Der Gehirnschlag und seine Folgen

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Autor: Enoch Heinrich Kisch
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Titel: Der Gehirnschlag und seine Folgen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 204–206
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Der Gehirnschlag und seine Folgen.
Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch in Prag-Marienbad.

Als „Gehirnschlag“ bezeichnet man seit alter Zeit jenen krankhaften Vorgang, durch welchen der wunderbare Apparat unseres edelsten Organes, von dem alle Seelenthätigkeit, jegliches Wahrnehmen und Denken, Vorstellen und Ueberlegen, Wollen und Empfinden, die willkürliche und unwillkürliche Bewegung beherrscht wird, mit einem Male ganz plötzlich vernichtet oder mindestens in seinem feinen Getriebe wesentlich gestört wird. In der That spielt sich dieser Vorgang zuweilen so unerwartet und so rasch ab, als ob die betreffende Person von einem Schlage getroffen würde. Scheinbar vollkommen wohl sich befindend, inmitten seiner gewohnten Beschäftigung, stürzt das Individuum, einen Schrei ausstoßend oder auch nur tief seufzend, zusammen und ist, ehe man ihm noch die geringste Hilfeleistung zu bieten vermag, todt. Zuweilen ist der Ausgang kein ganz so furchtbarer. Der plötzlich Zusammengestürzte ist nicht todt, sondern nur bewußtlos, und nach kürzerer oder längerer Zeit qualvoller Erwartung für die nächste Umgebung bekundet er Zeichen wiederkehrenden Bewußtseins – aber welche Veränderung ist während dieser Stunden oder Tage eingetreten! Die Gedanken sind unklar und verwirrt, die Zunge ist schwerfällig, die Sprache undeutlich, das Gesicht schief verzogen, die eine Körperhälfte gelähmt; Arm und Bein dieser Seite versagen den Dienst. Der bis vor dem Anfalle blühend aussehende Mann, dessen Körperkraft vielleicht allgemein beneidet, dessen scharfer Geist und sprühender Witz vielfach bewundert wurde, ist nun nach jeder Richtung gebrochen, hilflos, elend, ein bemitleidenswerthes Beispiel für die Hinfälligkeit der menschlichen Maschine.

Was hat die plötzliche Wandlung zu Wege gebracht? Ein kleines Blutgefäß des Gehirns oder seiner Häute ist geborsten; ein Bluterguß hat stattgefunden, und der Blutherd wirkt durch seinen Druck vernichtend oder störend auf die betroffenen Hirntheile … Die Forschung der Physiologen, unterstützt von den höchst wichtigen Experimenten am lebenden Thiere, hat nun nachgewiesen, daß nicht alle Hirnstellen gleiche Bedeutung und gleichen Werth für die Gehirnfunktion haben, und darum hängt von der Oertlichkeit des Blutherdes die Art der Störung ab, die er in seinem Gefolge mit sich bringt. Es ist jetzt sichergestellt, daß Verletzungen bestimmter Theile des Gehirnes ganz bestimmte charakteristische Störungen hervorrufen.

Wenn man niedere Wirbelthiere ihres Großhirnes beraubt, so büßen dieselben die Fähigkeit ein, willkürliche und solche unwillkürliche Bewegungen vorzunehmen, welche eine Folge von Sinneswahrnehmungen und Vorstellungen sind, vermögen aber jene Bewegungen zu vollziehen, deren Mechanismus von den niederen Hirntheilen und dem Rückenmarke ausgelöst wird, wie Gehen, Springen, Fliegen, Putzen der Federn etc. Ein Frosch, dem man das Großhirn herausgenommen hat, bleibt in stoischer unstörbarer Ruhe auf einem Flecke sitzen; nichts kann ihn aus dieser Ruhe herausbringen, kein Haschen mit der Hand, kein lautes Geräusch, kein Schwirren von Insekten, die sich dicht an ihn heranwagen. Nur wenn man ihn faßt, schlägt, sticht, macht der großhirnlose Frosch passende abwehrende Bewegungen, kriecht oder springt davon, um jedoch bald wieder seine Ruhestellung einzunehmen. Eine Taube, welche des Großhirnes beraubt wurde, steht gleichfalls in unverrückt ruhiger Haltung auf ihrem Platze, den Kopf zwischen den Flügeln eingezogen, und läßt sich aus dieser Ruhe weder durch die sie bedrohende Hand bringen, noch durch die nahende Gefahr in Gestalt eines Hundes oder einer Katze, aber auch nicht durch vorgeworfene Erbsen hinweglocken. Schlägt man eine solche Taube, so macht sie Gehbewegungen; wirft man sie hoch in die Luft, so fliegt sie schräg geradeaus.

Auch bei niederen Säugethieren, wie Kaninchen, Meerschweinchen, Ratten, ist es mittelst ähnlicher Versuche durch Entfernung des Großhirnes gelungen, den Nachweis zu liefern, daß dieses letztere der Sitz aller Seelenthätigkeiten ist. Höhere Säugethiere vertragen nicht den Eingriff der vollkommenen Beraubung des Großhirnes, und die Versuche an ihnen mußten sich auf Entfernung einzelner Theile des Gehirnes beschränken. Da zeigte es sich nun, daß die Entfernung eines gewissen Hirntheils stets Störung eines bestimmten Sinnes zur Folge hat. Wird ein bestimmter Abschnitt an beiden Hälften der Großhirnrinde des Hundes, welche man die Sehsphäre nennt, entfernt, so erblindet [205] das Thier vollkommen auf beiden Augen, während es im Vollbesitze aller anderen Sinne bleibt. Der so verstümmelte Hund hört, riecht, schmeckt und fühlt wie ein gesunder Hund, macht alle Bewegungen normal, hat auch sonst von seiner Intelligenz nichts eingebüßt; nur den Gesichtssinn hat er vollständig verloren, obgleich die Augen sich wie gewöhnlich bewegen, die Pupillen sich verengen und erweitern. Eben so wie sich in diesem Falle erweist, daß die Lichtempfindungen und Gesichtswahrnehmungen an die Sehsphären der Großhirnrinde gebunden sind, so läßt sich durch Entfernung einer bestimmten Gehirnpartie an beiden Hirnhälften eines Hundes erzielen, daß dieser auf beiden Ohren vollkommen taub wird (wozu sich nach einigen Wochen noch Taubstummheit einfindet), während seine übrigen Sinne normal funktioniren. Die betreffenden Stellen des Gehirnes, von denen demnach die Schallempfindungen und Gehörswahrnehmungen abhängig sind, bezeichnet man als Hörsphären. Und wiederum andere Theile der Großhirnrinde bekunden sich als Gefühlssphären, von denen die Gefühlswahrnehmungen und Gefühlsvorstellungen ausgehen. Werden diese Theile verletzt, so werden je nach der Größe der Hirnverletzung Störungen der Wahrnehmung von Druck, des Tastgefühles und der Temperaturempfindung an mehr oder minder verbreiteten Körperstellen beobachtet.

Interessant gestalten sich die Störungen der Sinnesorgane, wenn gewisse Theile in den hinteren Theilen der Hirnhemisphären (nicht die Seh- und Gehörsphären selbst) bei Versuchsthieren zerstört werden. In solcher Weise verletzte Hunde sehen und hören zwar noch, aber sie haben das Verständniß für das Gesehene und Gehörte eingebüßt. Neugierig um sich glotzend, wissen sie nichts mit dem Gesehenen anzufangen; sie beachten nicht die ihnen gereichte Fleischschüssel, fürchten nicht die ihnen drohend vorgehaltene Peitsche und freuen sich nicht am Anblicke ihres ihnen sonst willkommenen Herrn. Auf jedes Geräusch die Ohren spitzend und jeden Ruf wahrnehmend, wissen sie nicht mehr, was dieser bedeutet, und folgen auch nicht dem Pfiffe, der sie früher zu raschem Sprunge antrieb. Man bezeichnet diese Störungen, bei denen die Erinnerungsbilder des Gesehenen und Gehörten verloren gegangen sind, als Seelenblindheit und Seelentaubheit.

An bestimmte engumgrenzte Bezirke der beiden Großhirnrinden ist auch das dem Menschen als höchst organisirten Wesen eigenthümliche Vermögen gebunden, seinen Gedanken und Vorstellungen durch die Sprache Ausdruck zu verleihen. Verletzungen und Erkrankungen des Gehirns an jenen Stellen haben darum, auch wenn der Sprachapparat des Menschen vollkommen normal ist, die Folge, daß der Betroffene, der ganz wohl im Stande ist, Vorstellungen zu empfangen und geistig mit einander ordnungsgemäß in Verbindung zu bringen, doch nicht vermag, seinen Gedanken das entsprechende äußere Zeichen zu verleihen. Die richtige Sprache ist ihm verloren gegangen, und er vermag entweder die Worte überhaupt nicht deutlich und nach ihrem Wortlaute auszusprechen, oder es fehlt ihm das einer bestimmten Vorstellung entsprechende Wort, und er bringt ein anderes statt des richtigen hervor. Mit solcher Sprachstörung, die in der Erkrankung des Gehirns ihren Grund hat, ist zuweilen auch das Unvermögen verbunden, die Begriffe durch die Schriftzeichen oder durch Mienen, Zeichen und Gebärden auszudrücken, sowie Worte zu verstehen, wie sie gesprochen werden, oder zu lesen, wie sie in Schriftzügen vor Augen sind.

Im Gehirne befinden sich auch die Centren für die mannigfachen Apparate der Willkürbewegungen des Körpers, für die Erhaltung und Beherrschung des Körpergleichgewichtes, für die Regulirung der Athembewegungen, für die Anpassung der Herzthätigkeit und der Blutgefäßspannung an die wechselvollen Bedürfnisse des Organismus.

Begreiflich ist darum aus dem eben flüchtig Erörterten, daß eine Hirnblutung (Gehirnschlag) je nach der Stelle des Gehirnes, an welcher sie eintritt, eben so auch nach der Ausdehnung des Blutergusses, mehr oder minder bedrohliche Folge-Erscheinungen verursacht. Eine ausgedehnte Blutung, durch welche viel Hirnsubstanz zertrümmert wurde, oder ein Bluterguß in Gehirnpartien, welche für Athmung und Herzbewegung besondere Bedeutung haben, führt rasches tödliches Ende herbei. Je tiefer die Bewußtlosigkeit des Individuums unmittelbar nach dem Schlaganfalle ist und je länger sie anhält, je unregelmäßiger sich Herzschlag und Athmung gestaltet, um so mehr Grund ist vorhanden, für das Leben des Leidenden zu fürchten.

Geringer, aber doch immer ernst genug, sind die Gefahren, wenn der Bluterguß im Gehirne nur ein ganz kleiner und auf verhältnißmäßig minder bedeutungsvolle Hirnabschnitte beschränkt ist. In diesem Falle kann es zur allmählichen Vernarbung im Gehirne und zur langsamen Wiederherstellung des Kranken, ja sogar zur völligen Genesung kommen. Wenn der Kranke das Bewußtsein wieder erlangt und der Sturm bedrohlicher Erscheinungen sich gelegt hat, so zeigt sich als auffälligste Störung die Lähmung mehrfacher willkürlicher Muskeln. Der Druck des im Gehirne ausgetretenen Blutes, die Unterbrechung der Nervenbahnen und die Zertrümmerung der nervösen Elemente durch das ergossene Blut bringen solche Lähmung bestimmter Muskelgruppen zu Stande. Die gelähmten Muskeln leisten den Impulsen der Willkür nicht mehr oder nur sehr unvollkommen Folge. Die Lähmung betrifft zumeist nur die eine Körperhälfte und zwar in gekreuzter Richtung mit der Hirnblutung. Wenn diese in der rechten Gehirnhälfte stattgefunden hat, so ist auf der linken Seite des Körpers die Lähmung ausgeprägt, der linke Arm, das linke Bein, die linke Gesichtshälfte betroffen. Im Gesichte ist die hierdurch verursachte Entstellung eine auffällige: die Gesichtszüge haben durch Verstreichen der Nasenlippefalte, Herabhängen des Mundwinkels, Verziehen der Stirnfalten einen fremdartigen Ausdruck erhalten. Dabei ist die Zunge schwer beweglich; der Mund kann nicht zum Pfeifen gespitzt werden, das Sprechen ist schwierig, zuweilen sogar das Vermögen, für Vorstellungen die gebräuchlichen Worte zu finden, beeinträchtigt.

Diese Lähmungserscheinungen können dauernd bleiben oder sie nehmen bei günstigem Verlaufe des Krankheitsprocesses allmählich ab. Zuerst bessert sich gewöhnlich die Schwerfälligkeit der Zunge, die Beeinträchtigung des Sprachvermögens; dann wird fortschreitend das gelähmte Bein wieder nach und nach gebrauchsfähig; später tritt auch die willkürliche Beweglichkeit der krankhaft veränderten Gesichtshälfte ein, am längsten dauert die Lähmung des Armes. Mit der Zeit gleichen sich bei so glücklicher Heilung des Blutergusses im Gehirn so ziemlich alle dadurch hervorgerufenen Störungen aus, und nur eine gewisse Schwerfälligkeit in den körperlichen und geistigen Leistungen des Individuums bleibt zeitlebens zurück. In letzterer Beziehung erweist sich namentlich das Erinnerungsvermögen wesentlich geschwächt; neue Eindrücke haften schwer im Gedächtnisse, und der vom „Schlage“ Betroffene weiß sich viel besser auf die Ereignisse aus längstvergangener Zeit zu erinnern, als auf die Erlebnisse von heute und gestern. Die psychische Veränderung giebt sich ferner durch leichte Reizbarkeit, mürrisches Wesen, wechselvolle Launenhaftigkeit, trübe Stimmung, zuweilen auch durch geradezu kindisches Wesen und Schwachsinn kund. Nur allzu oft wird aber das Bild nach kürzerem oder längerem Bestande – zuweilen ist dem Kranken eine Ruhepause von zehn und sogar zwanzig Jahren gegönnt – durch Wiederholung des Schlaganfalles auf bedrohliche Art verändert, denn wenn es Manchem auch glückt, selbst mehreren wiederholten Anfällen zu widerstehen und sie zu überwinden, so erlischt doch zumeist in solchem Kampfe das immer schwächer flackernde Lebenslicht.

Der Gehirnschlag tritt höchst selten im jugendlichen Alter ein, auch nicht oft in den kräftigsten Lebensjahren, sondern am häufigsten in der Epoche, wo es mit uns stetig und unaufhaltsam abwärts geht, vom fünfzigsten Jahre an. In diesem Alter fangen zumeist die Veränderungen in den Wandungen der Blutgefäße an, wodurch diese von ihrer Elasticität und Weichheit verlieren, hart, starr und brüchig werden. Treten nun Verhältnisse ein, welche in dauernder Weise oder plötzlich sehr heftig den Blutdruck in den Gefäßen bedeutend steigern, einen mächtigen Blutandrang verursachen, so vermögen die brüchig gewordenen kleinen Gefäße diesem Andrange nicht zu widerstehen: es kommt zum Risse der Gefäßwand und zum Blutaustritte ins Gehirn. Solche ursächlichen Verhältnisse sind oft in erhöhter und gesteigerter Herzthätigkeit gelegen, wie diese in Verbindung mit Blutstockungen im Unterleibe bei hochgradig fettleibigen und blutreichen Personen, bei Wohllebern und Schlemmern häufig vorkommt. Seit alter Zeit gilt darum bei Aerzten und Laien eine gewisse gedrungene Körperfigur mit breiter Brust und Schultern, kurzem Halse, hervortretendem starken Bauche, geröthetem Gesichte als besonders geneigt zum Schlagflusse. In der That zeigt die Erfahrung, daß [206] Personen, welche ein üppiges, schwelgerisches Leben führen, sich durch unmäßige Zufuhr von Speisen und Getränken mit Fett belasten, durch den Genuß spirituöser und erregender Flüssigkeiten die Herzthätigkeit häufig im Uebermaße anregen, Personen, bei denen der Puls voll und kräftig schlägt, die Schlagadern sichtbar pulsiren, das Gesicht heftig geröthet ist, die Augen lebhaft glänzen und über die Augenhöhle hervorgewölbt erscheinen, das Herz bei Bewegung oder Erregung sichtbar klopft, das Gefühl von Druck auf der Brust herrscht, bei geistigen Anstrengungen, Gemüthserregungen oder nach reichlicher Mahlzeit und heftiger Bewegung leicht Kopfschmerz, Flimmern vor den Augen, Sausen vor den Ohren, Schwindel, Athemnoth, das Gefühl von Ameisenkriechen in den Gliedern eintritt – daß solche Personen es vorzugsweise sind, über deren Haupte das Damoklesschwert des Schlagflusses schwebt.

Wie häufig stark fettleibige Personen von diesem Unfalle betroffen werden, ist daraus ersichtlich, daß ich in den Leichenbefunden von 37 hochgradig Fettleibigen nicht weniger denn zwölf Mal Gehirnschlag als Todesursache verzeichnen konnte. Damit soll aber nicht geleugnet werden, daß auch schlanke, magere und zarte Personen einer Hirnblutung unterworfen sein können. Männer werden im Allgemeinen weitaus häufiger als Frauen von Hirnblutungen betroffen – es wird sogar von Manchen behauptet, daß statistisch unter zehn Schlaganfällen nur einer auf eine Frau komme. Der Grund liegt wohl darin, daß zu viel essen und zu stark trinken meistens eine männliche Eigenschaft, wogegen Mäßigkeit in dieser Beziehung vorzugsweise eine weibliche Tugend ist.

Eine große Rolle spielt bei der Geneigtheit zu Schlaganfällen die Erblichkeit, und es ist eine ziemlich häufige Erscheinung, daß in manchen Familien die männlichen Nachkommen in einem bestimmten Alter vom Gehirnschlage betroffen werden. Auch die Berufsarten sind in dieser Beziehung nicht ohne Einfluß. Personen, welche aus geschäftlichen Rücksichten viel alkoholhaltige Getränke genießen oder in Bezug auf Diät sehr unregelmäßig leben müssen, sind zu Blutandrang gegen das Gehirn eben so geneigt, wie anderseits Männer von anhaltender und angestrengter geistiger Thätigkeit, die ungewöhnlich viel mit dem Kopfe arbeiten müssen, oder Individuen, die in ihrer Beschäftigung großen, nervösen Anstrengungen, mächtigen Erschütterungen der ganzen Blutcirkulation ausgesetzt sind. Eine plötzliche Steigerung der ohnedies bei derartigen Leuten erhöhten Blutgefäßspannung durch eine heftige, leidenschaftliche Erregung, durch einen bedeutenden Exceß im Essen und Trinken oder durch ungewöhnliche Muskelanstrengung, wie bei starkem Lachen, Schreien, Niesen, führt dann mit einem Male ganz unerwartet zum Eintritte der eigentlich schon lange drohenden Katastrophe, zur Berstung eines Blutgefäßes im Gehirn. Das unter starkem Drucke stehende Blut ergießt sich in die weiche Hirnmasse und bringt durch die örtliche Verletzung des Gehirns sowie durch die Erschütterung auch der entfernteren Hirntheile jenen Sturm von Erscheinungen hervor, welche oben geschildert wurden.

Wie ist nun dem Eintritte dieses verhängnißvollen Ereignisses vorzubeugen? Diese Frage mag sich wohl mancher Leser stellen und ihre Beantwortung ist thatsächlich nicht bloß für den Arzt, sondern auch für jeden Gebildeten von Wichtigkeit; denn die Krankheiten zu heilen, kann nur die Sache des ärztlichen Studiums sein; die Kunst aber, ihnen vorzubeugen, soll, soweit es möglich, Gemeingut aller Gebildeten, des gesammten Volkes werden. Die Verhütung des Gehirnschlages besteht in der Bekämpfung seiner Ursachen, und da läßt sich wohl sagen, daß, wenn auch nicht in allen Fällen, doch in manchen dem Eintritte der Hirnblutung vorgebeugt werden kann, indem man die Entwickelung von Blutüberfüllung des Gehirns, von Blutandrang gegen dieses edle Organ, von Blutstauung im Schädel verhütet. Es gelingt dies namentlich bei vollblütigen, fettreichen Personen durch eine strenge Regelung der Diät, welche den Körper von dem Ballaste überflüssigen Fettes befreit, die Thätigkeit des träge gewordenen Darmes lebhafter anregt, das zu reichliche oder stockende Blut in geeigneter Weise verwerthet und so eine Herabminderung des Blutdruckes in den Hirngefäßen erzielt. Solche Personen müssen eine zu reichliche Ernährung des Körpers meiden, den Genuß alkoholhaltiger Getränke unterlassen, die Muskeln in geeigneter Uebung halten, hinreichend lange sich in freier Luft ergehen und für regelmäßige Leibesöffnung Sorge tragen. Wenn wir so häufig zu beobachten Gelegenheit haben, wie derartige zu Gehirnschlag geneigte Individuen, welche die mannigfaltigsten Zeichen abnorm verstärkter Herzthätigkeit bieten, über häufige Athembeschwerden klagen, sehr leicht an Kopfschmerz, Schwindel, Flimmern vor den Augen, Ohrensausen etc. leiden, durch Angewöhnung einer mäßigen gemischten Kost, durch strenge Regelung der Ernährungs- und Lebensverhältnisse, durch systematische Anwendung leicht abführender Mittel alle jene mannigfachen belästigenden Erscheinungen verlieren: so sind wir wohl berechtigt anzunehmen, daß durch jenes Verfahren auch die Vorbeugung eines Gehirnschlages erzielt worden ist, indem die Blutüberfüllung und Blutstauung im Schädel siegreich bekämpft wurde. Darum haben auch „ableitende“ Brunnenkuren (in Marienbad, Kissingen, Homburg etc.) einen altbegründeten, wohlverdienten Ruf als Vorbeugungsmittel bei Personen, deren konstitutionelle Anlage das Eintreten eines Schlagflusses befürchten läßt, oder bei vom Schlage Betroffenen, wo die Wiederholung dieses bedrohlichen Ereignisses verhütet werden soll. In den Kurorten ist es so auch am leichtesten durchführbar, daß Schlemmer und Wohlleber, welche anderwärts gegen die Regelung ihrer Lebensweise hartnäckigen Widerstand leisten, sich zur diätetischen Buße auf einige Wochen herbeilassen.

Ist ein Hirnschlag eingetreten und liegt der Kranke, von demselben betroffen, bewußtlos mit geröthetem Gesichte da, so muß, bevor der Arzt zur Stelle ist, ein sehr vorsichtiges Verfahren eingeleitet werden, um nicht durch zu viel Geschäftigkeit mehr Schaden zu veranlassen, als Nutzen gebracht werden kann. Der Kranke muß bequem mit erhöhtem Oberkörper, den Kopf durch ein Kissen höher gestützt, gelagert, sein Anzug von allen beengenden Kleidungsstücken, wie Kravatte, Leibgürtel etc. befreit werden. Um das Bewußtsein zu wecken, die Thätigkeit der Athmungsorgane zu beleben, kann das Gesicht des Kranken mit kaltem Wasser bespritzt und ein Hautreiz durch Legen von Senfteig auf die Waden, durch Reiben und Bürsten der Füße ausgeübt werden. Auf den Kopf kann man kalte Ueberschläge oder eine mit Eis gefüllte Blase legen. Ob kräftigere Reizmittel anzuwenden sind, ob eine stärkere Ableitung auf den Darm vorzunehmen oder ob selbst eine Blutentziehung mittelst Schröpfköpfen, Blutegel und Aderlaß angezeigt erscheint: dies zu entscheiden, ist Sache des Arztes, welcher die Verhältnisse des Einzelfalles genau erwägen und beachten muß. Zuweilen bleibt die Anwendung aller erdenklichen mannigfachen Mittel ohne jede günstige Wirkung, und wiederum in manchen Fällen erholen sich die Kranken auch ohne viele eingreifende Hilfeleistungen so ziemlich von selbst. Der ärztlichen Entscheidung muß auch anheimgestellt werden, was zu geschehen hat, um den Folgen des Schlaganfalles, den eintretenden Lähmungserscheinungen zu begegnen, die Wiederholung des Schlages zu verhüten. Der Arzt muß den Zeitpunkt bestimmen, der geeignet erscheint, auf die gelähmten Nervenbahnen und Muskeln einzuwirken, eben so ob es zweckmäßig ist, dies durch Warmbäder oder Kaltwasserkur, durch Massage oder Anwendung von Elektricität oder durch eine Kombination dieser Heilmethoden zu erzielen, endlich, wann und wo der Kranke durch den Gebrauch von ableitenden Mineralwässern den Naturheilungsvorgang unterstützen soll.