der Clarence-Inseln noch weiter südlicher als Santa Ines ein volles Jahr als [140] Robinson[11] gelebt hatte, den fand er durch einen Zufall bei der Jagd nach einem schachmatten, durch Harpunenschuß schwer verletzten Walfisch auf. – Und so wie diese Mahlzeit verliefen auch die folgenden. Jörnsens Erzählertalent berauschte mich. Er war ein gänzlich anderer, wenn er auf solche Erlebnisse romantischen Beigeschmacks zu sprechen kam. Er hatte genau wie Boche Boche und ich eine ausgeprägte Ader für alles Abenteuerliche. Nur von etwas sprach er nie – nie: Von Gerda, dem Feinde und dem Zweck dieser Fahrt nach Ultima Thule! –

Zwei Tage Sonnenschein und strahlender Himmel, Wärme, Sturm und Einsamkeit. In zwei Tagen ein Wunder: Boche Boche erholte sich verblüffend schnell. Seine zähe Katzennatur spottete der noch eiternden Wunde. Am zweiten Tage abends wagte er die ersten unsicheren Schritte, nahm er zum ersten Male eine Zigarre und trank einen vollen Becher Kognak mit Wasser, halb und halb. Die Zunge war auch wieder völlig in Ordnung, und längst wußten wir nun, wie es dem Kameraden ergangen war, nachdem ich ihn scheinbar so schmählich im Stiche gelassen hatte. – Während des Kampfes in unserer Kajüte war er, von der Dunkelheit begünstigt (er hatte ja die Lampe zertrümmert) bis an die Treppe gelangt. Hier erst empfing er den furchtbaren Hieb mit einem großen Schraubenschlüssel, konnte trotzdem noch an Deck flüchten und glitt an einer losen Leine vom Bugspriet ins Wasser. Die Meuterer fanden ihn nicht. Erst nach Stunden kroch er dann mit letzter Kraft in das Boot, befestigte die Persenning[12] wieder und verlor das Bewußtsein, erwachte immer nur für kurze Zeit, fiel wieder [141] zurück in die gräßlichen Arme des rasenden Fiebers, erwachte von neuem, trank das in kleine Löcher auf der Innenseite des Persennings angesammelte Regenwasser, kühlte die Wunde, wurde von neuem hinabgezerrt in das unheimliche Reich der Fieberphantasien. Bis das Fieber von selbst nachließ und die Erschöpfung des nahenden Endes sich immer mehr steigerte. Da fand ich ihn. Stunden später wäre es … zu spät gewesen! –

Boche Boche war am dritten Morgen bereits munter, als ich noch schlaftrunken und gähnend dem Plätschern eisiger Regengüsse lauschte. In der Back war es kalt – bitter kalt. Der Kamerad kniete vor dem eisernen Ofen, und das Prasseln des trockenen Holzes übertönte fast das andere, gleichmäßige Geräusch: der Motor arbeitete, der Kutter war in Fahrt!

„Morgen, Olaf …!“ – Vom Ofen her, die Stimme war klar und laut … Aber schon gestern, als es ihm so wesentlich besser ging, hatte ich’s gemerkt: Es war etwas Fremdes an ihm und besonders in seinem Blick. Auch jetzt. Es fehlte die Herzlichkeit. Diese grauen Augen, in deren Tiefen stets das melancholische Dunkel nimmer erlöschender Seelenpein schimmerte, waren verschlossen, forschend und kalt.

„Morgen, Kamerad …!“ Ich mußte Zwanglosigkeit heucheln … „Ein Leichtsinn von dir! Mute dir nicht zu viel zu …!“

Ich kleidete mich schnell an. Boche Boche hatte derweil den Ofen gründlich gefüttert und sich dann auf einen Schemel gesetzt. Aber nichts mehr gesprochen. Die Stille wurde peinlich.

„Wir sind also schon wieder unterwegs,“ begann ich von neuem.

[142] „Noch nicht, Olaf … Jörnsen probiert den Motor, den er gründlich gereinigt hat. Er war vorhin hier. Der Wind soll nach Süd gedreht haben. Daher auch die Kälte. Und in der Magelhaens-Straße steht nur noch schwache See. Der Alte will sehr bald Anker lichten. Was ihn zur Eile treibt, weiß ich nicht. Ich weiß ja überhaupt nichts. Ich bin hier im abenteuerlichen Spiel jetzt die blinde Kuh.“ – So, wie er dies vor sich hinsprach – mit gesenktem Kopf, mit Augen, die am Boden hingen, mit krankem, müdem Zug um den blassen Mund, war er für mich wie der verkörperte Vorwurf. Eine unklare Ahnung kam mir, daß seine letzte Bemerkung „ganz die blinde Kuh“ für mich die Andeutung enthielte, er schenke auch meinen Angaben über das, was während seiner Leidenstage im Boote geschehen, keinen Glauben mehr. Ich wurde dadurch noch unsicherer. Ich fühlte, daß er mir als Freund entglitt, daß meine unwahre Schilderung meiner Haft in der Geheimkammer drüben von ihm, der so kritisch zu prüfen verstand, allerlei Zweifel geweckt hatte! Zum Glück erschien jetzt Frau Jörnsen, schlumpig und schmutzig wie immer, und brachte den Kaffee. Sie begrüßte uns kurz. Redselig war sie nie gewesen. Für Boche Boche fand sie ein paar kühl-freundliche Worte über die überraschende Besserung in seinem Aussehen und seinen Bewegungen. Er half ihr den Tisch decken. „Ich bin eben doch noch nicht reif für das Ende gewesen,“ sagte er nur, und auch der Satz war vielleicht nicht ohne Doppelsinn.

Wir waren wieder allein. Ich rasierte mich flink. Der Kamerad füllte seinen Becher und begann zu frühstücken. Als ich ihm gegenüber [143] Platz nahm, schob er mir die Kaffeekanne hin.

„Olaf, hat Jörnsen immer noch nicht Farbe bekannt?“ fragte er und rührte mit dem Löffelchen in dem Becher. Er liebte süßen Kaffee, und zumeist hatte er noch einen Schuß Kognak hinzugetan – ein merkwürdiger Geschmack.

„Zum Teil … Er leugnet nicht mehr, Schiffskapitän gewesen zu sein … Er hat mir mancherlei aus seiner Seemannszeit erzählt, und Feuerland und die Inselgruppen ringsum kennt er ausgezeichnet. Auch das Endziel unserer Fahrt verriet er in einer Bemerkung: die Insel Santa Ines weiter südlich, oder doch eins der Eilande, die mit zu der Insel gehören. Im übrigen blieb alles, wie es war: ich kenne den Zweck seiner Reise hierher ebensowenig wie du.“

Jetzt schaute Boche Boche mich an … Geradezu durchdringend … „Und das ist die Wahrheit, Olaf?“

„Ja!“ Es war ja die Wahrheit. Wenigstens über diesen Punkt. Unsere Blicke ruhten ineinander. Dann bat er ablenkend: „Gib mir die Kognakflasche …“ – Er mischte sich seinen Morgentrank, tat einen Schluck und aß ein paar Happen. Nach einer geraumen Weile meinte er: „Ich habe mir die Klapptür dort in der Wand hinter deinem Bett in der Nacht angesehen, als du Wache hattest … Ich war auch in deinem Versteck …“

Mir schoß die Röte ins Gesicht … Aber er blickte nicht auf.

„… In deinem Versteck … Du hast es also wirklich zufällig gefunden?“

Jetzt sah er mich an … Seine Wangen brannten.

[144] Ein trostloses Lächeln zuckte um seinen Mund. „Ich verzichte auf eine Antwort, Olaf … Ich kenne dich … Du meinst es nur gut mit mir.“ Er senkte den Kopf, stützte ihn in die Linke und fügte hinzu: „Du willst mich schonen, Olaf … Du willst mir verschweigen, daß deine Jugendgespielin die drei Tage Haft mit dir teilte … Sie war’s, die dich zum zweiten Male rettete. Sie kannte das Versteck. Sie zwang dich, dem Kampf mit den Meuterern auszuweichen. Du selbst hättest mich nie allein gelassen, nie! Ich habe mir das alles gründlich überlegt. Und dort in der Kammer fand ich dies, eingeklemmt in eine Spalte eines Kistendeckels … dies …“ Er holte aus der Innentasche der Jacke ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor … breitete es auseinander. Ein paar lange blonde Frauenhaare lagen darin. Er stand auf, warf Papier und Haare in die Ofenglut und setzte sich wieder. „Keine Antwort, Olaf,“ sagte er müde. „Ich will dir nur noch eins mitteilen: Ich kann mich jetzt wieder auf den Namen des Mädchens besinnen, der mir wieder entfallen war, als ich ohnmächtig über dein Bett stürzte … Nur auf den Namen: Gerda Arnstör! Und es ist gut – vielleicht gut, daß mein Gedächtnis noch immer streikt, daß ich Boche Boche bleibe … Denn dieses Mädchen muß in meinem Dasein einst der Mittelpunkt starken Erlebens gewesen sein – bestimmt! Und so, wie ich heute bin, ein Namenloser, ein Flüchtling vor mir selbst, würde das Erwachen des Einst mir nur die letzten Stützen rauben. – Sprich nichts, Olaf … Tröste nicht. Trost sind Worte. Und wir, denke ich, sind Männer der Tat. Wir haben unsre Sach’ auf nichts gestellt. Wir wollen erleben, vergessen, Neues in uns aufspeichern [145] und das Alte ersticken … Kein Wort, Olaf … Wir sind Freunde … Bleiben es. Ich kenne dich …!“ Und seine abgemagerte Hand umfaßte die meine, deren Innenfläche lange Pflasterstreifen trug. „Freunde, Olaf … Kameraden, Heimatlose, Weltentramps, Abenteurer, aber … Männer, denen das Weib nichts mehr bedeutet.“

Dann lächelte er mir zu … Und in seinem Blick war alles Fremde verschwunden …

Ich aber fühlte mich wie befreit. Ich verstand jetzt alles, – auch des Kameraden Angst vor der toten Vergangenheit …

Vielleicht hatte er Gerda geliebt …

Und Gerda?!

Sie war des Kutters Torstensen größtes Rätsel.

Gleich darauf rief Jörnsen mich nach oben.




13. Kapitel.
Robbenfresser.

Ich hatte den Ölmantel übergezogen, zwei Sweater, die Ölkappe und hohe Stiefel. Es goß in Strömen. Ein stumpfes Licht lag über dem Kanal und den himmelhohen Wänden. Schwarzes Gewölk, nur mit einzelnen helleren Stellen, schob sich wie eine feste Masse von Süd nach Nord.

„Wir können weiter,“ erklärte der Alte kurz. „Südwind bringt hier immer rasches Abflauen des Seeganges. Erst den Buganker, Abelsen … [146] Zu zweien werden wir’s schon trotz unserer zerfetzten Hände schaffen … Vorwärts! Ich möchte keine Minute verlieren. Wir müssen als erste zur Stelle sein.“

„Wo?“ entschlüpfte es mir …

„Komm’, beeilen wir uns …!“

Der Anker ging hoch. Dann auch am Heck. Ich rollte die Manilataue sauber zusammen, denn Jörnsen wollte es so. „Wir müssen auf alles vorbereitet sein, Abelsen … Deshalb habe ich auch den Motor überholt.“

Der Torstensen wendete langsam, und bald waren wir mitten in dem gefürchteten Fahrwasser der Magelhaens-Straße, dieser Verbindung zweier Ozeane. Es wehte hier noch recht anständig, und die niederkommenden Hagelschauer, die dauernden Brecher und die Kälte verwandelten das Deck sehr schnell in eine holprige Eisbahn. Ich stand neben Jörnsen am Ruder, und oft genug mußte ich mit in die Radspeichen greifen, wenn irgendeine Strömung den Torstensen mit geradezu verblüffender Kraft aus dem Kurse drängte. Unsere Mäntel waren längst Eispanzer geworden, unsere Hände abgestorben und ohne jedes Gefühl.

Zunächst steuerte Jörnsen direkt südwärts, also schräg über die Straße hinweg, bis wir unter Wind der Desolation-Insel kamen, ruhigeres Wasser fanden und nach diesen vier Stunden, in denen Frau Helga uns verschiedentlich heißen Grog gebracht hatte, ein wenig aufatmen konnten. Das Wetter freilich blieb gleich schlecht. Und auch weiterhin fuhren wir nur mit Hilfe des Motors. Unsere Segel wären hier zu Brettern geworden und gerissen.

An der Ostspitze der Desolation-Insel beginnt [147] der engste Teil der Magelhaens-Straße. Feuerland schickt hier eine große Halbinsel tief nach Süden, und in dieser gefährlichen Strecke der mörderischen Passage, die wir gegen neun Uhr abends erreichten, bemerkte ich die traurigen Wahrzeichen von Ultima Thule: Schiffswracke, auf den Klippen hängend oder eingekeilt zwischen Riffen, oft in den wunderlichsten Stellungen, – Dampfer, Segler jeder Größe, manche nur noch Gerippe, andere gut erhalten, aber dick bedeckt mit Rost, rotbraun schimmernd im matten Glanz der Abendsonne, die zeitweise durch das jagende Gewölk hindurchgrinste und uns höhnisch an die vergangenen Sonnen- und Sommertage erinnerte.

Jörnsen ließ den Motor laufen, was er nur hergeben wollte. Halb zehn war’s, als der Alte wieder scharf südwärts steuerte, in einen Kanal zwischen zwei Felszungen hinein, deren ungeheure einzelne Blöcke wie Ruinen von mittelalterlichen Wachttürmen aussahen. Er deutete auf die westliche dieser Halbinseln … „Santa Ines, Abelsen …!“

Ich merkte, daß seine eiserne Ruhe ihn verlassen hatte. Er war sichtlich nervös.

Ich hatte mir inzwischen auf der Seekarte die Nordküste der Hauptinsel genau betrachtet, hatte dort Bucht an Bucht gefunden, die meisten nur punktiert, nur angedeutet, nie richtig vermessen. Und vor diesen Buchten an der Insel, die etwa so groß wie Sachsen ist und an der doch niemand ein Interesse hat, weil die steinigen Gebirgsmassen selbst den Betrieb von Schaffarmen verbieten, überall kleinere Eilande, – was man so klein nennt … [ws 1]

Zwischen diesen Eilanden schlängelte sich der [148] Torstensen bei rasch zunehmender Dunkelheit hindurch …

Vorn gleißt wieder der Scheinwerfer. Vorn steht jetzt Kamerad Boche Boche und späht nach den oft so trügerischen Vorzeichen unterirdischer Riffe aus …

Wie Jörnsen sich hier zurechtfindet, hier, wo Kanal an Kanal sich reiht, wo Kanal mit Kanal sich kreuzt, wo die dunklen Felsmassen der Inseln einander so vollkommen gleich sehen, ist mir unklar.

Dann – genau zehn Uhr – hinein in eine ganz enge Bucht … Ein gewundener Weg …

Ein stiller Binnensee schließlich, und wir werfen an der Südseite unter Wind Anker, fünfzig Meter von der zerklüfteten Küste ab.

Wir vier sind gleichmäßig erschöpft. Jeder von uns hat bei dieser Wettfahrt mit einem unsichtbaren Rivalen, denn das war dieser Tag, alles hergeben müssen, was an Spannkraft irgend aufzubringen war. Keiner hat sich geschont, auch Frau Helga und Boche Boche nicht. Als wir nun in der Heckkajüte bei der verspäteten Abendmahlzeit sitzen, sagt Jörnsen mit zufriedenem Nicken: „Für heute war’s genug, meine Freunde … Ich danke euch … Auch morgen könnt ihr ausruhen. Das Barometer steigt. Vielleicht lacht uns morgen wieder die Sonne.“

Boche Boche trinkt den heißen Tee – mehr Rum als Tee, mit der Gier eines Menschen, der einer augenblicklichen Abspannung Herr werden will. Und Jörnsen bewilligt ihm einen zweiten Becher … Erzählt … animiert auch mich zum Trinken …

Ich trinke …

Auch morgen ausruhen!! Oh, Holger Jörnsen, [149] hältst du Olaf Abelsen für ein Kind?! Jede Wette gehe ich ein: Wir sind ganz dicht am Ziel! Und wir sollen trinken, damit wir wie die Murmeltiere schlafen, damit das fragwürdige Ehepaar sich nachts im Boot davonschleichen kann … – Holger Jörnsen, so fertigst du uns nicht ab!!

Dann sagen wir den beiden Gute Nacht … Und als ich dem leicht taumelnden Kameraden die Treppe zum Deck emporhelfe, sehe ich über uns klaren ausgestirnten Himmel, empfängt uns oben ein milder Lufthauch – vom Pazifik her! Der Wind ist umgeschlagen und unser vereistes Deck schwimmt vor Nässe.

„Der Tauwind kam von Westen her …“ deklamiert Boche Boche mit müder Stimme … Wir machen mittschiffs halt, freuen uns über das Blinken der Sterne im stillen Wasser …

„Glaubst du daran?“ flüstert der Kamerad plötzlich …

„Nein!“ – Wir haben nicht viele Worte nötig, um uns zu verständigen.

Jörnsens letzte Bemerkung beim Auseinandergehen, daß diese Nacht niemand zu wachen brauche, hat auch Boche Boches Argwohn geweckt.

„Ich werde munter bleiben,“ erklärte ich leise. „Ich wecke dich dann …“

„Wenn sie das Boot nehmen?!“

„Fahren wir mit dem Kutter hinterdrein …“

In unserer Kajüte hätten wir dies nicht besprechen können …

„Gut … Wecke mich!“

Dann entkleiden wir uns in der Back. Ich lösche die Lampe aus. Und im Dunkeln schlüpfen wir lautlos wieder in die Unterkleider. Liegen dann unter den Decken … Ich habe mir zwei [150] Zigarren und Zündhölzer mit in die Koje genommen. Nach einer Weile will ich zu rauchen beginnen, damit der Schlaf mich nicht überrumpelt. Müde genug bin ich. Meine Hände schmerzen, meine Stirnwunde, erst halb vernarbt, Andenken an Punta Garras, meldet sich gleichfalls: Wetterumschlag!

Boche Boche schnarcht leise …

Totenstill ist’s auf dem Torstensen … Wie damals, als ich Gerdas Zettel fand – nachher die Toten …

Ich reibe ein Hölzchen unter der Decke an, und der Tabak wird zum treuen Gefährten peinvoller Stunden des Wartens. Wird etwas geschehen? Werden die Jörnsens den Kutter verlassen? Und wenn – wird es uns glücken, endlich dem großen Geheimnis auf die Spur zu kommen?

Ich sitze aufrecht, schütze die glimmende Zigarre mit der hohlen Hand, denn – man könnte wieder einmal spionieren – man, die Jörnsens.

Lausche …

Nervöses Ameisenlaufen in den Beinen … Schweißperlen auf der Stirn …

Wird etwas geschehen?!

Ich verliere jede Schätzung der entrinnenden Zeit …

Wie spät mag’s wohl sein? – Die glimmende Zigarre genügt für das Zifferblatt der Nickeluhr.

Halb eins erst … Und ich hätte auf drei Uhr morgens geschätzt …

Boche Boche wälzt sich im Schlafe hin und her, lallt einzelne Worte, stöhnt …

Einmal verstehe ich deutlich: Gerda!!

Gerda!!

Und wieder schleichen die Minuten …

[151] Ich nehme die zweite Zigarre. Sie brennt nicht, hat Nebenluft … Ich drücke den Stummel auf dem Fußboden aus. Und sitze und horche, kämpfe gegen die Müdigkeit. Die Tür zum Deck ist offen. Ganz selten der ferne Schrei einer Möve … Einziges Lebenszeichen von draußen.

Die Müdigkeit steigert sich …

Ich schrecke auf … War ich wirklich für Sekunden eingenickt?!

Meine Sinne sind wieder wach.

Merkwürdiger Geruch, der mir da in die Nase dringt …

Gestank …

So stinken Fischer in ihrem Arbeitshabit … So stanken die Eskimos von Labrador, die ich auf meiner einzigen Fahrt ins Eismeer kennenlernte …

Eskimos … hier?! – Nein – aber Feuerländer … Eingeborene, die hier wie Eskimos leben, in Robbenfellen, die Tran saufen, Robbenfleisch fressen …

Mein Hirn sprüht Gedanken …

Meine Hand gleitet unter das Kissen zur Pistole …

Ich schiebe die Sicherung zurück …

Der Gestank wird noch aufdringlicher …

Ich strecke die Waffe vor …

Der Lauf berührt etwas – etwas, das zurückweicht, etwas das nicht vorhanden sein dürfte …

Knall … Schrei … Krachen eines umsinkenden Körpers …

Geräusche …

Im matten Lichtschimmer auf der Treppe eine Gestalt, nach oben flüchtend …

Dicht an meinem Kopf saust etwas vorbei, fährt in die Wand mit hohlem Ton …

[152] Wurfmesser …

Ich feuere auf die Gestalt …

Knall … Schrei … Die Gestalt schlägt nach rückwärts … Eine zweite, dritte …

Boche Boche feuert …

Und von den fünf Robbenfressern kommt nicht einer wieder an Deck. –

Unsere Lampe brennt. Zwei leben noch … Ich in Unterkleidern nach oben … Ein Blick rundum … Ein hochbordiger Kahn, von vier Eingeborenen gerudert, schießt der Ausfahrt zu.

Das Deck ist leer …

Boche Boche schon neben mir, drückt mir die Sniders-Büchse in die Hand …

„Los – Schnellfeuer!!“

Die Felswände werfen das Echo der Schüsse vielfach zurück …

Die Kerle drüben rudern um ihr bißchen Leben … Hätten sich retten können, wenn sie umgekehrt wären. Dachten nicht daran.

Wir zielen, drücken ab …

Drüben rudern nur noch zwei …

Nur noch einer …

Der steht aufrecht jetzt …

Der trägt keine Felle, der trägt dunklen Anzug, Seemannsmütze … Der rudert im Zick-Zack … auf das Ufer zu … Hat Glück … Gerade der! Glück … bis er auf das Gestein springt, – da stolpert er vornüber … Die Mondsichel zeigt uns, daß er weiterkriecht und das linke Bein nachschleppen läßt …

„Stopp!“ ruft Boche Boche. „Er entgeht uns nicht … Mit dem angeschweißten Flügel kann er nicht schwimmen, also auch nicht die Insel verlassen. Da – er humpelt, knickt wieder zusammen. [153] Er schauspielert nicht, er würde sich unseren Kugeln niemals so als klares Ziel darbieten, wenn er nicht wirklich etwas abbekommen hätte.“

Der Mann dort ist der Feind. Wie richtig doch Jörnsen vermutet hatte, daß der Giftmischer sich mit Feuerländern verbünden und daß das Gold diese gelbbraunen Transäufer ihm ins Garn bringen würde!

Boche Boche deutet nach achtern …

„Dort liegt das Boot des Kutters, Olaf. Und doch können die Jörnsens nicht an Bord sein. Die Schüsse hätten sie längst nach oben gelockt.“

„Oder – sie sind abgetan worden,“ meinte ich bedrückt, denn ich habe als Wächter, als Wache versagt, war eingeschlafen …

„Wollen sehen … Ich glaube es nicht, Olaf. Ich denke an die drei Patagonier, die in Punta Garras dich aus dem Wasser zogen und gute Freunde Jörnsens waren. Vielleicht haben die drei das Ehepaar abgeholt …“

„Ich werde allein nach achtern gehen, Boche Boche,“ schlage ich vor. „Bleib’ hier. Gib acht, daß der Mann nicht den Kahn drüben holt …“

„Gut so … Geh’ nur …“

Die Jörnsens sind nicht an Bord. Das ist schnell festgestellt. Als ich wieder an Deck komme, meldet sich unser Mann auf seine Weise. Mit feinem Singen streicht dicht an meiner Nase ein Geschoß vorüber, so dicht, daß ich den Hauch der verdrängten Luft spüre.

„Hinwerfen!“ brülle ich dem Kameraden zu. Der hat den Schuß vom nahen Ufer gerade gegenüber unserer Anlegestelle ebenso deutlich gehört wie ich.

[154] Wir liegen hinter der Steuerbordreling und mustern vorsichtig die zerklüfteten, von der Mondsichel schwach beschienenen Uferpartien. Unmöglich, dort einen versteckten Menschen herauszufinden.

„Das hat man für seine Nachsicht,“ brummt Boche Boche wütend. „Nun können wir hier Schnecken spielen und kriechen … Der Bursche löscht uns aus, wenn wir die Köpfe hochrecken.“

Ich habe vorhin geschlafen. Ich habe diese Nachlässigkeit wett zu machen. „Oder ich lösche ihn aus,“ sage ich mit allem Nachdruck. „Ich werde an Land schwimmen, nehme die Büchse mit. Der Feind ist lahm. – Ich tue es … Es ist gar keine Gefahr dabei.“

„Es wäre das richtigste, Olaf … Wenn ich völlig bei Kräften wäre, würde es mir ein Spaß sein, den Kerl aus nächster Nähe zu betrachten. Spare die Kugel. Wir müssen ihn lebendig haben.“

Eine zweite Feuertaufe … Der Gegner hat meinen Kopf erspäht … Und neben mir klatschen seine Geschosse ins Wasser – hier, dort … Doch auch Boche Boche feuert, hat wohl das Aufblitzen der Schüsse gesehen, macht dem Burschen das Zielen schwer … Dieser Steinkessel von Bucht hallt wider[13] von dem hellen Klang der Repetierbüchsen – ein förmliches Feuergefecht …

Als ich den hochbordigen Kahn der Feuerländer erreicht habe, als ich ihn abschleppe und vor mich her zum Kutter stoße, verstummt der Lärm der Schüsse. Ich beeile mich. Das Wasser ist kühl, aber nicht kalt. Es erfrischt. Meine Lebensgeister sind munterer, tatenfroher denn je. – Über die Reling wirft Boche Boche mir eine Leine zu. Ich vertäue den großen Kahn, und dann lasse [155] ich mir die Zeit und ziehe mich an der Bordwand hoch. Vier stille Gestalten am Boden – vier. Also waren’s mit dem Weißen doch fünf gewesen.

Dann schwimme ich zurück, wähle als Ziel eine schmale Felszunge mit hohem Geröll, das mich genügend schützt.

Im Osten zeigt sich über den Randhöhen der Bucht der erste fahle Schein der Dämmerung. Der neue Tag bricht an. Der Tag, an dem sich alles klärt, der Tag der Überraschungen, der Freude …




14. Kapitel.
Der Frieden des Todes.

Ich habe nur Unterkleider an, nur wollene Strümpfe. Die Repetierbüchse, die ich mir im Nacken festgebunden hatte, kann ich nicht vor Nässe schützen. Sie wird trotzdem nicht versagen. Ich krieche im Geröll entlang, die entsicherte Waffe in der Rechten. Wenn der Feind es überhaupt wagt, mir aufzulauern, dann habe ich ihn hier in der Nähe zu erwarten. Ich bin vorsichtig. Man hat nur ein Leben zu verlieren, und ich möchte zum mindesten noch erfahren, was Jörnsens unverständliche Geheimniskrämerei auf sich hat und was aus Gerda geworden. – Gerda … Die Gedanken an sie sind nicht zu verscheuchen. Nicht zu vergessen sind die drei Tage, wo sie in meiner [156] nächsten Nähe schlief und wo die Liebe mir zusetzte.

Es wird rasch heller. Die Mondsichel verblaßt, die Sterne erlöschen … Das Vorgelände ist auf fünfzig Schritt bequem zu überschauen. Nach einer halben Stunde stehe ich einsam auf der höchsten Spitze der südlichen Buchthöhen und lasse mich von den ersten Sonnenstrahlen umspielen. Der warme Wind vom Pazifik trocknet mein Unterzeug. Meine Strümpfe haben keine Sohlen mehr. Meine Füße sind wund vom scharfen Gestein. Wo ich hintrete, bleiben Blutflecken.

Aber der Wille ist alles. Schmerzen sind nichts, wenn man inmitten von solchem Erleben dahinschreitet.

Mein scharfer Blick prüft die Insel, tastet jede Einzelheit ab. Schimmernde Wasserstraßen ringsum, Insel an Insel. Nach Süden zu die Gestade und Gebirgsmassen von Santa Ines – so nah, daß eine Kugel gegen die Steilküste klatschen würde. Von dem Gegner nichts – gar nichts … Und ihn in dieser Steinwildnis suchen: Stecknadel im Heuschober! Ich habe mir diese Jagd auf einen Blessierten doch zu leicht vorgestellt. Ich wende mich um, und unter mir im Buchtbecken der Kutter, Boche Boche an Deck, erledigt Seemannsbegräbnis, wirft die Toten über Bord, jeder mit einem kleinen Sandsack an den Füßen. Er hat mir schon vorhin zugewinkt, winkt wieder, klettert in den Kahn hinab und treibt ihn zum Ufer. Ich beginne den Abstieg. Unzufrieden, enttäuscht und voller Sorgen, was die Jörnsens betrifft. Vielleicht leben sie nicht mehr. Vielleicht hat unser Mann sie wirklich abgetan, und die Leichen schwimmen irgendwo in den Kanälen.

[157] Der Kamerad empfängt mich mit der trockenen Bemerkung, daß auch die beiden Verwundeten inzwischen hinüber sind. „… Die vier im Kahn waren tot … Der eine hatte drei Schüsse. Das Wurfmesser, Olaf, das über deinem Bett in der Wand steckt, rechtfertigt dieses Blutbad … Trotzdem: arme Kerle! Verführt durch den, der unseren Alten marterte.“

Wir behalten die Umgebung dauernd im Auge. Kehren auf den Torstensen zurück und lichten die Anker, wechseln den Liegeplatz. Mitten in der Bucht sind wir sicherer.

Die Sonne lacht heiter auf uns herab, als wir Körper und Geist, die an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt sind, auf der Großluke sitzend durch ein derbes Frühstück und pechschwarzen Kaffee und Kognak anfeuern. – „Wenn die Jörnsens bis mittag nicht wieder da sind, suchen wir sie, Olaf …“

„Und jetzt legst du dich nieder – auf jeden Fall! Schau’ mal in den Spiegel! Quittengelb bist du, und die Ränder um die Augen sollten dich gleichfalls warnen.“ –

Er ist verständig genug zu gehorchen. Nach drei Stunden, um zehn, will ich ihn wecken. Er verschwindet in der Back.

In meinem Blut arbeitet der Alkohol. Trügerische Frische macht mir die Augen blank. Ich steige in die Heckkajüte hinab. Will einmal nachsehen, ob dort irgend etwas auf einen Überfall hindeutet. Aber die Kojen des Ehepaares sind unberührt. Die Decken liegen glatt, und es fehlen zwei Büchsen und zwei Pistolen. Es wird schon so sein: die drei Patagonier haben die beiden abgeholt – in aller Stille …

[158] Wieder an Deck …

Wunderliches Land …! Die Sonne brennt wie im schwedischen Hochsommer, wenn Stockholms Felsenhafen unter dreißig Grad schwitzt. Wunderliches Land …! Gestern Eisbahn an Deck, heute rauchen die feuchten Deckplanken …

Ich lehne am Rade, die Büchse im Arm, die Zigarre im Munde … Mein halb berauschtes Hirn zeigt mir die seltsamen Bilder dieser Abenteurerfahrt: Boche Boche und ich auf dem Floß in der Ostsee, das Auftauchen des Torstensen, der Zettel im alten Schweinslederschmöker … Boche Boches Wutanfälle auf die Drecksau … Das Kabinettbild, und Jörnsens Pistole dicht vor meiner Stirn … Panama, unser Mann … Gesang, Gitarrenspiel … Landung in Iquique, Einkäufe dort … Punta Garras … und so weiter: Merkpunkte der Reise nach Ultima Thule, Merkpunkte der ungelösten Rätsel!

Gerda …!! Gerda und der Kamerad!! Der Kamerad, der das Wissen fürchtet … Gerdas wegen!

Und das Ende nun?! Der Ausgang all dieses?!

Wenn unser Mann mit seinen gedungenen Robbenfressern die Patagonier und die Jörnsens hat verschwinden lassen, wenn wir ihn nicht finden, dann wird der Vorhang nie gelüftet werden – nie! Die Aussicht, selbst bei eifrigstem Suchen den Ort hier zu finden, der das Endziel ist, dürfte äußerst gering sein. Gewiß, wir haben Zeit … Wir können die Inseln und die Gestade von Punta Ines durchstöbern, und wenn’s Monate dauert. Aber – etwas finden, von dem man nicht einmal ahnt, wo es sein könnte – eigentlich ein zweckloses Unterfangen!

[159] Das sind so meine Gedanken über unsere Lage. Es sind nüchterne Gedanken, die sich den Umständen anpassen. –

Ich ziehe die Uhr aus der Hosentasche. Die drei Stunden sind um.

Überraschend schnell. – Soll ich Boche Boche wirklich wecken?! Er hat den Schlaf nötiger als ich.

Ein neuer Schluck aus der Kognakflasche. Nerven anpeitschen …

Ein paar große Mähnenrobben liegen jetzt drüben auf der Halbinsel. Ein Bulle mit drei Kühen, seinem Harem. Der feiste Herr wird zärtlich. Der Kutter stört ihn nicht.

So ganz ohne Vegetation sind diese Felsmassen doch nicht. In einer Schlucht drüben, aus der eine Quelle hervorrieselt, schimmert es gelb von Dornblüten und violett von Teppichen kleiner Orchideen. Ein paar verkrüppelte Bäume, antarktische Buchen, vervollständigen das freundliche Gemälde. Der Hintergrund der Schlucht ist mit spärlichem Heidegras bedeckt, und dieses selbe Gras nährt die Hunderttausende von Schafen auf den Farmen von Feuerland.

Mein Blick wandert weiter … Aber unser Mann, dessen Kugeln hier die einzige Gefahr sind, meldet sich nicht. Die große erhabene Einsamkeit des Endes in der Welt ist um mich her.

Schritte da … Boche Boche, gähnend, schimpfend …

„Elf ist’s, Olaf! Das nennt man falsche Rücksichtnahme! Willst du nachher versagen, wenn’s ums Ganze vielleicht geht?!“

Er hat nicht unrecht … – Ich sinke in meine Koje, bin im Augenblick eingeschlafen. Ich träume nicht … Ich bin nachher um zwei Uhr kaum [160] wach zu bekommen. Die Jörnsens sind noch nicht zurückgekehrt, meldet der Kamerad kurz … „Aber wer anders ist an Bord, wenn auch unfreiwillig, Olaf … Ich fand ihn in einer Art Höhle … Sein Patronenvorrat war verbraucht, und die zerschmetterte Kniescheibe machte ihn zahm … Ich habe ihm die Arme gefesselt und ihn auf den Rücken genommen, nachher hier verbunden …“

„Unser Mann?“

„Wer sonst?! – Leider sind seine Taschen leer, und auch sein Mund verrät nichts, höhnt nur, geifert … Ich habe bereits drei Schraubenschlüssel in der Herdglut. Ich sage dir: er wird beichten!“

Meine Schlaftrunkenheit zerstiebt. Ich fahre in die Stiefel …

„Wie fandest du ihn?“

„Blutspur, Olaf … Er hat mächtig geschweißt.“

Seine Stimme ist hart, seine Augen unerbittlich, sein Mund eine stille Drohung.

„Er wird reden, Olaf …! Das erspart uns das Suchen! Und wenn du nicht mitmachst: ich tu’s! Er hat Jörnsen das Fleisch von den Händen geschmort … Seine Hände werden dasselbe fühlen. Ich tu’s!“

Auf der Großluke liegt unser Mann, die Arme über der Brust festgeschnürt, dazu noch an die Lukenkrampen gebunden, unter dem Kopf eine zusammengerollte Decke.

Nun sehe ich ihn aus nächster Nähe … Kein übles Gesicht trotz des Stoppelbartes. Aber die Augen eines Verbrechers schlimmster Sorte, und die gemeinste Frechheit in diesem herausfordernden [161] Grinsen, mit dem er mich begrüßt, noch unverschämter und zynischer seine Worte …

„Ah – der Zuchthäusler Abelsen …!! Grüß’ Gott, Landsmann Abelsen! Da haben wir drei uns ja fein zusammengefunden!“

Boche Boche sagt nur: „Binde ihm den rechten Arm los und dann seitwärts ganz straff an die Wanten. Nimm ein dünnes Drahtseil, Olaf. Das fängt nicht Feuer.“

Unser Mann hat bisher deutsch gegeifert, und in der Sprache meiner Mutter, die mir heilig, spielt sich hier an Deck das Unheilige ab.

Der Kamerad taucht in der Kombüse unter, deren kleiner Schornstein Qualmwolken speit. Der Herd scheint gut geheizt zu sein.

Ich hole das Drahtseil, und unser Mann, plötzlich verstummt und mit einem Gesichtsausdruck feigster Angst, beginnt in anderer Tonart zu winseln, als ich ihm den rechten Arm straff spanne. Vielleicht ist ihm infolge Boche Boches Bemerkung, daß ein Drahtseil nicht brennt, eine Ahnung von dem aufgegangen, was ihm bevorsteht.

„Herr Abelsen,“ sprudelt er überstürzt hervor, „ich kann Ihnen Millionen in den Schoß werfen. Beseitigen Sie diesen Verrückten, dem doch wahrlich nichts mehr am Leben liegen kann. Ich schwöre es Ihnen: Millionen!! Die Berge von Santa Ines enthalten eine Goldader, die frei zutage tritt, und …“

„Lump!!“ Ich drehe ihm den Rücken.

Boche Boche taucht im Kombüsenniedergang auf und hält die größte unserer Zangen in der Rechten, und diese Zange beißt in ein rotglühendes Stück Eisen, einen schweren Schraubenschlüssel, hinein.

[162] Unser Mann hebt den Kopf von der gerollten Decke und stiert mit aufgerissenen Augen auf das glühende Eisen. Sein vom Blutverlust bleiches Gesicht wird noch fahler. Der Mund öffnet sich vor Entsetzen ganz weit, und die Goldzähne im Oberkiefer blinken im Sonnenlicht.

Boche Boche stellt sich neben die Hand, die zu dem ausgereckten Arm gehört. Um das Handgelenk liegt die Drahtschlinge und schneidet eine tiefe Furche in die Haut. Die Hand ist aufgequollen, die Adern sind dick, denn die Schlinge hindert den Blutkreislauf.

Der Kamerad bringt das bereits wieder schwarze, aber immer noch heiße Eisen dicht an die Finger dieser Hand heran.

„Wie heißen Sie?!“

Der Elende schnappt nach Luft …

„Schurken – Schurken!“ brüllt er …

„So können Sie unmöglich heißen,“ meint Boche Boche mit der gefährlichen Ironie eines Menschen, der über einen anderen unbedingt Gewalt hat. „Ein Schurke sind Sie, das stimmt … Wie ist Ihr Name? Lügen Sie, so wird von Ihrer Hand, fürchte ich, nicht viel übrig bleiben. Also …?!“

Ich hatte den Kameraden in dieser geistigen Verfassung, die bei ihm einen Rückfall in die wilde Zeit seiner Fronttätigkeit bedeutete, seit dem letzten „Krach“ mit Frau Jörnsen nicht mehr gesehen. Es konnte sich ja nur um ausgesprochene Rückfälle handeln, denn bei all seinem fast zügellosen Herrenmenschentum und bei all seiner Kraftnatur war er doch stets der Mann von Bildung, Takt und vornehmer Anpassungsfähigkeit geblieben. Freilich, ob er an der Westfront als einfacher Soldat oder als Offizier die Schrecken der Massenvernichtung [163] kennengelernt hatte, das wußte er nicht mehr. Auch das war eingemauert in jene Zelle seines Hirns, deren Tür sich durchaus nicht öffnen wollte.

Ich beobachtete ihn jetzt sehr genau, und wieder gewann ich den bestimmten Eindruck (was ich hier schon einmal betont habe), daß er ohne Zweifel, falls er nicht Berufssoldat gewesen, im bürgerlichen Leben eine hervorragende Stellung bekleidet haben müsse. Diese eisige Überlegenheit, die auch hier in seinem Verhalten so klar zutage trat, pflegen nur Leute zu besitzen, die mit allen Gesellschaftsschichten in ständige Berührung kommen und dabei stets tonangebend den Mittelpunkt eines noch so sehr wechselnden Kreises sind.

„… Also?!“

Unser Mann stieß einen heulenden Laut ohnmächtigsten Grimmes aus …

„Feiglinge … Mörder … Banditen …“

Das letzte Schimpfwort wurde ihm jedoch bereits halb von den Lippen gefegt durch einen tierischen Schrei des Schmerzes …

Zischend hatte sich das heiße Eisen über seinen Handrücken gelegt …

Der Geruch verbrannter Haut drang mir in die Nase.

„Also …?!“ rief Boche Boche wieder …

Ein grauenvoller Ausdruck von Haß verzerrte des Gefesselten erdiges Gesicht … Aber diese erste schmerzhafte Mahnung, daß diese Szene kein Possenspiel sei, hatte des Jämmerlings Widerstand gebrochen.

„Erik Jörnsen …!“ kreischte er … „Erik Jörnsen, Doktor der Medizin …“

Ich traute meinen Ohren nicht recht. – Doktor [164] Erik Jörnsen?! Das war jener schwedische Arzt, der kurz vor meiner Verhaftung wegen des Verdachtes, seine Frau und sein Kind beseitigt zu haben, um deren Lebensversicherungssummen einstreichen zu können, in einen ganz Schweden in Atem haltenden Prozeß verwickelt gewesen war. Wie dieser ausgelaufen, war mir unbekannt geblieben, denn inzwischen hatte die Justizbehörde mich selbst auf die Aussage jenes Weibes hin, das ich einst zu lieben glaubte, überaus eilfertig, aber verzeihlicher Weise von aller Außenwelt abgesperrt. Und noch etwas rief mir dieser Name ins Gedächtnis zurück: Jener Doktor Jörnsen war mit einer geborenen Arnstör, Senta Arnstör, verheiratet gewesen. Nun ist der Name Arnstör in einzelnen Gegenden meines Vaterlandes so häufig, daß jene Zeitungsberichte trotz dieses Namens Arnstör mich nur ganz flüchtig an meine Jugendgespielin erinnert hatten.

Ich trat wieder näher an unseren Mann heran und fragte, ohne mir Mühe zu geben, meine Erregung zu verhehlen: „Doktor Jörnsen aus Stockholm? Ihre Frau hieß Senta Arnstör?“

Sein Blick wich zur Seite … „Ja, derselbe Jörnsen – der Freigesprochene!“

Boche Boche spielte jetzt den Zuhörer.

„Ein Verwandter Holger Jörnsens?“ forschte ich weiter.

„Ja … Ich bin sein Neffe …“

„Netter Neffe!“ meinte der Kamerad.

„Weshalb verfolgen Sie Ihren Onkel und dessen Frau?“ setzte ich das Verhör fort.

Er schaute mich erstaunt an … Mit einem Male zuckte frecher Hohn um seine Lippen …

[165] „Ach so!“ sagte er mit kurzem Auflachen. „Mir geht ein Licht auf …! Also die Firma ist’s!! Die! Nun – ich danke Ihnen für diese Offenbarung, Herr Abelsen. Jetzt …“ – wieder das scheußliche Lachen – „jetzt mögen Sie mich meinetwegen bei lebendigem Leibe schmoren, – von mir erfahren Sie nichts mehr – gar nichts! – Wissen Sie, was Haß vermag?! Haß ist mehr als Hunger, Liebe … Haß ist das stärkste, das einen Menschen völlig umwandeln kann! Haß und Rache sind Geschwister! Versuchen Sie doch mal, aus mir auch nur eine Silbe noch herauszupressen! Sie wollen wissen, wo das Ehepaar Jörnsen ist … Sie wollen wissen, weshalb ich so eifrig hinter dem Kutter her war … Nichts werden Sie erfahren – nichts! Sie haben mir die Kraft gegeben zum Sterben! Denn – auch andere werden dann sterben. Und diese Gewißheit wird mir meine letzten Sekunden versüßen!“

„Abwarten …! Sie sind nicht aus demselben Holze geschnitzt wie Ihr Oheim. Dem haben Sie die Handflächen bis auf die Knochen verbrannt, und er schwieg trotzdem! Aber es gibt … empfindlichere Stellen des Körpers, Doktor Jörnsen! Abwarten!“ Und er schritt davon, in die Kombüse hinab, kehrte sofort mit einem anderen glühenden Eisen zurück …

„Olaf, reiße ihm die Kleider vom Leibe! Tu’s! Schnell!“

Erik Jörnsen hatte den Kopf nach unten gebeugt, hatte so mit dem Munde die hochgebauschte Ecke seines linken Jackenaufschlags erreichen können, hatte dort mit den Zähnen eine kurze Nadel mit dunkelblauem Glasknopf hervorgezogen und ebenso rasch im Munde verschwinden lassen.

[166] Ich sprang zu spät zu …

Er spie mir ein grelles Lachen ins Gesicht …

„Sie sitzt schon im Gaumenfleisch, Abelsen! Ich hatte mich vorgesehen … Ich werde einen leichten Tod haben … Martert mich doch – martert mich! Eine Leiche spürt nichts mehr!! Nichts! Schaut nach der Uhr: drei Minuten dauert es! Ich habe es ausprobiert … An wem wohl?! – Ja, glotzt mich nur an, ihr Schurken! Ich lache euch aus!! Sucht doch das Ehepaar Jörnsen!! Auch die drei Patagonier!! Mein Herr Onkel kann euch dann zu Millionären machen, der alte Narr, der das Gold verachtete und nun am Golde erstickt …! – Drei Minuten – – keine Sekunde länger!! – Und du, Vagabund ohne Namen, Boche Boche, doppeltes Schwein, – – du sollst auch noch ein Andenken von mir erhalten …! Besinne dich mal … Sind wir uns nie im Leben begegnet? Bin ich dir wirklich ein Fremder? – Doppeltes Schwein – ich … weiß deinen Namen!! Ich könnte ihn dir nennen! Auch Holger Jörnsen kennt ihn … Aber – und das ist meine Rache an dir! – ich werde dich weiter als Namenlosen in der Finsternis deines toten Hirns umhertappen lassen, und auch mein Onkel wird dir den Schleier deiner Vergangenheit niemals lüften …! Ich kenne dich! Oft genug haben wir nebeneinander gesessen!“

Der Kamerad hatte das glühende Eisen plötzlich über Bord geworfen, die Zange fallen lassen und die Fäuste gegen die Schläfen gepreßt, als ob er seinen Schädel durch brutalen Druck in andere Form bringen und so vielleicht die verschlossene Pforte sprengen könnte. Totenbleich war er … Die grauen Augen quollen aus den Höhlen … [167] Und diese Augen hingen verzweifelt, hilfesuchend an meinem erstarrten Gesicht …

Sonnenschein um uns – die große erhabene Stille dieser steinernen Welt …

„Olaf – – Olaf …“ stöhnte der Kamerad, „Da war … war abermals ein kurzes Aufflackern des Gedächtnisses … Ich … kenne ihn – – ihn!“

Und er stürzte vorwärts, kniete neben Erik Jörnsen …

Zu spät wäre jedes Flehen gekommen.

Jörnsen lag bereits mit geschlossenen Augen da, um die geschlossenen Lippen ein rachsüchtiges Grinsen …

Blitzartig veränderten sich seine Züge. Das Grinsen verschwand …

Der Tod gab auch diesem Gesicht den Frieden.




15. Kapitel.
Der Name.

Sang- und klanglos flog um vier Uhr nachmittags die mit einem Felsstein beschwerte Leiche Doktor Erik Jörnsens über Bord in die Tiefe. Ich hatte das allein besorgen müssen, denn mit Boche Boche war jetzt nichts anzufangen. Gleich nach dem raschen Tode Jörnsens hatte er sich vorn auf die kleine Luke gesetzt und starrte regungslos in stumpfem Brüten vor sich hin, war für [168] keinerlei Trostwort zugänglich und meinte nur einmal in jenem verzweifelten Ton, den ich schon an ihm kannte: „Er hat sich wirklich gerächt …!! Bittereres hätte er mir nicht zufügen können als diese grausame Eröffnung, daß sowohl er als auch der andere Jörnsen wußten, wer ich bin … Und diese beiden sind tot, und ich werde bleiben, was ich war: Boche Boche! – Geh’, Olaf, laß mich bitte allein … Hiermit muß ich selbst fertig werden!“

Ich ging … Durfte ich ihm sagen, daß ich längst den Beweis erhalten, daß er dem alten Jörnsen kein Fremder?! Durfte ich von dem Kabinettbilde sprechen?! Ich hatte mein Wort verpfändet!

Jetzt wirtschaftete ich in der Kombüse umher, spielte Koch. Nach der Mahlzeit würde ich den Freund schon dazu bestimmen, daß wir uns zunächst einmal gehörig ausschliefen, bevor wir die Suche nach den beiden Jörnsens begannen, denn ich für meine Person war überzeugt, daß sie noch lebten. Erik Jörnsen hatte sich ja in seinen letzten haßerfüllten Sätzen geradezu widersprochen, was das Ehepaar anbetraf. Für mich war ausschlaggebend, daß er erklärt hatte, wenn er stürbe, würden auch andere sterben – andere, das konnten nur die Jörnsens sein! Also lebten sie noch, wurden nur irgendwo festgehalten, wo sie verhungern mußten, falls wir sie nicht befreiten.

Und … Gerda?!

Bitterste Vorwürfe machte ich mir jetzt, weil ich Erik Jörnsen nicht wenigstens eine Andeutung über ihren Verbleib herausgelockt hatte.

Überhaupt: mir ging so vieles durch den Kopf! Vollkommen unverständlich war mir, weshalb [169] Doktor Jörnsen, fraglos ein übler Feigling, so plötzlich den Mut gefunden, seinem Leben ein Ende zu machen.

Ich sollte ihm diesen Mut eingeflößt haben – – ich?! Wodurch?! Ich hatte ihn doch lediglich gefragt, weshalb er seinen Onkel und dessen Frau verfolge! Und da war diese seltsame Wendung eingetreten, da hatten wir jede Macht über ihn verloren …!

Vieles ging mir durch den Kopf. Ich hatte jetzt ausschließlich die Verantwortung für alles, was wir zur Rettung der beiden Jörnsens tun würden. Mein Kamerad, das fühlte ich, würde diesen Kampf gegen seine niedergedrückte, trostlose Stimmung diesmal nicht so schnell wie bisher als Sieger beenden können.

Die Mahlzeit war fertig. Ich hatte der Bequemlichkeit halber den Tisch gleich in der Kombüse gedeckt. Ich besinne mich so genau, daß ich mir damals besondere Mühe gegeben, unsere bescheidene Tafel recht zierlich herzurichten, denn – das Auge ißt mit. Es gab ein echt deutsches Gericht: Konserveneisbein mit Erbsbrei und Sauerkohl, dazu eine große Schale eingemachte Früchte, als Getränk Rotwein. Einzelheiten eines Tages wie jener, an dem nachher Schlag auf Schlag die Überraschungen folgten, vergißt man nie. Noch heute träume ich oft davon, weit häufiger als über die Ereignisse jener Nacht, wo die Ankerketten des Torstensen wie Stahlsaiten erklangen, rissen und der Kutter in den stillen Triftkanal getrieben wurde.

Ich ging an Deck, um Boche Boche zu Tisch zu bitten. Da begann das Wunderbare dieses Nachmittags. Der Kamerad hatte seinen Platz [170] auf der Vorderluke verlassen und stand an der Reling mit angelegter Büchse … Sein Ziel war ein großer schwarzer Vogel, der drüben am Ufer auf einer spitzen Felszacke saß – ein Kropfrabe, der sowohl in Patagonien wie auf Feuerland in Scharen vorkommt.

Der Schuß knallte, und der schwarze Vogel sank wie vom Blitz getroffen in das Geröll.

„Weshalb?!“ fragte ich erstaunt.

Boche Boche drehte sich um, nickte mir zu und kletterte rasch in den Kahn der Feuerländer hinab, dessen rohe Planken innen noch die dicken schwarzen Blutkrusten der nächtlichen Metzelei zeigten, an die ich ungern zurückdachte, denn in jenen Minuten, wo ich wie ein Berauschter auf die Flüchtlinge gefeuert hatte, war mir das Verständnis für den in jedem Menschen schlummernden tierischen Vernichtungstrieb aufgegangen, der im Weltkrieg so furchtbare Orgien auf Geheiß einiger kaltherziger Diplomaten gefeiert hatte, – und dieser meiner Schwäche, nun selbst diesem Tierischen unterlegen zu sein, schämte ich mich.

Der Kamerad löste die Leine des Kahnes, griff zu den Rudern und trieb das schwere Fahrzeug ans Ufer, bückte sich, hob etwas Weißes auf und trat die Rückfahrt zum Kutter an.

Das Weiße, nein, das Grauweiße war ein kleines angeschmutztes Taschentuch mit schmalem Spitzenrand. Die eine Vorratskiste des Torstensen enthielt einige Dutzend gleicher Damentaschentücher.

Boche Boche zeigte mir das Tüchlein. „Der Rabe, Olaf, kam von Nordost über die Randhöhen der Bucht mit diesem Tuche im Schnabel dahergeflogen. Ich sah, daß es ein Damentüchlein [171] war. Und ein flüchtiger Gedanke ließ mich diese Beute des diebischen Raben mit Gerda Arnstörs Person in Verbindung bringen.“

Ich schaute ihn an. Er hatte den Namen, vor dem er sich fürchtete, soeben nun doch über die Lippen gebracht. Sein Blick ruhte in dem meinen. „Olaf, ich habe mir Doktor Jörnsens unklare Angaben genau überlegt. Und das war gut. Meine Verzweiflung entwich vor dieser ablenkenden geistigen Arbeit. Die Jörnsens leben, und auch Gerda Arnstör lebt, und alles, was wir ihr als Schuld zugemessen haben, ist unserseits ein grober Irrtum. Wir werden sie suchen, die drei. Und wir werden sie finden. Der Rabe kam von Nordost. Dort müssen wir also suchen, dort hat er irgendwo das Taschentuch erwischt, das freilich ebensogut Frau Helga gehören kann, obwohl … – bitte, was sagt dir deine Nase?! Hast du jemals an der schmierigen Alten Parfüm wahrgenommen?!“

Da roch ich ebenfalls den zarten Duft von Parmaveilchen. Und blitzartig kam mir die Erinnerung: Nach Parmaveilchen hatte Gerda Arnstörs Schlafzimmer geduftet, sie selbst, als sie neben mir damals nachts im Auto gen Trelleborg jagte.

Ein verträumtes Lächeln war auf des Kameraden gerötetem Gesicht erschienen. „Olaf, ich kenne dieses Parfüm … Und dieser liebliche Duft der Veilchen hat mir abermals einen kurzen Einblick in die geschlossene Kammer meines Hirns gewährt. Olaf, ich hoffe wieder …! – Komm’ essen wir. Und dann Anker herauf, dann die Suche nach den dreien und ihrem Geheimnis – – und nach meiner Vergangenheit!“

[172] Wie sehr hatte ich mich doch vorhin getäuscht! Mir hatte ich eine Verantwortung eingeredet, und nun hatte der Kamerad genau wie mit der Gefangennahme Erik Jörnsens den Dingen eine entscheidende Wendung gegeben!

Boche Boche war und blieb wie ausgewechselt. Bei Tisch hieb er mit einem beneidenswerten Appetit ein, und er war gesprächig, lebhaft, voller Unternehmungslust wie nie bisher. Ich merkte, daß die Fesseln, die gewisse Zentren seines Gedächtnisses umklammerten, sich gelockert hatten. Er sprach über die Ereignisse in Punta Garras mit der klaren Logik eines Menschen, der verworrene Fragen spielend leicht bewältigt. Er bewies mir haarscharf, daß Gerda niemals von dem Fünfmaster zum Kutter geschwommen sei … „Sie hat dich angeführt, Olaf … Sie war auch nie eine Verbündete Doktor Jörnsens! Überlege dir, daß dieser verkommene Mensch damals, als du ihn nachher am Kragen nahmst und in die Taxushecke warfst, Gerda bedrohte, etwas von ihr erpressen wollte. Wie sollte sie also sich dann mit ihm gegen die Jörnsens zusammengetan haben?! – Was hörtest du damals von dem Gespräch der beiden …? Erzähle es mir …“

Ja – wenn ich nur gewußt hätte, was der Mensch von Gerda eigentlich gewollt hatte! Ich hatte ja so wenig von den rasch hin und her fliegenden Worten und Sätzen verstanden!

Boche Boche schüttelte ärgerlich den dick verbundenen Kopf. „Etwas mußt du doch behalten haben! Etwas!“

„Ja – einen einzelnen Satz: Gerda rief Erik Jörnsen weinend zu, daß sie ihm beim heiligen Gott nichts mehr aushändigen könne … Er wollte [173] also offenbar Geld erpressen. Anderseits wird diese meine Vermutung wieder dadurch widerlegt, daß vorher das Wort „Briefe“ von seiner Seite gefallen war. – Es tut mir leid, Kamerad, aber ich vermag über diesen Punkt wirklich nichts mehr anzugeben.“

Wir waren mit dem Essen fertig. Boche Boche drängte zum Aufbruch. „Wir müssen das sonnige Wetter und den günstigen Wind ausnutzen … Nachts kann es schon wieder stürmen, und dann sind diese Kanäle draußen vielleicht die Hölle …“

Die Anker gingen hoch. Der Schlußtrunk der Mahlzeit, Kognak, ein ganzer Becher, hatte uns zu Riesen gemacht.

Den Kahn der Feuerländer im Schlepp, verließen wir die Bucht. Es war heiß, und jeder Luftzug war eingeschlafen. Neugierige Robben glotzten uns nach. Eine Fischotter, in diesen Gewässern überaus häufig anzutreffen, kreuzte mit einem Riesenlachs im Maule unseren Kurs. Des Kameraden Hoffnungsfreudigkeit hatte mich angesteckt. Wir wären auch ohne Kognak in gehobener Stimmung gewesen. So umrundeten wir die Insel zunächst nach Nordost in halber Fahrt. In jede noch so kleine Bucht liefen wir ein. Riffe bedrohten uns. Wir mußten dauernd auf der Hut sein, daß wir nicht Schiffbruch erlitten. Boche Boche steuerte, und ich stand vorn und prüfte das Fahrwasser. Trotz der Windstille machten sich die unheilvollen, unberechenbaren Strömungen überall bemerkbar. Unsere gehobene Stimmung ging allmählich in erwartungsvolle Nervosität über, denn die Nordostseite der Insel war eine Enttäuschung. Aber nach Nordost lagen noch zwei andere Inseln, nur durch schmale Kanäle getrennt, – Inseln, [174] die noch unwirtlicher, noch höher waren als unsere Bucht-Insel. Trotzdem setzten wir erst mal die Umrundung fort. So wurde es acht Uhr, als der Kamerad mir von achtern zurief, jetzt die beiden anderen zu durchforschen. Die Sonne sank. In spätestens zwei Stunden war es dunkel. An schroffen Steilküsten des westlicheren Felseilandes glitt nun der Kutter entlang. Da auch diese Eilande mit zu Santa Ines gehörten, konnte uns auch Holger Jörnsens gestriges Geständnis, Santa Ines sei das Endziel, nicht irre machen. Von der Hauptinsel hatte er nie direkt gesprochen.

Der Motor ratterte, und ich als Ausgucksmann starrte angestrengt in die grüne leicht gekräuselte Flut, sog hastig an der vierten Zigarre und staunte über diese himmelhohen Wände, die jedem den Zugang ins Innere verwehrt hätten.

„Scharf Backbord!“ brüllte ich Boche Boche zu. Einzelne hohe Klippen wuchsen aus der Tiefe empor wie ein granitener Zaun vor einer granitenen Burg.

Mit einem Male beugte ich mich noch weiter über die Reling …

Links öffnete sich die Steilwand zur schmalen Einfahrt, und gerade hier traten auch die Steinpfähle weiter auseinander …

Das war nicht das wichtigste …

Anderes fesselte meinen Blick. Auf dem Wasser schwammen ölige, bläuliche Streifen …

Gerade in der Einfahrt …

„Scharf Steuerbord,“ schrillte meine Stimme … „Dort hinein, Boche Boche!“

Er nickte, und der Torstensen schwenkte herum.

Ich stiere auf die Wasseroberfläche …

[175] Der Ölfleck schaukelt vor uns. Nun zerteilt unser Bug ihn … Da – ein neuer, kleinerer.

Der Kutter fährt langsamer. Diese Bucht hier ist etwa dreißig Meter breit, geschlängelt wie ein Gebirgsbach, der den Hindernissen ausweicht …

Wieder ein Ölfleck …

Öl – nur von einem Dampfer oder Motorschiff … Woher sonst?!

Weiter …

Krümmung an Krümmung … Rechts und links Granitmauern, in Spalten einzelne Dornbüsche, einzelne Grasflächen …

Weiter …

Noch eine scharfe Biegung, und keine zwanzig Meter vor uns das Ende der Bucht …

Kein Schiff … Nur wieder einzelne bläuliche Streifen, Öl … Öl …

Ende der Bucht …

Ein Berg, eine Steilwand … Aber mitten darin eine Wassergrotte, ein zackiges gewölbtes Riesentor … Mit bloßem Auge erkenne ich, daß diese Höhle sich unendlich tief in den Berg hineinerstreckt …

Boche Boche stoppt den Motor. Der Kutter läuft noch bis zum Höhleneingang, Verschwindet halb in der Dämmerung.

„Scheinwerfer!!“

Der Kamerad versteht …

Am Bugspriet leuchten zwei grelle Augen auf. Wir beide flüstern nur noch … Unsere Hände zittern … Meine Zigarre fliegt über Bord …

Um uns her schwimmen die Öllachen … Vielleicht schwimmen sie hier schon lange, lange Zeit. Aber sie sind da, und das muß seinen guten Grund haben …

[176] Die Lichtkegel der Scheinwerfer tasten in die weite Finsternis dieses mit Seewasser gefüllten Felsendomes hinein. Die Schrauben schlagen, am Heck gurgelt die mißhandelte Flut, und der Torstensen schleicht vorwärts … Das Rattern des Motors schwillt hier in dem geschlossenen Felsenraume zu einem taktmäßigen Brausen an. Die weißen Strahlenbündel zeigen uns ein paar halb verfaulte schwimmende Kistendeckel, ein paar treibende leere Konservenbüchsen …

Meine Augen schmerzen … Ich will das finden, was hier in diesem stillen Hafen versteckt sein muß: irgendein Schiff!

Weiter …

In der Ferne jetzt etwas Helles …

Es nimmt Form, Gestalt an …

Elegante Formen …

„Eine Jacht!“ – und meine Stimme schnappt über. „Kamerad, eine Jacht …!“

Näher heran …

Mitten in diesem gewaltigen Dome ein Riff. Eine Granitsäule … Daran ist die Jacht vertäut mit Ketten und Tauen. Rostig die Ketten, schwarz die Taue, verwittert …

Eine mittelgroße Jacht. Kein Name am Bug. Dort, wo die Buchstaben sich einst befanden, ein schwarzer Fleck … Name ausgetilgt, überpinselt.

Unser Kutter macht neben der vornehmen Gefährtin dieser weltentrückten Einsamkeit fest. Boche Boche ist drüben an Deck geklettert.

„Keine Seele, Olaf …!“ Er zurrt die Leinen straff.

Ich folge ihm. Der Kamerad hat die Pistole in der Rechten. Vielleicht, – – sollen wir uns vielleicht hinterrücks abschießen lassen?! – Unsere [177] Scheinwerfer haben wir gedreht. Blendende Helle liegt über dem fremden Deck. Wir stehen mißtrauisch da und spähen umher. Unsere Herzen hämmern … Boche Boche deutet auf eine dünne Leine, die zwischen den beiden schlanken Masten gespannt ist. Wäsche hängt daran, Kinderwäsche, Hemden, Unterhosen, Wollhemden … Und ein einzelnes Damentaghemd mit reicher Stickerei. Die Sachen sind längst trocken, hängen regungslos, festgeklammert mit hölzernen Wäscheklammern.

Wir sehen noch mehr im blendenden Scheinwerferlicht. Über der dunklen Mahagonitür des Achteraufbaus ist ein weißes Pappschild angenagelt, Buchstaben, Schrift darauf – von hier nicht lesbar.

Ich schreite auf Zehenspitzen vorwärts. Und Boche Boche ebenso leise hinterdrein.

Nun lesen wir … In englisch, französisch, spanisch, mit schwarzer Tinte gemalt in lateinischen Buchstaben:

Warnung!!!
Hier leben zwei arme Aussätzige, die aus Furcht, in einem Lepraheim interniert zu werden, sich von der Welt für immer zurückgezogen haben. Da unsere Krankheit überaus ansteckend ist, warnen wir jeden, sich uns zu nähern, und bitten zugleich, unser Geheimnis nicht zu verraten.

Lepra – Aussatz!

Grenzenlose Enttäuschung zeigt sich auf unseren Gesichtern.

„Olaf,“ sagt Boche Boche mit müder Gleichgültigkeit, „ein Geheimnis haben wir entdeckt, aber nicht Holger Jörnsens …!“

[178] Bricht ab … Hatte noch etwas hinzufügen wollen …

Hinter der Mahagonitür, hinter den runden kleinen Fenstern ein dumpfer Ruf … daß wir zurückprallen … Ein Ruf, ein Name – der meine:

„Abelsen – – hierher!!“

Das ist Holger Jörnsens harte Stimme …

Und nochmals: „Abelsen – – hierher!!“

Enttäuschung wird zu bodenloser Hoffnungsfreudigkeit … Lepra, Aussatz, Ansteckungsgefahr, – was schert es uns!! Da drinnen sind die, die wir suchen. – Boche Boche packt den Türknopf. Aber der Weg zu denen, die dem Kameraden den wahren Namen wiedergeben können, ist verschlossen, und wer mit der Bauart dieser Jachten, deren schmucke, scharfe Linien leicht biegsamen Eisenplatten ihre Schönheit verdanken, genügend vertraut ist, der weiß auch, daß diese gewölbten Heckaufbauten aus demselben kugelsicheren Material bestehen und daß eine solche elegante Mahagonitür innen durch eine zweite von Eisen verstärkt ist, – schließlich auch, daß die Räume des Hinterschiffs keinerlei Verbindung mit den übrigen haben, jedenfalls keine unverschließbare. Auch der Kamerad weiß das. Aber ein Mann von seinem Zuschnitt, ein Mann, für den es hier um Dinge geht, die einem Todesurteil oder einer Freisprechung gleichen, kennt keine Hindernisse. – „Olaf – in der Back – – Äxte, Hämmer!“ – und er läuft nach vorn, vorwärtsgehetzt durch einen erneuten Ruf Holger Jörnsens.

Ich will ihm zunächst folgen. Aber irgend etwas hält mich zurück. Wir haben ja Erik Jörnsens Taschen durchsucht und darin nichts gefunden, [179] – auch keine Schlüssel. Und daß der verbrecherische Arzt seine Verwandten hier eingesperrt hat, kann kaum noch zweifelhaft sein, ebenso, daß er sie sicher gefesselt hat, damit sie nicht entfliehen können. Wäre dies nicht der Fall, hätte unser Käpten sich längst am Fenster gezeigt. – Wo läßt nun ein Mann wichtige Schlüssel, die er aus Vorsicht nicht bei sich tragen mag? Er versteckt sie. Und wenn er überzeugt ist, daß diese Grotte hier, diese Bucht mit dem Zaun von Granitpfählen kaum[14] von einem Fremden aufgefunden werden dürfte, wird er das Versteck nicht gerade allzu sorgfältig auswählen, wird die Schlüssel in der Nähe der Tür verbergen. – Es sind alltägliche Gedanken, die mir in Sekunden aufsteigen und mein Tun beeinflussen, Erinnerungen an einst, wenn meine Studentenwirtin mir den Türschlüssel unter die Matte legte. Hier gibt es keine Matte. Mein Blick gleitet über die Warnungstafel: Lepra – Aussatz! Sie ist mit sechs Nägeln am Türrahmen oben befestigt. Aber das Papplakat neigt sich nach vorn, als ob es durch einen Gegenstand schräg gedrückt wird. – Ich höre des Kameraden Schritte … „Alles verschlossen, Olaf!“ Meine Hand hat sich schon hochgereckt – hinter das Plakat, bringt sechs Schlüssel an einem Stahlring zum Vorschein.

Boche Boche jubelt, reißt sie mir aus der Hand. „Wie kann man nur so pomadig sein – – jetzt!“

Die Mahagonitür fliegt auf … Ein Irrtum: es gibt keine Innentür. Diese eine trägt an der anderen Seite sauber gestrichenen Eisenbeschlag.

Durch die runden Fenster fällt das Scheinwerferlicht in runden breiten Streifen in die elegante Kabine des Kapitäns dieser Jacht. Durch [180] die Tür gleißt das künstliche Licht über das Ledersofa hin, auf dem die beiden Jörnsens sitzen, geradezu raffiniert gefesselt.

Der Alte ruft uns entgegen: „Ich hoffte auf euch …! Die Kanne Schmieröl, die ich noch rasch ins Wasser werfen konnte, hat wohl ihre Schuldigkeit getan!“

Boche Boche hat seine Hände dem Alten auf die breiten Schultern gelegt. Er denkt nur an sich. „Jörnsen, du kennst meinen Namen! Jörnsen, dein Neffe, der nun den armen Kerlen von Feuerländern auf dem Grunde der Bucht Gesellschaft leistet, hat es behauptet. Jörnsen – wie heiße ich, wer bin ich?!“

Und ich, Olaf Karl Abelsen, weniger beteiligt an dieser Szene, die in einem Film größte Sensation wäre und die hier doch so lebensecht ist, – ich werde Kavalier wie einst, horche hin, aber bemühe mich schon, Frau Helgas Stricke zu lösen. Die Alte sieht noch schmutziger und abstoßender aus als sonst. Die abscheuliche Brille ist ihr bis auf die Nasenspitze gerutscht, und die verkniffenen Augen von schwarzen Rändern umschmiert.

… „Jörnsen, wie heiße ich?!“

Der Käpten entgegnet herzlich: „Wenn Erik tot ist, mein Freund, dann sollst du alles erfahren – alles! Zunächst deinen Namen …“

Boche Boche läßt einen unheimlichen röchelnden Laut hören, tritt zurück, taumelt und stützt sich schwer auf den Tisch …

„Du bist Gerhard Dorner,“ erklärt Jörnsen feierlich. „Gerhard Dorner, Generaldirektor der Continental-Plantagengesellschaft in Padarido, Brasilien …“

Frau Helgas Hände sind frei …

[181] Gerhard Dorner fällt langsam in den Schiffssessel am Tische, läßt den Kopf auf die Arme sinken, und seine Schultern, sein ganzer Körper beben wie im Schüttelfrost …




16. Kapitel.
Als Gerda kam …

Wir drei anderen verhalten uns regungslos. Ich befreie dann auch den Alten von den geteerten Stricken, reibe Frau Jörnsens Handgelenke …

Kamerad Dorner hebt den Kopf … Ein Blick, der uns enttäuscht, gleitet über uns hinweg. Ein umflorter Blick ohne den Frohsinn, den wir drei erwartet haben …

„Also Gerhard Dorner …!“ meint er leise. „Ja – Gerhard Dorner, es stimmt … Doch – der Name allein hat mir wenig zurückgegeben. Ich bin Gerhard Dorner, und verschwommen sehe ich Bilder, die in mein früheres Dasein hinübergreifen … Schiffsheizer … Fahrt nach Deutschland, um teilzunehmen an dem Existenzkampf meiner Heimat gegen die Übermacht … Alles so unklar, so, als könnte ich das alles auch nur gelesen haben in lebendigster, eindrucksvollster Schilderung …“

[182] Er reicht Jörnsen die Hand … „Ich danke dir … Es ist immerhin etwas … Vielleicht bringt die heilende Zeit mir volles Licht über das Einst …“

Frau Helga erhebt sich. „Ich möchte an Deck. Ich ersticke hier …“

Und sie verläßt die Kajüte, zieht aber den Schlüssel aus der Tür und schreitet davon. Ob diese Szene hier ihr so nahe geht?! Ich hatte bisher nie gemerkt, daß sie übermäßig viel Gefühl besaß.

Dorner beachtet sie nicht, beschäftigt sich nur mit sich selbst … Sein Blick ist jetzt wie nach innen gerichtet, ist der eines Menschen, der nach innen lauscht, der aus der Seele feinsten Schwingungen mit Auge und Ohr die Melodie ferner Klänge entwirren will.

Ich lehne an dem schmalen Schrank neben dem Sofa, und das Herz ist mir schwer. Sollte das Schicksal wirklich so unendlich grausam sein und dem Kameraden auch jetzt noch die Pforte zum dunklen Gemach früheren Erlebens halb versperrt halten?! – Ich habe wenig Hoffnung, daß die Zeit hier die gütige Erlöserin werden wird. Wenn dieser Augenblick, wo der Name Gerhard Dorner an Boche Boches Ohr doch wie der Posaunenton eines neuen Daseinsabschnitts gedrungen sein muß, die Fesseln nicht gesprengt hat, – – was sollte noch stärkere Wirkung erzielen als dies?! Und die Wirkung war im Grunde gleich Null.

Dann sagt mein armer Kamerad wieder: „Woher kennst du meinen Namen, Holger Jörnsen?“

Der Alte schaut sinnend auf das strahlend helle Deck hinaus …

[183] „Ich habe euch beiden noch vieles mitzuteilen … Wir erörtern das besser alles im Zusammenhang … – Abelsen, vielleicht erzählst du zunächst, wie Erik Jörnsen starb, der hier sein Weib und Kind seit anderthalb Jahren verborgen hielt, weil sie angeblich an Aussatz litten … Dies hier ist Eriks Jacht „Skansen“, die – angeblich – bei den Falklandsinseln gescheitert, gesunken war.“ Er sprach merkwürdig zerstreut. Seine Gedanken waren nicht bei der Sache. „Ihr werdet die beiden nachher sehen, die er hier lebend begrub, bis drei patagonische Fischer auf der Seehundsjagd hier in die Wasserhöhle gerieten und Senta, meine Nichte, ihnen den Brief für Gerda mitgab, den die braven braunen Kerle auch getreulich weiterbeförderten.“

Seine Stimme vibrierte leicht, und seine Augen blieben geradeaus gerichtet …

Gerda!! Senta!! – Ich sah plötzlich unseren Garten vor mir … Die Schaukel … Und auf der Schaukel zwei blonde Mädelchen, – ich selbst hinter dem Schaukelkasten auf dem Rande stehend und uns drei hoch in die Luft schwingend … Kindheitstage …! Jetzt wußte ich: Gerdas jüngere Schwester hatte Senta geheißen, ein stilles Kind, das stets friedlich für sich allein blieb …

Gerhard reckte die Hand über den Tisch … „Jörnsen, Jörnsen, – – was war mir Gerda?! Jörnsen, – ich kenne sie … Was war sie mir, und wo ist sie?! Seine Finger umkrallen des Alten Unterarm …

Und Holger Jörnsen erwidert, während eine leichte Blässe sein Gesicht farblos macht:

„Drehe dich um, Gerhard …“ Die Stimme versagt ihm fast … „Deine Gerda kommt … Drehe dich um …“

[184] Dorner fährt hoch …

Ich trete einen Schritt vor …

Gerda kommt … Kommt langsam vom Vorschiff über das Deck … Gerda in jenen Kleidungsstücken, die Frau Helga in Iquique so sorgfältig auswählte.

Dorner taumelt vorwärts – durch die Tür – Gerda entgegen …

Zwei jubelnde Schreie …

Zwei Menschen, die sich in den Armen liegen, die sich umklammert halten …

Neben mir sagt Holger Jörnsen leise:

„Sein Weib, Abelsen … seine Frau …! Nicht Gerda Arnstör, sondern Gerda Dorner, freiwillige Krankenpflegerin an der deutschen Westfront, seine Pflegerin nach seiner ersten schweren Gasvergiftung, dann sein Weib, dann er wieder zur Front, verschollen … Bis jener Tag in der Ostsee ihn zu uns auf den Torstensen führte mit dir zugleich, Abelsen … zu uns, die wir dem Fährschiff gefolgt waren, nach dir suchten, Abelsen. Du wirst das nachher alles noch besser begreifen. Du bist in eine seltene Tragödie mit hineingezogen worden …“

Ich höre alles nur halb …

In mir erstirbt etwas für ewig. Ich, der Ausgestoßene, habe wieder geliebt, und diese Liebe zerfällt in Asche …

„Gerda war Helga, angeblich meine Frau, Abelsen … Wir hatten unsere Gründe dafür, Gerda unkenntlich zu machen, als wir Trelleborg kurz nach der „Drottning Viktoria“ verließen, denn [185] unsere Absicht war schon damals, hier dieses Versteck der Jacht „Skansen“ aufzusuchen …“

Ich höre alles nur halb …

Die beiden dort an Deck standen nun Hand in Hand, und Gerhard Dorners Gesicht war wie von einem Rausch von tiefster Seligkeit durchglüht.

Meine Liebe war Asche … Ich armer Tor, Tramp des Erdenrunds, – – sollte mein verpfuschtes Dasein denn in die Alltagsbahn ruhigen Glücks wieder einlenken?!

Und Hand in Hand kamen sie nun zu uns … Mein Kamerad ein völlig anderer … Gerda mir lächelnd zunickend, noch Tränenspuren in den Augen.

„Die Pforte ist offen!“ rief Dorner mit dem seligen Übermut dessen, der alles Böse, Tragische überwunden hat … „Gerda hat den Riegel gesprengt … Boche Boche ist begraben … Jetzt bin ich Gerhard Dorner, jetzt bin ich’s wirklich!“

Ich bin kein Dichter, will kein Dichter sein. Dichter besingen den Alltag. Mein Lied klingt anders. Mein Lied ist Erleben abseits der Heerstraße der Glücklichen, Satten, Zufriedenen.

Ich komme zum Schluß.

Wir saßen um den Tisch der Kajüte herum, und die Vorräte des Torstensen hatten ein Festmahl gespendet. Sechs saßen um den Tisch, und drei hockten an Deck: die drei Patagonier!

Frau Senta Jörnsens blonder Junge, blaß und still, – Frau Senta selbst, früh gealtert, bleich, in den Augen das große Leid ihrer Ehe, – diese beiden paßten nicht in die Stimmung hinein, [186] die selbst mir förmlich anflog, wenn ich das strahlende wieder vereinte Ehepaar neidlos beobachtete.

Nachher war ich mit Holger Jörnsen allein … Ich will mich genauso knapp fassen, wie er es tat, als er mir nun die noch offenen Fragen mit kurzen Sätzen ausfüllte. Er war Junggeselle. Sein Zwillingsbruder, reich gewordener Fischer in Trelleborg, hatte ursprünglich den Kutter für sich bauen lassen … „Als Gerda dann den Brief ihrer Schwester erhalten hatte, lieber Abelsen, – den Brief, den Erik ihr in jener Nacht abtrotzen wollte, als du dazwischen tratst, da wandte sie sich an mich, den alten, unruhigen Käpten, der trotz seiner fünfundsechzig Jahre noch immer die Meere befuhr … Die Eltern meiner Nichten waren schon ein Jahrzehnt tot, mein Bruder in Trelleborg aber nicht der Mann danach, Erik Jörnsens ungeheuerliches Verbrechen an Weib und Kind vor aller Welt zu verheimlichen und die beiden Bedauernswerten dennoch zu befreien. – Abelsen, du bist ein Mensch, dem man nicht mit kleinsten Einzelheiten die Zusammenhänge dieser traurigen Geschehnisse zu erklären braucht. Du kannst dir vieles selbst ergänzen. Erik hatte eben seine Jacht heimlich hier in die Wassergrotte gesteuert, hatte die Besatzung, acht Mann, für alle Zeit stumm gemacht, hatte seiner Frau eingeredet, sie leide an Lepra genau wie ihr Kind … Ein harmloser Ausschlag im Gesicht, den er natürlich auch irgendwie bei beiden hervorgerufen, half ihm, seinen scheußlichen Plan zu vollenden. Er zerstörte die Boote der Jacht bis auf eins, ließ die Seinen hier allein, landete nachher schwimmend auf den Falklands-Inseln, spielte den Schiffbrüchigen, kehrte nach Stockholm zurück, hatte Frau und Kind sehr hoch versichert, [187] es kam zum Prozeß mit der Gesellschaft, die die Zahlung verweigerte. Auch uns gegenüber spielte er den untröstlichen Gatten und Vater. Aber ich traute ihm nicht. Er hatte mich stets wie ein kriecherischer Köter umschmeichelt. Er wußte, daß ich mir Millionen verschaffen konnte. Ich leugne es nicht, Abelsen: Ich habe eine Goldader gefunden, doch nie ausgebeutet! Hierüber kein Wort mehr … Du kennst meine Ansichten über das Gold. – Dann sandte mir Gerda einen Brief. Sie war damals Gast unserer berühmten Landsmännin. Sie schrieb mir, daß Senta und der Junge auf einer Insel der Ines-Gruppe lebten – als Aussätzige. Ich bestellte Erik zu einer Rücksprache in die Villa der Schriftstellerin. Inzwischen traf ich meine Vorbereitungen für die Fahrt nach Südamerika. Erik schöpfte Argwohn, drang am Abend vor unserer Verabredung in Gerdas Schlafzimmer ein und forderte von ihr den Brief Sentas. Du, Abelsen, warfst ihn heraus … Das war die Einleitung. – Gerda brachte dich nach Trelleborg, kam dann sofort zu meinem Bruder, wo ich wohnte. Wir wollten dich mit nach Santa Ines nehmen, denn wir brauchten einen Mann wie dich. Wir wollten Eriks schändliches Verbrechen der Welt verheimlichen. Wir fanden dich und Dorner auf dem Flosse treibend … Und erkannten Dorner, Gerdas Gatten. Die Furcht, daß sein Verstand sich völlig verwirren würde, wenn wir ihm unvermittelt den Blick in die Vergangenheit wieder freigaben, zwang uns zu jener Komödie, die dir so viel Kopfzerbrechen bereitet hat. Ganz allmählich wollten wir sein Gedächtnis wieder aufleben lassen. Es gelang uns … Damals in Punta Garras wurde nur ich allein von Erik und den Meuterern überrascht. [188] Gerda-Helga und du – ihr waret in Sicherheit. Der Abschluß jener drei Tage eurer Haft, die Massenvernichtung der Farbigen, war mein Werk. Es gelang mir mit Gerdas Hilfe, in jener Nacht in die Kombüse zu schleichen und das Zyankali in die Kaffeemühle zu tun. Ich bereue nichts, Abelsen … nichts. Und doch entkam Erik – ein bloßer Zufall. Er sah seine Verbündeten hinsterben, schwamm an Land. Vergessen wir das Grauenvolle. Aber – Erik kam schneller hier nach der Insel. Überraschte die drei Patagonier, die uns vorausgeeilt waren, überraschte Gerda und mich, wußte noch immer nicht, daß es Gerda war … Dann solltet ihr daran glauben, Boche Boche und du. Ihr habt es ihm heimgezahlt. Er ist tot … Mag die Welt nun die Wahrheit wissen. Er ist tot.“

Meine Zigarre war mir längst ausgegangen. Jetzt hatte ich auch die Erklärung dafür, weshalb Doktor Jörnsen so plötzlich den Tod nicht mehr gescheut hatte: Ich hatte ihm verraten, wer allein die angebliche Frau Helga Jörnsen sein könnte: Gerda! Und da hatte er Gerda, die er als die Urheberin seiner Niederlage betrachtete, zusammen mit den anderen Gefangenen hier auf der Jacht den Hungertod sterben lassen wollen! –

Genug hiervon … Der Käpten hatte recht: Vergessen wir das Grauenvolle! Eine Bestie in Menschengestalt war unschädlich gemacht. Was dunkel gewesen, war nicht mehr unlösbares Rätsel.

Ich bin kein Dichter. Bin nach wie vor ruheloser Wanderer durch Einsamkeit und pfadlose Wildnis … Was ich schreibe, schreibe ich in armseligen Hütten, an Bord stinkender Fischkutter, in Kneipen aller Häfen der Welt …

[189] Am anderen Morgen sprach Holger Jörnsen davon, daß er für mich daheim in Schweden das Wiederaufnahmeverfahren meines Prozesses betreiben würde. Ich winkte dankend ab.

Und mittags kam die Trennung von denen, die ich lieb gewonnen. Neue Kameraden hatte ich gefunden, die drei Patagonier. Bei denen wollte ich bleiben – vorläufig … Dorners Bitten, mein Dasein anders aufzubauen, fanden taube Ohren. Ich wollte dem Alltag aus dem Wege gehen. Ich war Abenteurer geworden, wollte es bleiben.

Es war ein herrlicher, windstiller Tag, als der Torstensen, die Jacht Skansen im Schlepp, die heute so friedliche Magelhaens-Straße erreichte und ostwärts steuerte …

Ich stand im Kahn der Feuerländer, hinter mir saßen die drei braunen Söhne Patagoniens. Ich winkte den Freunden nach, sie winkten – – ein letztes Lebewohl …

Dann setzte ich mich ans Steuer …

„Zurück nach Santa Ines!“ befahl ich. Die Ruder tauchten ein. Ich blickte nicht mehr zurück …

Später las ich, daß der Kutter und die Jacht glücklich den Hafen von Punta Garras erreicht hatten.

Nach Santa Ines! Ich hatte meine Gründe dafür … –

Diese letzten Zeilen schreibe ich mit Bleistift in ein Schulheft … Wie dieses Heft hier in Coys Hütte geraten, weiß ich nicht. Auch Coy nicht. Er wird es gestohlen haben. Coy Cala ist der eine meiner braunen Kameraden, ein prächtiger Kerl. Ich werde vielleicht noch später von ihm zu reden haben. – Und jetzt werde ich meine Repetierbüchse [190] säubern und ölen, und dann werde ich mit Coy über die endlose Steppe reiten. Das nenne ich leben … Es ist wahre Freiheit, ist das Losgelöstsein vom Alltag, ist das Vergessen … Hoffentlich ist Gerda Dorner wirklich glücklich geworden … Und Boche Boche ebenso …

Coy kommt und murrt. Es dauert ihm zu lange … Morgen beginne ich vielleicht die zweite Geschichte. Im Schulheft sind noch vier leere Seiten. Die Geschichte von Santa Ines.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Als Erweiterung zu Abelsens Beschreibung empfiehlt sich der Artikel über Santa Inés mit Kartenmaterial in der Wikipedia.

Errata (Wikisource)

  1. Vorlage: 1. Kapitel ergänzt
  2. Vorlage: Anführungszeichen sind hier überflüssig
  3. Vorlage: gepeitschen
  4. Vorlage: Torstenson, siehe Seite 35.
  5. Vorlage: eingetrocktenen
  6. Vorlage: unzugänglch
  7. Vorlage: sofort befinden!
  8. Vorlage: Fehlendes Wort „Wie“ ergänzt.
  9. Vorlage: Entdecktswerdens
  10. Vorlage: schwindlich, siehe Seite 134.
  11. Vorlage: Rabinson
  12. Vorlage: Persinning
  13. Vorlage: wieder
  14. Vorlage: kann