Der Bannerträger der französischen Republik

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Autor: Eduard Schmidt-Weißenfels
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Titel: Der Bannerträger der französischen Republik
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 15–19
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Leon Gambetta.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

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Der Bannerträger der französischen Republik.


Im Anfange der 1860er Jahre konnte man in dem Pariser Café Procope einen jungen Mann öfter des Nachmittags mit seinen Bekannten in einer auffälligen Lebhaftigkeit politisch debattiren hören. Er hatte die Manieren eines Tribunen und behandelte voll Eifer die interessantesten Fragen der Tagesereignisse; war es nicht im Café Procope, so geschah es in einer der kleinen Rauchstuben des lateinischen Viertels, wo es an genialen Bohemiens von Paris nicht mangelte und der Löwe du quartier bereits grollend gegen die zu lange Herrschaft des Kaisers Napoleon des Kleinen Umgang hielt.

Dieser Tribun auf so bescheidenem Schauplatz hieß Leon Gambetta, war aus Cahors, wo er am 30. October 1838 geboren worden, und gehört seit 1859 zu den eingeschriebenen Advocaten von Paris. Sein scharf geschnittenes Gesicht, sein Wuchs, seine Stimme, sein Accent, seine Haltung und Geberde verriethen die italienische Abstammung nicht minder wie der Klang seines Namens.

Er war fast klein von Körper, aber untersetzt; in seiner Schulterbreite mahnte er an einen Ringer oder Athleten aus den Pyrenäen. Sein Haar war weich, glänzend, üppig und schwarz wie seine Augen, seine Gesichtsfarbe dunkelbleich und etwas bronzefarben. Der Ausdruck von großer Beweglichkeit in diesem jugendlichen und doch so energievollen, in edlen Linien ausgemeißelten Antlitz konnte so mächtig sein, daß man betroffen wurde, trotzdem eines seiner großen Augen immer starr und kalten Glanzes bleiben zu sehen, indeß das andere Feuer sprühte. Jenes unheimliche Auge war von Glas und ihm als Jüngling nach einer schmerzhaften Operation eingesetzt worden, die in Folge einer Verwundung nöthig gewesen. Von einem unbrauchbar gewordenen Stoßdegen, den er untersucht, war ihm ein Stahlsplitter in’s Auge geflogen. Doch in den Momenten der Ruhe und des Schweigens verbarg die Stärke der Lider dieses Gebrechen vollständig. Auch konnte er stundenlang unter den Freunden sitzen, ohne ein Wort zu sprechen. Einmal jedoch zum Reden angeregt, gerieth er schnell in’s Feuer und fesselte dann nicht nur durch Leidenschaftlichkeit, sondern auch durch originelle Ausdrücke und Bilder, sowie durch die feine Schärfe eines Spottes, der selbst die Freunde nicht schonte.

Die Praxis des jungen Advocaten war freilich noch so spärlich, daß man wohl sagen konnte, er lebe als armer Teufel in Paris und vermöchte nur so einfachen Bedürfnissen Rechnung zu tragen, wie er deren aus Gewohnheit und Neigung huldigte. Ein paar Vertheidigungen in der Provinz, ein paar unbedeutende in Paris – das war seither noch zu wenig gewesen, um sich mit seinem unleugbaren Rednertalent und seinem juristischen Wissen in größeren Kreisen bekannt zu machen. Bei der Wahlbewegung von 1863 hatte er sich allerdings schon in den Pariser Versammlungen der republikanischen Oppositionspartei hervorzuthun gewußt, doch nach dieser Agitation wurde im öffentlichen Leben wieder Alles still; er hatte keine Gelegenheit zu großen Reden [16] mehr, es war denn in den kleinen Gesellschaften, innerhalb deren er seine abendliche Muße im Kaffeehause zuzubringen liebte.

So viel Zeit ließ ihm sein Advocatenberuf, daß während der Sessionen des Gesetzgebenden Körpers wohl kein Sitzungstag verging, an dem er nicht in einer der Zuhörerlogen dem Gange der Debatten aufmerksam folgte. Die elektrische Empfänglichkeit seiner südlichen Natur zeigte sich hier in dem Ungestüm, mit dem er Partei für die behandelten Fragen nahm, sich über einen oder den andern der Redner ereiferte und von Zeit zu Zeit, ohne daß er selbst es bemerkte, Zeichen des Beifalls oder der Mißbilligung laut vernehmen ließ. Jedesmal, wenn der Präsident sich genöthigt sah, eine Mahnung zur Mäßigung an die Zuschauer auf den Tribünen zu richten, gehörte Gambetta sicherlich zu Denjenigen, welche den Anlaß hierzu gegeben hatten.

Seine Freundschaften erstreckten sich denn auch bald in die parlamentarischen Sphären, und man lernte ihn hier schätzen als einen der einflußreichen radicalen Wahlagitatoren in den Vorstädten von Paris, besonders in dem Arbeiterviertel von Belleville, wie sich dies bei verschiedenen Gelegenheiten erwies. Emil Ollivier, der auch zu seinen Freunden gehörte, hatte sich sogar wegen seiner Wahl in Paris bei ihm zu bedanken. Als er seinen Sieg darnach durch ein Diner feierte, dem auch Gambetta beiwohnte, ließ er sich über seine Absichten aus, von jetzt ab nur noch dynastische Opposition treiben, die Existenz des Kaiserreiches dagegen nicht länger bekämpfen zu wollen. Eisiges Schweigen der republikanischem Festgenossen antwortete ihm. Ollivier wurde endlich unmuthig und rief: „Wohl, wenn meine Idee Euch nicht behagt, so bekämpft sie doch! Wir werden ja dann das Weitere zusammen vereinbaren können.“

„Das ist unnöthig,“ antwortete Gambetta, indem er sich erhob, „man geht mit seinen Freunden wohl bis an die Schwelle der Wohnungen gewisser Leute, aber man geht mit ihnen nicht hinein.“ Alle standen nach diesen Worten vom Tische auf, nahmen ihre Hüte und verließen die Wohnung, um sie nie mehr zu betreten.

Der große Schlag, mit welchem Gambetta aus dieser wenig bedeutenden Stellung plötzlich in die Höhen der Berühmtheiten stieg, geschah durch die Vertheidigung zweier angeklagten radicalen Blätter von Paris zu Ende des Jahres 1868. Dieselben hatten zu einer großen Volkswallfahrt nach dem Grabe des Abgeordneten Baudin aufgefordert, der gegen den Staatsstreich Napoleon’s vom 2. December 1851 protestirt und beim Beginn des Straßenkampfes dann durch eine Kugel aus den Reihen der Truppen seinen Tod gefunden hatte. Außerdem war von jenen Journalen als eine nicht minder mißverständliche Demonstration gegen das Kaiserreich eine Subscription für ein Denkmal Baudin’s, „des Märtyrers des Rechtes und der Freiheit“, eröffnet worden. Gambetta’s Vertheidigung war eine furchtbare Kritik des Staatsstreiches, eine kühne Anklage gegen das darauf gegründete Kaiserreich, eine flammende Verherrlichung der gemordeten Republik. Ungeheuer war die Wirkung dieser Rede in Paris, in Frankreich, im Auslande, und sie galt mit Recht nicht nur als ein Meisterstück politischer Beredsamkeit, sondern auch als ein Kriegsmanifest der wieder erstarkten republikanischen Partei gegen das Kaiserthum. Es konnte daher nicht fehlen, daß bei den allgemeinen Wahlen 1869 auch Gambetta von der radical gesinnten Partei als eine neue, Zukunft verheißende Kraft auf den Schild erhoben wurde. Paris und Marseille stritten sich um ihn; er nahm für Marseille an und statt seiner wählte Paris-Belleville den Laternenmann Henri Rochefort in die Kammer.

Diese Beiden bildeten in jener von der Regierung so gefürchteten Gruppe der unversöhnlichen Republikaner in der Kammer die enfants terribles. Aber Gambetta imponirte zugleich durch die seltene Begabung als Redner, durch die Reinheit seines Idealismus, durch die Wahrheit der Ueberzeugungen, die ihn erfüllte. Er war unbestritten jetzt der Führer der radicalen Partei, die auf den Zusammensturz des Kaiserreiches, wie auf den Losbruch eines schon nahenden Gewitters wartete.

In dem Augenblick, da Sedan das Grab des Kaiserthums geworden, nahm diese Partei denn auch die öffentliche Gewalt als eine berechtigte, seither ihr vorenthaltene Erbschaft in Besitz. Gambetta drängte in der ersten Verwirrung über die Schreckensnachricht von der Capitulation der letzten großen Armee im Felde am energievollsten zu dem Entschluß, die Republik zu proclamiren, die Dynastie Napoleon für abgesetzt zu erklären und eine provisorische Regierung zu bilden, welche die „nationale Vertheidigung“ als ihr vornehmstes Ziel betrachte. Am 4. September geschah es. Als ein Triumphator zog Gambetta mit den Abgeordneten der Opposition durch die Straßen von Paris umrauscht vom Zuruf einer sich dicht herandrängenden Menge, nach dem Stadthause. Zu der hier sogleich eingesetzten Regierung, die aus elf Abgeordneten erwählt wurde, gehörte auch er als Minister des Innern. Das Kaiserreich war nicht mehr, aber die Republik, die wiedererstanden, mußte im Feuer der Schlachten und Siege erst erstarken, und das bildete den neuen Ehrgeiz dieser leidenschaftlichen Natur.

Er dachte, um dies zu ermöglichen an die Massenaufgebote des französischen Volks unter der großen Revolution; er dachte noch lebhafter an die Kriegskunst des zum Präsidenten der amerikanischen Republik erhobenen General Graut. Ein Jahr zuvor erst, wie wenn eine Ahnung des Kommenden, ihm Beschiedenen, ihn dazu angeregt, hatte er in der „Revue Politique“ einen glänzenden Artikel über Ulysses Grant geschrieben, sowohl um ihn als einen großen Bürger der freien Republik wie auch als einen genialen Heerführer zu verherrlichen. Wenn man heute diese seine Schilderung von Grant’s Thaten liest, muß man nicht über sie stutzen, indem man an die Rolle Gambetta’s während des Krieges von 1870 denkt? Ist es nicht wie ein Programm dessen, was er wollte, nachdem er aus einem Advocaten der Schöpfer, Lenker und Leiter, der oberste Feldherr der nationalen Vertheidigung geworden? Und so mächtig muß das Selbstgefühl, die Energie, die Idee des jungen Advocaten auf seine Regierungscollegen gewirkt haben, daß sie ihm in der That die souveräne Macht eines Dictators für die Regierung und die nationale Vertheidigung in den Provinzen übertrugen. Mit diesem Decret in der Tasche, das ihn zum absoluten Herrn Frankreichs außerhalb Paris erhob, vertraute Gambetta sich am 7. October einem Luftballon an, der ihn hintragen konnte, er wußte nicht wohin, der ihn unter dem Aufschwung zu den stolzesten Hoffnungen jählings in den elendesten und gräßlichsten Tod konnte stürzen lassen. Solch eine Großthat persönlichen Muthes eröffnete die außerordentliche Laufbahn, die er nun als Retter des Vaterlandes sich selbst gebrochen.

Bei Montdidier kam Gambetta glücklich mit seinem Ballon zur Erde. Am 9. October war er in Tours, wo er nun seine Residenz, seine Regierung, sein Hauptquartier aufschlug. Von Paris aus hatte er eine Proclamation mitgebracht, welche seine Mission den Franzosen ankündigte; sie war von allen Pariser Regierungsmitgliedern mitunterzeichnet. Sogleich ließ er sie veröffentlichen. Er sprach hier mit den Feuerworten der Begeisterung, wie einst Danton, als er das Vaterland zu befreien schwur. „Das Erste von Allem ist, Franzosen,“ hieß es darin, „daß Ihr Euch jetzt durch keine andere Beschäftigung in Anspruch nehmen lasset, als durch den Krieg, den Kampf bis auf’s Messer… Alle unsere Hülfsmittel, die ungeheuer sind, müssen wir an das Werk setzen… und endlich den nationalen Krieg feierlich erklären… Erheben wir uns in Masse – –!“

Die Worte zündeten, und bald sah man, daß ihnen die Thaten folgten. Vier Tage nach seiner Ankunft in Tours erschienen schon die ersten Organisationsdecrete Gambetta’s; die herkömmliche Avancementsliste nach Maßgabe der Dienstzeit wurde aufgehoben und freie Beförderung der Officiere nach ihren Leistungen verheißen. Es folgten Bestimmungen über die Neubildung von Armeen in allen Provinzen, über die Fortschaffung der Lebensmittel, die den Feind ernähren könnten, über die Organisation des Volkskrieges, Aufhebung und Zerstörung der Verkehrsmittel beim Nahen des Feindes. Am 2. November wurden alle waffenfähigen Männer zwischen einundzwanzig und vierzig Jahren einberufen und damit die allgemeine Dienstpflicht eingeführt. Arbeiterbataillone und Freischaaren wurden ihrer Organisation überwiesen, alle Ingenieure, Architekten, Beamten, je nach Bedarf, der Landesvertheidigung zur Verfügung gestellt und endlich große Lager an elf Orten in Frankreich angeordnet.

So wuchsen denn in Wahrheit unter der kriegerischen Erregung, die sein Wort und Anfeuern verbreitete, die neuen Armeecorps, die er decretirte, wie aus dem Boden. Aus den Trümmern der eben vor Orleans geschlagenen Corps erstand die Loire-Armee, die in sechs Wochen auf 180,000 Mann gebracht war [18] und noch eine starke Artillerie- und Cavalleriemacht besaß. In derselben Zeit formirten sich die anderen der zwölf neuen Armeecorps, die er aufzustellen befohlen und welche zusammen nahe eine halbe Million Streiter mit 1400 Kanonen gezählt haben würden. Fast die Hälfte davon stand schon im November auch wirklich im Felde, gut und schlecht, sodaß seit Gambetta’s Herrschaft täglich 5000 Mann und 2 Batterien in die Reihen rückten. Fertig zumal war auch die Armee im Norden; Freischaarenmassen sammelten sich in den Vogesen und bei Dijon; schnell schritt auch die Anlage der großartig entworfenen Uebungslager an verschiedenen Punkten Frankreichs vor. So konnte Gambetta als Kriegsminister mit Stolz auf seine Leistungen blicken, und auch die erste Waffenthat seiner Legionen wurde durch ihre moralische Bedeutung wichtig. Die Loire-Armee unter General Aurelle de Paladines verdrängte die Baiern bei Coulmiers und nahm das verloren gegangene Orleans wieder in Besitz. Fehlte dem Siege auch ein kräftiger Nachstoß, so wußte Gambetta ihn doch klug auszubeuten, um durch den Hinweis auf einen Erfolg das Vertrauen des Volkes und der jungen Armeen zu heben. Gambetta trieb nun rastlos zu Thaten, zu Angriffen an und rieb sich fast auf in dem täglichen Kampf, den er deswegen mit den ihm zu bedächtigen Heerführern zu bestehen hatte. Nach ihm wäre von der Loire aus ein Siegesmarsch seiner Truppen bis nach Paris erfolgt, um hier die Deutschen zwischen zwei Feuer zu nehmen und zu vernichten.

Aber die dazu fähigen und willigen Generäle fehlten ihm. Es kam zu keinen Fortschritten im Felde, vielmehr ging Orleans unter einer schweren Niederlage wieder verloren und an eine Entsetzung von Paris war von der Loire aus nicht mehr zu denken.

Gambetta gab in seinem Zorn darüber dem General Aurelle die Entlassung und stellte neue Hoffnungen auf den jüngeren General Chanzy. Die Organisation ging unbeirrt weiter, aber das Glück der Waffen vermochte Gambetta mit all seinen Decreten, Kriegsgerichten und Schreckensmaßregeln die er jetzt verzweiflungsvoll aufbot, nicht an seine Fahnen zu locken; Unglück über Unglück zerstörte vielmehr alle seine Pläne, wie unerschöpflich er auch immer wieder neue ersann. Selbst Bourbaki, dessen Erscheinen vor Belfort allerdings einen Moment des Bangens in Deutschland – des einzigen in diesem Kriege – hervorrief, mußte in Elend nach der Schweiz flüchten; Garibaldi wurde lahm gelegt, Chanzy nach der Bretagne gedrängt, Faidherbe bei St. Quentin zurückgeschlagen, und Paris ergab sich endlich dem Sieger.

Trotzdem wollte Gambetta den Krieg fortsetzen. Er hatte neue Pläne; er wies jeden Kleinmuth zurück und hoffte noch, das Glück sich zu erzwingen. Aber die Pariser Regierung theilte sein Vertrauen nicht und schloß Frieden. Da rief er in einem neuen feurigen Manifest das Volk auf, bei den Wahlen zur Nationalversammlung nur Abgeordneten die Stimme zu geben, welche einen „so schändlichen Vertrag“ nicht billigen würden; sodann erließ er ein Decret, welches alle Anhänger Napoleon’s, wer sie auch immer seien, für verfehmt und unwählbar erklärte. Er war nahe daran, sich zum Dictator mit alleiniger Macht aufzuwerfen, doch er widerstand dieser Versuchung und legte am 6. Februar 1871 alle seine Gewalten nieder, nun wieder ein einfacher Bürger zu werden. Er hatte in der höchsten Noth seines Vaterlandes mit einer patriotischen Energie gehandelt, die ihn damals über Alle erhob, und nach Aufbietung des Aeußersten konnte er sagen, daß er Unmögliches zwar nicht möglich zu machen vermocht, aber als ein wahrhaft „glorreicher Besiegter“, anders glorreich als der von Sedan, in die Einfachheit des Privatlebens zurückgekehrt sei.

Kein Geringerer, als ein hervorragender preußischer Militär, Freiherr Colmax von der Goltz ist es, der in seinem Buche „Léon Gambetta und seine Armeen“ demselben als Organisator und als schöpferische Genialität eine gerechte Anerkennung gezollt hat, und dieser Autorität folgten wir in der obigen Darstellung der kriegerischen Bestrebungen des tapferen Volksmannes.

Als Abgeordneter zur Nationalversammlung fiel ihm vor Allem die Aufgabe zu, die Republik gegen ihre royalistischen Gegner und clericalen Intriguanten zu schützen; denn er war jetzt das anerkannte Haupt der demokratisch-republikanischen Partei. In all den Kämpfen, welche um Sein oder Nichtsein und um die neue Verfassung der Republik geführt wurden, warf er sein gewichtiges Wort in die Wagschale. Sein Ansehen wuchs dabei durch die kluge Zurückhaltung, die er als echter Parteiführer bewies, durch die staatsmännische Mäßigung, welche er seiner eigenen Leidenschaftlichkeit anlegte und die er den Radicalen offen predigte, um die Demokratie regierungsfähiger zu machen und sie durch Ueberwindung revolutionärer Neigungen im Vertrauen des Volkes erstarken zu lassen.

In solcher Weise stützte er Thiers, nachdem dieser sich zur conservativen Republik bekannt und deren Präsident geworden war. Von dem Momente an jedoch, daß Mac Mahon in Folge royalistischer und clericaler Intriguen an seine Stelle getreten, stand Gambetta auf Wache gegen all die verkappten Gegner der Republik hinter dem „ehrlichen Soldaten“, aus dem sie sich das Werkzeug ihrer Umsturzpläne machen wollten. Er sah vor Allem in dem Ultramontanismus den Feind, den man rücksichtslos bekämpfen müsse. Spreizte sich dieser doch jetzt unter der Sonne des Mac Mahon’schen Regiments mit herausfordernder Vermessenheit; machte er doch Frankreich zu einer Domaine seines jesuitischen Treibens, riß das Schulwesen bis zu den Universitäten an sich, verhöhnte offen im Cultus des Aberglaubens den Geist gesitteter Bildung, wühlte im Volke und in der Camarilla des naivsten aller Staatsoberhäupter für einen Krieg gegen Italien und für die Wiederherstellung der weltlichen Papstherrschaft. Da riß Gambetta in der glänzendsten aller seiner Reden am 4. Mai 1877 diesem Treiben der Jesuiten und der von ihnen gewonnenen französischen Bischöfe die Maske ab. Mit einer Wucht von trefflichen Gedanken fuhr er in die schwarze Verschwörung und rüttelte die Geister zur Gegenwehr gegen diese Gefahr auf. „Los von Rom kommen! Feindschaft dem ultramontanen Pfaffenthum!“ Mit dieser Parole sammelte er in Frankreich Alle um sich, die dem schleichenden Jesuitismus nicht die Errungenschaften der Bildung unserer Zeit ausgeliefert wissen wollten. Wieder einmal hatte er das befreiende Wort gesprochen, für das ihn enthusiastischer Beifall von Millionen seines Volkes lohnte, mit dem seine Partei und auch die große Mehrheit der Nationalversammlung ihm folgten, entschlossen zur That.

Lediglich aus Erbitterung hierüber geschah es, daß Mac Mahon, von den Römlingen aufgehetzt, nun mit dieser Mehrheit brach, das Ministerium Simon zum Rücktritte zwang, die Kammern auflöste und mit dem Ministerium Broglie-Fourtou jene nach Staatsstreich riechende Vergewaltigungspolitik einschlug, die sich bekanntlich als die des 16. Mai berüchtigt gemacht hat.

Nachdem Mac Mahon derart der republikanischen Partei den Krieg erklärt und das Land aufgerufen, zwischen ihr und ihm, dem „soldat de Dieu“ zu wählen, trat Gambetta von Neuem als ein Organisator auf, diesmal nun alle republikanischen Elemente als einen Wall gegen die jesuitische Reaction zu festigen. Er proclamirte mit seinen anderen Gesinnungsgenossen als Programm der Opposition die Wiederwahl der republikanischen Abgeordneten in der aufgelösten Kammer; er legte in seinem Journale „Republique française“ die Ränke der neuen Minister dar; er hob den alten Thiers nochmals als das Haupt der republikanischen Partei auf den Schild und erklärte ihn förmlich für den Nachfolger Mac Mahon’s, der abdanken müsse, falls er sich dem republikanischen Votum des Landes nicht unterwerfen wolle. Der große Besiegte von Wörth und Sedan antwortete darauf mit den in jenen Schlachten nicht gedachten Worten: J’y suis; j’y reste — hier bin ich obenauf und bleibe es — und mit der gerichtlichen Verfolgung Gambetta’s wegen Höchstihm angethaner Beleidigung. Die Pariser Gerichte beeilten sich auch, Gambetta, der sich darauf zu vertheidigen verschmähte, zu zweimal drei Monat Gefängniß zu verurtheilen. Sein Triumph jedoch war größer, insofern die neuen Wahlen in der That der republikanischen Partei trotz aller Maßregeln und Einschüchterungen der Broglie-Fourtou’schen Regierung fast die alte Mehrheit in der neuen Kammer verschafften und Gambetta damit, zwar nur ein Parteihaupt, als Sieger über den Marschall-Präsidenten hervorging. —

Selbst der schwere Schlag, welcher gerade im entscheidenden Augenblicke der Wahlen die Republikaner durch den Tod des alten Thiers traf, vermochte einen Mann wie Gambetta nicht vom festbestimmten Wege nach seinem Ziele abzulenken. Sofort trat er für Grevy, seinen entschiedensten Kampfgenossen, auf und siegte. Die diesem Wahlsiege folgenden Zeiten des republikanischen Widerstandes gegen die ultramontanen Umtriebe unter der [19] Schleppe des Mac Mahon’schen Ehepaares übergehen wir. Der zwölfte December hat den sechszehnten Mai gerächt. „Die persönliche Regierung“ — sagt die „Magdeburger Zeitung“ am Tage des Triumphs sehr richtig — „welche sich kein civilisirter Staat, kein selbstbewußtes Volk heute mehr gefallen läßt, hat in Frankreich in ihrem obersten Vertreter den Todesstreich empfangen, und dieser Schlag hat den Clericalismus, die Landplage des modernen Europa, hundertmal empfindlicher getroffen, als der Verlust, der ihm stündlich, wie es scheint, im Vatican bevorsteht.“ — Und Gambetta, ist er mit dem Siege zufrieden? Diese Frage ist wirklich an ihn gestellt worden, und er antwortete so: „Wie sollte ich nicht zufrieden sein, da ich eine so leidige Krisis so glücklich endigen sehe? Dies ist der erste von der Legislative über die Umtriebe der persönlichen Gewalt ohne Revolution, ohne Emeute, ohne Wirrungen davongetragene Sieg. Das ist eine neue Thatsache in unserer Geschichte und gereicht den demokratischen Einrichtungen zur Ehre.“

Bei einer solchen Vergangenheit, wie sie Gambetta im Kampfe gegen den Cäsarismus für die demokratische Republik, im Kampfe „bis auf’s Messer“ für sein Vaterland, im Kampfe gegen das römische Pfaffenthum für die Freiheit des gebildeten Geistes aufzuweisen hat, bei einer solchen Gegenwart, die ihn als den staatsmännischsten und begabtesten Republikaner Frankreichs, als anerkannten Führer seiner Partei sichtbar macht — kann man da nicht glauben, ihm erschließe sich noch eine glänzende und geschichtlich bedeutende Zukunft? Wer, der Frankreichs inneren Frieden, die Beschwichtigung seiner Parteileidenschaften unter einer Republik der Ordnung und Freiheit, seine ruhige Entwickelung lauernden Prätendenten zum Trotze wünscht, stände mit seinen Sympathien nicht auf Seite des Volkstribunen und seiner Getreuen? Ueber nationale Befangenheiten hinaus wird jeder freisinnige Mann in Gambetta den Patrioten und den Streiter für die hohen Güter der Menschheit würdigen; denn solche geistigen Größen kommen allen Nationen zu Gute, mögen sie sonst für oder wider einander sein.

Schmidt-Weißenfels.