Der Auswanderer-Bahnhof in Ruhleben

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Autor: Richard Nordhausen
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Titel: Der Auswanderer-Bahnhof in Ruhleben
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aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 140–142
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Der Auswanderer-Bahnhof in Ruhleben.

Von Richard Nordhausen.0 Mit Abbildungen von W. Zehme.


Wenn einer unserer Landsleute heute das deutsche Vaterland als Auswanderer verläßt, befindet er sich fast regelmäßig in leidlich geordneten Verhältnissen und steht gemeinhin in der Blüte seines Lebens. Denn abgesehen davon, daß die Vereinigten Staaten, wohin die meisten Europamüden sich wenden, von jedem den Nachweis eines kleinen Vermögens verlangen, Mittellose aber durchaus nicht aufnehmen, daß sie ferner Krüppel und Invaliden unbarmherzig von der Landung ausschließen, abgesehen davon bedarf es doch eines gewissen Wohlstandes, voller Körperkraft und vielen frohen Mutes, um die Kosten und Strapazen der Seefahrt, die erste arbeitslose Zeit in der Neuen Welt, die darauf folgenden Jahre harter Arbeit ungefährdet zu überstehen. Den ganz Armen und Elenden steht unter den heutigen Verhältnissen das Auswandern als Weg zur Rettung nicht mehr offen. – Das sind die Gedanken, die den bewegen, der die Baracken des Auswanderer-Bahnhofes Ruhleben bei Berlin besucht. Trostlos und einförmig liegen diese Bauten in trostloser, einförmiger Gegend da. Schwarze Zäune und dürres Heideland sperren das Gebiet von der Außenwelt ab und streng wird darüber gewacht, daß kein Unbefugter es betritt. Zur Rechten erheben sich die Bahnhofsanlagen und dahinter die Wälle der festen Stadt Spandau, den Auswanderern vielleicht ein Sinnbild des Lebens, dem sie jetzt entrinnen wollen; vom Süden herauf grüßen die blauschwarzen Kiefernwipfel des Grunewalds wie ein Land der Verheißung, der Hoffnung und der Freiheit.

Im Wartesaal.

Bahnhof Ruhleben ist zur Entlastung des Berliner Bahnverkehrs vom Auswanderer-Transport erbaut und [141] überaus einfach zwar, aber sehr zweckmäßig eingerichtet. Seine niederen Wellblechhäuschen umschließen neben weitläufigen Warteräumen, die auch zu Nachtquartieren dienen, Desinfektionshallen, dann die Geschäftsräume der Gesundheits- und Verwaltungsbehörden. Der Auswanderer findet hier, was er braucht, Rat und Hilfe, und da er keine übertrieben hohen Anforderungen stellt, klappt alles recht gut. Sind einige Stunden vor Abgang des Zuges die Baracken wie der Bahnsteig mit Menschen und Gepäckstücken überfüllt – wer es nicht gesehen hat, glaubt es ja nicht, was so ein einziger Auswanderer oder gar eine Auswandrerin an Hausrat mitschleppt! – dann entwickeln sich hier ungemein fesselnde, manchmal dramatische Scenen, und das Ganze gewährt unzweifelhaft einen weit imposanteren Anblick als andere von Auswanderern viel benutzte Bahnhöfe im Binnenland. So lange der Zug noch nicht angekündigt ist und die damit verbundene Unruhe sich nicht geltend macht, herrscht eine gewisse Feiertagsstimmung, die sich nicht allein in den Gewändern, mehr noch auf den Gesichtern, in den laut und lebhaft geführten Gesprächen ausprägt. Amerika muß es ja bringen, das heiß ersehnte Glück, nach dem man in der Heimat so lange vergebens rang; in Amerika liegt das Gold noch immer auf der Straße, und nur wer zu faul ist, den Rücken darum krumm zu machen, kommt leer nach Hause. Es berührt eigenartig poesievoll, daß fast all diese Braven sich felsenfest vorgenommen haben, nach ein paar Jährlein wieder den deutschen Sand zu begrüßen. Wie wenige werden sich selber Wort halten können! Aber heute sehen sie sich ausnahmslos in goldnem Schmuck und die Taschen voll klimpernder Dollars oder ungezählter Banknoten durch die heimatliche Dorfstraße schlendern, neidvoll bewundert und angestaunt von den Zurückgebliebenen. Diese Stimmung erfüllt die Herzen, verscheucht etwa aufsteigende Trauer und kommt häufig zu ebenso naivem wie ergreifendem Ausdruck. Die Mutter, die stolz auf ihren Buben blickt, der sich mit einer arg verlumpten, englischen Grammatik abplagt und es vielleicht zum „König von Amerika“ bringen wird, welche hohe Charge dort zu Lande schon sehr häufig Bauernjungen bekleidet haben; der einsame Gesell vom Rande der Tucheler Heide, der seinem Nachbar erzählt, wieviel Mark er den beiden „Alten“ daheim monatlich aus „New York“ schicken will, alle diese Frauen und Mädchen in bunten Kopftüchern, manchmal kokett herausgeputzt, als ginge es zum Tanze, laut schwatzend und lachend; die jungen Leute, übermütig und zu tausend Possen aufgelegt; die Aelteren, ehrwürdige und prachtvolle Bauerntypen darunter, von ihren Erfolgen in Amerika sprechend, als hätten sie sie garantiert in der Tasche – welch ein Bild! Und fast nirgends klingt ein Wort der Besorgnis oder gar sentimentalen Grams über das, was hinterm Meerschiff zurückbleiben wird.

Vor der Desinfektionsanstalt des Norddeutschen Lloyd.

Zur ostdeutschen Bauernfamilie gesellt sich, eine Holzbank mit ihr teilend, der russische Muschik und die Seinen. Not und Reise schaffen seltsame Bettgenossen, man weiß sehr wohl, daß die Ueberfahrt im Zwischendeck alle Auswanderer eng aufeinander anweist, und man stellt schon jetzt ein gutes kameradschaftliches Einvernehmen her, das durch eine tüchtige Portion Mißtrauen nur dauerhafter gemacht wird. Der russische Kleinbauer zeigt sich auf Bahnhof Ruhleben von seiner besten Seite: freundlich und bedürfnislos, weil Bedürfnislosigkeit hier Klugheit ist; gastfrei, was Branntweinspenden anbelangt, und wenn sein deutscher Kumpan, schon ermattet und des langen Wartens müde, dumpf vor sich hinzubrüten beginnt, wird er fidel, gehalten fidel. Das slavisch-tatarische Blut entfaltet seine Spannkraft. Da singt man und musiziert ohn’ Unterlaß, als sei es ein Fest sondergleichen, dem Scepter „Väterchens“ zu entgehen, handgreifliche Späße fachen die Fröhlichkeit immer wieder an, und selbst der Jude, den der Muschik sonst mit zähem Haß bedenkt, ist heute in die allgemeine Freundschaft eingeschlossen. Das Russisch der Muschiks mit anzuhören, bietet selbst dem wenig Genuß, der diese rätselvolle und fallenreiche Sprache kennt, aber wenn eins der derben, gar nicht unhübschen Mädel Lieder der Heimat anstimmt, jene süß klagenden, melancholischen Weisen, die dem Slaventum allerorten eigentümlich sind, mit den seltsam harmlosen Texten, und wenn ein Bursch sie auf der Ziehharmonika temperamentvoll begleitet, dann verzeiht man ihnen gern die konsonantenreichsten Worte.

„Heirate, Mägdelein,
Weil du noch jung und fein,
Weil dein alt Väterchen
Silber noch hat.

Leicht wird verschaffen er
Dreihundert Rubel dir
Und bunt gewickeltes
Bettzeug dazu.“


Neben dem weithergereisten Muschik und dem ostpreußischen Bauer, für den Ruhleben die erste Etappe einer langen Wanderung ist, fällt in seiner charakteristischen Kleidung der russische Jude auf. Nicht fo leicht zufrieden zu stellen wie der russische Landmann, nicht von denselben Reinlichkeitsbegriffen wie der Deutsche, verursacht er den Bahnbehörden oft erhebliche Mühen, und wenn man’s nicht besser wüßte, würde man glauben, der manchmal beängstigend schroffe Unteroffizierston, der in Ruhleben beliebt ist, sei unumgänglich notwendig, um diese Leute in Schach zu halten. Da die Rauheit der bahnbeamtlichen Stimmen und Gebärden aber in schöner Gleichheit ohne Ansehen der Person angewandt wird, scheint die Vermutung gerechtfertigt, daß man damit allen Auswanderern, gleichviel welcher Konfession und Nationalität sie angehören, den Abschied von unserm Kontinent möglichst leicht machen wolle.

Die Scharen dieser Art Emigranten, die zum größten Teil aus dem dunkelsten Rußland herausdringen, sind eine große Last nicht nur für die Verkehrsgesellschaften, sondern oft auch für die Städte, die sie passieren. Berlin weiß davon ein Lied zu singen. Vor zwei Jahren mußte der Magistrat einen Schwarm, den das choleradurchseuchte Hamburg zurückgewiesen hatte, in Baracken beherbergen und ernähren, aber der Wirt erntete für seine Wohlthat schlechten Dank, die Gäste mochten sich nicht in die notwendige Ordnung schicken, so daß man den Himmel pries, als sie endlich abgeschoben werden konnten. Natürlich erheischen die armen Leute, zumal wenn es sich um Vertriebene handelt, deshalb nicht weniger menschliche Teilnahme. Uebrigens trägt der russische Jude in das Auswandererbild von Ruhleben einen Zug hinein, den ich vom künstlerischen Standpunkt aus nicht missen möchte. Einmal finden sich unter ihren jungen Frauen und Mädchen Schönheiten von geradezu dämonischem Reiz, Judith- und Herodias-Modelle für jeden Maler, dann aber liest man doch auch aus manchem ernsten Männergesicht die ergreifende Kunde tieftragischen Schicksals. In gebrochenem, mit russischen und hebräischen Wendungen seltsam vermischtem Deutsch erzählte mir einer recht anschaulich seine Leidensgeschichte. Sehr nahe [142] Verwandte von diesen Leuten sitzen reich und angesehen in Berlin und Hamburg, Millionäre, deren Väter und Großväter die Taktik verstanden, langsam, im Laufe vieler Jahrzehnte, immer weiter gegen Westen zu ziehen, von Moskau her durch das Gouvernement Polen, die Provinz Posen, ins Herz von Deutschland. Derselbe Weg, der ungeheure Reichtümer und hohes Ansehen bringt, wenn man ihn bedächtig, überall ein paar Jährchen rastend und erwerbend, entlang schreitet, bedeutet denen, die ihn im Fluge durchmessen, bittere Entbehrungen, Enttäuschungen ohne Ende, vielleicht das Verderben …

*      *      *

Die Abfahrtsstunde naht heran. In der Desinfektionshalle des Norddeutschen Lloyd, der im Verein mit der Hamburg-Amerikanischen Paketfahrt-Aktiengesellschaft den weitaus größten Teil der deutschen Auswanderer nach Amerika „chartert“, nimmt der ungemein rege Verkehr allmählich ab; vorschriftsmäßig muß hier jeder, der Schiffe dieser Gesellschaften benutzen will, sämtliches Gewand von den heißen Dämpfen des Apparates durchströmen lassen und darf dann erst die Weiterreise in dem frohen Bewußtsein antreten, wenigstens äußerlich krankheits- und keimfrei zu sein. Das rege Leben auf dem Bahnsteige wächst mit jeder Minute. Die Familien und Reisegenossenschaften finden sich um ihren Agenten zusammen; das massenhafte Gepäck wird aus den Warteräumen herbeigeschleppt und türmt sich zu immer gewaltigeren Haufen auf. Ein durcheinander kribbelndes Gewirr, scheinbar so sinn- und zwecklos wie das Getümmel im aufgestörten Ameisenhaufen. Geschrei und Gesang, rastloses Hin und Her. Da versucht noch rasch ein unternehmender Händler, gutmütige Reisende um ein Billiges von überflüssigen Lasten zu befreien; da zwängen sich Schutzleute durchs Gedränge, ein paar allzu fröhliche Brüder zur Ruhe zu bringen; auch wohl Taschendiebe, die selbst diesen Armen nicht ihr Weniges gönnen, werden abgefaßt, und ein junger Bengel, ein Agent jener preiswürdigen Geschäftsleute, die unter frechverlogenen Vorspiegelungen Arbeiter für die Fieberplantagen „brasilianischer Freunde“ anwerben und ihre Opfer bis auf den letzten Groschen ausbeuten, fällt endlich der Gerechtigkeit in die Hände. Neben diesen bewegten Scenen fehlt es auch an Idyllen nicht: der fünfjährige Blondkopf, den Vater auf eine kolossale Pyramide von Kästen, Körben und Bettzeug als Wächter gesetzt hat, während er selber mit Mutter die letzte Habe aus dem Warteraum herbeischafft; die wackere Bäuerin, die die letzten paar Minuten bis zum Abgang des Zuges benutzt, ihrem Jungen das Loch im Rocke zuzunähen, denn im finsteren und gedrückt vollen Wagen bietet sich nachher keine Gelegenheit dazu.

Verhaftung eines falschen Agenten.

Der Zug ist stampfend hereingefahren. Er hält kaum, und schon sind die Beamten beiseite gedrängt, der erbitterte Kampf um einen „Eckplatz“ beginnt. Und dann, wenn man Unterschlupf gefunden und der Schaffner auch den Geduldigen ein „Quartier“ angewiesen hat – die kriegen oft das beste, in verriegelt gewesenen Wagen – bringt man langsam sein Hab und Gut ein. Dabei hört das Gerenne und der Lärm auch keine Sekunde lang auf; immer noch ist ein Stück vergessen oder vom Nachbar, den nun die Fügung in ein weit entferntes Coupé riß, mitgenommen worden, und es erscheint durchaus notwendig, sich davon zu überzeugen, daß er’s auch wirklich in treuem Gewahrsam hält. Die Frauen sind wie außer sich, und von den Grobheiten und Schimpfreden, die nun plötzlich herumfliegen, ließe sich ein ganzes Lexikon zusammenstellen. Endlich besänftigen sich die wilden Wogen. Der Stationsvorsteher atmet tief, sehr tief auf. Aus einem Wagen schallt schon „Lieb Heimatland, ade!“, von einer frischen Knabenstimme gesungen, ein Zeichen, daß die Ruhe wieder einkehrt; Mädchenköpfe erscheinen an den schmalen Fenstern.

„O sprecht! warum zogt Ihr von dannen?“ Die Frage Freiligraths aus seinem schwermütig schönen Gedicht drängt sich uns auf. Sie leitet dort Verse ein, welche den deutschen Auswanderern die Sehnsucht nach der Heimat, die sie in der Fremde befallen wird, voraussagen. Aber der frische Gesang, der aus dem Zuge ertönt, läßt die Wehmut nicht aufkommen. Gewiß! Wohin ein guter Deutscher auch in der Fremde gerät, er wird sein Vaterland nicht vergessen und mit Sehnsucht seiner gedenken. Aber das Gefühl der inneren Zugehörigkeit zur alten Heimat verleiht ihm auch die Kraft, sich im fremden Lande fest einzubürgern und dabei doch zu bewähren als ein Pionier deutscher Arbeit und deutscher Sitte!