Der Bluffer

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Max Schraut
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Bluffer
Untertitel:
aus: Vorlage:none
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1934
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Wikisource
Kurzbeschreibung: Ein Detektiv-/Kriminalroman.
Band 371 der Romanreihe Harald Harst. Aus meinem Leben.
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[1]
Harald Harst
Band 371


Der Bluffer


Von
Max Schraut



Verlag moderner Lektüre G.m.B.H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a


[2]
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1934 by Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 16


[3]
1. Kapitel.
Aprilscherze …

Der Abend des ersten April war ungewöhnlich lau und nur leicht bewölkt. Ich müßte sagen: Jenes ersten April! Denn an diesem Tage begann für uns die Geschichte des Bluffers und damit ein Kriminalfall, der in seiner Art einzig dasteht. –

Es war bereits dunkel, als zwei Herren in leichten Gummimänteln sich aus dem Dunkel der Schonung hervorwagten und näher an den am Waldrande gelegenen Neubau heranschlichen, der erst am ersten Januar von den sechs Mietsparteien bezogen worden war. – Das „Haus der Friedvollen“ –, so war es nach dem Wunsche des Stifters genannt worden –, lag in einem der westlichen Berliner Vororte in einer landschaftlich wunderschönen Umgebung und hatte zudem den Vorteil, daß die U-Bahn-Station Krumme Lanke in nächster Nähe war und eine sehr bequeme und schnelle Verbindung bis in die City von Berlin bot. Kein Wunder also, daß die sechs auserwählten Familien oder besser Mieter, denn es waren auch Junggesellen und alleinstehende Damen darunter, ohne Besinnen die günstige Gelegenheit wahrgenommen hatten, so billig und so einzigartig mitten im Grünen und dicht am See eine modern eingerichtete Behausung zu finden.

Die beiden Herren, die das Gebäude nun schon eine [4] Stunde lang heimlich beobachtet hatten, wagten sich immer dichter an die Vorgärten heran und sahen zu ihrem Erstaunen, wie geschmackvoll diese Gärten angelegt und mit frischen Blumen bepflanzt waren, obwohl doch die Jahreszeit noch immer Nachtfröste befürchten ließ.

Ich schaute mir das Gebäude mit immer ärgerem Kopfschütteln an und sagte dann leise zu meinem Freunde Harst, der wohl genau so erstaunt war wie ich, denn bisher hatten wir von dem „Hause der Friedvollen“ keinerlei Kenntnis gehabt:

„Ich begreife die Klagebriefe der Bewohner nicht! Die Leute sollten doch froh sein, hier im Freien in bester Luft, fern der Großstadt, solch ein Heim gefunden zu haben!“

Harst schwieg dazu und erklärte erst nach einer geraumen Weile: „Trotzdem können die Bewohner sich ihre Klagen kaum aus den Fingern gesogen haben, und auch die Tatsache, daß die sechs Briefe alle heute früh uns erreichten, darf man nicht etwa als Aprilscherz werten, nein, dazu sind einige der mir vorgetragenen Beschwerden zu ernsthafter Natur, wie du zugeben mußt.“

„Allerdings!“

Mein Freund zog nun einen Streifen Papier aus der Tasche, knipste die kleine Lampe an und überflog die Namen der Mieter, die er sich notiert hatte.

„Warte hier“, flüsterte er. „Ich will die Namen mit den Schildchen an der Haustür vergleichen.“

Er huschte davon, und dann wurde ich Zeuge, wie ihm plötzlich, als er sich bückte und die Schildchen an den Klingelknöpfen las, der Hut vom Kopfe flog, wie er eilends zurücksprang und hinter die nächste Kiefer retirierte.

Ich blickte mich nach allen Seiten mißtrauisch um. So, wie der Hut Harald vom Kopfe geflogen war, konnte die Kugel nur von der Seite aus dem Walde gekommen [5] sein. Mir war es denn auch so, als bemerkte ich einen flinken Schatten, der in dieselbe Schonung flüchtete, in der wir eine Stunde verborgen gewesen. Bestimmt hätte ich dies allerdings nicht behaupten können, dazu war es schon zu dunkel.

Harst rief mir gedämpft zu: „Behalte die Schonung im Auge! Ich will meinen Hut holen.“

Ich kehrte ihm den Rücken und tat, wie mir befohlen. Mit einem Male vernahm ich einen schwachen Schrei, fuhr herum und sah, daß mein Freund ein Mädchen ohne Kopfbedeckung am Arme festhielt und hinter einem der Sträucher des Vorgartens hervorzerrte. Ich eilte hin und hörte, daß er die Fremde fragte: „Sind Sie Fräulein Tussy Grütt?“

Sie bejahte ohne Scheu. „Und Sie sind Herr Harst“, fügte sie gutgelaunt hinzu. „Ich freue mich, auf diese Weise Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich wußte, daß Sie kommen würden. Sie haben doch meinen Brief erhalten?“

„Gewiß! – Hatten Sie eigentlich mit den anderen Mietern diesen Aprilscherz verabredet?“

Wir drei standen in der dunklen, tiefen Türnische und waren wohl kaum zu bemerken, aber Harst schien gegen eine Unterhaltung hier im Freien, nach dem Vorfall mit seinem Hut, doch starke Bedenken zu hegen und fragte Fräulein Tussy, ob wir uns nicht in ihrer Wohnung über diese Dinge aussprechen könnten. Sie war sofort einverstanden, und so lernten wir denn auch Tussys Freundin Anni Wiek kennen, mit der sie zusammenwohnte.

Wir saßen in einem sehr behaglichen Zimmer, das halb Atelier und halb Salon sein sollte und einen verfeinerten Geschmack in der Auswahl der Möbel und der Wanddekorationen bewies.

Die beiden Freundinnen waren im übrigen gleich [6] jung und gleich hübsch, Tussy hatte sogar sehr lustige, übermütige Augen und Anni stellte mehr den ernsten deutschen Gretchenschlag mit etwas schwärmerischem, verträumtem Lächeln dar, jedenfalls konnte man sich nicht recht vorstellen, daß eins dieser harmlosen jungen Mädchen, die sich ihr Brot als Modellzeichnerin und als Schriftstellerin für ein Modenblatt verdienten, uns auch nur im geringsten belügen würden.

„Was ich Ihnen geschrieben habe, Herr Harst“, erklärte die dunkeläugige Tussy, die zugleich auch offenbar die energischere war, mit allem Nachdruck, „ist wortwörtlich richtig, so seltsam die Geschichte auch klingen mag. Wir waren in Geldverlegenheit, wir haben darüber nur unter uns gesprochen, und gestern erhielten wir hundert Mark zugestellt, und dafür fehlten uns die Schmucksachen, die wir versetzen wollten, wie wir das genau vereinbart hatten; Anni wollte ihr Armband hergeben und ich eine altertümliche dicke Uhrkette.“

Harst nickte und betrachtet seinen Hut: „Ja, das schrieben Sie mir. Und wo lagen die Schmucksachen?“

Tussy Grütt wurde plötzlich sehr ernst. „Das wollte ich dem Briefe doch nicht anvertrauen. Wir hatten ein Versteck gefunden, das wir für völlig sicher hielten.“ – Sie erhob sich, schritt zum Fenster und deutete auf den unter dem Fensterbrett angebrachten Regenkasten, der sonst kaum mehr in Neubauten zu finden ist. Sie zog den sehr sorgfältig eingebauten Zinkblechkasten heraus, der vorn mit Tapete überklebt und lackiert war, faßte in die Öffnung hinein und brachte so einen Ziegelstein zum Vorschein: Es war kein Ziegelstein, sondern ein Metallkästchen, das in der Farbe und dem sonstigen Aussehen vollkommen einem halben Ziegel glich. – Wer also in die Öffnung hineinschaute, mußte glauben, daß der Stein die natürliche Rückwand der Öffnung bildete.

Harst nahm das Stahlkästchen mit einem Kopfschütteln [7] entgegen und fragte, nachdem er es sorgfältig betrachtet hatte: „Fanden Sie denn diese Geldkassette in dem Mauerloche vor?“

Tussy nickte. „Ja, durch Zufall.“ – Sie nahm ein Patentschlüsselchen und schloß das Kästchen auf und schüttelte den Inhalt auf den Tisch. „Sie sehen, Herr Harst, daß die hundert Mark noch so liegen, wie wir sie fanden: Fünf Zwanzigmarkscheine, durch ein rosa Bändchen zusammengehalten. Also uns wurde das Geld nicht zugeschickt, um mich genauer auszudrücken, sondern wir entdeckten es eben an Stelle der verschwundenen Schmucksachen; genau hundert Mark, soviel wollten wir uns nämlich leihen, und wir begreifen nicht, wie jemand davon erfahren haben kann, denn wir haben wirklich nur in unserem Schlafzimmer nebenan darüber gesprochen und keinem Menschen unsere Geldverlegenheit gebeichtet.“

Harst blickte noch immer zerstreut in seinen Hut. Sein Interesse für die Kassette schien schon wieder erloschen zu sein, und nur so ganz nebenher meinte er: „Mithin fanden Sie den Schlüssel zu dem Patentschloß im Schlüsselloch stecken.“

„Ja“, und Tussy schaute ihre Freundin Anni etwas gereizt an. „Du könntest eigentlich auch einmal den Mund aufmachen, Anni. Weshalb bist du jetzt so schweigsam?! Du warst es doch, die mir riet, wir sollten Herrn Harst die Sache vortragen.“

Anni Wiek hatte sich mehr zurückgelehnt und ihr sanftes Gesicht dadurch in den Schatten gebracht. Bisher hatte sie so gut wie nichts gesprochen, und auch jetzt sagte sie nur sehr gleichgültig: „Es war mehr Scherz von mir, als ich dir den Vorschlag machte, liebe Tussy. Ich hätte nie vermutet, daß Herr Harst so liebenswürdig sein würde, derartigen Kleinigkeiten nachzugehen.“

Das war eine an sich schon merkwürdige Antwort, [8] und Tussys erstaunter Blick zeigte mir, daß Anni hier soeben die Wahrheit wohl etwas korrigiert hätte.

„Da hört doch alles auf!“, rief Tussy fast empört. „Gestern oder vielmehr heute früh sagtest du noch, wir hätten sehr richtig daran getan, den Brief an Herrn Harst abzusenden, und jetzt willst du den Eindruck hervorrufen, als wärest du nie der Meinung gewesen, daß Herr Harst sich unser annehmen würde?! Du schwindelst ja, Anni. Du warst es doch auch, die mir vorhin nahelegte, mal vor dem Hause Ausschau zu halten!“

Es war sehr zu bedauern, daß Anni Wiek ihr Gesicht so sorgsam verbarg.

Sie hustete plötzlich und hielt sich das Taschentuch vor den Mund.

Ihre Erwiderung klang recht undeutlich: „Auch das war nur Scherz, Tussy. Wir haben heute den ersten April, und du weißt recht gut, daß ich dich noch an jedem ersten April irgendwie – in den April geschickt habe.“ Und dann kam noch der Nachsatz, der fraglos verlegen und ärgerlich klang: „Ich hätte mich gehütet, Herrn Harst den Brief zu senden, wenn ich auch nur im entferntesten mit einem Besuch hier gerechnet hätte!“

Tussy warf den dunklen Kopf herum und starrte die Freundin geradezu entgeistert an. „Entschuldige schon, in vielem warst du mir die letzten Wochen unverständlich, aber dies – geht denn doch über die Hutschnur!“

Anni Wiek entgegnete nichts auf diese Vorwürfe, hüstelte nur und schob ihren Stuhl noch weiter in den Schatten. – Das war wirklich eine merkwürdige junge Dame! – Wenn nicht außer dem einen Brief der beiden Freundinnen noch fünf andere heute früh bei uns eingetroffen wären, hätte ich gegen diese Anni einen leisen Argwohn geschöpft. Es war ja immerhin möglich, daß dieses sanfte Mädchen uns beide hatte frozzeln wollen, also in den April schicken! Stille Wasser sind zuweilen [9] sehr tief. – Aber da waren eben die anderen fünf Briefe, und es erschien ganz ausgeschlossen, daß die gesamten Bewohner des Hauses der Friedvollen sich zu einem Komplott gegen uns zusammengetan hätten, zumal einige der Briefe Mitteilungen sehr ernster Art enthielten.

Meines Freundes Benehmen blieb mir unbegreiflich. Er sagte überhaupt nichts mehr, er saß in seiner Sofaecke wie ein gänzlich Unbeteiligter und überließ es mir, das Gespräch fortzuspinnen. – Nur um überhaupt etwas zu sagen, wandte ich mich an Tussy und fragte: „Kennen Sie Ihre Mitbewohner genauer? Und wen?“

„Niemanden! Wir haben es uns zum Grundsatz gemacht, innerhalb des Hauses keinerlei Bekanntschaften zu schließen, und sind damit bisher sehr gut gefahren “

„Ein sehr löblicher Grundsatz“, nickte ich ehrlich. „Etwas anderes noch, Fräulein Grütt – hörten Sie unten, als Sie im Vorgarten waren und sahen, daß meinem Freunde der Hut vom Kopfe flog, ein Geräusch, das einem Schusse glich?“

„Nichts! – Ich glaubte, ein Zufall hätte den Hut …“

Jetzt wurde Anni Wiek mit einem Male lebhaft. „Wie, ein Schuß?! Davon weiß ich bisher ja gar nichts. Wie war das, Tussy?“

Harst erteilte die Antwort. Ich war hierüber sehr überrascht. „Es hat sich um keinen Schuß gehandelt, meine erste Annahme war falsch. Überzeugen Sie sich selbst: der Hut ist völlig unbeschädigt.“

Auch ich sah mir den weichen Filzhut nun genauer an. Was Harald soeben behauptet hatte, stimmte nicht ganz. Oder besser: Es stimmte gar nicht! Die beiden jungen Mädchen konnte er wohl täuschen, nicht aber mich. Er hatte einfach das Hutband etwas emporgeschoben [10] und dadurch das allerdings winzige Kugelloch verdeckt.

Harst stand dann auf und erklärte noch in der Tür, als wir uns verabschiedeten: „Ich werde Ihre Sache im Auge behalten. Bitte schweigen Sie über unseren Besuch. Es war eine ungeschickte Kopfbewegung von mir, keine Kugel, ich bückte mich zu rasch, um die Namensschildchen zu lesen “

Tussy Grütt brachte uns die Treppe hinab, um uns die Haustür zu öffnen; es war bereits nach zehn Uhr. Harald drückte ihr freundlich die Hand. „Haben Sie ein etwas wachsames Auge auf Ihre Freundin“, raunte er ihr zu. „Es ist hier nicht alles so, wie es sein soll. Gute Nacht!“

Wir schritten schnell davon, und Tussy starrte uns offenen Mundes nach. – –


2. Kapitel.
Ein kleiner Bastler.

Der Mond schien sehr hell, und wir wählten den Weg durch die Schonung, der die Strecke bis zum U-Bahnhof bedeutend abkürzte. Trotzdem blieb es ein Wagnis, nach dem doch immerhin zur Vorsicht mahnenden Schuß auf Harst uns hier einer weiteren heimtückischen Kugel auszusetzen. Gewiß, die durch die Schonung laufende Schneise war sehr breit, und da die Kiefernstämmchen recht weit auseinanderstanden und auch [11] nicht dick genug waren, um einem Menschen Deckung zu gewähren, konnten wir bei einiger Wachsamkeit unangenehme Zwischenfälle vielleicht vermeiden – vielleicht! Ob Harst aber sehr viel daran gelegen war, einem zweiten Attentat auszuweichen, erschien mir sehr fraglich, da er meine warnenden Worte überhaupt nicht beachtet hatte. Ich paßte daher sehr scharf auf, und auch er, das merkte ich, hatte die Augen überall und rechnete zweifellos mit irgendeinem Ereignis, das jedoch kaum ein zweiter Schuß sein konnte. Mein Freund hat noch nie leichtfertig sein Leben aufs Spiel gesetzt.

Wir hatten denn auch kaum erst einige dreißig Schritte zurückgelegt, als Harst stehen blieb und sich zur Seite wandte, wo eine dicke, einzelne Eiche die Eintönigkeit des Bildes der mondhellen Schonung unterbrach. Noch während der plötzlichen Wendung nach links warf er sich zu Boden und schnellte gleichzeitig hinter einen Strauch, der auf einem Schutthaufen wucherte. Ich folgte seinem Beispiel, hätte mir dies aber schenken können, denn ich vernahm bereits eine dünne Stimme, die erregt und überhastig flüsterte:

„Keine Sorge[1], Herr Harst! Hier ist nur Horst Helmer. Sie wissen doch: Ich schrieb Ihnen einen Brief wegen meiner Radiosachen.“

Ob ich mich darauf besann!! – Gerade dieser Brief war von den sechs Schreiben von heute früh das Merkwürdigste gewesen.

Der Junge kam nun auch zum Vorschein, blieb aber im Schutze des Schattenstriches der Eiche stehen und fügte in demselben gedämpften Tone hinzu: „Ich möchte mich lieber nicht so offen zeigen, Herr Harst … In unserem Hause wohnen Leute, denen man nicht trauen darf. Wenn Sie noch ein Stück weitergehen, werden Sie an eine Jungschonung gelangen, die sehr dicht ist. Dort erwarte ich Sie.“

[12] Er eilte bereits gebückt von dannen, und wir mußten notgedrungen auf seine Vorschläge eingehen.

Wir drei saßen dann auf dem Kiefernboden der Schonung in fast völliger Dunkelheit, und der dreizehnjährige Horst berichtete uns in kurzen Worten alles, was er wußte und was er beobachtet hatte. Die von Harst gestellten Zwischenfragen kann ich weglassen. – Horst Helmers Erlebnisse waren folgende:

Seine Mutter und er – die Mutter war die Witwe eines früh verstorbenen Oberingenieurs – wohnten unten im Erdgeschoß rechter Hand. Horst war ein begeisterter Radiobastler und hatte von dem Hausverwalter die Erlaubnis erbeten, sich eine Freiantenne anlegen zu können, was auch genehmigt wurde. Mit Hilfe seiner Spargroschen hatte er sich einen Vierröhrenempfänger gebaut und dazu einen ganz modernen Lautsprecher. Der Apparat gab sehr guten Fernempfang, und Horst hatte eines Nachts versucht, auch Amerika zu hören und war dabei auf eine Welle geraten, die gerade Versuche anstellte, so daß der Lautsprecher für Minuten, da es sich um einen holländischen Sender handelte, recht laut die Musik wiedergegeben hatte. Über Helmers wohnten nun die beiden jungen Damen, die wir bereits kannten, und Anni Wiek war in höchster Erregung gleich darauf nach unten zu Helmers gekommen, hatte geläutet und den armen Horst böse wegen Störung der Nachtruhe angepfiffen und am nächsten Tage sogar den Hausverwalter angerufen und sich beschwert und die Entfernung der Antenne verlangt, die das Haus verunziere. Horst mußte die Antenne wieder abnehmen und sich mit einer Zimmerantenne begnügen, die natürlich den Fernempfang auf die Großsender beschränkte. Es sollte aber noch ärger kommen. Vorgestern Abend waren Frau Helmer und Horst bei Verwandten bis Mitternacht in Berlin gewesen. Als sie zurückkehrten, fand der Junge [13] seine Zimmerantenne nicht mehr vor, ebenso waren sein Apparat und sein gesamtes Bastelmaterial, das in zwei Kästen in seinem Zimmer verstaut war, verschwunden. Dies merkte er erst, als seine Mutter bereits schlafen gegangen war, er weckte sie, war sehr unglücklich und behauptete steif und fest, den Streich hätte ihm nur Anni Wiek gespielt. Seine Mutter lachte ihn aus und nahm Anni energisch in Schutz, aber Horst beruhigte sich dabei nicht, sondern teilte uns das Geschehene in einem Briefe mit, dessen Hauptstelle ich nun hier wörtlich wiedergeben will.

„Mutter schickte mich in mein Zimmer zurück, wo ich noch lange weinte, denn mein selbstgebauter Apparat war mein Stolz gewesen und war auch bei der Ausstellung von Schülerarbeiten mit dem zweiten Preis ausgezeichnet worden. Während ich nun noch darüber nachdachte, wie ich Fräulein Wiek den Einbruch in unsere Wohnung nachweisen könnte, fiel mein Blick auf das eine Fenster, und ich sah, daß der Regenkasten unter dem Fenster ein Stück herausgezogen war, was ich bestimmt nicht getan hatte und Mutter auch nicht, denn es hatte seit Tagen nicht mehr geregnet. Ich untersuchte nun den Kasten, der schon an sich ganz überflüssig ist, und zu meiner Überraschung fand ich so heraus, daß hinter dem Zinkkasten sich ein …“

Ich kann hier drei Zeilen weglassen, da meine Leser ja bereits wissen, was sich hinter dem Kasten befindet.

„… In der Kassette steckte der Schlüssel, und als ich aufschloß, sah ich darin zweihundert Mark und einen Zettel liegen, der mit Maschine getippt war und lautete:

„Radioanlagen sind für immer verboten“.

Ich war nun mehr denn je davon überzeugt, Herr Harst, daß nur Fräulein Wiek mir den Apparat entführt haben könne. Ich machte die Probe aufs Exempel, indem ich vormittags, als nur das sehr nette Fräulein [14] Grütt daheim war, zu ihr ging und mir einen Brief von ihr tippen ließ, der angeblich für das Kuratorium der Helmholtz-Stiftung bestimmt war. – Nachher verglich ich meinen Zettel mit dem Schreiben und konnte unschwer feststellen, daß mein Zettel mit derselben Maschine getippt sein mußte – ich hatte also Fräulein Wiek überführt. Und deshalb schreibe ich nun an Sie, Herr Harst; es ist doch unerhört, daß jemand bei uns eindringt und …“ – Den Schluß des Briefes des eifrigen Bastlers kann ich mir schenken.

Es erscheint nun auch wohl verständlicher, daß ich vorhin in der Wohnung der beiden jungen Mädchen so schnell gegen Anni Wiek Verdacht schöpfte, da der erste Argwohn gegen sie ja bereits durch Horsts Schreiben geweckt war.

Horst berichtete nun über den heutigen Abend folgendes:

Er hatte im stillen gehofft, von uns bis zum Abend eine Antwort zu erhalten. Als diese ausblieb, hatte er sich nach Dunkelwerden in der Schonung auf die Lauer gelegt, da er immer noch damit rechnete, wir könnten das Haus der Friedvollen heimlich erst einmal in Augenschein nehmen. So wurde er denn Zeuge, wie eine tiefverschleierte Frau, in der er Anni Wiek wiederzuerkennen glaubte, mit einer langläufigen Pistole unweit seines Versteckes erschien und genau wie er geduldig wartete. Er hatte nachher auch beobachtet, daß diese Frau die Waffe benutzte und hatte auch Harst eine Warnung zurufen wollen, aber dazu war es schon zu spät gewesen, sah nur noch, wie die Frau nach dem Hintereingang verschwand und dabei ihren Mantel emporhob, um schneller laufen zu können. So konnte er denn auch noch wahrnehmen, daß die Frau genau dieselben Lackschuhchen trug, wie Anni sie zu tragen pflegte. Dies bestärkte ihn noch in seiner Überzeugung, die Schützin sei Anni Wiek [15] gewesen. Sein Entschluß, auf uns zu warten, wurde zur Tat, da er in der Person, die uns ins Haus einließ, Tussy Grütt erkannte. Er beendete seine Ausführungen mit den Worten: „Herr Harst, hinter diesem Diebstahl meines Apparates und dem Zettel und der Spende der zweihundert Mark steckt mehr, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Ich bitte Sie herzlich, untersuchen Sie die Sache näher. Sie werden sicherlich auf ganz geheimnißvolle Zusammenhänge stoßen, denn auch der Mieter im ersten Stock links, also der Flurnachbar der beiden Damen Wiek und Grütt, ist ein recht seltsamer Kauz.“

„So?!“, meinte Harst, „inwiefern denn?“

Horst Helmer überlegte sich die Antwort sehr genau, und dann erwiderte er in seiner bedächtigen Art: „Der Herr dort heißt Anton Dannert und nennt sich Privatgelehrter. So kann ich mich auch nennen. Was heißt Privatgelehrter?! Er ist mürrisch und unliebenswürdig und haßt Kinder. Wenn ich auch noch so höflich grüße, er dankt nie. Außerdem schleicht er oft nachts aus dem Hause. Ich war sehr oft recht spät noch auf und bastelte an meinem Apparat, und deshalb nur konnte ich ihn beobachten, wie er wirklich wie ein Dieb und ganz vermummt und sehr leise davoneilte.“

Dieser frische, nette und kluge Junge gefiel mir, er war in seinen Angaben recht behutsam und wollte offenbar niemandem Unrecht tun.

Mein Freund fragte ihn noch verschiedenes, es kam aber nicht viel dabei heraus. Nur die letzte Frage war von Bedeutung, und Horst beantwortete sie mit der knappen Entgegnung: „Ja, mein Zimmer liegt gerade unter dem Atelier des Fräulein Wiek.“

„Du hörst noch von uns“, sagte Harald zum Abschied und drückte unserem neuen kleinen Freunde fest die Hand. „Halte die Augen gut offen, und besonders den [16] Herrn Anton Dannert nimm aufs Korn. – Gute Nacht, mein Junge.“

„Ein sonderbares Haus der Friedvollen!!“, meinte Harald ironisch, „alle Mieter scheinen ihre besonderen Geheimnisse und Beschwerden zu haben.“

Vor uns tauchte eine schlanke Gestalt auf, die schon soeben an uns vorübergekommen war.

Es war, wie ich nun erkannte, ein jüngerer Herr, recht gut angezogen und mit frischem, gebräuntem Gesicht. Gerade unter einer Laterne trat er auf uns zu und lüftete den Hut: „Mein Name ist Doktor Dannert. Ich habe wohl das Vergnügen mit den Herren Harst und Schraut?“

„Das haben Sie“, sagte Harald gut gelaunt. „Ihren Brief erhielten wir, Herr Doktor. Wenn es Ihnen recht ist, trinken wir noch zusammen ein Glas Bier und besprechen die Sache. Offenbar haben Sie geahnt, daß wir heute abend hier draußen so ein wenig uns umsehen würden?!“

Dannert lächelte harmlos.

„Oh – nicht geahnt. Nein, ich hatte vor Ihrem Hause in der Arnoldstraße aufgepaßt und bin Ihnen dann gefolgt.“

Selbst Harald wurde nun stutzig. – „Gefolgt sind Sie uns? Bis wohin?“

Wir schritten auf das nächste Restaurant zu.

„Bis zum Hause der Friedvollen, in dem sehr unfriedliche Menschen wohnen!“, – der Spott war deutlich herauszuhören, aber es war ein gutmütiger Spott, der niemanden verletzte.

„So, so. – Und sahen Sie, daß auf mich geschossen wurde?“

„Nein. Dazu war ich zu weit entfernt.“ – Das klang jedoch ganz so, als wäre es gelogen.

Wir nahmen in der Kneipe, die wenig besucht war, [17] einen Ecktisch und bestellten Rotwein, denn Dannert empfahl ihn uns sehr und betonte, er sei hier Stammgast. – –


3. Kapitel.
Der Bluffer taucht auf …

Doktor Anton Dannert erwies sich als ein sehr angenehmer Gesellschafter von Witz und Geist und verblüffte durch seine anscheinende Ehrlichkeit.

Harst, der die sechs Briefe bei sich trug, holte den Dannerts hervor und überflog ihn nochmals. – „Sie schreiben hier wörtlich …“, begann er die Aussprache, … „vorgestern abend hatte ich Besuch, und zwar eine Dame bei mir, deren Namen ich verschweigen muß, obwohl es sich um keine Liebesaffäre handelt. Im Laufe der Unterhaltung mit der Dame – wir[2] saßen in meinem Arbeitszimmer bei geschlossenen Fenstern – erwähnte mein Gast, daß eine bestimmte Angelegenheit, die ich hier vor Ihnen auch nicht näher bezeichnen kann, für sie sehr unangenehm werden könnte, wenn sie nicht in den Besitz gewisser Briefe gelange, die sie einst einem Herrn geschrieben hatte, der sich hinterher als Erpresser und Hochstapler herausstellte. Ich versprach ihr, mein Möglichstes zu tun, ihr wieder zu den Briefen zu verhelfen, betonte jedoch gleich, daß sie wahrscheinlich etwas Geld werde opfern müssen, da der Mann gutwillig kaum zur [18] Rückgabe bereit sein dürfte. – Zufällig hatte ich nun in meinem Arbeitszimmer unter dem Fensterkopf eine kleine Stahlkassette in Form und Aussehen eines halben Ziegelsteines …“ – hier kann ich drei Zeilen auslassen …

„Als ich am Morgen nach dem Besuch der Dame aus der Kassette Geld herausnehmen wollte, finde ich zu meiner maßlosen Verblüffung darin ein Bündel Briefe, um das ein Papierband mit der getippten Aufschrift

„Ungelesen an Frl. … … abzugeben!“

geklebt war. Der Name der Dame, die am Abend bei mir gewesen, stimmte. Ich rief sie sofort an, traf mich mit ihr und übergab ihr die Briefe: Es waren die, an deren Besitz ihr soviel gelegen war! – Wir standen vor einem Rätsel. Es war ja gewiß, daß nachts jemand die Briefe dem Erpresser abgenommen und sie dann heimlich durch Eindringen in meine Wohnung mir zugestellt hatte. Wir zerbrachen uns den Kopf, wer dies getan haben könnte, aber es war nicht möglich, das Dunkel dieses Geschehens irgendwie zu lichten. Deshalb, sehr geehrter Herr Harst, wende ich mich an Sie und bitte, daß …“ – und so weiter.

Harald steckte den Brief Dannerts wieder zu sich und fragte den netten Doktor: „Wenn Sie mir nicht den Namen nennen wollen – den Namen der Dame –, dann muß ich zu meinem Bedauern ablehnen, in der Sache noch weiter tätig zu sein, zumal die Geschichte nicht ganz ungefährlich ist, wie Ihnen mein Hut hier beweist. Bitte, man hat auf mich vor der Haustür des Hauses der Friedvollen geschossen, und die Kugel hat, wie Sie sehen, den Hut einseitig durchbohrt, es war mithin ein Schuß, der sehr ernst gemeint war: Fünf Zentimeter tiefer, und meine Schädeldecke hätte ein Loch bekommen!“

[19] Dannerts Gesicht verriet deutlich, daß er von diesem heimtückischen Schuß wirklich keine Ahnung hatte.

„Das ist ja unglaublich!“, preßte er zwischen den Zähnen hervor. „Unter diesen Umständen bin ich allerdings verpflichtet, Ihnen den Namen der Dame zu nennen – unter Diskretion! – Es handelt sich um eine Bewohnerin des Hauses der Friedvollen, um ein Fräulein Anni Wiek. Sie haust mit ihrer Freundin Tussy Grütt zusammen, aber Tussy weiß nicht, daß Fräulein Wiek sich an mich um Hilfe gewandt hatte, sie weiß nicht einmal, daß wir uns näher kennen, denn unsere Bekanntschaft beruht lediglich auf der Zugehörigkeit zu demselben Verein für psychische Forschung. Die Grütt, das übermütige Mädel, hat für solche Dinge nichts übrig.“

„Und wer ist der Erpresser?“, fragte Harst leise, da am dritten Tisch ein neuer Gast soeben Platz genommen hatte.

Dannert benahm sich mit einem Male sehr seltsam. Er wurde überaus nervös, zerkrümelte seine Zigarre, trank seinen Wein auf einen Zug aus und senkte den Kopf ganz tief. Dann flüsterte er so leise, daß wir scharf hinhören mußten, um ihn zu verstehen: „Bitte Vorsicht …, der Mann ist soeben erschienen …, dort, der am dritten Tisch …“

Ich schaute mir den Burschen unauffällig genauer an. Es war kein Bursche, es war ein sehr eleganter Herr mit Monokel und einem gebräunten, schmalen und feinen Gesicht.

„Auch einer aus dem Hause der Friedvollen“, flüsterte Dannert noch leiser. „Ein Oberleutnant außer Dienst von Lerz, Rochus von Lerz. Ein Gestrauchelter. In der guten Gesellschaft unmöglich – vor zwei Jahren noch der Schrecken aller Kommerzienräte mit heiratsfähigen Töchtern. Damals nannte man ihn nur den Bluffer, weil er immer so tat, als wollte er sich verloben [20] und nie Ernst machte, sondern sich nur immer einladen und freihalten ließ. Die Weiber waren wie besessen nach ihm, und er hätte die reichsten Partien machen können, aber die goldene Freiheit war ihm lieber … – Wie der gerade zu den Erlesenen gehörte, die der Stifter des Hauses der Friedvollen als bevorzugte Mieter benannt hatte, ist mir schleierhaft!“

Harst ruckte mit dem Kopf empor. „Was heißt das: Bevorzugte Mieter?“

Dannert sah ihn erstaunt an. „Ja, wissen Sie denn gar nicht, daß das Haus der Friedvollen eine Stiftung eines verrückten amerikanischen Millionärs ist, der vor zwei Jahren starb und …“

„Keine Ahnung“, fiel Harald ihm ins Wort. „Bitte, darüber erzählen Sie erst mal Genaueres.“

„Gern. Aber viel zu berichten gibt es da nicht. Der Millionär war ein Deutschamerikaner und hieß Albert Schwarz, verstarb auf einer Expedition nach Alaska, wo er große Ländereien aufgekauft hatte, und hinterließ ein Testament, in dem genau bestimmt war, wie und wo und in welcher Ausstattung die Stiftung, also das Haus der Friedvollen, erbaut werden solle. Außerdem enthielt das Testament verschiedene Namen derer, die als Vorzugsmieter zuerst berücksichtigt werden sollten. Wie ich zu dieser Ehre gekommen bin, auch unter den Bevorzugten aufgeführt zu sein, weiß ich nicht, und Fräulein Anni Wiek und ihre Freundin Tussy wissen es ebensowenig. Ich habe den Millionär nie gekannt und war einfach baff, als ich eines Tages, im Herbst des Vorjahres, ein Schreiben erhielt, ob ich die Wohnung nehmen würde, die ja fabelhaft billig ist – pro Monat nur dreißig Mark –, also geschenkt bei dem Komfort: Telephon gratis, Beleuchtung gratis, Heizung gratis und Warmwasser, wogegen man nur die Verpflichtung hatte, die bereits montierten Beleuchtungskörper nicht auszuwechseln [21] und keinerlei neue Leitungen legen zu lassen. Natürlich griff ich mit Freuden zu.“

„Ich hätte mir es überlegt“, murmelte Harald so leise, daß Dannert es nicht verstand und neugierig fragte: „Was meinten Sie soeben, Herr Harst?“

„Oh, ich hätte auch zugegriffen – natürlich! – Doch nun zu dem Bluffer zurück. Er ist also der Erpresser, mit dem Fräulein Wiek einst Briefe gewechselt hatte.“

„Ja, er ist’s! – Aber ich möchte hier sofort etwas richtigstellen, Herr Harst. Wenn ich vorhin sagte: Erpresser, so muß ich dies zurücknehmen, denn aus den Andeutungen Annis konnte man wohl entnehmen, daß Rochus von Lerz einen Erpressungsversuch wagen würde, nicht aber, daß er es schon getan hat. Ich möchte niemandem bewußt Unrecht tun.“

Mir wirbelte der Kopf. Man stelle sich vor: Dort saß derselbe Lerz, der ebenfalls an uns geschrieben hatte … und war!! Und den nannte Dannert einen Erpresser! Ich sollte noch mehr staunen, diesmal über meinen unbegreiflichen Freund, denn Harst raunte Dannert nun zu, er solle sich verabschieden, er würde noch von uns hören.

Gleich darauf begaben wir uns an den Tisch des Bluffers, stellten uns ihm vor und lernten so den charmantesten Menschen kennen, der uns je über den Weg gelaufen ist – –


[22]
4. Kapitel.
Rochus von Lerz’ einfache Theorie.

„Famos, daß ich mich nicht geirrt habe“, sagte er schmunzelnd und drückte uns freudig die Hände. „Ich hatte mit Ihrem Erscheinen hier in der Nähe des Spukhauses auf meinen Brief hin gerechnet und bin den ganzen Abend Patrouille gegangen. Natürlich war ich Zeuge, wie die Dame auf Sie feuerte, Herr Harst – ich konnte nicht eingreifen, ich stand zu weit ab, und auch der kleine Bursche, der Horst, war mir im Wege, sonst wären wir mit der Feststellung des Schuldigen schon weiter. Ob die Frau mit einer Luftpistole oder einem sehr guten Schalldämpfer schoß, weiß ich nicht. Im übrigen schlage ich vor, daß wir die Unterredung in meiner Wohnung, also an Ort und Stelle, fortsetzen, wo ich Ihnen beiden gleich einige Besonderheiten meines Heimes zeigen kann.“

Wir zahlten und schritten dann die Alsenstraße hinab. Lerz ging zwischen uns. Er hatte die richtige überschlanke Rennreiterfigur, hielt sich sehr gerade und besaß[3] trotzdem jene ungezwungene Lässigkeit der Bewegungen, die nur ein gut trainierter Körper und ein Mann ohne jede Sucht, irgendwie sich anders zu geben, als er ist, aufbringt. Seine Gesichtsfarbe verriet seine Neigung für Fußtouren und Sport, seine Ausdrucksweise war frei von jeder Künstelei, er redete, wie ihm der Schnabel gewachsen war, und doch war er kein leichtfertiger Schwätzer.

[23] Während des kurzen Weges zum Hause der Friedvollen bat Harst, jede Erörterung der dunklen Angelegenheit zu unterlassen, da er versuchen wolle, herauszubringen, ob noch weitere der Bewohner der merkwürdigen Stiftung uns beobachten. So wurde es denn ein sehr stiller Spaziergang, Lerz pfiff dauernd pianissimo einige Tangos vor sich hin und hatte doch gleich uns die Augen überall.

Die Helle der Aprilnacht war noch größer geworden, und selbst in der Schonung, die wir abermals durchquerten, war auf weite Entfernung jede Kleinigkeit zu unterscheiden. Wir mochten dann etwa die Jungschonung mit ihrem recht dichten und dunklen Bestande kaum mannshoher Kiefern erreicht haben, als der Oberleutnant mit einem Male leise fluchte.

„Verdammt, der Schuß saß …! Solch eine Schweinerei …!!“

Er war stehengeblieben, befühlte seinen linken Oberarm und murmelte nur: „Sauschützin!!“

Es stellte sich heraus, daß er tatsächlich eine Kugel in den Oberarm erhalten hatte, die nur wenig tief eingedrungen war und sicherlich vorher einen Ast durchschlagen und an Kraft eingebüßt hatte.

Wir liefen nun die letzte Strecke, und erst droben bei Lerz, der im zweiten Stock, also unter dem Dache linker Hand wohnte (das Haus hatte nur sechs Mieter, der Hauswart wohnte nach hinten heraus in einem Anbau, wo auch die Waschküche lag), – erst in Lerz’ überaus gemütlichem und sauberem Heim wurde die Wunde von Harald untersucht, gesäubert und verbunden. Das Geschoß selbst fanden wir nicht, es hatte nur ein Loch in das dicke Muskelfleisch geschlagen und mußte nachher, als Lerz den Arm befühlte, herausgefallen sein.

Lerz machte die Wunde absolut nichts aus, er war nur wütend über die „unglaubliche Schweinerei“ der [24] Sauschützin. „Das Oberhemde und der Mantel sind verdorben!! Wer ersetzt mir den Schaden?!“

„Haben Sie keine anderen Sorgen?“, lachte Harald und klopfte dem wurstigen Bluffer auf die gesunde Schulter.

Dann saßen wir im Herrenzimmer zwischen alten Familiengemälden und Waffendekorationen und Kriegsandenken und rauchten gute Zigarren und Zigaretten, tranken einen feinen Mokka und hörten Lerz andächtig zu. – –

„Beginnen wir mit mir selbst. Der Esel immer voran. Aber da ich nun mal Ihr Klient bin, müssen Sie doch wissen, mit wem Sie es zu tun haben. – Ich bin der allerletzte derer von Lerz, drei Brüder liegen in Flandern, Verwandte habe ich nicht mehr, mein Vermögen – siehe Steuererklärung – beträgt genau achtzigtausend Mark, die Zinsen und meine Pension gestatten mir ein Leben nach meinem Geschmack, das heißt, ich gebe mich vollkommen meinen Liebhabereien hin, zu denen außer Sport auch das Studium der Geschichte des Weltkrieges und die – ja, nun horchen Sie auf, meine Herren! – die Untersuchung der Vorgänge in dieser verwünschten Bude gehört!“ – Er legte eine kleine Pause ein und blinzelte uns übermütig an. „Ich pfusche Ihnen also seit einiger Zeit ins Handwerk. Das schrieb ich Ihnen bereits in meinem Aprilscherz, der leider sehr ernste Hintergründe hat, wie wir nun wissen, denn wenn mit Schießeisen operiert wird, schaut die Sache unbedingt faul aus, und das deutete ich auch schon ohne diese Schüsse auf Sie und mich an, Herr Harst. – Ich weiche vom Thema ab. Also … ich selbst! Wahrscheinlich wird Doktor Dannert Ihnen erzählt haben, daß man mir den Ehrentitel „der Bluffer“ zugelegt hat. Stimmt! Aber stimmt auch wieder nicht, denn wenn ein Mensch wie ich ein durchaus für seine Ansprüche genügendes Vermögen besitzt, braucht [25] er nicht irgendein mondänes, leicht angefaultes Kommerzienratstöchterlein zu heiraten, nein, die Geschichte ist denn doch etwas anders: Ich habe viel in Gesellschaft verkehrt, – daß die diversen Dämchen mich angeln wollten, daran bin ich so unschuldig oder so schuldlos wie ein Baby! Das ist meinerseits keinerlei Rechtfertigung, durchaus nicht, das ist eine einfache Feststellung.“

Er trank seine Tasse leer und füllte die Gläschen mit einem alten, süffigen Kognak. „Ihr Wohl, meine Herren!“ – Dann kam er auf seinen Brief an uns zu sprechen. – „Die verschwundenen Schreiben, die ich erwähnte, waren die einzigen Briefe, die für mich als von Frauenhand herrührend Wert besaßen. Wer sie an mich schrieb, hätte ich unter anderen Umständen verschwiegen. Aber nach dieser Wendung der Dinge erscheint es mir notwendig, im Vertrauen auf Ihre Diskretion auch dieses Mädchen zu nennen, das als einziges meinem Leben Inhalt gegeben hätte. Wir kamen auseinander, weil sie davon hörte, ich sei … der Bluffer!“

Er wehte mit der Hand den Zigarrenrauch beiseite und schaute nachdenklich auf das wunderschöne Muster des echten Täbris. „Dieses Mädchen wohnt nun hier mit mir zusammen unter einem Dach und … kennt mich nicht mehr. Es ist Tussy Grütt, die Modenschriftstellerin!“

Harsts überraschte Kopfbewegung entging ihm. – Vorhin hatte uns Doktor Dannert erzählt, die Briefe stammten von Anni Wiek! – Was war nun wahr? Ich selbst neigte dazu, Lerz mehr Glauben zu schenken, und mit einem Male stieg in mir ein leiser Argwohn gegen den an sich so netten Dannert auf. – Harald warf mir einen langen, verstohlenen Blick zu und fragte: „Hat Tussy je die Rückgabe der Briefe verlangt?“

Rochus von Lerz schaute ihn offen an. „Ja, wiederholt. Ich schrieb ihr auch wiederholt sehr höflich und sehr lieb, daß die Briefe für mich mehr bedeuteten, als [26] sie ahne, und weigerte mich, sie herauszugeben. Da besaß sie leider die Geschmacklosigkeit, mir Geld zu bieten. Ich antwortete überhaupt nicht mehr, ich hegte im stillen die Überzeugung, daß Anni dahinter steckte, denn auch sie mag einmal gehofft haben, ich empfände mehr für sie, als nur Freundschaft. Es ist eben ein Unglück für einen Mann, wenn er die Weiber anzieht wie der Honig die Bienen, – weiß Gott, ich habe nie etwas dazu getan, nach Honig zu duften, im Gegenteil, ich war stets ein ziemlich rüder Patron, das heißt, ich machte aus meinem Herzen nie eine Mördergrube.“

„Diese Briefe“, hatte Lerz inzwischen hinzugefügt, „wurden mir gestohlen, und das schrieb ich Ihnen und wies dabei auf ein Versteck, das ich für vollkommen sicher hielt.“

Ich brauche nicht lange über dieses Versteck zu reden. Wir saßen hier in demselben Vorderzimmer, das auch bei den Damen Grütt und Wiek und bei dem kleinen Freunde, dem Bastler, die Kassette unter dem einen Fenster enthalten hatte. Trotzdem ließ Harst den Bluffer ruhig weitererzählen.

Lerz hob hervor, daß das Seltsamste an der Geschichte dieses Diebstahls das sei, daß er nicht begriffe, wie der Dieb in die Wohnung eingedrungen sein könnte. „Wenn Sie sich die Flurtür und das Schloß und die Fenster ansehen, Herr Harst, werden Sie zugeben, daß es einfach unmöglich ist, hier einzudringen, ohne Spuren von Gewaltanwendung zu hinterlassen.“

„Ich glaube auch kaum, daß Gewalt angewendet worden ist“, warf Harst so nebenher ein. „Die Dinge werden doch wohl etwas anders liegen, als Sie vermuten, Herr von Lerz.“

Lerz nickte. „Davon bin ich überzeugt. Den Verdacht, daß diese feine, billige Bude jemanden beherbergt, der sehr im Trüben fischt, habe ich schon längst. Deshalb [27] bemühte ich mich ja auch, hier so etwas Detektiv zu spielen, aber ich habe mir das leichter vorgestellt, als es ist. Dazu gehört doch wohl Erfahrung und Vorkenntnisse.“

„Berichten Sie Näheres“, bat Harald.

„Das hätte ich ohnedies getan, denn Sie werden staunen, was alles sich hier in diesem Zauberschlosse für merkwürdige Geschichten abspielen.“ – Daß wir über diese Geschichten, soweit sie die allerletzte Zeit betrafen, sehr genau unterrichtet waren, ahnte er nicht, und es lag auch nicht in unserer Absicht, ihn hierüber aufzuklären, das wäre bei der Sachlage grundfalsch gewesen.

Leider muß ich mich hier des knappen Umfangs der Harst-Abenteuer wegen darauf beschränken, nur einen der Fälle zu schildern, die Lerz dazu veranlaßt hatten, sich die Hausbewohner gründlicher unter die Lupe zu nehmen. – Folgendes war vor etwa einem Monat geschehen; in aller Kürze: Er hatte nachts noch gearbeitet. Genau um zwölf hörte er auf dem Boden – dem Trockenboden über sich – Geräusche wie schleichende Schritte, er begab sich hinauf und fand die Bodentür aus Eisen nur angelehnt, trat ein, leuchtete den Boden ab und entdeckte hinter alten Möbeln, die dem Hauswart Scheller gehörten, den ihm wenig sympathischen ältlichen Mann samt dessen Ehehälfte, und holte die beiden aus dem Versteck hervor. Seine Fragen, was sie hier täten, wurden zuerst ausweichend beantwortet, dann aber erklärte Scheller plötzlich, er hätte hier auf dem Trockenboden Licht bemerkt und sei deshalb mit seiner Frau nach oben gegangen. „Daß die beiden logen, merkte ich sofort“, erzählte Lerz weiter. „Ich machte mir also die Mühe, untersuchte den Trockenboden genauer und fand eine Telephonanlage, die zu einem Fenster ins Freie führte. Der Apparat stand in einem der abgestellten alten Schränke. Als ich den Hörer nahm, um festzustellen, ob [28] sich jemand melden würde, zerschnitt Scheller den Draht, und seine Frau gab mit einer Taschenlampe Signale nach draußen. Die Sache kam mir so verdächtig vor, daß ich die Treppen hinablief und draußen die Leitung weiterverfolgen wollte, aber auch dicht am Hause war der Draht zerschnitten worden, und ich mußte unverrichteter Sache umkehren. Die Schellers wurden dann fast unverschämt zu mir, und als ich dies dem Verwalter, der von der Stiftung eingesetzt ist, meldete, erhielt ich den Bescheid, daß der Hauswart die Sache ganz harmlos aufgeklärt habe, und daß ich mich nicht um Dinge kümmern möchte, die mich nichts angingen. – Schon damals wollte ich an Sie schreiben, Herr Harst, aber im Grunde ging mich die Geschichte ja wirklich nichts an, und ich schwieg und gab nur noch schärfer auf alles acht, konnte jedoch die Schellers nie mehr bei einer Unregelmäßigkeit ertappen und kam schließlich auf den Gedanken, daß die Leute genau wie ich nur jemand anderem nachspürten und daß sie sich mit Bekannten zu diesem Zweck zusammengetan hätten, – und das wird auch wohl stimmen, denn der Scheller ist ein sehr fleißiger, ruhiger Mann, wie ich nun erkannt habe.“

Nun entwickelte er uns seine Theorie.

„Meine Herren, gerade Ihnen beiden gegenüber brauche ich nicht viele Worte zu machen. Ich nehme nach alledem folgendes an: Hier in diesem Hause der Friedvollen – nebenbei der reine Hohn, dieser Name! – befindet sich unter den auserwählten und von dem Stifter namentlich benannten Bewohnern ein ganz übler Bursche oder eine ebenso niederträchtige Frau oder Mädchen, – das bleibe dahingestellt, denn ich betone gleich, ich weiß nicht, gegen wen ich einen Verdacht äußern sollte. Was diese Person in Wahrheit treibt oder mit ihren undurchsichtigen Schachzügen bezweckt, vermag ich nicht recht zu entscheiden, ich neige jedoch der [29] Auffassung zu, daß die Person zu einer großen Gaunerbande gehört, und daß dieses Haus das Hauptquartier der Bande ist. Von den vielen nächtlichen Besuchern des Hauses sprach ich bereits, – nie konnte ich feststellen, wo die Leute blieben, sie betreten das Haus und verschwinden spurlos und verlassen es nicht wieder, das ist die Theorie eines Dilettanten! – Jetzt, Herr Harst, bitte ich Sie um die Ansicht eines Fachmannes.“

Aber diese Bitte war verfrüht, das hätte ich ihm gleich sagen können, – mein Freund lehnte höflich, doch auch sehr entschieden jede Äußerung ab und gähnte dazu so kräftig, daß Lerz sich damit zufrieden geben mußte, als wir uns nun verabschiedeten. Er geleitete uns die Treppen hinab, und wir traten ins Freie.


5. Kapitel.
Die Friedvollen, die wir noch nicht kannten …

Als uns nach ungefähr zehn Schritten die Finsternis verschluckt hatte, blieb Harald stehen.

„Mein werter Kadaver ist mir zum Durchlöchertwerden denn doch zu schade, lieber Alter!“

„Mir auch!“ – Ich ging auf den scherzenden Ton gern ein, denn gerade angesichts einer Gefahr soll man nicht den Humor verlieren. „Außerdem schießt die Anni so miserabel, daß sie nur die unedlen Teile gefährdet und die Kleider!“

„Unsinn!“, fauchte er mich da an. „Laß doch die Anni aus dem Spiel! Das ist ja alles Schwindel und [30] Bluff! Das Mädel könnte ja keine Fliege töten! Wer solche Augen hat, ist ein wahrhaft guter Mensch, – in diesem Falle trügt meine Menschenkenntnis sicherlich nicht.“

Wir schlichen den Weg zurück, Harst immer drei Meter voraus. Er wollte das größere Risiko auf sich nehmen. Sehr anständig!!

Der Humor sollte uns vergehen, dafür sorgte Fräulein Emmy Bieler, auch eine der Briefschreiberinnen zum ersten April. – Sie wohnte Erdgeschoß links neben Helmers, und sie war Schauspielerin gewesen und lebte nun von der Dummheit ihrer lieben Nächsten, nämlich vom Wahrsagen aus dem – Genickhaar, sie hatte also dem berühmten Schäfer Ast etwas abgeguckt, der ja aus den Genickhaaren seiner Patienten oder besser seiner Leidtragenden die Krankheit bestimmte. – Emmy Bieler war in dieser Hinsicht in ihrem Schreiben sehr ehrlich gewesen und hatte aus ihrem Handwerk kein Hehl gemacht: Zukunft aus Genickhaaren herauszulesen, immerhin etwas Neues! – Sie verdiente damit, da nur briefliche Behandlung in Frage kam, durchschnittlich dreihundert Mark im Monat, und da sie recht vorsichtig war, hatte die Polizei sie noch nicht erwischt.

Diese hagere, aber noch ganz hübsche Dame tauchte urplötzlich hinter einer Kiefer auf und rief uns leise an: „Ich bin’s, Emmy Bieler, Ihre Klientin!“

Sie hatte allerdings gleich zweihundert Mark Honorar beigefügt, und das sprach für sie, denn außer ihr hatte nur noch der Rentner Motz aus der zweiten Etage rechts dasselbe getan. – Motz tritt später auf den Plan.

„Bitte, meine Herren, tun Sie mir die Ehre an und kommen Sie in mein bescheidenes Heim. Dort können wir alles in Ruhe besprechen.“

Das bescheidene Heim war alles andere als bescheiden, [31] es war ein Museum der einstigen Triumphe der Hofschauspielerin

„Meine Herren, daß Sie auf meinen Brief nebst Einlage hin (200 Em) pflichtgemäß erst einmal das Terrain hier sondieren würden, nahm ich mit aller Bestimmtheit an, und ich habe mich nicht getäuscht, dafür bin ich ja auch Wahrsagerin.“ – Diese feine Selbstironie gefiel mir. – „Was sagen Sie nun zu meinen Erlebnissen?“

Harald hatte ihren Brief auf den Tisch gelegt und schaute flüchtig hinein, denn wenn man sechs derartige Schreiben erhalten hat, kann man sich den Inhalt nicht so leicht merken. – „Fräulein Bieler, Sie erklären hier, daß Sie den Verlust von Bildern beklagen, die Ihnen sehr liebe Andenken gewesen seien. Dann schreiben Sie weiter, daß Sie diese Bilder an einem Orte versteckt gehabt hätten, der nur sehr schwer für einen Einbrecher zu finden gewesen sei. Welches Versteck meinen Sie?“

Es erübrigt sich, zu erwähnen, daß nun abermals die Kassette unter dem Fenster die unvermeidliche Rolle spielte. – Ja, die Schauspielerin hatte die Photographien dort in der Stahlkassette liegen gehabt, die sie ganz zufällig entdeckt hatte – wie alle übrigen Bewohner auch. Aber auf die Frage, wen die Bilder darstellten, blieb sie zuerst stumm und erklärte dann, daß sie darüber nicht sprechen möchte, jedenfalls könnte der Dieb der Photos damit allerlei Erpressungen an einer hochgestellten Persönlichkeit verüben, und dem wolle und müsse sie vorbeugen.

Und nun kam die Hauptsache. „Herr Harst, mir ist es unerklärlich, wie jemand von dem Vorhandensein dieser Bilder etwas ahnen konnte, denn die Liebesaffäre liegt Jahre zurück, und ich habe nie jemanden eingeweiht, daß mir der hohe Herr jemals näher stand, nur an dem Abend vor dem Verschwinden der Bilder war [32] meine frühere Zofe und Vertraute, die jetzt eine glückliche und reiche Frau Bäckermeister ist, bei mir und wir sprachen über vergangene Zeiten und auch über den Erbprinzen, – denn der war einmal mein feuriger Liebhaber und gütiger Freund. – Am Morgen nach dem Besuch meiner treuen Zofe waren die Bilder gestohlen worden, wohlverstanden, ohne daß ich meiner Vertrauten mitgeteilt hatte, wo sie verborgen waren. – Wie Ihnen bekannt sein dürfte, will der Erbprinz eine neue Ehe schließen, und ich kann mir nur denken, daß irgend jemand den Versuch machen will, aus ihm Geld …“

Hier winkte Harald energisch ab. „Bitte keine Mutmaßungen, für die die Beweise fehlen“, sagte er sehr nachdrücklich. „Außerdem pflege ich mich nie durch meine Klienten auf eine bestimmte Ansicht festlegen zu lassen. – War der Diebstahl von irgendwelchen besonderen Umständen, die Ihnen auffielen, begleitet?“

Sie verneinte, aber sie verbesserte sich sofort und erklärte: „Natürlich vermag ich nicht zu sagen, ob das, was mir so nebenher auffiel, mit dem Diebstahl in Zusammenhang steht. Ich bemerkte aber folgendes: Mein Schlafzimmer liegt nach hinten heraus, es ist ein sogenanntes halbes Zimmer, und ich pflege die Tür nach dem Flur offen zu lassen. Im Flur schläft nachts mein Männe …“ – Sie errötete. „Das ist mein Terrier. Ein sehr wachsames Tier.“

„So?!“, meinte Harald. Wo steckt er denn?“

„In der Hundeklinik. Ja, er war recht krank, Herr Harst. Aber ich will im Zusammenhang berichten. Männe hatte damals einen unnatürlich festen Schlaf. Zuerst glaubte ich, daß der Mieter aus dem ersten Stock, der Doktor Dannert, ihm womöglich schlechte Wurstpellen gegeben habe, dann jedoch, als Männe morgens immer noch schlief und gar nicht zu erwecken war, fuhr ich zur [33] Hundeklinik, und der Tierarzt sagte mir, der Hund habe ein Schlafmittel bekommen oder etwas gefressen, was ein Narkotikum enthielt.“

Sie zögerte etwas. „Ich will nun wirklich niemanden verdächtigen, aber Ihnen gegenüber muß ich aufrichtig sein. Dieser Dannert erscheint mir recht zweifelhaft, der Mann führt ein zu seltsames Dasein, denn die nächtlichen Besucher, die sich so oft bei ihm einfinden, sind nachher, wenn sie erst in seiner …“

Und wieder winkte Harst ab. „Danke, das genügt. Wollen Sie mir einmal die Kassette zeigen?“

„Bitte.“ Doch es klang unweigerlich etwas bestürzt und nicht gerade erfreut. Sie holte sie herbei und schloß sie auf. Dann zauderte sie abermals.

Harald beobachtete sie scharf und fragte: „Wo fanden Sie den Patentschlüssel zu dem Stahlkästchen?“

„Der steckte im Schloß.“ Dann erst öffnete sie die Kassette und meinte verlegen: „Es liegen noch andere Briefe und Schmucksachen darin.“

Mit einem Male stieß sie einen leisen Schrei aus und verfärbte sich trotz Schminke und Puder – „Mein Gott, was bedeutet das?! Eine Waffe?! Eine Pistole?! Die gehört nicht mir! Ich habe nie eine Waffe besessen, und …“

Harald hatte schon zugegriffen. „Hm, der Lauf riecht noch nach Pulverschleim. Und Sie tragen Halblackschuhe.“

Emmy Bieler starrte ihn wortlos an –

„Ist Ihnen bekannt“, fuhr er unbarmherzig fort, „daß man in dieser Nacht auf mich und auf den Bluffer geschossen hat, und daß beide Kugeln nur allzu dicht an lebensgefährlichen Körperstellen eindrangen oder vorübergingen?!“

Sie stieß abermals einen gedämpften Schreckensruf [34] aus. „Keine Ahnung habe ich davon. Wie ist denn so etwas möglich?! Wer sollte auf den Bluffer schießen?! Wenn es nur Ihnen gegolten hätte, wollte ich ja nichts sagen, denn Sie werden Ihre Feinde haben, und womöglich hat der Dieb, der mich bestahl, auch irgendwie erfahren, daß Sie von mir …“

Harald lächelte sie jetzt sehr vertraulich an und steckte die Pistole zu sich. „Sie gestatten wohl, daß ich das Mordinstrument zur näheren Untersuchung mitnehme? Was halten Sie von dem Bluffer?“

Auch Emmy Bieler lächelte nun wie befreit. „Oh, ein Prachtmensch ist das! Alles, was man da über ihn redet, ist ja Unsinn. Ich weiß das ganz genau.“

Harst gähnte diskret. „Es ist spät geworden. Sie gestatten, daß wir uns verabschieden?!“

Wir hatten die Schonung noch nicht erreicht, als der letzte der Aprilscherz-Briefschreiber auch hinter einer Kiefer auftauchte und sich mit größter Höflichkeit vorstellte: „Sie erlauben, meine Herren, – ich bin der Rentner Gustav Motz, der Ihnen zu heute früh den …“

„Ah, Herr Motz, – Sie kommen uns wie gerufen!“ Harst drückte ihm warm die Hand und ich auch.

Um es vorwegzunehmen: Das, was Motz uns mitgeteilt hatte, war so ungefähr die harmloseste aller Beschwerden der sechs Friedvollen. Er beschäftigte sich mit der Aufzucht von Wellensittichen und größeren Papageien und hatte darin gute Erfolge aufzuweisen, auch was das Beibringen des Sprechens anbetraf, wozu bekanntlich sehr viel Geduld gehört. So besaß er einen Graupapagei, der wachsamer als ein Hund war und außerdem den Vorzug hatte, jeden Besucher mit lautem Geschrei „Raus mit dem Gauner!!“ zu begrüßen, wodurch schon so mancher Gasmann und Elektrizitätskassierer recht erschreckt worden. Dieser Papagei, der natürlich Lorchen hieß, war nun dem armen Motz gestohlen [35] worden, und zwar nachts, was doch an sich schon ganz unbegreiflich blieb, da Lorchen selbst nachts einen Höllenlärm machte, sobald nur draußen etwa eine Krähe schrie. –

Auch Motz erzählte uns, er habe auf uns gewartet und gesehen, wie die Schauspielerin, die er sehr schätzte, weil sie ihn von seinem Rheuma befreit habe, und nur dadurch, daß sie ihm riet, ein Katzenfell zu tragen, uns mit sich in ihre Wohnung genommen habe. „Ich war nämlich im Kino und habe dann noch ein Glas Bier getrunken. Als ich heimkehrte, beobachtete ich Sie, meine Herren, und das Fräulein Bieler. Ja, so war’s.“

Wir standen mit Motz zwischen den Bäumen und Harst lehnte seine Bitte, doch noch zu ihm nach oben in seine Wohnung zu kommen, sehr freundlich ab. „Wir sind zu müde, Herr Motz. Morgen ist auch noch ein Tag.“

Der Rentner Motz war untröstlich. „Aber, Herr Harst, die Hauptsache wissen Sie ja noch gar nicht. Stellen Sie sich vor, als ich drei Wochen in der Wohnung hier hauste, entdeckte ich zufällig unter dem Fensterkopf in dem einen Vorderzimmer eine Kassette in Form …“ – Was Motz darüber zu sagen hatte, weiß der Leser bereits, und ich wußte es auch, aber ich lächelte nicht darüber, im Gegenteil, ich fand diese Zufälle außerordentlich bedenklich, denn von Zufall konnte nicht gut die Rede sein, wenigstens, was das Vorhandensein der Stahlkästchen anging.

„Herr Harst, die Kassette ist ja fast noch wichtiger, als Lorchen, denn meinen sprechenden Liebling bekomme ich wieder.“

„Hm, lag in der Kassette vielleicht ein Zettel, daß man Ihnen die Lore wiedergeben würde?“

Motz war starr. „Das ist geradezu unheimlich, wie gut Sie raten können! Ja, es ist so.“

„Und der Zettel war getippt?!“

[36] „Ob er getippt war!!“ Gustav Motz feixte schlau. „Ich weiß auch, von wem, Herr Harst!!“

„Ich auch“, meinte Harald lächelnd. „Von Fräulein Grütts Schreibmaschine stammte der Zettel, ob von ihr selbst, bleibt abzuwarten.“

„Herr im Himmel, Sie sind wirklich ein Hexenmeister!“

„Im Gegenteil, ich bin ein sehr harmloser Mensch, der seinen Kopf allerdings nicht nur zum Hutaufsetzen benutzt. Wie bekamen Sie es heraus, daß gerade die Schreibmaschine in Frage kommt?“

„Weil ich sie mir mal geliehen hatte. Weil ich noch Durchschläge von dem damaligen Schreiben an das Finanzamt aufbewahrt hatte, deshalb! Ich verglich die Schrift, und da jede Maschine ihre Fehler hat, konnte ich …“

„Aber wie kamen Sie auf den Gedanken, daß gerade Fräulein Grütts Maschine zur Herstellung des Zettels gebraucht sein könnte?“

„Dja, die Grütt und die Wiek! Man soll ja nicht über seine lieben Nächsten ein absprechendes Urteil fällen, aber – aber – nun, ich muß Ihnen wohl die Wahrheit sagen. Die Mädels empfangen nachts Herrenbesuche, und noch nie sah ich einen der Herren wieder weggehen, das ist’s!!“

Was der aufgeregte Herr Motz sonst noch sprach, war ohne Bedeutung und bewies nur, daß er wohl als Papageienzüchter etwas leistete, jedoch als Menschenkenner versagte. – Wir verabschiedeten uns dann endgültig und wanderten nun auf dem beleuchteten Wege der U-Bahn-Station Krumme Lanke zu. –

Wir kannten nun alle Mieter des Hauses der Friedvollen, nur den Hauswart Emil Scheller kannten wir nicht, und der Mann schien mir am wichtigsten zu sein. – –


[37]
6. Kapitel.
Die Umkehr … ein Titel?!

Umkehr?! – Allerdings … Nämlich auf Harsts Vorschlag auf dem nächsten Bahnhof „Onkel Toms Hütte“, auf dem einmal ein verschlafener Bekannter von mir, der an den Negerroman gleichen Namens gedacht hatte, ausstieg und sehr enttäuscht war, als er nicht in Amerika, sondern eine Station zu früh landete und dann zu Fuß weiterkrabbeln mußte. Spaß beiseite. Harst erklärte: „Wir steigen aus und kehren zum Hause der Friedvollen zurück, um einmal die nächtlichen Besucher des Heimes der Geheimnisvollen kennen zu lernen.“

Ein Fußgänger gebraucht für die Strecke zwischen Onkel Toms Hütte und dem Hause der Friedvollen etwa zwanzig Minuten. Wenn man aber nachts einen Gang durch den Hochwald nicht scheut, und das taten wir nicht, kann man in zehn Minuten an Ort und Stelle sein. – Diese Zeitangaben sind wichtig. Wir hatten vorhin bis Krumme Lanke etwa ebenfalls zehn Minuten nötig gehabt, wir hatten ferner etwa fünf Minuten bis zur Abfahrt des Zuges warten müssen, – mithin hatten wir rund fünfundvierzig Minuten das verwünschte Haus nicht gesehen, und in dieser Zeit war etwas geschehen, das den Dingen ein gänzlich verändertes, noch ernsteres Aussehen gab.

Schon von weitem bemerkten wir zwischen den Kiefernstämmen vor dem Gebäude den Schein von grellen Lampen. Harald blieb stehen, schaute schärfer hin und zog mich schleunigst hinter einen Busch.

[38] „Das sind Scheinwerfer von Polizeiautos. Dort ist jetzt etwas ganz Böses geschehen. Wahrscheinlich hat der übereifrige Schütze nun doch jemanden besser oder schlechter getroffen, als mich und den flotten Lerz.“

Wir sahen Gestalten im Lichte der Scheinwerfer hin und her eilen, und aus der ganzen dort herrschenden Unruhe war wirklich nur zu schließen, daß Harst wieder einmal recht mit seiner Vermutung hatte. Im stillen hoffte ich ja noch, daß die Sache nicht ganz so arg wäre, wie er es soeben erklärt hatte, doch nun erblickten wir auch einen niederen Wagen besonderer Bauart, in den soeben eine verhüllte Gestalt von drei Leuten hineingeschoben, nicht gehoben, wurde: Ein Toter, eine Leiche! – Also doch!

Mein Freund blieb dazu stumm, erst nach einer Weile sagte er dumpf, und ich merkte es seinem Tone an, welche Vorwürfe er sich machte: „Wir hätten unbedingt in der Nähe bleiben müssen! Nach diesem Vorspiel war mit einem blutigen Zwischenfall zu rechnen.“

„Wollen wir nicht näher herangehen“, schlug ich vor. „Vielleicht kennen wir den Kommissar, der die Sache unter sich hat?“

„Es ist Freund Bechert, Sonderdezernat. Und gerade das bestimmt mich, dem Hause fernzubleiben.“ – Er wollte noch mehr hinzufügen. – Ein gellender Schrei schallte bis zu uns herüber, ein Schrei aus einer Kinderkehle, so hell.

„Horst Helmer!“, flüsterte Harst bedrückt. „Armer Junge!“

Ich war entsetzt. – „Du meinst, daß Frau Helmer erschossen wurde? Aber sie hat doch mit der ganzen Geschichte nichts zu tun!“

„Das glaubst du!“ – Und nach kurzer Pause: „Sie ist die einzige erwachsene Person außer dem Scheller und seiner Frau, die wir nicht zu Gesicht bekam. Hast du daran nicht gleich gedacht?!“

[39] Nein, das hatte ich allerdings nicht! Nun aber fiel es mir natürlich auf.

Da ich meinen Lesern nicht zutrauen darf, die Mieter des Hauses der Friedvollen und deren Beschwerden im Kopfe zu behalten, füge ich zur Bequemlichkeit eine Skizze hinzu, dieselbe, die Harst für sich und für Bechert hergestellt hatte. Aus den kurzen Bemerkungen findet jeder leicht das ihm vielleicht aus dem Gedächtnis Entschwundene heraus.

Das Haus der Friedvollen.
2. links. – Oberlt. Rochus v. Lerz.

Briefe verschwunden. – Kugel im Oberarm. – Kugel nicht zu finden. – Er beobachtet verschleierte Frau, die auf H. geschossen hat, auch Horst H. –

Er überrascht Schellers auf dem Boden. – Telephon. – Drähte zerschnitten.

Er wird in der Berliner Gesellschaft der Bluffer genannt.

2. rechts. – Rentner Gustav Motz.

Papageienzüchter. – Lorchen verschwunden. – Beobachtete uns und die Bieler aus ptr. links.

Er findet Zettel, daß Lorchen ihm zurückgegeben wird.

Zettel auf Tussy Grütts Maschine geschrieben.

Er 200 M. Honorar wie Bieler.

1. links. – Dr. Anton Dannert, Privatgelehrter.

Anni W. war bei ihm wegen der Briefe, die nachher dem Lerz verschwanden. – Er sagt, es seien Annis Briefe. – Hat Schützin beobachtet. – In Kneipe erscheint Bluffer, wir verabschieden Dr. und setzen uns zu Bluffer.

[40] In Kassette findet er Zettel, daß Briefe uneröffnet an Anni.

Er weiß über Stiftung Bescheid.

Stifter Deutschamerikaner Albert Schwarz †

1. rechts. – Tussy Grütt, Schriftstellerin.

Sie ist die, die Lerz liebt. – Sie im Gebüsch vor der Tür, als Schuß auf H. – Sie und Anni wollen Schmuck versetzen, finden 100 M. in Kasse. – Schmuck weg.

Anni Wiek, Malerin.

Benimmt sich eigentümlich, will nur Scherz getrieben haben. – Sie war bei Dannert der Briefe wegen, die dann dem Lerz verschwinden.

ptr. l. – Emmy Bieler, Schauspielerin.

Wahrsagerin aus Genickhaaren. – Besuch ihrer früheren Zofe, dann Bilder des Erbprinzen weg.

Hund Männe Schlafmittel. – Schickt uns wie Motz 2. r. 200 M. Honorar.

Pistole in Kass. – H. nimmt riechende Pistole mit.

Befürchtet Erpressung wie angeblich auch Anni Wiek.

ptr. r. – Frau Obering. Witwe Helmer und Sohn Horst.

Er vermißt Radio, dafür in Kass. 200 M. – Er sieht Frau mit Pistole. – Anni bei ihm wegen Radiostörung.

Er findet getippten Zettel.

Sie erschossen nach unserer Rückkehr. – Bechert untersucht.

Noch viel mehr fiel mir aber auf, daß Harst nun mit einem Male seine ursprüngliche Absicht, sich im Hintergrunde [41] zu halten und sich vorläufig nicht einzumischen, geändert hatte, denn er nahm mich unterm Arm und schritt auf das Haus der Geheimnisse zu, das ich dem Leser samt den Bewohnern durch die Skizze wohl mundgerechter gemacht habe.

Freund Bechert stand mit unerschütterlicher Ruhe wie stets vor der Tür im Gespräch mit dem Oberleutnant Lerz und dem Doktor Dannert. Beide Herren sahen ganz verstört aus. Das Weinen des Knaben war noch immer zu hören, er schien nun in der Wahrsagerin eine gütige Trösterin gefunden zu haben. – Als Bechert uns erblickte, ließ er die beiden Herren einfach stehen und eilte uns entgegen.

„Ich weiß bereits, daß ihr hier wart. Es ist ein reiner Zufall, daß ich mit meinen Beamten und mit dem Arzte so schnell hier erscheinen konnte. Der zweite Mord in dieser Nacht, was sagt ihr dazu?!“ – Er war erregt, nur äußerlich erschien er so gefaßt. – „Das erste Verbrechen wurde in der Siedlung Onkel Toms Hütte verübt, in der Eschenallee. Ein alter Herr – auch erschossen – durch das Fenster. Niemand hat einen Schuß gehört – –“

„Wann war das?“, fragte Harald.

„Genau eine Stunde vor dem Morde hier.“

„Also elf Uhr fünfundzwanzig Minuten – merken wir uns das!“

„Und wie steht’s mit den Aprilbriefen an Sie, Harst?“

„Das verlangt genaueste und ruhigste Nachprüfung. Vorläufig kann ich nur das eine sagen: Eigentlich müßten Sie alle Bewohner dieses Heims samt dem Hauswart Scheller verhaften; verdächtig sind sie alle, bis auf den Jungen, den Horst Helmer.“

Bechert kaute ärgerlich an seiner Zigarre. „Sie haben nicht so ganz unrecht, lieber Harst. Überall [42] Widersprüche. Am widerspruchvollsten erscheint mir die fromme Madonna, die Anni Wiek. Solchen Augen traue ich nie. Sie soll Lerz geliebt haben. Lerz wieder liebt die Tussy, und Lerz ist der berüchtigte Bluffer. – Ganz verrückte Geschichte! Zwei Morde –! Nun kann ich den Schlaf für Wochen aufstecken. Der Teufel hole das Sonderdezernat!“

Mein Freund nahm die Sache mit erstaunlicher Gleichgültigkeit hin. Oder dachte er nur so scharf nach, daß er den Eindruck eines gänzlich Unbeteiligten machte? Schon seine nächste Frage klärte dies. „Haben Sie schon die Möglichkeit erwogen, ob nicht zwischen den beiden Verbrechern ein Zusammenhang besteht?!“

Bechert stutzte merklich. „Weshalb nehmen Sie das an, Harst?!“

„Ich nehme gar nichts an. Ich weise Sie nur darauf hin, daß in beiden Fällen kein Schuß gehört wurde. Erzählen Sie mal erst von dem Morde an dem Greise aus der Eschenallee.“

Ich wiederhole in aller Kürze: Eschenallee 14 wohnte seit einem Jahr im kleinen eigenen Häuschen der Rentner Erwin Olm, hielt sich keinerlei Bedienung, machte weite, tagelange Fußtouren, war Frischeluftfanatiker, saß heute bei offenen Fenstern im Vorderzimmer und las, der Wächter der Wachgesellschaft war in der Nähe, hörte einen Schrei, lief hin, stieg ein, fand Olm am Boden, Schuß durch die Brust, – Olm verstarb in seinen Armen. Der Wächter hatte nur den Schrei gehört und weit und breit niemanden gesehen. Er rief die Polizei an, Tatbestand war schnell aufgenommen, dann läutete Telephon bei Olm, es kam die Meldung von dem zweiten Verbrechen. In beiden Fällen Selbstmord unmöglich, da keine Schußwaffe gefunden. – Fall Marga Helmer aus dem Hause der Friedvollen: Frau Helmer, schlanke, große Blondine, schläft auch bei offenem Fenster, [43] Hinterzimmer. Hauswart Scheller noch auf, da er Haus wegen der vielen nächtlichen Besucher beobachten will. Hört Schrei, läuft hin, steigt ein, Frau Helmer stirbt sehr bald, er ruft Polizei herbei. Als er noch bei Frau Helmer mit Polizei spricht, steigt Dannert ein und kommt in Vorderzimmer zu Scheller, fragt, was geschehen, ist sehr aufgeregt. Dann läutet es, und Lerz ist vor Flurtür der Helmer, auch sehr erregt. Er und Dannert noch vollkommen angezogen. – Vernehmung durch Bechert ergibt keinerlei Verdachtsgründe. Die Tote wird weggeschafft. Wir erscheinen.

„Ich möchte mir das Zimmer der Frau Helmer ansehen“, sagte Harald nun und schien aus einem recht tiefen Traum zu erwachen. Seine Wachträume sind für Gesetzesbrecher meist sehr gefährlich.


7. Kapitel.
Lerz, der Vielgeliebte …

Wir gingen durch den Hausflur auf den Hof. Dannert, Lerz und Scheller standen vor dem Hause, Harald nickte ihnen aber nur kurz zu, und als Lerz uns bat, ob er uns nicht begleiten dürfe, lehnte mein Freund recht schroff ab, so daß der Bluffer ein ganz bestürztes Gesicht machte. Er tat mir leid, er war ein so netter, zwanglos vornehmer Mensch.

Der Hofraum hatte drei starke elektrische Lampen. Sie waren noch eingeschaltet. Es war fast taghell hier. Die Fenster zu Frau Helmers Schlafzimmer standen offen, und zwar genau in der Lage, wie Scheller sie vorgefunden hatte, das heißt, der eine Flügel war fast ganz geschlossen, [44] der andere dafür mit dem Haken recht weit festgestützt. Hierauf schien Harst besonderes Gewicht zu legen, er hatte sich auch bei Bechert sehr genau nach der Art der Schußwunden erkundigt. – Er stieg nun in das Zimmer ein und klammerte den einen, den weit offen gewesenen Flügel, wieder fest. Was er im Zimmer tat, konnten wir nicht sehen, da er die Vorhänge zuzog, die nach Schellers Angabe unten sehr weit auseinandergeklafft waren.

Schon nach wenigen Minuten rief er uns zu, wir sollten etwas beiseite treten. (Scheller hatte Frau Helmer halb auf dem Bett liegend gefunden.)

Bechert und ich gehorchten und warteten der Dinge, die da kommen sollten. Daß Harst etwas zum Fenster hinauswerfen würde, war uns klar. Wir beobachteten daher den Spalt in den Vorhängen aufs sorgfältigste, und wirklich flog plötzlich ein blanker Gegenstand auf den Hof und prallte gegen eine Kiefer, die, von einem Blumenbeet umgeben, in der Mitte des Hofes, nicht ganz in der Mitte, mehr rechts nach dem Zaun hin, stand. Das, was Harald hinausgeworfen hatte, war in das Beet gefallen, nachdem es mit metallischem Klingen gegen die Kiefer geflogen war.

Harst erschien neben uns und fragte atemlos: „Wohin flog die Brennschere?“

Dann schritt er auf das Beet zu und beleuchtete den Boden mit seiner Taschenlampe. Er winkte uns. „Bitte, Bechert, was ist das?“ Er deutete auf den frischgeharkten Boden des Beetes, gerade zwischen zwei Stauden von Rhododendron.

Die Fußspur dort zeichnete sich so scharf ab, daß jeder Laie sofort erkannt hätte, sie müsse von einem sehr eleganten, schmalen Stiefel stammen, sogar das Muster der Gummiabsätze war sehr klar ausgeprägt.

[45] „Lerz …“, flüsterte Harst mit eigentümlicher Betonung.

Fritz Bechert horchte auf. „Wie meinen Sie das?!“

„Lerz hat Pech gehabt, der Scheller ist zu tüchtig, die frisch geharkte Erde des Beetes redet wie ein Buch zu uns, und die Rinde der Kiefer tut es ebenso. Dort liegt übrigens die Brennschere.“ Er richtete den Strahlenkegel mehr seitwärts, da lag die Schere. Es war eine zum Ondulieren.

Bechert war ein viel zu alter Praktikus, als daß er nicht sofort Harsts Gedankengänge erkannt hätte. – „Die Helmer hat sich selbst erschossen?“, meinte er leise.

„Ja … Hier neben dem Abdruck von dem Schuh des eleganten Lerz – so schmale Füße findet man selten – ist die Erde etwas aufgewühlt, und daneben liegt ein wenig Borke von der Kiefer. Borke, die durch den Anprall der Pistole abgerissen wurde. Lerz hat die Waffe, die die Selbstmörderin durch das Fenster hinauswarf, an sich genommen, also vermutete er, daß die arme, verblendete Frau in ihrer Verzweiflung Selbstmord verüben würde.“

Bechert lachte rauh. „Also auch ein Opfer des Bluffers!! Ein schamloser Wicht, dieser Lerz, trotz seiner aalglatten Schnauze!“

„Es ist unsinnig! – Lerz ist zu bedauern. Weder Sie, Bechert, noch ich haben je das Unglück gehabt, daß uns die Frauen derart umschwärmten, wie den Rochus von Lerz. Das ist ein Unglück. Bedenken Sie, Lerz hätte eine zehnfache Millionärin heiraten können! Sie wollte, er wollte nicht, er liebt Tussy Grütt …“

Bechert nickte schwach. „Ja, es kann so sein, daß die Frau Helmer ihn ebenfalls liebte und …“ – er machte ein energische Handbewegung, die erste heute. „Wozu reden wir hier? Ich werde Lerz rufen.“

Als Bechert verschwunden, bückte sich Harald und [46] musterte die Fußspur nochmals ganz genau, hob die Brennschere auf und steckte sie in die Manteltasche.

Dann erschienen die beiden. – Bechert begann in aller Höflichkeit: „Herr von Lerz, ich möchte in Gegenwart dieser Herren einige Fragen an Sie richten.“

Lerz verbeugte sich stumm, sein Gesicht war bleich, aber auch steinern, ich hatte das Gefühl, daß er nichts verraten würde, was Frau Helmer irgendwie bloßstellen könnte. Ich hatte mich geirrt. „Ja, ich habe die Waffe gesucht und gefunden und zu mir gesteckt“, erwiderte er heiser. „Es hätte keinen Zweck, die Ärmste noch weiter schonen zu wollen. Ihr Dasein war verpfuscht, sie hoffte auf Liebe, wo ich nur Freundschaft geben konnte. Ich hatte sie hier erst kennen gelernt – es ist tragisch, wirklich tragisch, daß ich immer das Unglück habe, daß die Frauen sich in mich verlieben, und dabei bin ich schon so zurückhaltend geworden, daß es fast ungezogen ist.“ Er zuckte hilflos die Schultern. „Frau Helmer hatte in ihrer ersten Ehe nicht viel Freude erlebt. Sie war eine stille, aber um so tiefer veranlagte Natur. Heute, nachdem Herr Harst und Herr Schraut mich verlassen hatten, erschien sie überraschend in meinem Herrenzimmer. Sie hatte sich in der Wohnung versteckt gehalten und unser Gespräch belauscht, Herr Harst. Sie wissen, daß ich betonte, ich liebte nur Tussy Grütt, und das brachte Frau Helmer außer sich, es gelang mir kaum, sie zu beruhigen und sie zu veranlassen, die Wohnung …“

Bechert unterbrach ihn. „Hörten Sie denn einen Schuß?“

Harst sagte ohne besondere Betonung: „Aber Bechert, der Mann der Ärmsten war der Erfinder des neuen Schalldämpfers für Handfeuerwaffen. Der Helmersche Dämpfer ist heute der beste. Natürlich schoß sie mit Schalldämpfer.“

Lerz griff schweigend in die Tasche und reichte [47] Bechert die Pistole, auf deren Lauf noch der Schalldämpfer steckte. „Die Sorge um die verzweifelte Frau ließ mir oben bei mir keine Ruhe“, erklärte er dann völlig stumpf, so nahe ging ihm das Schicksal der Mutter des kleinen Radiobastlers. „Ich war hier auf dem Hofe, als sie den Schrei ausstieß und dann die Waffe gegen die Kiefer flog.“

Bechert klopfte ihm ermunternd auf die Achsel. „Mein lieber Herr von Lerz, Sie können doch nichts dafür! Gehen Sie nun in Ihre Wohnung, trinken Sie einen oder besser drei Kognaks und legen Sie sich ins Bett! – Gute Nacht!“ – Er drückte ihm fest die Hand, wir taten dasselbe, und der arme Teufel verschwand im Flur. –

„Wirklich tragisch!“, meinte Bechert. – „Harst, ob sich etwa der Rentner Olm auch selbst erschossen hat?“

„Sehr wahrscheinlich. Die Ähnlichkeit beider Fälle ist zu groß. Wir wollen auch dort einmal nach der Waffe auf dieselbe Weise suchen.“

Das Häuschen des Herrn Olm war sehr bescheiden, sehr. Der Wächter, der ins Zimmer gestiegen war, konnte rasch herbeigeschafft werden. Er gab an, daß die Vorhänge des Fensters zugezogen gewesen wären, aber unten geklafft hätten.

Mein Freund wiederholte hier den Versuch mit der Brennschere genau so wie im Hofe des Hauses der Friedvollen. Die Schere flog über die Straße hinweg bis zu einem Schutthaufen, der vor einem Neubau lag. Dort fanden wir dann auch die Pistole – mit Schalldämpfer, und zwar System Helmer.

Der Polizeiarzt, ein ganz alter Praktiker, den Harst sehr schätzte, stand dabei. „Herr Medizinalrat“, wandte sich Harald an diesen, „bestätigen Sie mir bitte zunächst, daß ein Selbstmörder, der sich vornimmt, ein Verbrechen vorzutäuschen, und der sich nicht in den Kopf, [48] sondern in die Brust schießt, immer noch Kraft genug hat, die Waffe von sich zu werfen, selbst durch die Spalte der Vorhänge, wie hier in diesen beiden so gleichen Fällen, insbesondere, wenn er sich dies vorher genau überlegt hat?“

Der Arzt pflichtete Harst ohne jede Einschränkung bei. „Derartige Fälle haben wir häufiger gehabt.“

Wir standen noch auf der Straße neben dem Schutthaufen. Bechert schaute erst den Medizinalrat und dann uns grübelnd an. „Wo ist die Verbindungsbrücke beider Freitode, und wo das Motiv für Olms freiwilliges Aus-dem-Leben-Scheiden?“, wandte er sich an Harald.

Dessen Antwort erfolgte sofort und überraschte uns alle. „Erinnert Sie der Name Erwin Olm nicht an etwas ganz Bestimmtes? Der Name gemahnt doch sogleich an den Grottenolm, also an einen Molch – auch Höhlenolm genannt, der infolge dauernden Lebens im Dunkeln das Augenlicht verloren hat, oder genauer: Die Augen sind, weil das Tier sie nicht gebraucht, verkümmert. Es ist Jahre her, aber der Kriminalfall des großen Hehlers Olm, des Höhlenolm, wie er im Verbrecherkreisen hieß, steht mir noch klar vor Augen.“

Bechert schlug sich gegen die Stirn. „Bei Gott, ich muß auf Urlaub gehen! Natürlich: Erwin Olm, drei Jahre Zuchthaus, trotzdem bedauerten wir ihn, der Mann liebte seine einzige Tochter über alles und wollte deren Zukunft sicherstellen! Meinen Sie, daß Frau Helmer diese Tochter ist?“

„Sie ist’s! – Ihre Ehe wurde Tragödie, als ihr Mann zufällig das sorgsam gehütete Geheimnis der Vorstrafe seines Schwiegervaters erfuhr. Helmer stammte aus Westdeutschland, wußte nichts, – als er wissend wurde, erschoß er sich. Die arme Frau blieb mit dem Kinde Horst allein zurück. Den Rest kann sich jeder zusammenreimen: Olm erschoß sich um elf Uhr 45 Minuten, [49] seine Tochter eine Stunde darauf. Öffentlich verkehrten sie nie miteinander. Olm war eben einer der vielen geheimnisvollen Besucher des Hauses der Friedvollen. Er war heute abend bei seiner Tochter, nachdem diese mit Lerz die entscheidende Aussprache gehabt hatte. Sie wird ihm gesagt haben, daß das Dasein für sie keinen Wert mehr hätte, sie liebte Lerz eben mit jener Hysterie der vom Leben enttäuschten Frauen, die an dieser Liebe zugrunde gehen, wenn die Erfüllung ihrer Wünsche ausbleibt. Sie hat dies ihrem Vater gesagt, und er, der ihr als ein seelisch Zerbrochener vielleicht beipflichtete, ging heim und legte zuerst Hand an sich.“

„Aber – aber weshalb die vorgetäuschten Selbstmorde?“, murmelte der Arzt erschüttert.

„Wenn Sie die Papiere der beiden erst genau durchgesehen haben werden, dürften Sie darunter bei Olm und bei Frau Helmer Lebensversicherungen finden, die zugunsten des Jungen, des Horst, abgeschlossen sind, die aber die Auszahlung der Versicherungssummen bei Selbstmord hinfällig machen. Also mußten sie im Interesse des Kindes Morde vortäuschen.“

Bereits eine Stunde darauf wußten wir, daß Harst richtig vermutet hatte.


8. Kapitel.
Ursachen und Wirkungen.

Die beiden Kapitalverbrechen, die keine Verbrechen waren, sind nun also aufgeklärt, und eine Bewohnerin des Hauses der Friedvollen hat wirklich den ewigen Frieden gefunden. – –

[50] Die weiteren Ereignisse folgten einander jetzt Schlag auf Schlag.

Wir beide waren um drei Uhr morgens daheim in unserem Häuschen in der Arnoldstraße, Berlin W., also Westen. Ich kochte Kaffee, wir setzten uns in unser sogenanntes Büro und Harst fertigte für Bechert auf dessen Wunsch die Zeichnung an, die dem Leser die Lektüre und das Überschauen der Vorgänge so wesentlich erleichtert. Freund Bechert war zur Frühkaffeestunde mit eingeladen, mußte aber erst noch dienstliche Dinge erledigen und wollte später erscheinen. Ich hatte auch allerlei Erfrischungen auf den Sofatisch gestellt und schaute nun meinem Freunde zu, der mit allem Eifer bei der Arbeit war. Nachher reichte er mir die Skizze und sagte nur: „Die Notizen, die ich zu den einzelnen Namen der Mieter hinzugefügt habe, sind fast überflüssig, denn die Geschehnisse werden sie zwecklos machen.“

Ich stellte vor Staunen die Tasse hin, die ich gerade hatte zum Munde führen wollen. – „Zwecklos, Harald?!“

„Ja. Warte ab. Das Gespenst des Hauses der Friedvollen dürfte zur Zeit sehr rührig sein. Ich würde das auch sein – an seiner Stelle. Es muß für ihn einen furchtbaren Schlag bedeutet haben, als die Dinge diese Wendung nahmen –, armer Bluffer!!“

Für mich sprach Harst in Rätseln. Mit einem Kopfschütteln besichtigte ich die Zeichnung, und ich würde meinen Lesern den freundschaftlichen Rat geben, zurückzublättern und dasselbe zu tun, dann brauchen sie es nachher nicht, wenn sie vielleicht Lust verspüren, die Ereignisse nachzukontrollieren.

Sehr bald erschien Fritz Bechert, müde, abgespannt und verdrossen. – „Kognak“, bat er, „Zigarre, noch einen Kognak!“ – Pause – Seufzer – „Verdammte [51] Geschichte, der Dannert hat vorhin angerufen, nein, soeben!“

Harst nickte nur. „Also als erster. Die anderen werden folgen. Dannert teilte Ihnen wohl mit, daß Anni Wiek ihn angerufen und die Sache mit den Briefen richtig gestellt habe, – nämlich, daß die Briefe Tussy Grütt gehörten, und daß sie, Anni, die Freundin nur habe schonen wollen!“

Bechert lächelte eigentümlich. „Falsch, oder doch nicht vollständig, lieber Harst. Dannert berichtete mir, er hätte in seinem Tresor unter dem Fenster, also in dem Ziegelsteinkästchen, die Briefe wiedergefunden.“

„Mit einem Zettel?“

„Ja … – Auf dem Zettel stand: „Lerz wieder zurückzugeben!“ – Natürlich getippt!“

„Dieser Bluffer!“, meinte Harald nur.

Bechert schenkte sich die Tasse voll, – der Kaffee war schwarz wie die Sünde, aber er ermunterte dementsprechend. – „Harst, wer ist der Bluffer? Sie wollen mir doch nicht einreden, daß Sie an Lerz denken, Sie haben den Mann im Auge, den Schraut vorhin das Gespenst des Hauses der Friedvollen nannte.“

„Allerdings! Lerz ist auch nur Marionette in dem ganzen undurchsichtigen Spiel, das sich nun langsam klärt. Es wird draußen ja auch schon hell. Die Spatzen lärmen, die Stare pfeifen, und die Drosseln hüpfen und ziehen Regenwürmer aus der Erde. Auch Sie wollen mir die Würmer aus der Nase ziehen, Freund Bechert. Ich bleibe aber harthörig. Das Spiel soll sich erst dem Ende nähern! Ich rief, während Schraut in der Küche war, den Herrn Mauser an – –“

„Wer ist denn das?!“

„Ein sehr unhöflicher Mensch, – wie alle Menschen, die nachts aus der Ruhe aufschrecken, weil die [52] Strippe bimmelt und ein Harst Auskunft über Neubauten verlangt.“

Bechert lachte. „Also ein Bauunternehmer und wahrscheinlich der, der das Haus der Friedvollen für den Stifter Schwarz errichtet hat.“

„Stimmt!“ Er hätte wohl noch mehr gesagt, aber die soeben geschändete Strippe rächte sich und bimmelte nun bei uns. Harald ging zum Schreibtisch.

„Hier Harst – guten Morgen, Fräulein Bieler. – Ah, das freut mich. Also, die Bilder des Prinzen sind wieder da. Wie kamen Sie denn darauf, in der Kassette nachzusehen? So?! – – Jemand sagte Ihnen am Fernsprecher, Sie sollten mal nachschauen, Sie würden sich freuen?! – Ist das ein rücksichtsvoller Bluffer – – Mithin wollte der Mann nie etwas erpressen, wie Sie anfänglich annahmen – – Nein, wer behauptet denn das?! An den netten Lerz habe ich nie gedacht, als ich von Erpresser sprach – – Der hat das nicht nötig! – So?! – Das Wichtigste kommt erst –? Da bin ich neugierig – – Wie?! – – Sie scherzen?! Mit der Summe hätte ich nie gerechnet – – Sehr anständig – – Fünfzigtausend Mark sichern die Zukunft des armen Horst allerdings – – Und was steht auf dem Zettel? Wiederholen Sie bitte wörtlich – –: „Dieses Geld schenke ich dem armen, kleinen Horst Helmer, für den ich auch weiterhin anonym sorgen will. Ich bitte nur, nicht nachzuforschen, wer der Spender ist.“ – – Danke, Fräulein Bieler, – sehr vielsagend war das – – Halt, noch eins – – Wollen Sie freundlichst einmal diesen Zettel, der den Horst betrifft, sofort Herrn Dannert zeigen und ihm von mir bestellen, er solle doch die Maschinenschrift mit seinem Zettel vergleichen und mir Bescheid geben, ob sich Unterschiede in der Schrift feststellen lassen. – – Ihnen fällt noch etwas ein – – Bitte, nur zu – – So?! Der Radioapparat vom [53] Horst stand in Ihrem Flur? Auch die Kisten mit Bastelmaterial? – Wundern Sie sich nicht, – den Bluffer hat eben die Reue gepackt! – Ach nein, ich betonte ja schon, daß ich nicht an Lerz denke, wenn ich vom Bluffer rede. – – Wer der wahre Bluffer ist, weiß ich noch nicht – – Die Pistole in Ihrer Kassette?! – – Zu nett von dem Bluffer – – Also haben Sie zwei Zettel gefunden, und auf dem zweiten steht, daß der Bluffer bedauert, die Waffe Ihnen in die Kassette gelegt zu haben, das sei ein schlechter Scherz gewesen, das stimmt! – – Also, gehen Sie zu Dannert. Er dürfte kaum schlafen – – Dazu geht ihm wohl zu vieles durch den Kopf. – – Wiedersehen – –“

Harst warf sich in die Sofaecke – – „Ihr habt ja alles gehört. Was sagt ihr nun?!“

Bechert machte sich eifrig Notizen und brummelte: „Harst, wer ist der Bluffer?“

Als mein Freund stumm blieb, schaute Bechert auf. „Was erfuhren Sie von dem Bauunternehmer Mauser?“

„Einiges mehr, als ich schon wußte – – Der Millionär Albert Schwarz hatte in seine Stiftungsurkunde für das Heim der Friedvollen sogar eine Bauzeichnung eingefügt. Er verlangte, daß das Haus ganz genau so, wie er es wollte, errichtet würde, und daß besonders seine Bestimmungen über die in den Wohnungen anzubringenden Beleuchtungskörper genau eingehalten würden, ferner, daß möglichst nur die von ihm benannten Personen als Mieter berücksichtigt – – –“

„Mir bekannt!“, warf Bechert etwas ungeduldig ein. „Schwarz war ein halbes Jahr vor seinem Tode längere Zeit in Berlin. Seine Laufbahn in Amerika stellte einen Rekord dar, er war erst Viehhirt in Texas, dann Goldsucher, dann Besitzer vieler Kinos in Frisko, später wechselte er zum Beruf eines Landspekulanten [54] über und blieb immer dieselbe abenteuerliche, jedoch nie hochstaplerische Natur. In fünfzehn Jahren verdiente er rund fünf Millionen. Während einer Schlittenreise in Alaska mitten im strengsten Winter kam er um und wurde samt seinen Begleitern von Wölfen aufgefressen – –“

„Und sparte so das Begräbnis!“, fügte Harald ganz ernst hinzu – – Und dann schnurrte wieder unsere Strippe – –


9. Kapitel.
Wir suchen den Bluffer.

„Hier Harst – – Guten Morgen, Fräulein Grütt – – So eilig? Wir sollen sofort zu Ihnen kommen? – Nun gut – –, wir kommen. – – Am Fernsprecher wollen Sie mir nichts erklären? Vielleicht ganz richtig, diese Vorsicht – – Die Wohnungen dürften ein wenig hellhörig sein – – In einer Viertelstunde etwa sind wir bei Ihnen – – Darf Herr Kommissar Bechert mitkommen – – Sie hegen Bedenken? Ich bitte Sie, Bechert ist ein Mann, mit dem jeder Pferde stehlen gehen kann, wenn er die Gäule hinterher nur bezahlt – – Nur eine Frage, auf die Sie der Hellhörigkeit wegen nur mit einem Ja zu antworten brauchen, und daß Sie mit Ja antworten werden, weiß ich im voraus – – Also, haben sich Ihre Schmuckstücke, die Sie versetzen wollten, wieder eingefunden in der niedlichen Kassette? Und dazu einen Zettel? – – Ja? – Na, sehen Sie, wie gut ich raten kann?!“

Tussy Grütt erwartete uns drei vor dem Hause, [55] das noch verschlossen war. Sie erwartete uns jedoch nicht im Gebüsch, wie am verflossenen Abend, sondern ganz offen vor dem Hause auf und ab gehend. – Wir stiegen in die Wohnung der beiden jungen Damen empor. Tussy war jetzt sehr ernst und verlegen und unsicher. Auch Anni Wiek, das blonde Gretchen, fanden wir völlig angezogen vor.

„Wir sind gar nicht schlafen gegangen“, gestand sie ohne weiteres zu, doch auch sie war anders wie am Abend und hatte ihre Sicherheit und Gleichgültigkeit eingebüßt.

Wir nahmen im Atelier-Salon Platz, bekamen Tee, Zigaretten und Zigarren und Röstbrötchen vorgesetzt, und dann zeigte uns Tussy die Schmucksachen sowie den getippten Zettel und berichtete dazu, daß jemand mit offenbar verstellter Stimme sie angerufen und ihr geraten habe, einmal in der Fensterkassette nachzuschauen, – und dann hatte sie den verschwundenen Schmuck und – – nun kam die Hauptsache, die einfach unbegreiflich schien! – und 25 000 Mark Bargeld gefunden. Der dabei liegende Zettel lautete:

„Für die Damen Grütt und Wiek aus dem Hause der Friedvollen vom Bluffer als Geschenk.“

Bechert machte dazu ein Gesicht wie ein – –, nein, ich will hier keine Vergleiche anstellen, denn ich machte sicherlich dasselbe Gesicht – –

Harald prüfte den Zettel mit aller Genauigkeit und bat Tussy dann, ihre Schreibmaschine herbeizubringen und etwas Papier – – Sie tat’s ohne Zögern. Mein Freund schrieb einige Zeilen und verglich dann die beiden Maschinenschriften. Wir sahen sofort, daß sie verschieden waren, obwohl wahrscheinlich dasselbe Modell benutzt worden war.

Harald ging dann zu einem kurzen Verhör über, dessen Zweck Bechert und mir sehr bald klar wurde.

[56] „Fräulein Wiek –“, wandte er sich an die Blonde, „weshalb haben Sie droben bei Dannert erzählt, die Liebesbriefe hätten Sie einst geschrieben, während sie in Wirklichkeit doch von Fräulein Tussy stammen?“

Anni erwiderte scheu: „Weil Tussy mich darum gebeten hatte – –“

„Es ist so –“, bestätigte Tussy trotzig.

„Mithin wollten Sie diesen üblen Burschen, den Lerz, der hier das ganze Haus zum Narren hält, durch Fräulein Anni als Erpresser hinstellen lassen“, sagte Harald nicht eben freundlich zu der dunkelhaarigen Tussy.

Sie errötete so tief, daß sie mir leid tat, – ich durchschaute Harsts Taktik.

„Das wollte ich nicht!“, fuhr sie gereizt auf. „Wer redet hier von Erpressungen?! Ich nicht!“

Ich merkte, wie der Hase lief – –

Harald sagte sehr kühl: „Herr Dannert sprach über Erpressungen, und Fräulein Bieler unten deutete dasselbe an – – Lerz wird wohl ins Loch wandern, wo er auch hingehört – – Daß er jetzt aus Angst Geld hergibt, wird ihm sauer ankommen; er ist ein Mensch, der trotz seines Vermögens von fast hunderttausend Mark nie genug zusammenraffen kann – –“

Tussy flog vom Stuhle hoch. Sie war ganz blaß geworden. – „Das ist nicht wahr – –!! Das würde Lerz nie tun!!“ – Sie war so erregt, daß sie kaum sprechen konnte – –

Dann sank sie plötzlich weinend auf den Stuhl zurück und fragte schluchzend: „Soll – – er – – wirklich – –verhaftet werden?“

„Ja!“ Bechert sprach mit aller Strenge. „Es sei denn, Sie erklären uns, wozu Sie die hundert Mark gebrauchen wollten, als Sie den Entschluß faßten, die Schmuckstücke zu versetzen – –“

[57] Anni Wiek erwiderte schnell: „Darüber hat sich Tussy nie auslassen wollen – –“ Und die weinende Tussy flüsterte stammelnd: „Ich – ich – wollte – das – Geld – anonym – an Lerz schicken, denn – ich glaubte, er besäße nichts und – und – nun bin ich ganz verwirrt, daß er Vermögen haben soll – –“

„Hat er –!“, betonte Harst und lächelte insgeheim, „Sie haben also geglaubt, Fräulein Tussy, daß Lerz ein raffinierter Mitgiftjäger wäre?! Wie töricht Sie doch waren! Lerz ist ein Prachtkerl, der Sie von Herzen gern hat. Von einem Erpresser hat er genau soviel an sich, wie ich – –!“

Tussy weinte stille Reuetränen – – Leider sollte diese Radikalkur eines lieben, nur zu eifersüchtigen Mädels eine sehr aufregende Unterbrechung erfahren. Wir vernahmen plötzlich im Treppenhaus einen gellenden Hilferuf und ein wildes Kreischen, – wir stürmten hinaus und fanden den Rentner Motz auf dem Treppenabsatz liegen. Sein bisher verschwunden gewesenes Lorchen hockte, wild mit den Flügeln schlagend, in einer Ecke – –

„Man hat auf mich geschossen –“, rief Motz uns entgegen. „Das muß der Kerl von oben gewesen sein.“

Woher das Geschoß gekommen, wußte wirklich niemand. Nicht der geringste Knall war zu hören gewesen, und bei den Mädchen hatte doch die Zimmertür nach dem Flur offen gestanden.

Zum Glück erwies sich die Verletzung des Rentners als so geringfügig – es war nur eine blutige Stelle an der Wade, und die Kugel war nicht zu finden –, daß Harst zu Motz gut gelaunt sagte: „Da haben Sie wirklich erstaunlichen Dusel entwickelt, mein Lieber. Überhaupt waren ja all diese Schüsse, sowohl der auf mich, wie der auf Lerz, nur Bluff. Der Schütze war sich seiner Sache ganz sicher, daß er keinen ernsthaften Schaden anrichten [58] würde, das heißt, der Schütze war mit seiner Luftpistole so vertraut, daß er es schon riskieren konnte, sogar zu diesem Mittel zu greifen, alle Welt zu narren. Das ist ihm auch bisher gelungen. Aber nun dürfte damit Schluß sein.“

Motz erhob sich schweigend und folgte uns in Tussys Wohnung, wohin er auch sein Lorchen mitnahm. Mir war mit einem Male ein ungewisser Verdacht gekommen, doch auch der schien wieder falsch, denn Motz erzählte nun, wie er seinen Graupapagei wiedergefunden hatte.

„Vorhin schreit was in der Küche bei mir. Ich horche, ich laufe hin, was sehe ich: Lorchen sitzt auf dem Fensterkopf! Aber ich sah noch mehr. Die Tür zum hinteren Balkon, der vor der Küche liegt, bewegte sich. Ich mit einem Satz hinaus. Und da klettert gerade ein Kerl an einer Leine in den Hof hinab. Er ist mir entschlüpft, leider. Aber ich habe Lorchen, und Lorchen entschädigt mich für alles!“

„Wie sah der Kletterer aus?“, fragte Harald sehr sachlich.

„Hm, es war wohl eine verkleidete Kletterin“, meinte Motz achselzuckend.

Vor dem Hause brüllte jemand. Wir erkannten Schellers Stimme, des Hauswarts: „Herr Harst – Herr Harst – schnell – schnell –, ich habe den Schuft im Keller eingesperrt!“

Harald riß das Fenster auf. „Morgen, Scheller. Wen haben Sie eingesperrt?“

„Den Burschen, der von Herrn Motz Balkon an der Leine herabkletterte. Er kann nicht auskneifen. Die Eisentür ist zu. Im Müllfangkeller sitzt er – oder sie – es kann auch das Weib sein.“

Durch Schellers Stimme war das ganze Haus wach geworden. Als wir nun hinabeilten, trafen wir auf Lerz und Dannert und schickten sie zu den jungen Mädchen [59] nach oben – als Schutz, sagte Harald –, man könne ja nie wissen, was noch geschehe.

Die Kellerräume waren entsprechend der übrigen soliden und fast verschwenderischen Bauart des Hauses so sauber und praktisch und hell, daß man seine Freude daran hatte. Scheller deutete auf eine eiserne Tür. „Das ist der Müllkeller. Ursprünglich waren ja für die Wohnungen auch Müllschlucker von dem Stifter vorgesehen, aber als das Haus fast fertig, fand der amerikanische Anwalt des Herrn Mister Schwarz noch einen Nachtrag zu der Stiftungsurkunde, daß die Müllschlucker zugemauert werden sollten, weil die Feuersgefahr zu groß sei, was natürlich – mit Verlaub – Unsinn ist!“

Harst besah sich das Türschloß. „Geben Sie mir den Patentschlüssel, Scheller, und dann gehen Sie mit Schraut auf den Hof und passen dort auf, damit der Bursche uns nicht entkommt.“


10. Kapitel.
Der Bluffer wird entlarvt.

Inzwischen war es völlig Tag geworden. Scheller war ein alter, verständiger Mann, der mir nun auf dem Hofe auch vertrauensvoll erzählte, weshalb er damals auf dem Boden mit dem Telephon gearbeitet habe, wobei Lerz ihn überraschte. Er hatte schon lange gemerkt, daß im Hause Unregelmäßigkeiten geschahen und einen Bekannten gebeten, ihm zu helfen, einen der nächtlichen Besucher abzufangen. Zur besseren Verständigung hatte dieser Bekannte, der seines Zeichens Telegraphenarbeiter war, nun den Fernsprecher mitgebracht, an sich [60] eine sehr gute Idee, die nur keinen Erfolg eintrug, dazu waren die nächtlichen Gäste zu vorsichtig. – Also, auch dies war nun zufriedenstellend aufgeklärt. – Über den Mann oder die Frau, die hier im Hause den Unfug trieben und alle Bewohner belauschten und in die so gut gesicherten Wohnungen eindrangen, wollte Scheller zunächst nicht recht mit der Sprache herausrücken. „Herr Schraut, ganz unter uns: Ich denke, es ist der Dannert. So’n Privatgelehrter kommt auf allerlei Flausen. Und ein Witzbold ist die Person doch nur. Ich habe es Herrn Harst nicht erzählt: Als ich den Kerl verfolgte und er in den Keller lief und ich die Eisentür hinter ihm zuknallte, da lachte er wie verrückt und schrie: „Scheller, sehen Sie lieber im Brotkasten nach! Ich komme doch wieder raus!“ – Und daraus erkannte ich, daß der Mensch uns alle nur zum Narren hielt. Die Briefe an Herrn Harst hat er doch wohl auch irgendwie veranlaßt – –“

Weder Scheller, noch ich ahnten in dem Augenblick, wie nahe Scheller der Wahrheit gekommen war.

„Haben Sie im Brotkasten nachgesehen?“, fragte ich gespannt.

„Nein! Das ist doch nur Ulk von dem Kerl! – Aber wenn Sie wollen –“, und dann rief er seiner Frau zu, die am Fenster des Anbaus sichtbar war: „Mutter, kiek doch mal im Brotkasten nach – – Mach fix –“

Gleich darauf stürzte Frau Scheller auf den Hof und schwang in der Hand ein Päckchen Geldscheine und einen Zettel. – Es waren dreitausend Mark, und auf dem getippten Zettel stand: „Seinen lieben Schellers zum Andenken. – Der Bluffer.“

Die freudige Überraschung der alten Leutchen war noch immer im ersten Stadium, als urplötzlich droben bei Motz auf dem Balkon mein Freund Harst auftauchte und uns leise zurief: „Scheller, Sie bewachen die Vordertür [61] und sagen Herrn Bechert, der dort schon steht, er solle hier nach oben kommen. Und du, mein Alter –“ – das galt mir –, „du kannst Bechert begleiten.“

Daß Bechert und ich im Galopp die Treppen emporrasten, war kein Wunder. Bechert fragte nur: „Wie kommt Harst dort nach oben? Ich habe doch auch die Kellertür im Auge behalten!“

Mein geheimnisvoller Freund führte uns lächelnd in Herrn Motz’ Küche und wies schweigend auf ein in die Mauer halb eingebautes Wandspind, das für Besen und Ähnliches bestimmt war. Die Rückwand des Schrankes war wie eine Tür nach außen aufgeklappt, und wir sahen dahinter in der Mauer einen Schacht, in dem eine kleine eiserne Steigeleiter angebracht war.

Harald faßte sich ganz kurz: „Das ist der Müllschluckerschacht, sehr groß und für einen schlanken Mann bequem als Weg zu benutzen. Unten der sogenannte Müllkeller enthält als langgestreckter Raum zwei ähnliche Schränke für Werkzeuge, – in Wahrheit sind es wie hier versteckte Ein- und Ausgänge zu allen sechs Wohnungen. Der, der hier den Bluffer spielte und die Leute belauschte und seine Streiche je nach dem einrichtete, was er gerade erhorcht hatte, war ebenso mit allen Wohnungen durch die elektrischen Kronen, die nicht entfernt werden durften, verbunden. In den Schmuckkugeln der Kronen befinden sich also Mikrophone. Genau so konnte der Bluffer jedes Telephongespräch mit abhören. Das ganze Haus war von vornherein so gebaut, daß Motz, denn er ist der Bluffer, über jeden der Mieter aufs genaueste Bescheid wußte. Seine Abhörvorrichtungen und seine Telephonieschnellschreiber zeige[4] ich euch nachher, sie müssen Unsummen gekostet haben. Jede Wohnung war ihm also mit Hilfe der Müllschächte zugänglich, – die Stahlkästen unter den Fenstern sind seine Erfindung. Er wollte die Bewohner veranlassen, dort [62] ihre Geheimnisse zu verbergen, und er erreichte dies ja auch – –“

Bechert und ich waren sprachlos. – „Aber wozu das alles – wozu?!“, rief Bechert.

„Das will ich unten bei den Damen Grütt und Wiek in Abwesenheit des Bluffers erläutern. In Abwesenheit, denn der Bluffer dürfte es vorgezogen haben, zu verschwinden, nachdem er hier seine Aufgabe erfüllt und außerdem ungewollt zwei Leute in den Tod getrieben hatte. Das hatte er nie vermutet, daß sein übermütiges Spiel mit Menschenschicksalen den Ausgang nehmen könnte. Er wird sehr darunter gelitten haben, und wenn er mehr Bargeld zur Verfügung gehabt hätte, wären seine Spenden wohl noch reichlicher ausgefallen – –. Gehen wir nach unten – –“

Auch Scheller wurde gerufen. Alle Hausbewohner, bis auf den kleinen Horst, waren zugegen. Nur die Hauptperson fehlte: Gustav Motz! – Wie Lerz uns mitteilte, hatte der Rentner erklärt, er wolle nur für Minuten zu sich nach oben gehen. Wo er geblieben, wußte niemand.

Viele gespannte Augenpaare waren nun auf Harst gerichtet, der sich denn auch nicht lange bitten ließ und seine Angaben wiederholte, die er schon droben bei Motz gemacht hatte. Er ergänzte sie wie folgt: „Jeder wird sich nun die Frage vorlegen: Was sollte dieses seltsame Spiel des Motz und wer war Motz? – Darauf wäre zu antworten, daß der verstorbene Millionär Schwarz nach allem, was ich über ihn feststellen konnte, das Leben nie recht ernst nahm und ein sehr humorvoller und abenteuerlustiger und phantastischer Charakter gewesen. Er dürfte also eine Vertrauensperson dazu bestimmt haben, hier so etwas Vorsehung zu spielen. Das war Motz. Und daß Motz Vorsehung spielte, liegt auf der Hand.“

Er blickte Tussy und Lerz an und lächelte und nickte [63] den beiden Liebenden und wieder Versöhnten vielsagend zu – –.

„Schwarz war in Berlin, bevor ihn der Tod ereilte. Er muß hier damals irgendwie auf die Leute aufmerksam geworden sein, die nachher von ihm erwählt wurden, diese seine Stiftung zu beziehen. Insbesondere dürfte er sich mit Lerz und Fräulein Grütt beschäftigt haben, die damals gerade sich entzweiten. – Ich will nicht zu weitschweifig werden. Er schickte also seinen Vertrauensmann hierher als Rentner Motz, und dieser war’s, der in allerlei Masken im Hause nachts aus und ein ging und den Eindruck hervorrief, daß hier Fremde verkehrten. Motz suchte aber auch den Zwist oder das Mißverständnis zwischen Tussy und Lerz beizulegen und wandte hierzu echt amerikanische Methoden an. Lerz sollte als Erpresser hingestellt werden, und dann sollte Tussy für ihn eintreten, – es kam ja auch so, es war alles sehr geschickt und sehr unauffällig eingefädelt. – Die letzte zu erörternde Frage wäre: Wie kam ich Motz hinter seine Schliche? Wie wurde ich gerade auf ihn aufmerksam? – Nun, er sagte, er sei im Ausland gewesen und hätte dort sein Geld und seine Vorliebe für Tiere erworben. Er sprach etwas gebrochen deutsch, – dies stieß mir sofort auf. Dann aber der Hauptbelastungspunkt, an den keiner von Ihnen gedacht hat: Ich erkundigte mich sogleich nach Empfang der Aprilscherzbriefe nach jedem der hiesigen Bewohner bei der Polizei, und dabei kam heraus, daß Motz sich der Papiere eines längst Verstorbenen bedient hatte, – er hieß also nicht Motz, wie er heißt, weiß ich nicht, es ist auch gleichgültig. Auf die Weise wurde ich auf ihn aufmerksam, und ich hatte den Richtigen im Verdacht gehabt, wie nun erwiesen. – Daß auch die Tragik in Gestalt des Todes der beiden Helmers, Vater und Tochter, mit in das schlaue Spiel eingriff, war – eben Tragik!“, [64] schloß er ernst und erhob sich. „Nun wollen wir die versäumte Nachtruhe nachholen. Auf Wiedersehen allerseits!“ –

Wir fuhren mit Bechert in einer Taxe heim. Unterwegs fragte Bechert den sehr stillen Harst: „Und was haben Sie uns verschwiegen?! Motz war der Millionär selbst – –!“

„Ja, er war es! Ich habe ihn gesprochen, er hatte Vertrauen zu mir. Als wir in seiner Küche waren, steckte er drunten im Keller, und als wir alle bei den Mädels versammelt waren, holte er seine Vogellieblinge und verschwand für immer, denn das mußte er.“

Harald schwieg. Seine Züge wurden noch ernster. – Dann fügte er hinzu: „Er hat ein uneheliches Kind, ein Mädchen, das nicht weiß, daß ihre Eltern nur eben ein Adoptivkind großgezogen. Es ist Tussy Grütt. Tussy sollte nie erfahren, welch Makel nach veralteter Anschauung ihr anhaftete. Deshalb trat Schwarz hier als Motz auf und sorgte dafür, daß sein Mündel den Mann fand, den es liebte. Ich glaube, das erklärt alles. Der Bluffer war ein liebender Vater, der sein einziges Kind glücklich sehen wollte.“

Zwei Monate später trafen für sämtliche Bewohner des Hauses der Friedvollen sehr hohe Geldbeträge bei Harst ein, und das war gerade am Tage der Doppelhochzeit Tussy-Lerz und Anni-Dannert. Der Betrag für Tussy belief sich auf eine Viertelmillion – –


Nächster Band:
Das Geheimnis um die „Marga“.



Errata (Wikisource)

  1. Vorlage: Soroe
  2. Vorlage: wie
  3. Vorlage: besatz
  4. Vorlage: zeigte