Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin/6. Häuserschacher und Baustellenwucher

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Autor: Otto Glagau
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Titel: Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin
6. Häuserschacher und Baustellenwucher.
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin.
Von Otto Glagau.
6. Häuserschacher und Baustellenwucher.

Die „Wohnungsfrage“ steht in Berlin schon lange auf der Tagesordnung, aber die allgemeine „Wohnungsnoth“ begann erst nach dem deutsch-französischen Kriege, zugleich mit der Schwindelperiode, und sie ist zum großen Theil das Werk der Börsianer und Gründer.

1867 standen hier Wohnungen leer circa 8600
1868 6100
1869 3500
1870 1800
1871 2000
1872 1100

Diese 1100 im Jahre 1872 leeren Wohnungen waren jedoch entweder aus Ursachen eines Neu- oder Umbaues gar nicht zu vermiethen, oder aber es wurden dafür zu übertriebene Preise verlangt und sie gehörten fast ausschließlich zu den größeren Miethsgelassen, von drei und mehr Zimmern. Thatsächlich fehlte es am 1. April 1872 an circa 500 kleinen Wohnungen; hunderte von ordentlichen Familien, die bis dahin ihre Miethe regelmäßig gezahlt hatten, lagen plötzlich obdachlos umher, campirten vor den Thoren, auf freien Plätzen oder in Rohbauten, Ställen etc.

Bis zur Schwindelperiode erforderte in Berlin die Miethe etwa ein Sechstel des Einkommens. Auch schon ein unverhältnißmäßig hoher Procentsatz, der von ungesunden Verhältnissen zeigt. Aber 1871, 1872, und auch noch 1873 stiegen die Miethen fast von Quartal zu Quartal, in zwei bis drei Jahren um das Doppelte und Dreifache. Der Miethzins verschlang jetzt durchschnittlich ein Viertel, ja nicht selten ein Drittel der Gesammteinnahme. Er nöthigte die Familien zur größtmöglichsten Einschränkung auf allen anderen Gebieten und erzeugte namentlich unter den sogenannten gebildeten Ständen, die kein eigenes Vermögen besitzen, sondern nur von ihrem Gehalte oder Jahreseinkommen leben, ein heimliches Proletariat.

Mit dem Börsen- und Gründungsschwindel schmolz die Zahl der kleinen billigen Wohnungen zusehends, und es vermehrten sich erstaunlich die großen kostbaren Miethsräume. Quartiere im Preise von bis 2000 bis 5000 Thalern jährlich waren bis dahin selten gewesen; jetzt wurden sie häufig. Eine Unmasse von Banken und Actiengesellschaften etablirte sich und verschwendete in Localitäten, mit denen sie prahlten und lockten. Ein Heer von Directoren und Verwaltungsräthen, Banquiers und Maklern, Procuristen und Agenten wuchs empor, die sich alle elegant oder gar luxuriös einrichteten. Den Gründern oder Börsianern war keine Wohnung zu theuer; sie überboten sich in den Preisen; sie verdrängten die bisherigen Insassen und trieben die Miethen systematisch in die Höhe. Sie hatten „es“ ja dazu; sie wollten repräsentiren und genießen, wollten glauben machen an den befruchtenden Segen der französischen Milliarden, an den allgemeinen Wohlstand, an die ungeheure Vermehrung des Nationalvermögens. Die Gründer und Börsianer setzten sich in den [384] schönsten Straßen fest, nahmen die vornehmsten Quartiere in Beschlag; viele von diesen Leuten zahlten an Miethe 6000 bis 20,000 Thaler jährlich.

Die unaufhörliche Steigerung, die völlige Verschiebung der Miethspreise ließ die Bevölkerung beständig umherziehen und nöthigte einen großen Theil zur Auswanderung. Tausende von Arbeitern, Handwerkern, Beamten etc. konnten das Wohnen in Berlin nicht mehr erschwingen und ließen sich auf den Dörfern in meilenweitem Umkreise nieder. Auch die höhern Stände wurden weiter und weiter in die Vorstädte, bis an die Grenzen des Weichbildes und darüber hinaus gedrängt. Das sogenannte Geheimrathsviertel führt seinen Namen nicht mehr mit Recht, der Geheimrath ist hier selten geworden, oder er findet sich nur drei Treppen hoch, und statt seiner sitzen in der Beletage – Banquiers und Börsianer. Ebenso ist es den Gelehrten, Künstlern und Schriftstellern ergangen, die früher das „Westend“ vor dem Potsdamer Thor erfüllten. Auch sie haben sich vor den Herren von der Börse weiter und weiter, höher und höher zurückziehen müssen.

Selbstredend stieg mit den Miethen auch der Werth der Häuser und der Begehr nach ihnen. Ein Haus in Berlin war bis dahin ein ziemlich zweifelhafter Besitz. Gar viele Bauunternehmer und Bauspeculanten der vierziger, fünfziger und auch noch der sechsziger Jahre hatten ihr menschenfreundliches Bemühen, die „Wohnungsfrage“ zu lösen, hart büßen müssen, indem sie ihre kurze Laufbahn gewöhnlich in „Möser’s Ruh“, in dem damaligen Schuldgefängniß, beschlossen. Auf allen Häusern lasteten große Hypotheken. Der Grundbesitz in Berlin war mit vier Fünftel des Werths verschuldet. Reiche und vornehme Familien pflegten lieber zur Miethe zu wohnen. – Das änderte sich nun mit einem Schlage. Privat- und Geschäftsleute kauften plötzlich um die Wette Häuser, um der ewigen Miethssteigerung zu entgehen, um nicht etwa ausgemiethet zu werden. Banken und Actiengesellschaften, Banquiers und andere Geldleute erstanden in „bester“ Gegend die „feinsten“ Häuser. Seitdem befinden sich die stolzesten Paläste im Innern der Stadt und die herrlichsten Villen rings um den Thiergarten im Besitz der Kinder des auserwählten Volks, in den Händen der Börsianer und Gründer.

Sobald das eigene Bedürfnis befriedigt war, begann die Speculation, der Schwindel. Man kaufte Häuser, nicht um sie zu behalten, sondern um sie so schnell wie möglich mit Profit wieder loszuschlagen. Ein und dasselbe Haus wechselte oft Tag für Tag den Besitzer, ein und dasselbe Haus wanderte an Einem Tage, an Einem Abend durch sämmtliche Stämme Israels, durch zwölf und mehr Hände, und jede „Hand“ verdiente dabei fünf-, zehn-, zwanzig- und auch wohl fünfzigtausend Thaler. An und außerhalb der Börse wurden Grundstücke wie Effecten verhandelt, wurden die „Schlußscheine“ von Häusern mit immer höherem Aufgeld bezahlt. Die Preise erreichten eine fabelhafte Höhe, standen bald in keinem Verhältniß mehr zu dem Miethserträgniß und zu dem eigentlichen Werthe der Baulichkeiten; jeder Maßstab ging verloren; ganz willkürliche Schätzungen gewannen die Oberhand – es blühte der Schacher. Jeder Hausbesitzer wurde belagert, mit Angeboten bestürmt – und wußte nicht mehr, was er fordern sollte. Manche erhöhten ihre Forderung von Tag zu Tag, und wenn die verwegenste Forderung endlich bewilligt oder, wie es auch vorkam, noch gar überboten wurde, wagten sie doch nicht loszuschlagen, aus Furcht, sie könnten sich übereilen, sich Schaden zufügen. Einer dieser Unglücklichen, der nacheinander 120,000, 150,000 und 200,000 Thaler verlangt hatte, verkaufte schließlich für 250,000 Thaler, wodurch ihm ein baarer Gewinn von 180,000 Thalern zufiel. Als aber vierzehn Tage später sein ehemaliges Haus von einer Bank für 300,000 Thaler erstanden ward, übermannte ihn die Verzweiflung und er – knüpfte sich auf!

Die Gerechtigkeit verlangt zu vermerken, daß der Häuserschacher nicht ausschließlich von den Börsenrittern und Israeliten betrieben wurde, sondern auch von anderen Leuten, namentlich von Mitgliedern der Aristokratie, die ja überhaupt der Börse und den Gründern eine Reihe höchst gelehriger Schüler und sehr bereitwilliger Gehülfen lieferte. Verschiedene hochadelige Herren verschmähten es nicht, gleichfalls „in Häusern zu machen“. So meldete die „Neue Börsen-Zeitung“ unterm 2. December 1871, ein bekannter schlesischer Magnat habe durch Häuserspeculationen in Berlin in wenigen Monaten an 300,000 Thaler verdient. „Der genannte Herr“, hieß es, „der seine Operationen meist in Verbindung mit einer Dame von hocharistokratischem Namen unternimmt, hat außerdem eine Anzahl Grundstücke an sich gebracht, deren Verkauf mit Gewinnbeträgen in gleicher Höhe so gut wie gesichert ist.“

Aber nicht genug an dem tollen Häuserschacher: es begann nun auch noch der Wucher mit Baustellen. Aus den Speculanten wurden – Gründer, und ihre ersten Schöpfungen entsprachen anscheinend einem allgemein empfundenen Bedürfnisse. Die Gründer bemächtigten sich der „Wohnungsfrage“; sie erklärten, der „Wohnungsnoth“ abhelfen zu wollen und gründeten zu diesem Zwecke Actiengesellschaften über Actiengesellschaften. Sie kauften Häuser und Grundstücke in der Stadt und legten sie nieder; sie kauften öffentliche Gärten und Etablissements und verwandelten sie in Bauplätze; sie kauften die Kartoffeläcker und Gemüsefelder in den Vorstädten, die Wiesen, Sümpfe und Sandschollen vor den Thoren, die Weiden und Ländereien der benachbarten Dörfer und steckten überall Häuserzeilen und Straßenviertel ab. Aus den Gärtnern der Vorstädte, aus den Bauern der Umgegend wurden große Capitalisten, die nicht recht wußten, was sie mit ihrem Gelde anfangen sollten, und es bald der Börse zutrugen. Im zweimeiligen Umkreise von Berlin gab es plötzlich keine Aecker und Felder mehr – nur Baustellen und Baugründe. Vor den Thoren wurde die Quadratruthe mit 50 bis 500, in der Stadt mit 1000 bis 10,000 Thalern bezahlt. Das aber bedeutete die ungeheuere Vermehrung des Nationalvermögens.

Die Menge der Bauvereine, Baugesellschaften und Baubanken war bald so groß, daß es an Namen für sie gebrach, daß selbst Börsenleute sich in dem Labyrinth dieser Namen nicht mehr zurechtfinden konnten. Man höre: Nord-End, Ost-End, Süd-End, West-End (Quistorp), Thiergarten, Thiergarten-Westend, Hofjäger, Unter den Linden, Passage, Centralstraße, City, Königsstadt, Friedrichshain, Schönhausener, Nieder-Schönhausener, Tempelhofer, Belle-Alliance, Wilhelmshöhe, Landerwerb, Land- und Baugesellschaft Lichterfelde, Lichterfelder, Cottage, Charlottenburger, Berlin-Charlottenburger, Johannisthal, Woltersdorf, Potsdam, Westend-Potsdam, Berolina, Berliner Neustadt, Mittelwohnungen, Immobilien, Berlin-Hamburger Immobilien, Union, Berliner Bauvereinsbank (Wäsemann), Berlinische Bank für Bauten, Berliner Häuserbaugenossenschaft, Allgemeine Häuserbaugesellschaft, Gesellschaft für Bauausführungen, Deutscher Centralbauverein (Quistorp), Deutsch-Holländischer Bauverein, Deutsche Baugesellschaft, Deutschlands Baubeförderungsverein, Preußische Baugesellschaft, Preußische Baubank, Märkische Baubank, Provinzial-Baubank, Provinzialbank für Bauten und Handel, Allgemeine Bau- und Handelsbank, Centralbank für Bauten, Metropole, Immobilienbank, Hypothekar-Credit- und Baubank, Nordbaubank, Residenz-Baubank, General-Baubank, Imperial-Baubank.

Das sind aber noch nicht alle. – Die „Neue freie Presse“ theilte kürzlich mit, daß in Wien 43 Bau- und Baumaterialien-Gesellschaften „domiciliren“, und die „National-Zeitung“ beeilte sich, die Notiz ihren Lesern wiederzugeben. Als ob diese Zahl in Berlin etwa nicht erreicht wäre! Nicht nur erreicht, sondern sehr übertroffen. In Berlin „domicilirten“ gut 80 solcher Gesellschaften, von denen sich heute eine Reihe in Liquidation oder in Concurs befinden. Die Zahl der Bau- und Baumaterialiengesellschaften aber in Nord- und Mitteldeutschland, die zum größten Theil an der Berliner Börse gehandelt wurden, betrug weit über 100.

Hätten die Gründer ihre Bauprojecte durchgeführt, so wäre der Bedarf an Wohnungen für Zeit und Ewigkeit gedeckt gewesen. Der kürzlich verstorbene Statistiker Schwabe hat berechnet, daß die in Aussicht gestellten Neubauten für eine Bevölkerung von neun Millionen zureichen würden, und daß in Folge dessen Berlin zu einer Riesenstadt anwachsen müßte, noch dreimal größer als das heutige London. Aber von all den zahllosen Baugesellschaften bauten in Wirklichkeit nur wenige, äußerst wenige, und sie bauten Häuser und Villen für die wohlhabenden Classen, oder sie machten aus kleinen Wohnungen lauter große. Erst mit den Baugesellschaften begann der [385] Wohnungsjammer, namentlich für die unteren Stände. Dazu kam ein außerordentlich starker Zuzug, eine massenhafte Einwanderung. Die neue Freizügigkeit, der ihre Urheber, die Manchesterleute, alsbald gegenüberstanden wie der Zauberlehrling bei Goethe dem Zauberbesen, überfluthete Berlin, und der Gründungsschwindel lockte Schaaren von Leuten aus den Provinzen in die Hauptstadt, die alle hier ein Eldorado zu finden wähnten. Aber sie fanden häufig genug kein Obdach, oder sie machten Andere obdachlos und trieben sie hinaus.

Da trug sich etwas höchst Bedenkliches zu. Wie einst im alten Rom die Plebejer unter dem Drucke der Patricier die Stadt verließen und sich auf dem heiligen Berge festsetzten, so zogen Hunderte von Handwerkern und Arbeitern aus Berlin und schlugen vor den Thoren, unter freiem Himmel ihr Lager auf. Auf dem Tempelhofer Felde entstand die Barackenstadt, und Viele hausten in alten Eisenbahnwagen, unter den Drehscheiben der Bahnhöfe und unter den Viaducten der Verbindungsbahn. Wie zu einem Schauspiele wallfahrteten die Berliner hinaus, und die Zeitungen schilderten die „Barackia“ in farbigen, launigen Feuilletons. Das aber geschah, während der Milliardenstrom sich über Deutschland ergoß, und die Gründer und ihre Helfershelfer den „allgemeinen Wohlstand“, die „ungeheure Vermehrung des Nationalvermögens“ predigten. Die Regierung empfand den bittern Hohn und hob die Baracken auf.

Weitaus die Mehrzahl der Baugesellschaften baute nicht und beabsichtigte auch gar nicht zu bauen. Sie entwarfen Baupläne, steckten Straßen, Straßenviertel und Marktplätze ab, chaussirten und legten Trottoirs, parcellirten und „schlachteten Baustellen aus“. Um Käufer anzulocken, hielt man „Baustellen mit Baugeld“ feil; das heißt, die Baugesellschaft, die häufig zugleich eine „Baubank“ war, schoß das Geld zum Bauen vor und stundete wohl auch noch die Kaufsumme für den Bauplatz theilweise oder gänzlich. Trotzdem blieben die Baulustigen vereinzelt, und die da bauten, fanden in der Regel nicht ihre Rechnung. Als im vorigen Sommer die Villencolonie Lichterfelde ein gemeinsames Fest beging, erhob sich einer der Theilnehmer zu einer Tischrede. Eine classische Reminiscenz aus Tertia überkam ihn, und er sprach die geflügelten Worte: „Als die verwittwete Frau Dido Karthago anlegte, zerschnitt sie bekanntlich das Fell eines Stiers in lauter dünne Riemen. Wenn aber heute eine Colonie gegründet wird, so braucht man mehr als Einen Ochsen, so sind dazu viele Ochsen nöthig. Meine Herrschaften, ich bin einer der Ersten, die hier gebaut haben.“ –

Um ihre Actien unterzubringen, warfen die Baugesellschaften Bauzinsen aus – das ist wieder eine Art der famosen „Börsenzinsen“. „Während der Bauzeit“ sollten die Actionäre vier, fünf oder gar sechs Procent Zinsen erhalten, und viele Baugesellschaften zahlten jahrelang Bauzinsen – ohne je zu bauen. Selbstverständlich staken die „Bauzinsen“ schon in dem so hoch wie möglich gegriffenen Actiencapitale, und die Actionäre bezahlten sie thatsächlich wieder selber, aus der eigenen Tasche. Dieses Verfahren ist aber nicht nur eine Taschenspielerei, sondern auch gesetzwidrig. Das Actiengesetz vom 11. Juni 1870 besagt in Artikel 217 ausdrücklich: „Zinsen von bestimmter Höhe dürfen für die Actionäre nicht bedungen noch ausgezahlt werden“. „Bauzinsen“ sind im Grunde genommen „eine theilweise Zurückzahlung“ des Actiencapitals, die Artikel 248 verbietet. Die Gründer aber rechtfertigten ihre Machinationen durch den Nachsatz zu Artikel 217, der allerdings so lautet: „Jedoch können für den im Gesellschaftsvertrage angegebenen Zeitraum, welchen die Vorbereitung des Unternehmens bis zum Anfange des vollen Betriebes erfordert, den Actionären Zinsen von bestimmter Höhe bedungen werden.“ Gestützt auf diesen Nachsatz, zahlten die Baugesellschaften, die nie bauten, Bauzinsen, und der Staatsanwalt scheint sich diesem Nachsatze gegenüber ohnmächtig gefühlt zu haben – ein Beweis von dem Werthe des neuen Actiengesetzes, ein Beweis von seiner flüchtigen Redaction, seiner mangelhaften zweideutigen Fassung, ein Beweis, wie dringend es auch jetzt noch, wo die Kinder freilich in den Brunnen gefallen sind, einer Revision bedarf.

Eine Reihe von Baugesellschaften und Baubanken vertheilte auch Dividenden, und zwar so hohe Dividenden, daß man’s im Hinblicke auf den heutigen Coursstand kaum glauben möchte. Wir geben zur besseren Uebersicht folgendes Tableau:

  Ver-   Gegen-
  theilte an Einstiger wärtiger
  Dividende Cours Cours
  % ca. ca.
Centralbank für Bauten, gegründet von
     den Herren Eduard Mamroth, Heinrich
     Bergmann, Ferdinand Appenheim, Leo
     Wollenberg, Dr. Stort, Geh. Admiralitätsrath
     Wandel
43 420 45
Ostend, gegründet von den Herren Eduard
     Mamroth, Maurermstr. Siecke, Dr. Erich
     und Genossen
11 120 14
Südend, gegründet von den Herren Eduard
     Mamroth, Heinr. Bergmann, S. H. Ellom,
     Georg Neumann, D. Tobias
15⅜ 125 9
Landerwerb und Bauverein, gegründet von
     den Herren D. Born, Albert Kämpf,
     H. Simon, Baumeister Hähnel
40 200 23
Land- und Baugesellschaft Lichterfelde,
     gegründet von den Herren Karl Coppel,
     Gustav Markwald, J. A. W. Carstenn,
     General Freiherr Ed. v. Steinäcker,
     Landrath Leo van dem Knesebeck
25 155 25
Lichterfelder Bau-Verein, gegründet von den
     Herren D. Born, George Beer, M. Levy,
     Rechtsanwalt Winterfeld
9 120 15
Berliner Bauvereins-Bank, gegründet von
     den Herren Hermann Geber, R. A. Seelig,
     J. Ball., J. A. Gilka, Max Moßner,
     Gustav Thölde, Baurath Wäsemann,
     Baumeister Erdmann
11 110 30
Berlin-Charlottenburger Bau-Verein, gegründet
     von den Herren Richard Schweder,
     J. A. W. Carstenn, Paul Munk, Gustav
     Markwald und Genossen
125/9 115 25
Birkenwerder, gegründet von den Herren
     A. H. Heymann, Gustav Markwald, Oscar
     Krause, Franz Pernet[WS 1] und Genossen
11 115 15
Thiergarten[WS 2], gegründet von den Herren
     Paul Munk, George Beer, Hermann
     Reimann, Consul Schillow, Richard
     Schweder, Joseph Dorn, Dr. Emil
     Lehmann
20 140 9
Königstadt[WS 3], gegründet von den Herren
     Rich. Schweder, George Beer,
     Kammerherr von Prillwitz und Genossen
12 115 25
Westend (Quistorp) 17 225 12
Deutscher Centralbauverein (Quistorp) 15 165 2
Nordend, gegründet von den Herren
     A. Lilienhain, Dr. Max Mattner, Karl Böhm,
     Karl Stiller, Rechtsanwalt Lorek
22 140 0

Wenn der Leser die Course von ehemals und heute vergleicht und bemerkt, daß die letzteren zum Theile tief unter den früher gezahlten Dividenden stehen, so wird er staunend ausrufen: Wie ist’s nur möglich?! – Den Gründern war eben Alles möglich. Sie machten künstlich Dividenden als Lockspeise, entweder um die meist noch unbegebenen Actien an den Mann zu bringen, oder um das Actiencapital zu vermehren und „junge Actien“ zu emittiren. Befand sich das Gros der Actien noch in den Händen der Gründer, so zahlten sie die Dividende einfach an sich selber – ein Scherzspiel, das ihnen wenig kostete. Oder aber sie schossen die Dividende aus dem Erlöse der verkauften Actien zusammen; sie opferten einen Theil der Beute, um neue zu machen. Die ersten Käufer der ausgeschlachteten Baustellen waren in der Regel die Gründer selber, und sie blieben nicht selten die einzigen Käufer. Sie zahlten, ohne zu feilschen, die höchsten Preise; denn sie bezahlten im besten Falle mit den von ihnen fabricirten Actien.

In keinem Falle war die Dividende ernstlich verdient, und sie konnte es nicht sein. Auch wo es der Gesellschaft gelang, eine Reihe von Parcellen wirklich zu verkaufen, blieb sie doch immer im Besitze des allergrößten Theiles der Ländereien. Diese aber hatten schon die Gründer weit über ihren wahren Werth bezahlt, und noch weit höher standen sie zu Buch – noch weit mehr kosteten sie den Actionären. Eine Dividende durfte daher eigentlich nicht eher gegeben werden, bis der ganze Complex veräußert worden, und die aus dem Erlöse weniger Parcellen construirten unnatürlich hohen Dividenden sind in Wahrheit wieder „eine theilweise Zurückzahlung“ des Capitals, eine unerlaubte strafbare Manipulation. „Es darf nur dasjenige unter die Actionäre vertheilt werden, was sich als reiner Ueberschuß über die volle Einlage ergiebt“ – heißt es in Artikel 217 des Actiengesetzes. Wo aber konnte von einem „reinen Ueberschusse“ [386] die Rede sein, wenn die Gesellschaften durchschnittlich etwa neun Zehntel der ausgeschlachteten Parcellen auf dem Halse behielten, und wenn diese Parcellen heute als Baustellen überhaupt unverkäuflich sind?

Die Thaten und Schicksale der zahllosen Baugesellschaften und die Wunden, die sie dem Publicum geschlagen, das Unheil, welches sie in finanzieller und volkswirthschaftlicher Hinsicht angerichtet haben, soll im nächsten Artikel geschildert werden. Hier sei nur noch bemerkt, daß mit dem Gründungsschwindel auch die „Wohnungsnoth“ aufgehört hat. In Berlin, wie in Wien war die „Wohnungsnoth“ nur ein künstliches Product. Seit dem „Krach“ fallen in beiden Städten die Miethen bedeutend, haben Wien und Berlin wieder Ueberfluß an Wohnungen, besonders an größeren und mittleren.


Anmerkungen (Wikisource)