Der Mürzsteg zum todten Weibe

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Titel: Der Mürzsteg zum todten Weibe
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aus: Die Gartenlaube, Heft 45, S. 731, 734
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Blätter und Blüthen
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[731]

Der Mürzsteg zum „todten Weibe“.
Nach einer Skizze von Robert Zander in Wien, auf Holz gezeichnet von Richard Püttner in München.

[734] Der Mürzsteg zum todten Weibe. (Mit Abbildung, S. 731.) Zwei Eisenbahnfahrstunden südlich von Wien, dort, wo die norische Alpe den mächtigen Gebirgsstock des Semmering und Sonnenwendsteins gegen die niederösterreichisch-ungarische Ebene vorschickt, läuft dem Kamme des Gebirgs entlang die Grenze der grünen Steiermark. – Gewiß verdiente dieses deutscheste aller Alpenländer einen ebenso großen Touristenbesuch, wie ihn die Schweiz, Tirol oder die baierischen Hochgebirge genießen. Bewohnt von einem der biedersten germanischen Stämme, bietet Steiermark in seinen Hochgebirgsformationen dem Naturfreunde eine Fülle von Naturschönheiten. Unübertroffen von allen europäischen Bergländern steht es durch die Ueppigkeit seiner Vegetation da. Hier giebt es noch zahlreiche Thäler, in denen der Schöpfer der Tuberculose, der Staub, zu den unbekannten Dingen zählt; hier finden sich noch die Stätten einer frisch wuchernden unverkümmerten Pflanzenwelt. Am eindringlichsten tritt dem Beobachter diese Erscheinung der Naturwüchsigkeit entgegen, wenn er, die Strecke der Semmering-Bergbahn hinter sich, die freundliche Ebene Niederösterreichs betritt. Gleich dem Reisenden, welcher Italiens farbenreichen Boden verläßt, um nach dem Norden zurückzukehren, scheinen ihm Felder, Wiesen und Bäume, Wässer und Gesteine, wie grau in grau gemalt zu sein. – Wir verlassen in der zweiten, auf steierischem Boden gelegenen Südbahnstation Mürzzuschlag den Eisenweg, der am directesten nach Italiens Gefilden führt, und befinden uns in einem von steilen bewaldeten Bergwänden begrenzten Hochgebirgsthale, in dessen Mitte die muntere, klare Mürz rauscht, umgeben von herrlichen landschaftlichen Details.

Eine dreistündige Wanderung, dem frischen Gebirgsfluß entgegen, durch eines der anmuthigsten Alpenthäler, führt uns zur Cyklopenstätte Neuberg. Die Schnee- und Laa-Alpe mit der Donnerwand zur Rechten, den Königskogel zur Linken, sehen wir diese Hochgebirgslandschaft einen wildzerrissenen, aber erhabenen Charakter annehmen. Dieser Theil Steiermarks birgt den bedeutendsten Gemsenstand, weshalb sich die Neuberg-Mariazeller Gewerkschaft veranlaßt fand, die Jagdbarkeit dem Kaiser von Oesterreich zu verehren. Die alljährlich stattfindenden Jagden sind äußerst ergiebig, fordern leider aber auch bei der Waghalsigkeit, mit welcher sie auf den zerklüfteten Terrains betrieben werden müssen, oft Menschenleben als Opfer. Im letztvergangenem Herbste erst wurde ein Hochwildtreiber durch abstürzende Steine in den Abgrund geschleudert und dort zerschellt und todt aufgefunden. Wir gelangen nach Mürzsteg, dessen Alpenscenerie an die schönsten Theile des Berner Oberlandes erinnert. Das Thal verengert sich hier zu einer schmalen Schlucht. Von den senkrecht Tausende von Fuß jäh abstürzenden Felsenwänden ist nur so viel Raum gelassen, um dem Wasser der über die Steinblöcke brausenden Mürz Durchlaß zu gewähren. Hier nimmt der von den Touristen gefeierte Steg über dem tosenden Flusse seinen Anfang; er windet sich stundenlang in der Dämmerung der Thalschlucht hin und endet am heitern Wiesenthale der Wildalpen „in der Freyen“. Indem wir den Steg beschreiten, rauschen die Bergwässer uns machtvoll entgegen; eine prachtvolle Wildniß umgiebt uns. Die krystallklare smaragdfarbene Fluth will sich hier über die entgegengethürmten Hindernisse, in schneeweiße Atome aufgelöst, hinwegstürzen, während sie dort, durch irgend eine unterirdische Hemmung gestaut, scheinbar regungslos stagnirt und inmitten ihrer metallisch glitzernden grünen Färbung selbst den kleinsten Kiesel auf ihrem Grunde erkennen läßt.

Spalten, Klüfte und Höhlen durchsetzen, die abenteuerlichsten Formen bildend, das geborstene Kalkgestein, während die vereinzelten Bewohner dieser unzugänglichen Verstecke, eine Fledermaus oder Eule, in der Dämmerung schüchtern an der Felswand hinflattern. Der Mangel an eindringendem Sonnenlichte begünstigt die vom Flusse aufsteigende Feuchtigkeit; Moose und Farnkräuter wuchern deshalb dem Stege entlang in seltener Pracht. Auf tausendfachen Pfählen und Aesten, die in die Felswand eingelassen sind, und in so kurzen Krümmungen, daß der Pfad jeden Moment sein Ende erreicht zu haben scheint, läuft der Mürzsteg über zahllose Cascaden zum „todten Weib“.

Wir sind nur noch eine kleine Stunde südwestlich von der „Freyen“ entfernt. In einer Höhe von ungefähr zwanzig Klaftern oberhalb unseres Weges stürzt ein starker Gebirgsbach, einen Wasserfall bildend, aus einer Höhle hervor. Die Sage leitet den Namen „das todte Weib“ von einer Bäuerin her, welche hier erfroren gefunden wurde. Die enge Schlucht, die vielfach gewundenen Treppenstege, die obenstehende uralte Einsiedelei, die Kreuze unter den Bäumen, der üppig grünende mit Alpenblumen durchwirkte Rasen, Alles dies vereinigt sich hier zu dem reizendsten Bilde.

Hoch droben, über dem „todten Weibe“, auf einem zerborstenen Abhange der Schnee-Alpe, entdeckte man einst beim Fällen eines Baumes eine tiefe brunnenartige Kluft, die, weit hinabreichend, in einer unermeßlichen Höhle endet und die sich in gerader Richtung zu dem tief unter ihr liegenden Wasserfalle des „todten Weibes“ abstürzt.

Endlich erweitert sich der Weg. Wir genießen das Tageslicht wieder ungeschmälert; die zackigen Kalkwände treten mehr zurück, und sanftbewaldete Bergesabhänge erfreuen das Auge. Wir kommen in jenes wunderbare Waldthal, auf dessen sammetgrünen, von klaren Forellenbächen durchzogenen Wiesen die „stille Mürz“ und die „kalte Mürz“ ihre Vermählung feiern, um mit vereinten Kräften der Schlucht des Mürzsteges zuzuströmen.

Des Menschen Dasein in dieser Gegend datirt erst seit Anfang dieses Jahrhunderts. Um den Eisenwerken des benachbarten so berühmten Gnaden- und Wallfahrtsortes Maria-Zell vermehrten Brennstoff zuzuführen, siedelten sich Holzknechte mit ihren Hütten, welche malerisch zerstreut im Thale und auf den Höhen liegen, hier an. Jetzt hat die Cultur die Urwüchsigkeit auch in dieser Gegend verdrängt.