Der „Ritualmord“ zu Tisza-Eszlar

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Autor: Hugo Friedländer
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Titel: Der „Ritualmord“ zu Tisza-Eszlar
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aus: Kulturhistorische Kriminal-Prozesse der letzten vierzig Jahre, Band 1, S. 34–42
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Erscheinungsdatum: 1908
Verlag: Continent
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Erscheinungsort: Berlin
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Der „Ritualmord“ zu Tisza-Eszlar.

Nachdem Ende Oktober 1878 das Ausnahmegesetz gegen „die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ in Kraft getreten war, herrschte aus Anlaß der Unterdrückung aller sozialdemokratischen Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, insbesondere aber infolge der Massenausweisungen aus den Bezirken, über die der „kleine Belagerungszustand“ verhängt war, sowie der Verbote aller sozialdemokratischen Zusammenkünfte in Deutschland und besonders in Berlin eine politische Stille. Es war gewissermaßen eine Kirchhofsruhe. Doch es dauerte nicht lange, da wurde diese unheimliche Ruhe durch eine Judenhetze jäh unterbrochen. Eine entsprechende Petition an den Fürsten Bismarck zwecks Erlasses eines Ausnahmegesetzes gegen die Juden hatte keinen Erfolg. Allein schon im Herbst 1879 begann in Berlin eine arge Judenhetze, die sich in sehr unangenehmer Weise selbst auf der Straße, in den Straßenbahnwagen und in öffentlichen Lokalen breit machte. Nicht bloß Juden, auch Christen, die mit Juden verkehrten oder sich nicht eines zweifellos germanischen Aeußeren erfreuten, hatten darunter zu leiden. Der Antisemitismus beschränkte sich nicht auf Deutschland, er ergriff, gleich einer Epidemie, Rußland, Oesterreich-Ungarn und Frankreich. Die Judenmassaker in Rußland reden noch heute eine sehr deutliche Sprache! In Frankreich war der bekannte Prozeß gegen den Hauptmann Dreyfus die Folge des dort herrschenden Antisemitismus. In Oesterreich und speziell in Ungarn und Böhmen herrschte eine ganz furchtbare Judenhetze.

Da plötzlich wurde eines Tages, am 1. April 1882, in dem in Südungarn belegenen Dorfe Tisza Eszlar ein junges Mädchen, namens Esther Solymosi vermißt. Sehr bald verbreitete sich im Dorfe die Kunde, das Mädchen sei von den Juden geschlachtet worden, da diese zu ihren Osterkuchen (Mazzes) Christenblut benötigten. Eine Anzahl Leute wollte gesehen haben, daß das Mädchen von Juden gewaltsam in die Synagoge geschleppt worden und von dort nicht mehr zum Vorschein gekommen sei. Der Synagogendiener Scharf nebst sieben anderen Juden wurden verhaftet. Außerdem entstand in dem weltentlegenen Theißdorfe, in dem der antisemitische Reichsratsabgeordnete v. Onody als Gutsherr herrschte, eine regelrechte Judenrevolte. Die Wohnungen und Läden der Juden wurden demoliert, die Synagoge geschändet. Die Juden wurden, sobald sie sich im Dorfe sehen ließen, geschlagen, mit Schmutz und Steinen beworfen und verhaftet.

Mit der Führung der Untersuchung wurde der blutjunge Referendar Josef Bary betraut. Dieser Mann, der vollständig unter dem Banne des Abg. v. Onody stand, scheute keine Mittel, um den Nachweis zu führen, daß von den Juden ein Ritualmord begangen sei. Die Dorfbewohner waren von dem Ritualmord überzeugt, denn herumziehende Gaukler, Wahrsagerinnen und Kartenlegerinnen hatten es ihnen gesagt, außerdem spukte es, insbesondere in der Mitternachtsstunde, in der Nähe der Synagoge. Man vernahm auch ein eigentümliches Geräusch, das aus dem jüdischen Tempel kam. Es sei, so war im Dorf die Ansicht, mithin kein Zweifel, Esther sei von den Juden im Tempel geschächtet worden.

Aber darauf allein konnte der jugendliche Untersuchungsrichter nicht eine Anklage wegen Mordes aufbauen. Er mußte dem Gerichtshof womöglich jüdische Zeugen vorführen. Als er eines Tages wieder in das Theißdorf kam, sah er ein kleines Judenknäblein aus der Hütte des Synagogendieners Josef Scharf huschen. Es war der jüngste Sohn des Tempeldieners, der 4½jährige Samu. Dieses armselige Kind fragte der Untersuchungsrichter aus, und aus dem kindlichen Geplapper des kleinen Knaben wollte er entnehmen, daß die Juden die Esther Solymosi geschlachtet hätten. Aber diese kindlichen Aussagen erschienen dem Untersuchungsrichter zu dürftig.

Der kleine Samu hatte noch einen älteren Bruder, namens Moritz. Dieser war 13 Jahre alt und nach ungarischen Gesetzen eidesmündig. Bary ließ Moritz Scharf verhaften und, in Ketten geschlossen, nach Nyiregyháza transportieren. Hier wurde Moritz Scharf ins Verhör genommen, aber ohne Erfolg. Nun ließ Bary den armen Knaben windelweich prügeln, damit er „gestehen“ solle. Moritz Scharf beteuerte, er könne nichts sagen, er wisse nichts von dem Verbleib der Esther Solymosi. Daraufhin versuchte es Bary mit einer Hungerkur. Moritz Scharf bekam mehrere Tage weder etwas zu essen noch zu trinken. Der Knabe verfiel schließlich in tiefen Schlaf. Bary gönnte dem „verstockten Sünder“ selbst den Schlaf nicht. Er beauftragte die Panduren, den „Judenjungen“ durch Knutenhiebe zu wecken. Der arme Knabe flehte um Schonung; er könne doch nicht etwas gestehen, wovon er nichts wisse. Da nun Bary einsah, daß seine Folterungen keinen Erfolg hatten, versuchte er es mit Güte. Er ließ den Knaben ausschlafen und ihm danach kräftiges Essen und Wein geben. Alsdann redete er dem Knaben in Güte zu. Er sagte ihm, er solle nicht mehr geprügelt werden, sondern sehr gut zu essen und zu trinken bekommen, wenn er ein Geständnis ablegen wolle. Es werde auch für seine Zukunft gesorgt werden. Wenn er aber nicht gestehe, dann werde er wieder geschlagen, alsdann in eine Grube geworfen und in ewiger Gefangenschaft gehalten. Dies hatte Erfolg.

Der kleine Moritz erzählte darauf dem Untersuchungsrichter alles, was dieser wünschte. Er habe durchs Schlüsselloch beobachtet, als am 1. April 1882 sein Vater und noch sieben Juden die Esther Solymosi in der Synagoge abschlachtet und in verschiedenen Gefäßen das Blut aufgefangen hätten. Allein trotz dieses „Geständnisses“ blieb Moritz Scharf, allen gesetzlichen Bestimmungen zuwider, in strengster Isolierhaft. Bary wollte augenscheinlich verhindern, daß dieser Kronzeuge sein Zeugnis ändere oder gar zurückziehe.

Am 18. Juni 1882 entdeckten Flößer in der Theiß in der Nähe von Tisza Eszlar eine weibliche Leiche, die anscheinend mehrere Wochen im Wasser gelegen hatte. Einige Flößer erkannten in der Leiche die vermißte Esther Solymosi wieder. Einem alten, unter den ungarischen Flößern verbreiteten Aberglauben entsprechend, begruben die Flößer sofort die Leiche.

Am folgenden Tage kam aber der Untersuchungsrichter Bary mit einer Kommission an den Fundort und ordnete die sofortige Ausgrabung der Leiche an. Bary erklärte: die Leiche sei nicht die der Esther Solymosi, sie habe aber deren Kleider an. Die Juden hätten eben ein zweites Verbrechen begangen. Sie hätten eine zweite, gleichaltrige Frauensperson getötet, dieser die Kleider der Esther angezogen und alsdann ins Wasser geworfen, um den Anschein zu erwecken, daß Esther Solymosi ins Wasser gefallen sei. Bary ließ eine große Anzahl Flößer wegen Verdachts der Beihilfe zum Morde verhaften, die Flößer vermochten aber ihre volle Unschuld nachzuweisen.

Fast ein volles Jahr wurden 72 in Tisza Eszlar verhaftete Juden in Haft behalten. Von diesen wurden 57 wegen Mangels jeden Beweises schließlich aus der Haft entlassen, gegen 15 aber wurde die Anklage wegen Mordes erhoben. Die Verhandlung begann im Mai 1883 vor dem Kreisgericht zu Nyiregyháza. Den Vorsitz im Gerichtshofe führte Gerichtspräsident v. Korniß. Die Anklage vertrat Oberstaatsanwalts-Substitut Szeyfferth (Budapest). Die Verteidigung führten die Rechtsanwälte DDr. Eötvös, Funták, Heumann, Friedmann und Székely.

In der viele Wochen dauernden Verhandlung war der Zuhörerraum täglich von einem antisemitischen Publikum Kopf an Kopf gefüllt, das mit lauten Beifalls- und Mißfallensbezeugungen nicht kargte. Der Untersuchungsrichter Bary hatte sich im Saale derartig placiert, daß jeder Zeuge bei ihm vorübergehen mußte. Neben Bary hatten die antisemitischen Abgeordneten v. Onody und v. Istoczy Platz genommen. Diese dirigierten nicht nur das Publikum, sondern auch die Zeugen und Sachverständigen. Alle Leute, die nichts gegen die Juden bekundeten, wurden auf der Straße beschimpft und geschlagen! v. Onody entblödete sich selbst nicht, den Staatsanwalt auf offener Straße auf Pistolen zu fordern, und als dieser die Herausforderung ablehnte, ihn mit seinem Spazierstock zu schlagen. Auch die Verteidiger und die Vertreter der Presse wurden – soweit sie nicht zur antisemitischen Presse gehörten – arg behelligt. Die Vertreter der Presse hatten sich deshalb mit geladenen Revolvern versehen. Rechtsanwalt Dr. Eötvös verlangte in öffentlicher Sitzung die Bestrafung des Abgeordneten v. Onody wegen körperlicher Mißhandlung und Beleidigung des Staatsanwalts. Präsident v. Korniß beschränkte sich aber auf eine bloße Verwarnung. Eines Abends besuchte der Oberstaatsanwalts-Substitut in Nyiregyháza das Theater. Dort wurde er von dem Vertreter einer in Budapest erscheinenden antisemitischen Zeitung beleidigt. Auf Anzeige des Staatsanwalts wurde der Zeitungskorrespondent von dem Nyiregyházaer Obergespan aus Nyiregyháza ausgewiesen.

Der Gerichtshof beschloß schließlich die Exhumierung der von den Flößern in der Theiß aufgefischten Leiche. Die Sachverständigen rekognoszierten in der Leiche mit voller Bestimmtheit die Esther Solymosi. Der Geheime Medizinalrat Professor Dr. Virchow und der Gerichtsarzt Professor Dr. Skreczka (Berlin) schlossen sich schriftlich den Gutachtern an. – Auf die Frage des Vorsitzenden an die Mutter der Esther, worauf sie ihre Behauptung begründe, daß ihre Tochter durch die Juden umgebracht worden sei, erwiderte sie: „Ich träumte es, Gott hat es mir verkündet.“ Der Hauptzeuge, der inzwischen 14 Jahre alt gewordene Moritz Scharf, hielt sein vor dem Untersuchungsrichter Bary abgelegtes „Geständnis“ vollständig aufrecht. Er erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: „Ich gehöre nicht mehr zu den Juden.“

Am zweiten Verhandlungstage sagte der Hauptangeklagte, Tempeldiener Josef Scharf, zu seinem Sohne Moritz: „Wagst du es, zu sagen, daß nicht ich die Tempeltür geschlossen habe?“ – Moritz Scharf: „Ich habe sie geschlossen.“ – Josef Scharf: „Dann lüge ich?“ – Moritz Scharf: „Dann lügen Sie, das sage auch ich.“ – Josef Scharf: „Freilich, du bist in jeder Beziehung gut abgerichtet.“ – Moritz Scharf zu seinem Vater: „Sie haben zu schweigen!“ – Josef Scharf: „Also du sprichst mit mir nur per Sie?“ – Moritz Scharf: „Wollen Sie vielleicht, daß ich Sie einen hochedlen und sehr gestrengen Herrn nenne?“ – Josef Scharf: „Ich bitte dich noch einmal schön, die Wahrheit zu sagen; ich habe keinen Abscheu vor dir, weil du mein Sohn bist.“ – Moritz Scharf: „Daran liegt mir nichts.“

Auf Antrag des Staatsanwalts und der Verteidiger wurde schließlich beschlossen, eine örtliche Augenscheinnahme vorzunehmen. An einem nebligen Junimorgen begaben sich die Mitglieder des Gerichtshofes, Oberstaatsanwalts-Substitut Szeyfferth, der Vertreter der Nebenklägerin, die Verteidiger mit Moritz und Josef Scharf nach Tisza Eszlar. Der Untersuchungsrichter Bary, die Abgeordneten v. Onody und v. Istoczy und die zahlreichen Vertreter der Presse hatten sich angeschlossen. Die Bewohner des Theißdorfes waren selbstverständlich in hellen Haufen zusammengeströmt. Moritz Scharf mußte in der Synagoge die Stelle bezeichnen, an der der Mord ausgeführt worden sei. Darauf wurde Moritz Scharf aufgefordert, hinauszugehen und durch das Schlüsselloch zu sehen. Es wurde nun ein „Mord“ mit einer Puppe genau an der angegebenen Stelle fingiert. Alsdann wurde Moritz gefragt, was in der Synagoge vorgegangen sei. Moritz wußte aber nicht das mindeste anzugeben. Nunmehr überzeugten sich sämtliche Prozeßbeteiligten, daß man durch das Schlüsselloch überhaupt nicht sehen könne, was in der Synagoge vorgehe. – Ein Mitglied des Gerichtshofes äußerte hierauf: „Mit diesem Versuch hätten wir anfangen müssen, dann hätten wir die lange Verhandlung nicht nötig gehabt.“ –

Die Beweisaufnahme wurde danach geschlossen.

Oberstaatsanwalts-Substitut Szeyfferth führte in längerer Rede aus, er habe die volle Ueberzeugung, es sei kein Mord begangen worden, die von den Flößern gefundene Leiche sei die der Esther Solymosi. Die Anklage sei durch Glaubenshaß entstanden; sie sei auf erpreßten Geständnissen und krassem Aberglauben aufgebaut. Das mittelalterliche Märchen, daß die Juden Christenkinder schlachten, weil sie Christenblut brauchen, sei in nichts zerronnen! Es liege nicht nur nicht der Schatten eines Beweises für die Schuld der Angeklagten vor, die Verhandlung habe sonnenklar ihre volle Unschuld ergeben. Er beantrage aus voller Ueberzeugung die Freisprechung aller Angeklagten. Er habe nicht den leisesten Zweifel, daß der Gerichtshof sich ihm in jeder Beziehung anschließen werde. –

Nach eindringlichen Reden der Verteidiger erkannte der Gerichtshof auf Freisprechung aller Angeklagten und legte die Kosten des Verfahrens der Staatskasse zur Last.

Aus Anlaß dieses Urteils fanden in Tisza Eszlar, Nyiregyháza, Preßburg und Budapest arge Judenrevolten statt, die nur unter Aufbietung von Militär unterdrückt werden konnten.

Einige Zeit darauf brachten die ungarischen Antisemiten das angebliche Porträt der Esther Solymosi zu dem internationalen Antisemitenkongreß nach Dresden und stellten es hier gegen 50 Pfennig Eintrittsgeld zur Schau aus. Einige Wochen darauf wurde das Bild nach Berlin gebracht und hier ebenfalls gegen 50 Pfennig Eintrittsgeld öffentlich ausgestellt. Schließlich stellte es sich heraus, daß es das Bild einer ungarischen prostituierten Dirne war.