Der Verkehr in der Guten Gesellschaft

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Autor: Alban von Hahn
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Titel: Der Verkehr in der Guten Gesellschaft
Untertitel: Ein Buch über Lebensart und feine Sitte
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Auflage: 2. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: ca. 1898
Verlag: Otto Spamer
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Benimmbuch
1. Auflage erschien 1896
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[I]
Der Verkehr
in der
Guten Gesellschaft.


Ein Buch über Lebensart und feine Sitte
von
Alban von Hahn.


Zweite Auflage.


Leipzig.
Verlag und Druck von Otto Spamer.


[III]

Inhalt.
Seite
Besuche 1
Gesellschaften 34
Essen und Trinken 73
Familienfestlichkeiten 117
Der Verkehr auf der Straße 152
Verkehr im Theater, Konzert u. s. w. 180
Sprache, Gespräch und Unterhaltung 192
Wetten, Vielliebchen und Geschenke überhaupt 207
Ehrenangelegenheiten 216
Konventionelle Lügen 222


[V]
Einleitung.

Überall, zu allen Zeiten und bei allen Völkern hat es feststehende, allgemein anerkannte Regeln gegeben über den Verkehr der Menschen untereinander; je höher die Bildungsstufe war, auf welcher sich ein Volk befand, um so ausführlicher, genauer und um so mehr für jeden Fall im besonderen vorgesehen erscheinen sie. Und so hat sich nach und nach ein ganzer Codex für den Umgang und den Verkehr in der Gesellschaft, ein Gesetzbuch des feinen Tones entwickelt, welches jeder, der Anspruch darauf macht, ein wohlerzogener, gebildeter Mensch zu sein, gründlich kennen muß. Wohl mag zugegeben werden, daß es möglich ist, auch ohne die subtile Kenntnis aller jener kleinsten und feinsten Vorschriften des guten Tones ein ganz brauchbarer Mensch zu sein, wenn man nur sonst seine Pflicht thut und sich als nützliches Glied des menschlichen Gemeinwesens benimmt: wer aber in der Gesellschaft mit andern Gebildeten [VI] leben will, von dem wird es geradezu gefordert, daß er nicht gegen die feststehenden, hergebrachten Gebräuche des Verkehrs verstößt. Ein Sonderling kann leben und handeln, wie er will; solange er nichts Gesetzwidriges thut, wird ihm niemand etwas anhaben können, er bleibt aber stets ein Sonderling, und nie wird es ihm gelingen, in irgend welchen Verkehr mit andern zu kommen, mag er auch sonst noch so gute und glänzende Eigenschaften haben. Es liegt darin allerdings eine gewisse Oberflächlichkeit, welche nicht im stande ist, sich über allerlei Äußerlichkeiten, die vielleicht abstoßend wirken und unangenehm berühren, hinwegzusetzen, um trotz der widerlichen Umhüllung doch den süßen Kern genießen zu können: das ist aber ein Kennzeichen unsrer ganzen Zeit, die zum mindesten ebenso auf die „Aufmachung“ sieht, wie der Kaufmann sagt, als auf den Inhalt, ja, die sich oft genug durch eine glänzende Außenseite mehr bestechen läßt, als durch alle möglichen guten inneren Seiten. Und wie die Vorschriften der Mode, so sind auch die Regeln des feinen Tones allmächtig, jeder muß sich ihnen beugen.

Mit dieser unumschränkten, scheinbar willkürlichen Herrschaft ist es aber im Grund gar [VII] nicht so schlimm, denn fast ausnahmslos sind die Forderungen und Gebote der Gesellschaft berechtigt und oft viel tiefer begründet, als man auf den ersten Blick meinen mag, ja, es liegt in ihnen die sittliche Erfahrung langer Zeiten verborgen. Damit mag sich der trösten, der nicht in der glücklichen Lage war, gleich von Kind an in den Gewohnheiten und mit den Regeln des guten Tones aufzuwachsen, sondern sie sich erst spät, und freilich manchmal wohl mit vieler Mühe aneignen muß; denn dazu gezwungen wird er, mag er nun wollen oder nicht, wenn er nur irgendwie in einer Gesellschaft zu verkehren wünscht, die halbwegs den Anspruch macht, eine gebildete zu heißen. Gerade aber bei solchen Leuten macht sich oft aus Trotz eine unwillkürliche Opposition geltend, welche sie dann nur in einen um so schärferen Gegensatz zur Gesellschaft bringt; diese aber wird sich ihrer schnell genug entledigen, indem sie sie einfach beiseite liegen läßt.

Es ist darum nötig, sich zu bemühen, die Forderungen des guten Tones derart kennen zu lernen und so inne zu haben, daß man gar nicht anders handeln kann, als sie vorschreiben. Denn der „Feine Ton“ soll nicht nur gleich sein den „Guten Manieren“, sondern soll auch die Denkungsart [VIII] des Menschen beherrschen, ja ein untrennbarer Teil seiner Bildung sein. „Takt“ muß dem Menschen angeboren sein, „Gute Manieren“ kann er sich anlernen: das aber, was der Mensch für den Umgang und den Verkehr in der Gesellschaft braucht und was man im allgemeinen „feinen Ton“ nennt, muß so mit seinem ganzen Wesen verbunden werden und ihm derart in Fleisch und Blut übergehen, daß er es gar nicht als Regel oder Vorschrift empfindet, sondern daß er gleichsam aus seinem eignen Innern heraus danach lebt und denkt.

Man muß daher auch vor allem mit der Anwendung der guten Tones bei sich selbst beginnen und mit sich selbst nach seinen Regeln verkehren. Darin liegt eben der Unterschied zwischen „Guten Manieren“ und wirklicher, gesellschaftlicher Bildung, daß man jene nur andern gegenüber zur Schau trägt, daß diese aber den Verkehr und den Umgang des Menschen auch mit sich selbst beherrschen soll. Der feine Ton verlangt, daß man sich in Gesellschaft mit andern in keiner Weise, weder körperlich noch geistig, gehen lassen soll; worin liegt denn die Berechtigung, daß man dies dürfe, daß man sich vernachlässigen dürfe, wenn man allein ist? Der [IX] feine Ton fordert, daß man nie ohne reinen Kragen, saubere Manschetten in der Gesellschaft erscheine; soll deshalb im Gegensatz dazu der einzelne zu Hause die Berechtigung haben, unsauber herumzugehen? Wer wird nicht, wenn er in Gesellschaft andrer zu Tisch geht, Sorge tragen, daß er reine Hände habe, ordentlich frisiert sei und einen anständigen Rock trage; soll er darum zu Hause anders handeln dürfen, wenn er allein ist? Soll die Hausfrau, wenn sie mit ihrer Familie allein ißt, nicht ebenso auf den wohlgedeckten, reinlichen Tisch halten, als wenn Fremde bei ihr zu Mittag speisen? Wie man sich in Gesellschaft andrer stets in einer gewissen Zucht haben soll, geistig und körperlich, so darf man sich auch nicht, wenn man allein ist, weder körperlich noch geistig gehen lassen, „weil es niemand sieht“. Man darf sich selbst nie etwas erlauben, was man an andern verurteilen würde, und man muß sich selbst stets so achten, wie man andre achtet und von ihnen geachtet zu werden wünscht.

Man glaubt kaum, wie man in dieser Hinsicht erzieherisch auf sich selbst einwirken kann, und von wie großem, fast unmittelbarem Nutzen solche Erziehung oft ist. Heutzutage soll der [X] Mann erst recht immer gehen im Sürtout und in der Pekesche sich zeigen, immer gestiefelt sein, wie mancher aber liebt es, ganze Vormittage ohne „Toilette gemacht zu haben“ zu verbringen, ja es gibt wohl Leute, die nicht arbeiten zu können behaupten, wenn sie es sich nicht „bequem“ gemacht haben. Sie alle sollten es aber nur ein einziges Mal versuchen, einen wie wohlthätigen Einfluß, auch in geistiger Beziehung, es auf den Menschen ausübt, wenn er gleich vom Aufstehen des Morgens an bis zum Schlafengehen des Abends angezogen und fertig ist, niemand warten zu lassen braucht, bis er alle seine Bequemlichkeiten abgestreift hat, um ihn zu empfangen, und ausgehen kann, wann er will. Geistige Frische und Fertigkeit und Schlafrock und Hausschuhe vertragen sich ebenso wenig, wie Bequemlichkeit und Gemütlichkeit und strenge Selbstzucht. Die aber muß man vor allem ausüben, sich selbst geistig und körperlich beherrschen muß man lernen, wenn man sich keine Fehler im Verkehr mit andern zu schulden kommen lassen will.


[1]
Besuche.

Der Besuch ist der Ausdruck gesellschaftlicher Höflichkeit und somit Hauptmoment des Verkehrs in der gebildeten Welt. Man kann im allgemeinen unterscheiden: Antrittsbesuche, einfach freundschaftliche Besuche, Höflichkeitsbesuche, Standesbesuche, Besuche bei besonderen Gelegenheiten und Geschäftsbesuche.

Je nach dem Zweck der Besuche werden sich natürlich die Vorbereitungen zu denselben richten, doch gibt es eine ganze Anzahl von Punkten, auf die allgemein vor jedem Besuch zu achten ist.

Zuerst handelt es sich darum, wem man und wer überhaupt einen Besuch abzustatten hat. Ein einzelner Herr soll bei einem ersten Besuch nach dem Herrn des Hauses verlangen, besonders wenn er die betreffende Familie noch nicht etwa an einem dritten Ort kennen gelernt hat, oder von ihr infolge einer Empfehlung vielleicht erwartet wird, oder den Besuch zu machen aufgefordert worden ist; in diesem [2] Fall wird er sich gleich bei der Dame des Hauses melden lassen. Ist er dagegen schon bekannt, so hat er stets nach dieser zu fragen und erst in zweiter Linie nach dem Hausherrn. Als Regel kann man wohl annehmen, daß der Besuchende bestrebt sein soll, den Herrn in seiner Arbeit, in seinem Geschäft nicht zu stören, während er von der Dame, als der Vertreterin des Hauses in gesellschaftlicher Beziehung, voraussetzen kann, daß sie auf das Annehmen von Besuchen eingerichtet ist. Hat man Zweifel, nach wem man verlangen soll, so kann man sich leicht dadurch helfen, daß man nicht nach einer einzelnen Person, sondern nach den „Herrschaften“ im allgemeinen fragt. Eine Dame hat stets nur nach der Dame des Hauses zu verlangen, ebenso ein Brautpaar, ein junges Ehepaar u. s. w. Beabsichtigt man aus irgend einem Grund, z. B. wegen einer geschäftlichen Anfrage oder um eine Auskunft betreffs des Studiums zu erbitten, oder um näheres über eine geplante Gesellschaft, ein Fest, eine Überraschung zu bereden, gegen die Regel, dem Herrn des Hauses oder der Dame allein einen Besuch zu machen, so ist es nötig, diese Absicht besonders deutlich auszusprechen, wie überhaupt im Verkehr mit dem öffnenden Diener oder Dienstmädchen [3] deutliches Sprechen aufs dringendste zu empfehlen ist. Um einem Nichtverstehen oder Verwechseln des Namens vorzubeugen, habe man seine Visitenkarte schon vorher zur Hand genommen, so daß es nicht nötig ist, erst Paletot und Rock aufzuknöpfen, die Visitenkartentasche zu suchen, um dann womöglich zu finden, daß man sie vergessen hat.

Die Anmeldung hat stets durch eine Visitenkarte zu geschehen; man lege daher eine Anzahl Karten bereits zu Hause so in das Etui, daß man dieselben bequem herausnehmen kann. Dieses aber stecke man in die äußere Tasche des Paletots, damit man nur danach zu greifen braucht. Öfters sind die oberen Karten im Etui nicht ganz sauber, man achte daher besonders darauf, diese nicht zu nehmen, denn leicht könnte von der Karte auf den Besitzer geschlossen werden, und der erste Eindruck ist gewöhnlich der am längsten bleibende. Es dürfte hier am Platze sein, gleich ein Wort über die Visitenkarten zu sagen, die nach der gerade herrschenden Mode durchaus nicht dem Zweck entsprechen, dem sie dienen sollen. Durch Überreichung einer Visitenkarte habe ich die Absicht, dem andern meinen Namen und, falls ich ihm unbekannt bin, meine [4] Stellung mitzuteilen; überhaupt ihn in gewisser Weise über mich zu unterrichten. Es ist daher vor allem nötig, daß die Karte den ganzen Namen, Vor- und Zunamen, enthalte, sowie den Beruf oder die Stellung. Gerade, wo es sich immer mehr einzubürgern scheint, daß man Personen beim Vorstellen und überhaupt in der Gesellschaft bei beiden Namen nennt, ist es um so nötiger, auch auf der Visitenkarte den Vornamen anzugeben, vor allem aber, wenn der Zuname zu den landläufigen gehört. Man kann von niemand verlangen, daß er sich sofort erinnere, wer „Meyer, Referendar“, oder „Schmidt, stud. phil.“ ist, selbst „Schneider, Bezirksassessor“ wird in der größeren Stadt nicht ganz bekannt mehr sein, während „Ferdinand Meyer, Referendar am Kgl. Amtsgericht“, oder „Berthold Schmidt“ oder „Edward Schneider, Assessor am Kgl. Bezirksgericht“ ganz andre Anhaltspunkte für das Gedächtnis geben. Von großem Wert ist es aber auch, seine Wohnung auf der Karte zu nennen, besonders bei ersten Besuchen, auf welche ein Gegenbesuch oder eine Einladung zu erfolgen hat oder erwartet wird. Oft ist es nur mit den größten Schwierigkeiten möglich, die Wohnung eines einzelnen Herrn, eines Studenten, eines [5] jüngeren Beamten, eines jungen Kaufmanns zu erfahren, und mancher Besuch, manche Einladung unterbleiben oder verspäten sich aus diesem Grund. Das Angeben der vollen Adresse auf der Visitenkarte ist durchaus keine Zudringlichkeit, wie man wohl hier und da glaubt, sondern es erleichtert nur den Verkehr zwischen beiden Teilen. Mehr aber als Name, Stellung und Adresse auf der Karte anzubringen, etwa Wappen, Vereinszeichen, Auszeichnungen, wie „Ritter des …“ u. s. w., ist unpassend; ebenso wenig schicklich ist außergewöhnliches Format, bunte Farbe, verschnörkelte Buchstaben und dergl., während eine mittelgroße Karte mit deutlicher, leicht leserlicher Schrift immer anständig bleibt. Sind mehrere gleichnamige Familien an einem Ort, so ist es angezeigt, wenn die Frau den Vornamen des Mannes auf ihrer Karte führt, z. B. „Frau Eduard Schneider“, falls sie nicht vorzieht, zum Unterscheidungsmerkmal von andern Damen Schneider, ihren Mädchennamen dazu zu setzen, also etwa „Frau Luise Schneider-Winkler“ oder „Frau Luise Schneider geb. Winkler“. Die Schweizer Sitte, nach welcher der Mann den Mädchennamen der Frau dem seinigen anhängt, so daß sich also Mann und Frau „Schneider-Winkler“ nennen, ist [6] sehr praktisch und verdiente vielmehr, als es bisher in Deutschland der Fall ist, in Aufnahme zu kommen. Während beim Mann allein nur der Vorname und nicht „Herr“ auf der Karte steht, so kann auf der gemeinsamen Karte „Herr und Frau Schneider-Winkler“ oder „Herr Eduard Schneider und Frau“ oder „Herr und Frau Eduard Schneider-Winkler“ gedruckt werden.

Außer zum Anmelden gebraucht man Visitenkarten, wenn die Betreffenden, denen man einen Besuch machen wollte, nicht zu Hause sind oder den Besuch nicht annehmen konnten oder wollten. In diesem Fall läßt man Karten zurück und zwar der Herr so viele, wie erwachsene Glieder in der Familie vorhanden sind, denen sein Besuch gegolten haben könnte; die Dame gibt nur für die Damen des Hauses Karten ab. Bei Besuchen eines Ehepaares würde also der Herr stets wenigstens eine Karte mehr, für den Herrn des Hauses, abzugeben haben, als seine Frau. Bedienen sich beide gemeinsamer Karten, so gibt der Herr außer einer gemeinsamen Karte – für die Dame des Hauses – noch seinerseits eine von sich für den Hausherrn ab. Zeichen in die Karte zu machen ist veraltet, man knickt weder Ecken ein, noch macht man Risse u. dgl., [7] denn es muß doch jeder annehmen können, wenn man am Tage eines Geburtstages, nach einer Verlobung u. s. w. kommt, daß man dann seine Glückwünsche ausdrücken will, und daß man nach einem Todesfall „p. c.“, pour condoléance, um seine Teilnahme auszudrücken, kommt. Bei Brautleuten herrschen an verschiedenen Orten verschiedene Gewohnheiten. Bald werden nur die Karten der beiden Verlobten abgegeben, bald sind diese Karten durch bunte Schleifen oder Seidenschnuren verbunden, bald sind die Namen auf zwei zusammenhängenden Karten gedruckt: bei so außergewöhnlichen Gelegenheiten muß man sich eben nach der herrschenden Sitte richten und sich vorher erkundigen.

Was die Zeit, um Besuche zu machen, anlangt, so kann auch hierfür keine allgemeine Regel aufgestellt werden; doch dürften stets die Stunden zwischen ¾12 und ½3 Uhr die passendsten sein. Auch hierbei wird man gut thun, sich vorher zu erkundigen, und wenn man erfährt, daß Leute aus irgend einem Grunde schon um ½1 Uhr zu Mittag essen, so wird man nicht um diese Zeit zu ihnen gehen, es sei denn, man wolle nicht empfangen werden, auf welchen Punkt unter dem Abschnitt „Konventionelle [8] Lügen“ noch des näheren eingegangen werden wird. Die Empfangszeit richtet sich nach der an dem betreffenden Ort gebräuchlichen Essenszeit; wird erst gegen Abend, vielleicht um 5 Uhr, „zu Mittag“ gegessen, so wird man darauf rechnen können, von 4 Uhr ab angenommen zu werden; für weniger förmliche Besuche sind an Orten, wo schon zu Mittag „zu Mittag“ gegessen wird, auch die späteren Nachmittagsstunden zwischen 5 und 6 Uhr beliebt; für feierliche, „offizielle“ Besuche bleibt dagegen stets der Vormittag die passende Zeit. Bei Besuchen bei Herren, besonders bei Beamten oder Kaufleuten, achte man darauf, ob die Betreffenden vielleicht feststehende Sprechstunden haben, die man dann zu benutzen hat. Außer denselben seine Aufwartung zu machen, ist unpassend, ganz abgesehen davon, daß man darauf rechnen muß, nicht angenommen zu werden.

Der Anzug, den man zu wählen hat, richtet sich natürlich auch nach der Art des einzelnen Besuches. Für einen Antrittsbesuch muß der Herr stets einen schwarzen Rock, schwarze oder hellfarbige Beinkleider, helle Handschuhe und ebensolche Halsbinde und einen Cylinderhut haben. Die Dame erscheint in feiner, doch nicht auffälliger [9] Toilette und vermeide alles, was irgendwie an Gesellschaftstoilette erinnern könnte; ein seidenes Kleid ist stets für einen ersten Besuch am Platze. Bei besonders feierlichen Gelegenheiten erscheint der Herr im Frack mit weißer Halsbinde, weißen Handschuhen und schwarzen Beinkleidern, wie überhaupt hier gleich gesagt sein soll, daß zum Frack stets weiße Halsbinde, weiße Handschuhe (außer bei Trauerfeierlichkeiten, wo beide schwarz sind) und schwarze Beinkleider gehören, sowie ein Klapphut, während man sich, sobald man im Rock ist, des Cylinderhutes bedient. Lackstiefeln können immer getragen werden, doch nehme man dann auch Bedacht auf die Strümpfe: nichts sieht weniger fein aus, als wenn man über einem feinen Lackschuh plötzlich ein Stück dicken wollenen Strumpfes erblickt; schwarze oder farbige seidene Strümpfe sind bei Lackstiefeln unerläßlich. Bei weniger feierlichen Gelegenheiten kann der Herr auch im offenen Jackett – sogenannten Smoking – zu einem Vormittagsbesuch erscheinen; doch muß dasselbe stets von dunkler Farbe sein. Im allgemeinen mache man sich zur Regel, lieber zu feierlich und förmlich zu erscheinen, als zu flott und intim; nur letzteres kann falsch ausgelegt werden. Daß man darauf [10] zu halten hat, stets von peinlichster Sauberkeit im Anzug zu sein, braucht wohl nicht erwähnt zu werden, doch ist man oft geneigt, das staubige Wetter, die feuchte Straße als Entschuldigungsgrund vor sich selbst anzusehen, wenn man beschmutzt zu einem Besuch kommt, und vom andern zu verlangen, daß auch er diesem Grund Rechnung trage; besser ist es aber, man vermeidet derartige Gelegenheiten überhaupt und bewahrt sich durch einen Regenmantel oder Überrock und Gummischuhe vor solch unsalonmäßigem Aussehen, wenn man nicht vorzieht, zu einem Besuch eine Droschke zu nehmen; die geringen Kosten werden schon durch Schonung von Kleidern und Schuhwerk fast immer eingebracht.

Die Vorbereitung zu jedem Besuch muß aber, wie es wohl genannt werden könnte, auch eine geistige sein. Für gewöhnlich wird man ja immer schon etwas von den Betreffenden, die man aufzusuchen wünscht, wissen, aber doch kann es vorkommen, daß einem z. B. nur eine Empfehlung gegeben worden ist von Bekannten an deren Bekannte am dritten Ort, und daß man von diesen selbst so gut wie gar nichts weiß. Da ist es dann schwer, etwas Näheres zu erfahren, besonders wenn man fremd ist; da muß [11] man versuchen, aus Adreßbüchern, Universitätsverzeichnissen und dgl. etwas herauszubekommen, ja auch das Konversationslexikon und der Schriftstellerkalender können einem manchmal nützlich sein. Wie gesagt, ist es oft schwer, sich zu unterrichten, aber doch darf es nicht vorkommen, daß man z. B. den Gatten einer Schriftstellerin, an die man unter deren Autorennamen empfohlen ist, mit diesem Namen anredet, daß man nicht weiß, ob jemand verheiratet ist oder nicht, daß man überhaupt nicht weiß, was er ist und dergleichen. Über persönliche Verhältnisse wird man freilich nur selten etwas in Erfahrung bringen können, aber falls die Betreffenden irgendwie z. B. künstlerisch oder wissenschaftlich thätig sind, sollte man wenigstens über deren Arbeiten etwas wissen. Dann aber muß man sich hüten, wenn man wirklich etwas weiß, die Thatsachen bei verschiedenen Besuchen zu verwechseln und bei dem einen nicht seine Kenntnisse über die Erfolge oder Vorzüge des andern an den Mann bringen wollen. Am besten ist es auf alle Fälle, nicht auf derlei persönliche Verhältnisse einzugehen, ehe man weiß, wie der Betreffende es aufnimmt: dem einen erscheint es als eine fade Schmeichelei, was dem andern eine wohlthuende Anerkennung [12] bedeutet; nur ist es notwendig, daß man wisse, wes Stand und Art ein jeder sei, damit man unterrichtet sei, wenn darauf zufällig die Rede kommt; eine Forderung, die der, mit dem man in nähere Beziehung zu treten wünscht, doch zum mindesten stellen kann. Sind einem aber nähere Beziehungen schon bekannt, so ist es um so leichter, sich auf einen Besuch vorzubereiten; braucht man die in Aussicht genommenen Themata dann nicht, so schadet es ja nichts; hat der, den man besucht, aber nicht das Geschick, eine fortlaufende Konversation herbeizuführen, so muß man es verstehen, das Gespräch durch geschickte Wendung auf einen Stoff zu bringen, von dem man annehmen kann, daß er dem andern von gewissem Interesse ist. Dem früher am eignen Heimatsort wohnhaft gewesenen erzähle man von zu Hause, dem Studienfreund des Vaters muß man über dessen jetzige Thätigkeit, über die früheren gemeinsamen Bekannten sprechen können; kommt man aus Orten, wo besondere Ereignisse, Feste, Aufführungen u. s. w. stattfanden, so sei man, wenn sie einen auch nicht persönlich interessieren, doch über dieselben so unterrichtet, daß man von ihnen erzählen kann u. s. f. Damit soll aber ja nicht die Anweisung gegeben sein, daß man [13] nun mit seinen Kenntnissen gleich mit der Thür in Haus falle, nur in Reserve soll man sie haben, um dann dem Hausherrn, der Hausfrau, die vielleicht nicht gleich wissen, was sie mit dem bisher unbekannten Besucher reden sollen, zu Hilfe zu kommen.

Ehe man die Gewohnheit der betreffenden Personen, die man zu besuchen wünscht, näher kennt, wird es sich empfehlen, dieselben Sonntags aufzusuchen, wo man am sichersten darauf rechnen kann, ihnen nicht ungelegen zu kommen. An Bußtagen, Totensonntag, Aller Seelen und ähnlichen Tagen zu kommen, ist unpassend; ebenso vermeide man an Tagen vor Festen, wie Ostern, Pfingsten u. s. w. Besuch zu machen, auch wird man vor Beginn der Ferien, des Urlaubes, wenn man weiß, daß die Betreffenden zu verreisen beabsichtigen, nicht sehr willkommen sein.

Endlich noch eine Regel, die hier schon ausgesprochen sein mag, die aber für allen Verkehr in der Gesellschaft Anwendung findet. Viele Menschen leiden daran, daß ihr Hauch unangenehm ist, besonders, wenn sie, wie z. B. bei Besuchen vor Tisch einen leeren Magen haben, oder wenn sie, wie das wohl auch vorkommen mag, [14] gerade im Gegensatz etwas ausgiebig „gefrühstückt“ haben, und dies berührt den andern oft genug sehr peinlich. Man kann und sollte dies aber stets vermeiden, indem man kurz vorher etwas ißt, oder Cachou oder sogenannte Rauchpillen in einem kleinen Döschen bei sich führt, von denen man, womöglich erst gerade ehe man an der Vorsaalthür klingelt, etwas in den Mund nimmt. Ungehörig ist es ebenfalls, vor Besuchen zu rauchen; man merkt auch dies stets am Hauch und an den Kleidern, in welchen man den widerlichen Tabaksgeruch in den Salon der Dame des Hauses bringt.

Ist man endlich, so vorbereitet, bis vor die Thür des zu Besuchenden gelangt, so klingle man ordentlich und nicht zu bescheiden, daß es vielleicht gar nicht gehört wird und man vergeblich lange auf das Öffnen warten muß. Ein zu starkes Reißen an dem Glockenzug oder allzulanges Drücken auf die elektrische Klingel ist natürlich auch unpassend. Wird auf das erste Mal nicht geöffnet, so wiederhole man das Klingeln; mehr als zweimal aber seinen Wunsch, eingelassen zu werden, kund zu geben, ist vom Übel. Wird nicht geöffnet, so schiebt man seine Karte in den Briefkasten; ist ein solcher nicht vorhanden, so muß man sich eben bescheiden [15] und den Besuch für diesmal als unausführbar ansehen. Karten an die Klinke der Vorsaalthür oder in die Thürspalte oder unter die Thür zu schieben u. s. w. paßt sich nicht. Wird man aber angenommen, so fragt man, ob die Betreffenden zu sprechen seien. Man achte wohl darauf und vermeide es, wie es so vielfach geschieht, zu fragen: Sind Herr und Frau Soundso zu Hause? Man erleichtert dadurch eine ablehnende Antwort und bringt das öffnende Mädchen oder den Diener nicht in die Verlegenheit, eine – wenn auch nur gesellschaftliche – Lüge auszusprechen. Wird man nach dem Namen gefragt, so überreicht man seine Visitenkarte und beginnt sich so einzurichten, daß man, zum Eintritt aufgefordert, möglichst schnell seine Überkleider ablegen kann. Dabei vergesse man nicht, etwa aufgeschlagene Beinkleider herunter zu schlagen. Nichts ist unangenehmer, als wenn man erst auf dem Vorsaal eine lange Zeit braucht, um den Paletot, die Überschuhe, das Halstuch u. s. w. auszuziehen und womöglich schon drin im Salon erwartet wird. Dann ist es aber nötig, daß man sich merkt, wohin man seine Kleider gelegt oder gehängt hat, um sie beim Weggehen schnell zu finden und nicht etwa mit andern zu verwechseln; [16] auch wird es gut sein, nicht zu vergessen, wo sich die Ausgangsthür befindet, damit man, wenn zufällig beim Weggehen keine Bedienung auf dem Vorsaal ist, nicht erst falsche Thüren öffnet, ehe man den richtigen Ausgang gewinnt. Der Hut, sofern es ein Cylinder- oder Klapphut ist, oder die farbige Mütze des Studenten, wird stets mit in das Zimmer genommen; hat man ja etwa einen andern Hut beim Besuchemachen auf, so bleibt derselbe bei den Kleidern auf dem Vorsaal. Im Salon angekommen, schließt man, falls einem nicht etwa von einem dienenden Geist geöffnet worden ist, die Thür derart hinter sich, daß man beim Eintreten die innere Klinke erfaßt und nun hinter seinem Rücken in das Schloß drückt. Das erfordert allerdings einige Übung, doch kann man es schnell zu einer gewissen Fertigkeit bringen. Sowie die Thür geschlossen ist, entfernt man sich von derselben, wie man überhaupt stets vermeiden sollte, in oder vor einer Thür stehen zu bleiben. Ganz abgesehen davon, daß man Gefahr läuft, von einem etwa später Eintretenden mit dem Thürflügel in den Rücken gestoßen zu werden, so versperrt man diesem jedenfalls den Eingang. Nach einer Verbeugung geht man zuerst auf die Dame des Hauses zu, um sich [17] vor derselben nochmals zu verbeugen und ihre Hand zu nehmen, falls sie einem dieselbe darreicht.

Höherstehenden oder Personen, die man zu ehren hat, also auch solchen, die man besucht, die Hand zu geben, ist unpassend; man wartet ab, bis einem dieselbe gereicht wird. Dann aber erwidere man den Händedruck ebenso, wie man ihn erhält. Es ist natürlich unschicklich, einer Dame die Hand zu drücken, daß womöglich die Finger knacken, aber ebensowenig angenehm ist es auch für den andern, wenn er nur eine charakterlos, ohne jede Empfindung hingehaltete Hand in der seinigen fühlt. Im allgemeinen sei man mit Handgeben lieber zu zurückhaltend, als freigebig. In feinen Häusern ist es wenig Sitte, die Hand zu geben, und gleich die Hand hinzustrecken zeugt nur von einer gewissen Vertraulichkeit, die nicht jedem angenehm erscheint. – Wer nicht von Jugend auf gewöhnt ist, Damen die Hand zu küssen, der unterlasse es lieber; es ist eine schwere Übung, einen Handkuß in der richtigen Weise und so auszuführen, daß es nicht lächerlich wirkt. Auf keinen Fall hebe man die Hand des andern zu sich herauf, sondern beuge sich zu derselben herunter und berühre sie nur leise mit den Lippen. Wer sich über derartige Einzelheiten [18] noch des näheren zu unterrichten wünscht, dem sei „Guttmann, Die ästhetische Bildung des menschlichen Körpers“ (Leipzig, J. J. Weber), empfohlen.

In der Regel wird man aufgefordert werden, abzulegen und Platz zu nehmen. Man stellt nun den Hut auf einen, vielleicht abseits stehenden Stuhl oder auf ein sonstiges Möbel, auf keinen Fall aber vor sich auf den Tisch oder unter den Stuhl auf den Boden. Das ist altmodisch. Wird man nicht aufgefordert, so behält man den Hut in der Hand, ohne jedoch damit zu spielen. Die Öffnung des Hutes sei stets dem eignen Körper zugekehrt. Die Handschuhe zieht man nie bei einem Besuch aus. Beim Hinsetzen ist es streng verpönt, die Rockschöße auseinander zu nehmen oder die Beinkleider an den Knieen etwas heraufzuziehen. Das ist kleinstädtisch und philiströs. Man teilt nun dem andern die Absicht seines Kommens in klaren, knappen Worten mit, falls derselbe nicht schon davon unterrichtet ist. Auf etwa gestellte Fragen antwortet man genau und ohne Umschweife. Überhaupt mache man sich zum Prinzip, möglichst den andern reden zu lassen, und nur, wenn man merkt, daß denselben unser Bericht, unsre Erzählung interessieren, so [19] rede man selbst. Außerdem aber sei man nicht zu bescheiden: man gebe sich eben natürlich, ohne Zwang.

Die Dauer eines Besuches sei auf jeden Fall nur sehr kurz; eine bestimmte Zeit kann natürlich nicht angegeben werden, doch dürften zehn Minuten das äußerste sein; wird man aufgefordert, länger zu bleiben, so folge man dieser Einladung, um aber höchstens noch weitere fünf Minuten da zu sitzen, und habe lieber irgend einen Vorwand zur Hand, man müsse zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein, habe sich verabredet, sei eingeladen u. s. w. (siehe den Abschnitt „Konventionelle Lügen“), als daß man die Geduld des Besuchten weiter in Anspruch nimmt. Erscheinen während des Besuches andre Personen, so erhebt man sich natürlich und setzt sich nie früher, als bis alle anwesenden Damen wieder Platz genommen haben; für gewöhnlich wird man die Gelegenheit ergreifen, sich während der Begrüßung der Neuangekommenen seinerseits zu empfehlen. Beim Weggehen verabschiedet man sich wieder zuerst von der Dame des Hauses, dann von etwa andern anwesenden Damen und Herren und zuletzt vom Hausherrn; sodann achtet man [20] darauf, seinen Hut nicht zu vergessen, geht gerade auf die Thür zu, wendet sich noch einmal um, verbeugt sich noch einmal und verläßt das Zimmer, ohne den Anwesenden den Rücken zuzudrehen. Das ist wieder eine schwierige Sache, wenn man nicht stolpern oder anstoßen will, gehört aber unerläßlich zum guten Ton.

Auf dem Vorsaal kleidet man sich möglichst schnell an und verläßt die Wohnung. Sich gleich vor der Thür eine Zigarre anzuzünden ist höchst unpassend, ebenso vielleicht schon auf der Treppe die Handschuhe auszuziehen oder es sich sonst auf irgend welche Weise bequem zu machen. Mancher hat die Gewohnheit, in solchen Fällen eine beliebige Redensart vor sich hin zu sagen, wie: „So, das wäre abgemacht“, oder „Das habe ich sehr hübsch gemacht“, oder „Dieses war der erste Streich“ u. a. m., das gewöhne man sich aber gründlich ab. Auch Treppen haben Ohren, und manchmal sind Vorsaalfenster an Orten, wo man sie gar nicht vermutet, und sich vor den Dienstboten des Hauses lächerlich zu machen, ist beinahe ebenso schlimm, als vor der Herrschaft.

Antrittsbesuche hat ein junger Mann außer bei den Familien, an welche er empfohlen ist, bei allen denjenigen Personen zu machen, mit welchen [21] er des öfteren zusammenkommt und von welchen er annehmen kann, daß sie an ihm ein gewisses Interesse nehmen. Ein Student, der die Universität bezieht, wird gut thun, sich zu erkundigen, ob es gebräuchlich ist, den akademischen Lehrern, deren Vorlesungen er belegt hat, seine Aufwartung zu machen; ein junger Kaufmann, der in ein Geschäft eintritt, wird nicht anstoßen, wenn er die älteren Gehilfen, besonders die verheirateten, an einem freien Tag aufsucht; dem jungen Beamten ist es so gut wie vorgeschrieben, wem allen er sich vorzustellen hat. Kommt jemand in selbständiger Stellung neu an einen Ort, so erfordert es der Anstand, daß er die Besitzer der gleichen Geschäfte, wie das, welches er übernommen hat, aufsucht; ist er verheiratet, so macht er den verheirateten neuen Fachgenossen den Besuch mit seiner Frau. Ein Privatdozent muß wenigstens sämtliche Kollegen seiner Fakultät, und wenn sie verheiratet sind, auch deren Damen und zwar dann, falls er selbst verheiratet ist, mit seiner Frau besuchen. Im allgemeinen mache man sich zur Regel, lieber einen Besuch zu viel zu machen, als einen zu unterlassen. Ersteres kann niemand übel nehmen, während eine Unterlassung oft lange Zeit nachgetragen und oft nie [22] wieder vergessen wird. Bei solchen Besuchen handelt es sich natürlich nur darum, daß man sich den Familien, mit denen man in Verkehr zu treten hat oder wünscht, vorstellt, daß man sich gegenseitig kennen lernt und Fühlung gewinnt, daß man dem andern Gelegenheit gibt, sich über seine Absichten, seine Pläne zu unterrichten, wenn man seinen Rat in Anspruch nehmen will u. s. w.

Antrittsbesuche haben stets etwas Förmliches an sich: sie sind ja aber nur eine Vorbereitung zum weiteren geselligen Verkehr, der zunächst in

Freundschaftlichen Besuchen seinen Ausdruck findet. Ist man mit einem Haus bekannt geworden, so erfordert es der gute Tom, daß man von Zeit zu Zeit seine Besuche wiederholt. In welchen Abschnitten dies zu geschehen hat, ist freilich wieder nur eine Sache des Taktes, doch könnten vielleicht fünf bis sechs Wochen eine maßgebende Zeit sein. Das muß man eben fühlen, ob man willkommen ist, wenn man wiederkommt, falls man nicht schon beim ersten Besuch dazu aufgefordert worden ist. Solche Besuche sind weniger feierlich und nehmen einen intimeren Charakter an. Ja, der besuchende Herr darf sich dann wohl auch bei öfterer Wiederholung erlauben, der Dame des Hauses [23] eine Blume, einen Veilchenstrauß oder dergleichen zu überreichen. Auf keinen Fall aber darf er sich das den Töchtern des Hauses gegenüber erlauben, wie er überhaupt in diesem Punkt die größte Zurückhaltung und Förmlichkeit zu beobachten hat. Tritt mit der Zeit ein freundschaftliches Verhältnis zwischen ihm und der besuchten Familie ein, desto günstiger für ihn; aber gleich von Anfang an „die Cour machen“ zu wollen, ist durchaus unhöflich und unpassend und bedeutet einen Mißbrauch des Vertrauens, welches man in ihn gesetzt hat. Weiß man, daß es die Dame des Hauses liebt, wenn man, in der Dämmerstunde z. B., oder sonst irgendwie zu einem „gemütlichen Plauderstündchen“ zu ihr kommt, so thue man dies ohne Bedenken; aus der Aufnahme wird man schon selbst merken, ob man öfters kommen darf oder seine Besuche mehr einschränken muß.

Zu den Höflichkeitsbesuchen sind auch die sogenannten Quittungsbesuche zu rechnen, die unerläßlich sind, einige Zeit nach einer Einladung, gleichgültig ob man derselben gefolgt ist oder nicht. Man unterlasse solche Besuche nie und schiebe sie nicht länger als höchstens vierzehn Tage auf. Hat man durch irgend einen [24] Zufall oder sonst irgendwie das Datum eines Geburtstages oder sonst einer feierlichen Gelegenheit in Erfahrung gebracht, so benutze man den Tag zu einem Besuch, um seine Glückwünsche auszusprechen; ob man einer Dame dabei ein Bouquet überreichen darf, muß einem das eigne Gefühl sagen, nur bedenke man stets, daß es nicht das Bouquet selber ist, sondern die gute Absicht, welche den Ausschlag gibt, und daß ein junger Mann z. B. viel besser thut, wenige, aber tadellose Rosen oder sonstige Blumen mitzubringen, als ein kostbares Bouquet, von dem man doch weiß, daß er dasselbe nicht aus seiner eignen Kasse erwerben konnte. Überhaupt betrachte man alle solche Kundgebungen nicht als ein Geschenk, sondern als eine Aufmerksamkeit, die man dem andern erweisen will. Merkt man anderseits aber, wenn man einen Besuch machen will, daß irgend etwas Außergewöhnliches vorgeht, daß jemand erwartet wird, daß in der betreffenden Familie vielleicht eine Gesellschaft ist oder dergleichen, so vermeide man überhaupt zu klingeln; hat man dies aber schon gethan, so gebe man nur eine Karte ab mit der Erklärung, man wolle nicht stören oder werde sich erlauben, in den nächsten Tagen wiederzukommen.

[25] Standesbesuche könnte man am besten solche Besuche nennen, die weder dem Besuchenden noch dem Besuchten Freude machen und lediglich eine hergebrachte Höflichkeitsform sind. Der Beamte hat seinem Chef von Zeit zu Zeit seine Aufwartung zu machen, zum mindesten an dessen Geburtstag oder zum Neuen Jahr oder bei ähnlichen Gelegenheiten, der Offizier muß in der Familie seines Vorgesetzten Besuch machen, der junge Kaufmann hat seinen Dienstherrn von Zeit zu Zeit zu besuchen, wenn es hergebracht ist; das sind aber alles so feststehende Gebräuche, die in jedem Verhältnis anders sind, daß man sich, neu in irgend eine Stellung gekommen, eben nach dem Herkömmlichen erkundigen muß, wenn man nicht anstoßen will; allgemeines kann darüber nicht gesagt werden.

Brautbesuche haben im Grund den Zweck, daß der Bräutigam seinen Bekannten seine Braut, diese den ihrigen ihren Bräutigam vorstellen kann. Natürlich erstrecken sich dieselben nur auf Familien, die aufgesucht werden. Zu solchen Besuchen holt der Bräutigam die Braut im Wagen ab. Gewöhnlich wird ein Diener, der die Liste aller der zu besuchenden Personen bekommt, mitgenommen und gibt in den betreffenden Häusern [26] die Karten des Brautpaares ab. Ist ein derartiger Besuch, wie es wohl meistens der Fall sein wird, nur eine zu erfüllende Höflichkeit, so wird er überhaupt nicht angenommen, das Brautpaar bleibt ruhig in seinem Wagen sitzen und fährt, froh, einer weiteren Pflicht genügt zu haben, zur nächsten Adresse. Werden die Besuchenden aber angenommen, so versteht es sich von selbst, daß sie nur ganz kurze Zeit bleiben. Von einer weiteren Vorbereitung für solche Besuche kann natürlich nicht die Rede sein, es sind eben hergebrachte Phrasen, die man austauscht, nur braucht man sich kein Gewissen daraus zu machen, an allen Orten immer wieder dasselbe zu sagen; diejenigen, zu denen man spricht, sind ja immer wieder andre Personen. Am besten thut man, sich geradezu einige Redensarten zurechtzulegen, mit denen man am bequemsten über die Augenblicke der Verlegenheit hinauskommt, die doch in den meisten Fällen eintreten werden. Bei solchen Besuchen ist der Herr stets im Frack.

Bei Trauerbesuchen vermeide man möglichst im Gespräch, auf den Grund des Besuches zu kommen. Die Leidtragenden haben doch wohl selbst meistens nur den einen Gedanken an ihren Verlust, warum sollte man dann dieses Gedenken [27] auch noch auffrischen und aufs neue anregen? Vielen Leuten freilich ist es ein Bedürfnis, sich auszusprechen, dann muß man natürlich darauf eingehen und sich erzählen lassen; doch bedenke man immer, daß bei einer solchen Gelegenheit schon so viele salbungsvolle Reden geredet worden sind und daß die Betreffenden schon so oft dasselbe haben hören müssen, daß man wohlthun wird, wenn man irgend einen Punkt berührt, von dem man annehmen kann, daß er dem andern angenehm ist, z. B. die Erinnerung an ein persönliches Zusammentreffen mit dem Verstorbenen, die Erzählung eines schönen Zuges aus seinem Leben, einer edlen That, die den Angehörigen noch unbekannt ist, oder dergleichen.

Überhaupt glaube man nur nicht, daß man den Grund seines Besuches bei allen besonderen oder festlichen Gelegenheiten noch besonders angeben müsse; was oben von den Visitenkarten gesagt ist, das gilt auch von den Besuchen selbst. Wenn man erst diese Überzeugung hat, so wird es einem oft viel leichter werden, einen Besuch zu machen, als wenn man stundenlang über eine recht passende Anrede nachsinnt und dann womöglich, zur Erheiterung aller Anwesenden, in seiner schönen Rede stecken [28] bleibt. Wer am Tage der silbernen Hochzeit kommt, von dem kann man wohl mit Recht annehmen, daß er gratulieren wolle; wer kurze Zeit vor einem Ball kommt, den man zu geben beabsichtigt, von dem weiß man, daß er eingeladen sein möchte und daß er auf Anregung irgend eines Bekannten kommt, dem man geklagt hat, daß man nicht genug Tänzer hat u. s. w.

Ebenso aber, wie auf das Besuchemachen, sollte man sich auch darauf vorbereiten, Besuche zu empfangen. Dies kann sich allerdings zur auf Familien, die gesellschaftlichen Verkehr pflegen, beziehen; bei einzelnen Herren, welche ja nur Herrenbesuch empfangen, ist dies nicht so umständlich, doch haben auch sie Sorge zu tragen, daß die Dienstleute in ordentlicher Weise unterrichtet seien. Für gewöhnlich wird in erster Linie die Dame des Hauses den Besuch annehmen und ihrerseits erst den Gatten davon benachrichtigen lassen, wenn sie es für nötig findet, daß derselbe von seiner Arbeit abberufen werde. Das ist selbstverständlich bei gleich- oder höher stehenden Personen, jüngere Leute empfängt sie allein. Sie muß daher, besonders an Sonntagen, sonst aber auch, wenn sie überhaupt zur Besuchszeit zu Hause ist, eingerichtet sein, zu empfangen und [29] die Besuchenden nicht zu lange warten zu lassen. Das Mädchen oder der Diener seien unterrichtet, was sie auf Anfragen zu sagen haben, denn es macht immer einen sehr schlechten Eindruck, wenn der Besuch eine lange Weile auf dem Vorsaal stehen muß, um dann, nachdem das Mädchen durch alle Zimmer geeilt ist, eine ganze Reihe Thüren zugeschlagen hat, zu erfahren, daß Frau Soundso doch nicht zu Hause ist. Noch schlimmer freilich ist es, wenn man drinnen im Zimmer gar sprechen hört, oder wenn man, ehe man noch geklingelt hat, schon allerlei Flüstern auf dem Vorsaal, Hinundherlaufen u. s. w. vernommen hat und dann doch endlich nicht angenommen wird. Die Visitenkarten werden auf einem silbernen oder japanischen Tablett in Empfang genommen, was ein Grund mehr ist, stets nur reinliche Visitenkarten abzugeben, da etwaige Flecke dann durchaus nicht erst von dem Mädchen darauf gebracht worden sein können. Wie die Herrin des Hauses, so müssen aber auch die Dienstleute zur Besuchszeit danach angezogen sein und dürfen nicht im Küchenkostüm oder ohne weiße Schürze oder gar noch nicht ordentlich angezogen und unfrisiert erscheinen.

Bei einer Ablehnung des Besuches braucht kein weiterer Grund angegeben zu werden, es [30] genügt, wenn gesagt wird, daß man bedauert, daß Frau Soundso nicht zu sprechen sei. Ist die Dame wirklich nicht zu Hause, so kann auch dies mit dem Ausdruck des Bedauerns gesagt werden. Empfängt man aber einen Besuch, so ist es Pflicht des Hausherrn oder der Hausfrau, dem Fremden nach Möglichkeit entgegen zu kommen und ihm seine schwere Aufgabe, als welche er vielleicht seinen Besuch empfindet, nach Kräften zu erleichtern. Allerdings ist dies nicht jedem gegeben, doch mit ein wenig Freundlichkeit nur kann man den zu Schüchternen leicht zum Reden bringen und selbst mit dem Schweigsamsten eine Unterhaltung anfangen; man muß nur etwas auf die Interessen des andern einzugehen sich bemühen und seine gute Absicht für die That nehmen. Bemerkt man die Verlegenheit eines andern, der vielleicht unerwartet in eine große Gratulationsgesellschaft hineinplatzt, so kann man ihm leicht durch eine scherzhafte Redensart, wie „das ist hübsch, daß auch Sie mir gratulieren wollen“ oder dergleichen helfen und erwirbt sich dessen innigsten Dank. Man nötige nie jemand, länger zu bleiben, wenn er fortgehen will. Bei einem ersten Besuch setze man nie jemand etwas vor, sei überhaupt damit stets sehr vorsichtig, [31] denn der gute Ton verlangt, daß der andre auch annimmt, was man ihm bietet, obgleich es ihm vielleicht gar nicht bekommt oder vom Arzt gar verboten ist, Wein zu trinken u. s. w.

In einem wohlgeordneten Haushalt hat das Mädchen oder der Diener stets zur Hand zu sein, wenn der Besuch das Zimmer verläßt, um beim Anziehen zu helfen und die Thür zu öffnen. Für alle Fälle muß die Hausfrau klingeln, um die Bedienung aufmerksam zu machen.

Oft wird es vorkommen, daß dem Besuchenden, wenn er nach der Dame des Hauses fragt, gesagt wird, daß dieselbe ausgegangen, der Herr aber zu Hause sei. Hat man nicht einen besonderen Grund, weshalb man den Besuch überhaupt macht, oder liegt einem nicht sonderlich daran, empfangen zu werden, so kann man ruhig zwei Karten abgeben, indem man sagt, man wolle Herrn Soundso nicht stören.

Der Fall, daß eine Dame allein ohne Begleitung einen einzelnen Herrn besucht, wird ja nur in den seltensten Fällen eintreten; der Grund muß dann schon ein sehr triftiger sein, da sie sonst den Herrn gebeten haben würde, sie aufzusuchen. Doch kann es sich bei einem solchen Besuch darum handeln, daß eine Mutter sich bei [32] dem Lehrer des Kindes über dasselbe[WS 1] erkundigen möchte, oder um die Bitte um eine Auskunft und dergleichen. Der betreffende Herr hat dann, wenn irgend möglich, zu vermeiden, allein mit der Dame zu bleiben und wenigstens die Thür nach einem Nebenzimmer, in welchem sich jemand befindet, zu öffnen, oder unter irgend welchem Vorwand, daß etwas aufgeräumt werden müsse, daß ein Buch zu suchen sei oder dergleichen, dem Mädchen, dem Diener Beschäftigung im Zimmer zu geben.

Es erübrigt noch, über Gegenbesuche ein Wort zu sagen. Im allgemeinen gilt als Regel, daß jeder Besuch erwidert werden muß. Besuche eines Herrn allein erwidert nur der Herr des Hauses, bei Damen, die selbst ein Haus machen, der Herr und die Dame, bei einzelnen Damen sonst nur die Dame. Jungen Herren, Studenten u. s. w. braucht der Hausherr in Amt und Würden, oder wenn er schon älter ist, keinen Gegenbesuch zu machen. Ist ein erwachsener Sohn vorhanden, so thut dieser es, oder ein jüngerer Verwandter im Namen des Hausherrn. Durch einen Besuch dieses selbst wird der junge Herr natürlich vielmehr geehrt, und sein Ansehen und – sein Kredit wird auch bei seinen Wirtsleuten [33] bedeutend gehoben werden. Ältere Damen können auch wohl einzelne Herren empfangen.

Wer zuerst einen Besuch zu machen hat, ist oft eine sehr schwierige Frage; einzelne Herren oder Damen besuchen Ehepaare stets zuerst; sonst aber kann man die Regel aufstellen, daß jüngere Ehepaare, auch wenn sie länger verheiratet sind, älteren Ehepaaren zuerst einen Besuch zu machen haben. Aber dabei sprechen ja so viele Punkte mit, die sich gar nicht vorhersehen lassen, daß es bei jedem Fall wieder anders sein kann; da muß eben der natürliche Takt entscheiden, nur erinnere man sich, daß man sich durch große Höflichkeit nie etwas vergibt, und daß der andre, dessen Pflicht es vielleicht gewesen wäre, zuerst zu kommen, durch solches Zuvorkommen vielmehr beschämt werden wird.

[34]
Gesellschaften.

Der gesellige Verkehr spielt im menschlichen Leben eine Hauptrolle, man kann sich dasselbe ohne ihn überhaupt kaum vorstellen; ja er ist geradezu ein Lebensbedürfnis. Daß es doch Menschen gibt, die wirklich ohne jeden Umgang jahrelang leben, das beweist noch gar nichts, denn abgesehen davon, was es für ein trauriges Dasein ist, das sie führen, so halten sie es in den meisten Fällen auf die Dauer doch nicht aus, und schließlich sind es eben Ausnahmen von der Regel, wie sie sich überall finden. Ein normaler Mensch aber hat das Bedürfnis, von Zeit zu Zeit mit andern zusammenzukommen, andre Gesichter zu sehen, als die ihn täglich umgebenden, und sich am Umgang mit andern von seiner gewohnten Beschäftigung zu erfrischen. Da liegt es natürlich am nächsten, daß er die Gesellschaft ihm gleichstehender aufsucht und mit ihnen verkehrt. Es liegt ihm am nächsten, meistens – weil es ihm am bequemsten ist. [35] Wer aber von der Geselligkeit nur das geringste mehr beansprucht, als eine gute Auskunft, seine Abende, seine freie Zeit bequem zu verbringen, der sollte bemüht sein, seine Gesellschaft sich so auszusuchen, daß er durch dieselbe angeregt wird, sich mit anderm zu beschäftigen, als den regelmäßigen Gedanken seines Berufes, und befreit wird aus dem Tretrad des täglichen Lebens. Wer von sich aus schon ein gewisses Streben hat, weiter um sich zu schauen, als ihm die vier Wände seines Zimmers gestatten, dem wird es nicht schwer fallen, sich seine passende Gesellschaft zu schaffen; diejenigen aber, denen dieses Streben fehlt, denen es zu viel Anstrengung macht, aus ihrer bequemen geistigen Gewohnheit herauszugehen, oder gar sich zu bemühen, selbst etwas zu einer Unterhaltung beizutragen, die weiter reicht, als Berufsgespräche oder Tagesereignisse oder sonstige Biertischunterhaltungen, sollten sich befleißigen, zu ihrem eignen Besten diese geistige und oft auch körperliche Trägheit zu überwinden, solange es noch Zeit ist, ehe sie in dauernden Stumpfsinn verfallen und jegliches Interesse an dem, was außer ihrem Beruf liegt, verlieren. In den meisten Fällen ist es, wie gesagt, die dem Menschen innewohnende Trägheit, die ihn [36] oft überhaupt wohl kaum verstehen läßt, daß er sich um einer Erholung willen gar noch anstrengen, daß er sich, um sich geistig auszuruhen, gar noch bemühen soll.

Und ist es einem solchen endlich doch gelungen, sich von seinem „gemütlichen“ Umgang loszusagen, so ist deshalb noch immer keine Gewähr gegeben, daß er nun auch gleich die Geselligkeit findet, die ihm, anfänglich vielleicht gegen seinen Willen, von Nutzen ist; da gibt es noch eine andre Art des Verkehrs, die allerdings nicht die Unzuträglichkeiten der Bierbankgesellschaft, wie sie wohl typisch genannt werden könnte, mit sich bringt, die aber doch immer nur eine Forderung der Bequemlichkeit und des Bestrebens, sich nicht anzustrengen, ist. Das ist der Verkehr mit solchen, denen man, und sei es auch noch so gering, in der gesellschaftlichen Stellung oder geistig überlegen ist, und die deshalb immer zu einem hinaufsehen. Gegen die kann man sich herablassen, ihnen gegenüber braucht man sich, geistig natürlich, keinen Zwang aufzuerlegen, kurz, in ihrem Umgang spielt man, um einen volkstümlichen Ausdruck zu gebrauchen, die erste Geige. Wurde eben die Trägheit als dem Menschen innewohnend genannt, so ist dies nicht minder auch die Eitelkeit, [37] und wer erst bei dieser gepackt ist, der übersieht so viel andres, daß er sich selbst gar nicht einmal Rechenschaft über seinen Umgang gibt, ob er ihm auch zuträglich ist oder nicht, sondern aus eben seinem Wohlbehagen die Überzeugung entnimmt, dies sei seine passende und richtige Gesellschaft.

Aber einen wirklichen Vorteil für sein geistiges Leben würde der Betreffende auch hier nicht finden: der ergibt sich nur im Verkehr mit solchen Menschen, von denen man lernen kann, die einen anregen, die an einen selbst auch die Anforderung stellen, beizutragen zur Unterhaltung, die aber vor allem neue Momente in unser geistiges Leben bringen und uns dadurch aus unsrer gewohnten Sphäre herausführen. Nichts ist uns gefährlicher als die „unbedingte Ruh’“, und wie wir den wohlthätigen Einfluß einer körperlichen Ausspannung durch eine Erholungsreise oder dergleichen noch lange nachempfinden, so ist es auch mit der geistigen Erfrischung durch anregende und fördernde Unterhaltung.

Diese findet ihren Hauptausdruck in Einladungen und Gesellschaften, welcher Art sie auch immer sein mögen; in ihnen aber ist die vollendetste Erziehung und die Beherrschung des guten Tones vor allem nötig, da hier jeder durch seine [38] eigne Persönlichkeit wirken und für sich, körperlich und geistig einstehen muß. Natürlich wird sich die ganze Art des geselligen Verkehrs nach den herrschenden Verhältnissen richten müssen und daher überall verschieden sein; doch bleiben sich die Grundzüge überall gleich, so daß für diese ganz feststehende Regeln aufgestellt werden können.

Fast noch mehr aber, als für einen einzelnen, der doch verhältnismäßig immer noch, schon durch die Art seines Lebens, viel mit der äußeren Welt in Berührung kommt, ist gesellschaftlicher Umgang für verheiratete Leute, für Familien von Notwendigkeit. Gerade durch den immerwährenden, regelmäßigen Verkehr der Ehegatten miteinander liegt es nahe, daß bald eine gewisse Eintönigkeit entsteht, die selbst bei den größten Bemühungen, durch geistige Unterhaltung, anregende Lektüre u. s. w. neues in das alltägliche Leben zu bringen, doch nie ganz unterdrückt werden wird können. Es bedarf einer andern Art der Anregung, und die ist der gesellige Verkehr, der sich wieder in erster Linie in Gesellschaften und Einladungen äußert.

Für gewöhnlich werden Gesellschaften nur von Familien oder solchen Personen gegeben werden, die ihr eignes Heim und ihre eigne [39] Wirtschaft haben und darauf eingerichtet sind, Gäste bei sich zu sehen. Will eine Familie Geselligkeit durch Gesellschaften pflegen, so muß in erster Linie schon bei der Wahl der Wohnung Rücksicht darauf genommen werden, denn nichts ist peinlicher für den Gast als die Empfindung, daß die Wirte, um nur recht viele Personen bei sich sehen zu können, das Logis womöglich halb ausgeräumt haben. Unwillkürlich wird einem dann der Gedanke kommen, wie ungemütlich es in den andern, nicht zur Gesellschaft benutzten Räumen aussehen, wie umständlich es für die Wirte sein mag, nach Weggang des letzten Gastes erst alles wieder in die gewohnte Ordnung zu bringen, und eine behagliche Stimmung wird selten eintreten. Ganz anders ist es da in freundlichen Räumen, von denen man auf den ersten Blick bemerkt, daß sie zur Pflege der Geselligkeit da sind, traulich mutet den Besucher ein wenn auch vielleicht nur wenig stilvoll eingerichtetes Speisezimmer, ein hell erleuchteter Salon an: da ist die Unterhaltung schnell im Gang, und der Verkehr der Gäste leidet nicht unter dem Ausnahmezustand, an den man immer erinnert wird, wenn man die ausgeräumten Zimmer erblickt, oder gar an den Wänden sieht, wie dort [40] sonst allerlei Möbel stehen, die nur für heute den Eindringlingen weichen mußten. Wer nicht den Platz dazu hat, ohne umständliche Veränderungen in der Wohnung eine größere Anzahl von Gästen einzuladen, der sollte es auch nicht thun. Das Geheimnis, es seinen Gästen angenehm und gemütlich zu machen, beruht, natürlich neben anderm, auch darin, daß die Räumlichkeiten groß genug und zweckentsprechend eingerichtet seien. Außerdem gehört aber auch eine genügende Beleuchtung dazu. Halbdunkle Zimmer machen, besonders beim Essen, einen unwirtlichen Eindruck, während viele Lampen und Lichter selbst die nüchternste Wohnung freundlich und gastlich erscheinen lassen. Auch beim Mittagessen soll man darauf Bedacht nehmen, daß die Tafel genügend erleuchtet sei, und lieber schon früher durch Zumachen der Vorhänge den scheidenden Tag ganz abschließen und Lampen anzünden, als nur den geringsten Schatten auf dem Speisetisch dulden.

Vor allem aber kommt bei jeder Gesellschaft in Betracht, wen man einlädt, und zu was für einer Veranstaltung man die Betreffenden auffordert. Da wird es sich bei jungen Eheleuten, bei Familien, die neu an einen Ort gekommen sind, naturgemäß anfänglich nur um Erwiderungen [41] der Einladungen handeln, die sie erhielten, nachdem sie sich durch Besuche überall eingeführt hatten. Aber auch hier muß ein gewisser Unterschied gemacht werden.

Die feierlichste Art der Gesellschaft ist das Mittagessen. Zu diesem werden daher alle diejenigen Personen aufzufordern sein, die man in besonderer Weise zu ehren beabsichtigt, und denen man die größten Rücksichten schuldig ist. Es würden dies also etwaige Vorgesetzte des Mannes oder ältere Personen sein, mit denen man aller Voraussicht nach doch nie in einen intimeren Verkehr kommen wird, mit denen man aber doch immerhin, und sei es auch nur aus praktischen Gründen, einen gewissen Verkehr pflegen will oder muß. Kann man diese nicht alle zusammen einladen, so muß man nach einer feststehenden Rangordnung verfahren und die vornehmsten Gäste zur ersten, die nächstfolgenden zur zweiten Gesellschaft u. s. f. auffordern. Außer dieser Überlegung muß man aber auch die Liste der eingeladenen Gäste daraufhin prüfen, ob dieselben zusammenpassen, und das ist oft viel schwerer, als man meint, besonders für solche, welche die näheren Verhältnisse an einem Ort noch nicht kennen. Da gibt es so viele, oft genug kleinliche Gründe, weshalb einzelne Personen [42] nicht zusammen eingeladen werden dürfen, da sind so viele nichtige Eifersüchteleien, denen aber doch Rechnung getragen werden muß, daß man am besten thut, wenn man vermeiden will, bei einem ersten Empfang vielleicht schon anzustoßen, irgend einen näheren Bekannten zu Rate zu ziehen, der bei der Zusammenstellung der Einladungen hilft. Es liegt schon in der Natur der Sache, daß ein Mittagessen weniger Gelegenheit zu einer intimeren Unterhaltung gibt, da man gewöhnlich, wenn von Tische aufgestanden worden ist, nur noch kurze Zeit verweilt, ja oft sich nicht einmal mehr richtig setzt und eine Konversation beginnt. Zu einer solchen bietet sich viel bessere Gelegenheit bei Abendgesellschaften. Auch diese können natürlich mehr oder weniger feierlich sein, tragen aber im allgemeinen einen freundschaftlicheren Charakter. Man weiß im voraus, daß es da nicht nur, wie für gewöhnlich bei einem Mittagessen bei der Unterhaltung bei Tisch, und wenige Zeit vor- und nachher sein Bewenden haben wird, sondern daß man nach dem Essen noch eine Weile beisammen bleiben soll, um sich kennen zu lernen, sich zu unterhalten, vielleicht einige künstlerische Vorträge anzuhören u. s. w. Man könnte den Unterschied [43] zwischen Mittag- und Abendessen am besten so kennzeichnen, daß beim Mittagessen das Essen, gewürzt durch gute Unterhaltung, der Hauptzweck ist, während bei der Abendgesellschaft die gute Unterhaltung, gewürzt durch Speise und Trank, beabsichtigt ist.

Je nach der größeren oder geringeren Feierlichkeit der beabsichtigten Gesellschaft haben sich die Einladungen zu derselben zu richten. Zu einem größeren Mittagessen oder einer großen Abendgesellschaft wird man in der Regel nicht kürzer als 10–14 Tage vorher einladen. Daraus ersehen dann schon die betreffenden Gäste, worum es sich handelt; zu einer intimeren Gesellschaft wird man vielleicht 6–8 Tage vorher bitten, während man zu einem kleinen „einfachen“ Zusammensein nur wenige Tage vorher auffordert. Dies richtet sich freilich immer nach den ortsüblichen Gebräuchen, jedenfalls aber wird man gut thun, seine Einladungen, besonders zur Zeit des hauptsächlichen Gesellschaftslebens, also im Winter, nach Weihnachten, möglichst bald ergehen zu lassen. Und selbst dann ist es oft schwer, den richtigen Tag für seine Gesellschaft zu wählen, wenn man darauf rechnen will, möglichst wenig Absagen zu erhalten. Auch [44] hierbei ist der Rat eines guten Bekannten, der in den gesellschaftlichen Kreisen der Stadt verkehrt, und der weiß, ob schon von anderer Seite für den betreffenden Tag Veranstaltungen geplant, Aufforderungen ergangen sind, von Nutzen. Zu den Einladungen bedient man sich am besten gedruckter Karten, wie sie in jeder Papierhandlung an größeren Orten zu haben sind, und die man nur auszufüllen braucht; für weniger feierliche Gelegenheiten genügt eine Visitenkarte, auf welche die Aufforderung geschrieben wird. Zu ganz großen Gesellschaften läßt man wohl auch besondere Einladungen drucken; mündliche Einladungen sind insofern nicht praktisch, als der eine oder der andre, wenn auch nicht diese selbst, doch vielleicht den Tag und die Stunde vergißt oder verwechselt. Auf alle Fälle lasse man dann nach der gesprochenen eine schriftliche Einladung folgen. Der gute Ton gebietet, daß man auf Einladungen sofort zu antworten hat. Ganz abgesehen davon, daß es unhöflich wäre, für eine Freundlichkeit, die einem dadurch erwiesen werden soll, nicht sofort zu danken, so muß man schon aus Rücksicht auf die Wirte, die baldmöglichst wissen wollen, wer alles zu ihrer Gesellschaft kommt, um sich danach einzurichten, [45] seine Willensmeinung umgehend kund thun. Nichts ist unangenehmer für eine Hausfrau, als wenn sie von Post zu Post warten muß, indes die Zeit vergeht, und es womöglich zu spät wird, an Stelle eines Absagenden noch jemand andern einzuladen. Um dieser Unannehmlichkeit zu entgehen und es den Betreffenden möglichst nahe zu legen, findet man wohl hier und da die Gewohnheit, Einladungen auf Postkarten mit adressierter Antwort zu versenden; wer dann nicht sofort zu- oder absagt, bei dem hilft überhaupt nichts mehr, und man thut am besten, wenn man die Einladung durch das Mädchen oder den Diener schickt und auf Antwort warten, oder dieselbe nach kurzer Zeit holen läßt.

Kann trotz der Art der Einladung dennoch ein Zweifel entstehen, in was für Anzug die Herren erscheinen sollen, so verstößt man nicht, wenn man dies gleich mitteilt. Man muß das schon aus Rücksicht auf seine Gäste thun, von denen sicher viele unangenehm berührt sind, wenn sie, je nachdem, feierlicher oder weniger feierlich gekleidet, wie die andern Eingeladenen erscheinen.

Was die Zeit der Einladung anlangt, so hat man sich nach der Gepflogenheit des betreffenden [46] Ortes zu richten. Mittagessen sind, je später, je feierlicher. Früher als um 2 Uhr und später als um 7 Uhr wird man wohl kaum ein solches ansetzen. Man muß eben auch da Rücksichten auf die Gewohnheiten der Gäste nehmen. Schließen die kaufmännischen Geschäfte wie z. B. in den großen norddeutschen Handelsstädten erst gegen 5 Uhr, so wäre es rücksichtslos, wenn man die Betreffenden zwingen wollte, wegen einer Einladung ihren Geschäftsschluß zu versäumen, andernorts muß das Mittagessen so gelegt werden, daß mancher noch nach dessen Beendigung eine Zeitlang in sein Geschäft gehen kann u. s. w. Abendgesellschaften beginnen gewöhnlich um 8 Uhr, auch hat man hier Rücksicht auf Konzerte, Theater u. s. w. zu nehmen; finden regelmäßige derartige Veranstaltungen statt, von denen man weiß, daß die gute Gesellschaft an ihnen teil nimmt, wie dies z. B. bei den Gewandhauskonzerten in Leipzig der Fall ist, so läßt man an solchen Tagen Gesellschaften erst nach Schluß derselben beginnen. Auf einzelne, wenige Personen kann natürlich nicht Rücksicht genommen werden.

Ist man sich nun über die eingeladenen Personen im klaren, hat man alle Antworten [47] erhalten, Zusagen und Ablehnungen, hat man auch für etwaigen Ersatz für letztere gesorgt, so handelt es sich dann für die Wirte um Aufstellung der Sitzordnung bei Tische, die oft nur unter schwerer Mühe zu stande gebracht werden kann. Bei Herrengesellschaften, denen nur als einzige Dame die Frau des Hauses beiwohnt, ist es nicht so nötig, da diese dann stets denjenigen Herrn, dem die größte Ehrung gebührt, aufzufordern hat, ihr den Arm zu geben und sie zu Tisch zu führen, bei Gesellschaften mit Damen aber muß stets vorher bestimmt werden, welcher Herr und welche Dame Nachbarn sein sollen, welche Paare nebeneinander sitzen u. s. w. Vor allem hat man dafür zu sorgen, daß überall „bunte Reihe“ herrscht, das heißt abwechselnd Herr und Dame nebeneinander sitzen. Die vornehmsten Plätze sind die neben der Hausfrau und dem Hausherrn. Diese werden daher auch den am meisten zu ehrenden Personen zu bestimmen sein. Brautpaare setzt man stets nebeneinander. Am besten thut man, sich zum Zusammenstellen der Sitzordnung die Namen sämtlicher Gäste auf kleine Zettel zu schreiben, um sie vor sich auf dem Tisch ordnen zu können. Oft hängt das Gelingen einer ganzen Gesellschaft von einer [48] guten Tischordnung ab. Nach welchen Prinzipien dabei zu verfahren ist, kann freilich nicht im einzelnen angegeben werden, das hängt von der Individualität der Gäste ab, doch versteht es sich von selbst, daß man einer würdigen alten Dame nicht einen jungen, kaum in die Welt getretenen Studenten zum Nachbarn gibt, daß man neben einen ernsten Professor der Theologie keine, etwas freier denkende Künstlerin setzt – wenn man solche entgegenstehende Elemente überhaupt zusammen einlädt – u. s. w. Andre ältere Herren wird es vielleicht wieder erfreuen, neben einem frischen jungen Mädchen zu sitzen, ein junger Beamter wird für die Gelegenheit dankbar sein, der Frau seines Vorgesetzten alle Höflichkeit erweisen zu können, die litterarisch hochgebildete Dame wird sich in der Gesellschaft des jungen Schriftstellers gut gefallen u. s. w. Nur vermeide man, Personen nebeneinander zu bringen, von denen man weiß, daß sie sich unsympathisch sind, und daß sie sich, falls sie es wirklich thun, nur gezwungen unterhalten, oder die gar während des ganzen Essens kein Wort miteinander reden: eine solche stille Gegend an einem Tisch berührt oft die ganze Gesellschaft peinlich wie ein kalter Hauch und kann die angeregteste [49] Unterhaltung zerstören. Es ist neuerdings Gebrauch geworden, auf dem Vorsaal oder in der Garderobe eine Karte für jeden Herrn hinzulegen mit der Angabe, wen man ihn bittet zu Tisch zu führen. Auf der gedeckten Tafel liegen dann nochmals Karten mit den Namen der einzelnen Personen. Bei großen Gesellschaften wird der Hausherr gut thun, den Herren, bevor zu Tisch gegangen wird, möglichst zu beschreiben, in welcher Gegend sie sitzen, damit später ein langes Suchen und Herumwandern um den Speisetisch vermieden wird.

Es sei hier gleich noch auf einen Punkt aufmerksam gemacht, der, so unwichtig er erscheinen mag, doch für viele der Gegenstand großer Sorge werden kann. Es ist dies der Aberglaube bei Tisch. Obgleich die meisten Menschen geradezu eine Beleidigung darin sehen würden, wenn man sie nicht für „aufgeklärt“ hielte, so sind doch unter diesen „Meisten“ noch sehr viele, denen dreizehn Personen an einem Tisch sehr unangenehm sind, denn „einer von diesen dreizehn muß sterben!“ Taktvolle Wirte werden daher dieser Eigentümlichkeit mancher Leute Rechnung tragen und vermeiden, die ominöse Zahl von Personen an einem Tisch zu vereinigen, ja, wenn [50] sich infolge einer unerwarteten Absage doch nur dreizehn zusammenfinden würden, selbst noch in letzter Stunde einen nahen Bekannten, von dem man diese Gefälligkeit fordern kann, bitten, als vierzehnter Mann der Gesellschaft beizuwohnen, oder ein jüngeres Familienglied, ein Kind an der Tafel teilnehmen lassen. Wenn auch die Annahme, daß das Sitzen an einer Ecke zur Folge habe, daß Unverheiratete noch sieben Jahre warten müßten, bis sie in den Hafen der Ehe einlaufen könnten, nach andren, daß sie eine „böse Schwiegermutter“ bekämen, immerhin einen etwas lächerlichen Anstrich hat, so sollte man doch aus Rücksicht gegen seine Gäste auch dieses schwarze Verhängnis heraufzubeschwören vermeiden.

Die erste Pflicht des Hausherrn und der Hausfrau ist der Empfang der Gäste; sie haben daher vor allem pünktlich am Platz zu sein. Aber auch die eingeladenen Gäste sollen sich der Pünktlichkeit befleißigen. Es gehört durchaus nicht mehr zum guten Ton, wie es früher war, womöglich eine halbe Stunde später zu erscheinen, als eingeladen ist, und jeder sollte bestrebt sein, diese gute Gewohnheit des pünktlichen Erscheinens, die wohl auch eine Folge des so sehr in unser Volk eingedrungenen Militarismus ist, zu fördern. [51] Bei Mittagessen ist Zuspätkommen eine ganz besondere Rücksichtslosigkeit. Gewöhnlich sind es leider die Damen, die auf sich warten lassen und nicht nur bei Gesellschaften und Einladungen, sondern auch im sonstigen Leben; möchte doch dieser Mahnruf ein klein wenig dazu beitragen, bei ihnen auch für diese militärische Eigenschaft, neben so vielen andern, wegen deren manch eine dem bunten Rock vor dem einfachen Frack den Vorzug gibt, Interesse zu erwecken. Es bedarf ja nur einer kleinen Mühe, sich so einzurichten, daß man beizeiten fertig ist, und wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, so wird man als Gast und als Wirt die Annehmlichkeit doppelt empfinden. Zu Beginn der Gesellschaft sollten sich die Wirte möglichst in der Nähe des Eingangs in dem Empfangszimmer aufhalten, damit etwa kommende Gäste sie gleich begrüßen können und nicht erst lange suchen müssen.

Außer dem Empfang der Eingeladenen haben der Hausherr und die Hausfrau aber auch die Aufgabe, etwa noch unbekannte Personen einander vorzustellen; besonders hat dies bei Damen zu geschehen, denen sämtliche Herren und Damen genannt werden müssen. Andern Herren stellen sich Herren selber vor. Sind sie einer Dame noch [52] nicht präsentiert, so bitten sie einen beliebigen Herrn, von dem sie sehen, daß er dieselbe kennt, ihn vorzustellen. Ist auch hierzu keine Gelegenheit, so muß der Herr die Dame um die Erlaubnis bitten, sich selbst vorstellen zu dürfen. Zwei unbekannte Herren können schließlich einander vorstellen, indem der eine zuerst den andern der Dame nennt und dieser nun, seinerseits bekannt, seinen Freund vorstellt. Unter gewöhnlichen Verhältnissen wird ein Herr stets der Dame vorgestellt und nicht umgedreht. Wenn es auch nicht überall Sitte ist, so sollte der Vorstellende doch stets auch zu zweit den Namen der Dame nennen, denn oft genug wird der Herr nicht einmal wissen, mit wem er bekannt geworden ist. Anders ist es bei älteren oder hochgestellten Herren, denen man jüngere Personen, gleichgültig ob Herr oder Dame, vorstellt. Gleichstehende Personen „stellt man einander nicht vor“, sondern „macht sie miteinander bekannt“. Beim Vorstellen wird der Name des Vorgestellten stets zuerst genannt. Da nun aber ein „Bekanntmachen“ miteinander doch im Grund den Zweck hat, daß die Betreffenden auch wirklich miteinander bekannt werden, so ist es nötig, den Namen deutlich auszusprechen, was allerdings [53] auch wieder gar nicht Mode ist, den Verkehr aber sehr erleichtert. Will man noch mehr thun, so muß der, welcher jemand vorstellt, wenn möglich irgend eine erklärende Eigenschaft des bisher Unbekannten erwähnen und denselben nicht nur als Herrn A., B. oder C. vorstellen, sondern als Herrn A., der eben von einer großen Orientreise zurückgekehrt ist, oder Herrn B. den Verfasser des bekannten Buches, von dem Sie ja schon gehört haben, oder Herrn C., der seit einem Semester hier studiert u. s. w. Kurz er muß sich bemühen, gewisse Anhaltspunkte für eine zu beginnende Konversation zu geben.

Eine weitere Sorge der Wirte muß neben dem allgemeinen Vorstellen, bei welchem ihnen nähere Bekannte gewiß gern helfen werden, darin beruhen, daß von Anfang an gute Unterhaltung entsteht; sie müssen daher nach Möglichkeit solche Personen, von denen sie glauben, daß sie gemeinsame Interessen haben, besonders zusammenbringen. Wie bei der Tischordnung soll man sich auch hier schon im voraus überlegen, wer wohl gut zusammen paßte, oder wem ein besonderer Gefallen geschehen würde, einen andern näher kennen zu lernen. Jüngere Leute kann man daher gleich darauf aufmerksam machen, [54] was sie mit andern, älteren Personen reden sollen, und wäre es nur, daß man sie Herrn X. vorstellte, „den es jedenfalls interessieren wird, wenn Sie ihm von Ihrer neuen chemischen Entdeckung, von Ihrer letzten Reise erzählen“ u. ä. Pflicht der Gäste aber ist es, nicht alle geistigen Kosten der Unterhaltung und der Gesellschaft überhaupt, dem Wirt zu überlassen. Sieht man, daß jemand allein dasteht, so ziehe man ihn durch irgend eine Frage mit ins Gespräch; tritt ein Dritter in dem Bestreben, eben nicht mehr allein dazustehen, zu zwei sich Unterhaltenden, so unterrichte man ihn in kurzen Worten, wovon man redet; hört man, daß irgendwo ein Zweifel über eine Frage herrscht, so biete man sich bescheiden zur Auskunftserteilung an; jedenfalls aber vermeide man, sich allzulange mit einer Person zu unterhalten, oder etwa intimere Gespräche zu führen, die nicht für andre Personen bestimmt sind, so daß man sogar plötzlich abbrechen muß, wenn ein Dritter hinzutritt. Größere Gesellschaften sind nicht dafür da, daß man schwerere Stoffe bespricht, dazu ist im kleinen Kreis Gelegenheit; man braucht es daher auch nicht so genau zu nehmen, wenn man irgend eine Unrichtigkeit, eine falsche Behauptung oder [55] dergleichen hört. Daß man ihm widerspreche, wird nie jemand gern hören, darum unterlasse man es lieber, besonders wenn man doch von der Fruchtlosigkeit seines Unternehmens überzeugt ist. Gar zu streiten, oder andre zur Unterstützung herbeizurufen, um seine Meinung durchzusetzen, würde nur von sehr schlechter Erziehung zeugen, ja einen jungen Mann in der Gesellschaft unmöglich machen. Man bereite sich für eine Gesellschaft, wie auch schon bei Besuchen geraten worden ist, auf eine Anzahl Themata vor, die man beherrscht und von denen man glaubt, daß sie andre interessieren könnten. Jeder hat schon irgend etwas Außergewöhnliches erlebt, gesehen, wovon er erzählen kann; nur sei er mit der Wahl vorsichtig: der Kaufmann versuche nicht, beim Gelehrten Interesse zu erwecken für eine kluge Machination, mit der er die Konkurrenz aus dem Felde geschlagen hat, der Student erzähle keinem jungen Mädchen von seinen Mensuren oder seinen Kneipabenden u. s. w. Und merkt man dann etwa doch, daß man einen Stoff berührt hat, der dem andern unangenehm ist, so verlasse man denselben (den Stoff nämlich) so bald wie möglich, und wäre es auch mit einer noch so kühnen Wendung. Gewissermaßen aber [56] über der Unterhaltung der ganzen Gesellschaft sollen Wirt und Wirtin stehen, überall sollen sie Auge und Ohr haben, um fördernd oder hemmend einzugreifen, wo es nötig erscheint, „jedwedem sollen sie seine Kraft, die eigentümliche, hervorziehen und sie groß ziehen; sie lassen jeden ganz den bleiben, der er ist, und wachen immer nur, daß er’s immer sei am rechten Ort“, und müssen selbst noch dabei gute Gesellschafter sein und für die Unterhaltung aller sorgen.

Wird dann zu Tisch gegangen, so verabschiedet man sich durch eine Verbeugung von den Personen, mit denen man sich gerade unterhalten hat, um seiner Tischdame den Arm zu bieten; besser ist es, wenn man es schon vorher einzurichten gewußt hat, daß man in ihrer Nähe oder mit ihr in Unterhaltung ist. Ein schweres Verbrechen, was aber oft genug bei jungen, des Gesellschaftslebens ungewohnten Leuten vorkommt, ist es, nicht mehr genau zu wissen, wie die ihnen bestimmte Dame aussieht, die sie nur anfänglich, flüchtig, bei der Vorstellung erblickt haben. Für solche Fälle wird man gut thun, wenn man sich das Gesicht der Betreffenden nicht genau merken zu können glaubt, irgend einen besonderen Gegenstand an der Toilette oder an der Frisur der [57] Dame, eine auffallende Schleife, eine Blume im Haar im Gedächtnis zu behalten, an der man sie wiedererkennt. Die Dame aber sollte mit solch einem verlegenen Opfer der Gesellschaft nicht grausam sein und sich ihm so in den Weg stellen, daß er sie finden muß, oder vielleicht ihn auch anreden, wenn er gar keinen Ausweg mehr weiß.

Wenn von Tische wieder aufgestanden ist, erfordert es der Anstand, daß man sich, ebenso wie beim Hinsetzen, gegen seine beiden Nachbarn, sowie gegen sein Gegenüber verbeugt. Man bietet dann seiner Dame wieder den Arm, um sie aus dem Speisezimmer zu führen, und verbeugt sich dann, falls man nicht weiter mit ihr redet, noch einmal vor ihr. Trotzdem alle Bücher über den guten Ton in weiser Rede behaupten, daß es nicht Mode sei, einander nach dem Essen „Gesegnete Mahlzeit“ zu wünschen, so besteht doch diese Sitte überall und man wird durchaus nicht anstoßen, wenn man sich, im Salon wieder angekommen, vor der Herrin des Hauses stumm verbeugt, wenn man als Hausherr den älteren Damen eine Verbeugung macht u. s. w.

Es tritt nun wieder die Aufgabe an den Wirt heran, eine möglichst allgemeine Unterhaltung einzuleiten; dies wird am besten dadurch geschehen, [58] daß die ganze Gesellschaft zusammenbleibt, wenn auch vielleicht in mehreren Zimmern, anstatt daß, wie es leider vielfach Gewohnheit ist, die Herren in ein Rauchzimmer flüchten und die Damen ihrem Schicksal überlassen. Daß stets geraucht werden muß, ist ein Übel, das vorläufig noch nicht ausgerottet werden kann, darum müssen also Zigarren angeboten werden; wenn die Gesellschaftsräume aber nur halbwegs groß und luftig sind, und die Herren nur einigermaßen diskret rauchen, so wird der Tabakrauch nie so stark werden, daß er den Damen sonderlich unangenehm würde, und eine Unterhaltung zwischen Herren und Damen ist stets doch viel angeregter, als die bekannte Kränzchenunterhaltung der Damen untereinander. Daß die Gespräche der Herren, wenn sie unter sich sind, auch nicht immer allzu großartige und geistreiche Themata behandeln, soll damit nicht gesagt sein; angenehmer aber und interessanter wird die Unterhaltung stets sein, wenn die ganze Gesellschaft zusammen ist und bleibt. Je weniger steif es dann zugeht, um so besser ist es für die Gesamtheit. Dazu gehört, daß es gar nicht nötig ist, daß alle den ganzen Abend auf ihren Plätzen bleiben; je mehr man wechselt – und irgend ein Grund findet sich [59] immer dazu – je lebhafter wird das Gespräch werden, besonders wenn die Wirte durch gutes Beispiel vorangehen. Die Art unsrer modernen Zimmereinrichtung, alle Möbel möglichst unregelmäßig hinzustellen, überall kleine Etablissements einzurichten, die nur für wenige Personen passen, befördert dieses anmutige Durcheinander bestens. Nichts Schrecklicheres, als wenn im Hintergrund auf dem steiflehnigen Sofa die Ehrenhäupter der Damen hoch und schauerlich thronen und rings im Kreis die Gesellschaft wie angenagelt auf ihren Stühlen sitzt. Wie ein Wunder wirkt dann schon ein einziger angeschlagener Ton auf dem Klavier oder das Stimmen einer Geige im Nebenzimmer.

Jeder größeren Gesellschaft werden künstlerische Vorführungen einen besonderen Reiz verleihen. Es gehört heutzutage und besonders bei Damen geradezu zum guten Ton, irgend eine Kunst zu betreiben, von der man meint, daß ihre Bethätigung auch den Mitmenschen ein gewisses Wohlbehagen bereitet. Ob diese Annahme allerdings stets begründet ist, ob man sich in den meisten Fällen nicht vielleicht einer süßen, aber sehr egoistischen Täuschung hingibt, das zu ergründen ist hier nicht der Ort; es wird aber wohl [60] kaum eine größere Gesellschaft geben, in welcher nicht die eine oder andre junge Dame wäre, welche gern bereit ist, Klavier zu spielen oder zu singen, in welcher nicht ein Herr vorhanden ist, der sich gerne nötigen läßt, zu singen oder Klavier zu spielen. Ist die betreffende Person nun wirklich durch ihr Talent, ihre Fertigkeit, ihre Studien berechtigt, für irgend welche musikalische Produktion die Aufmerksamkeit der Anwesenden zu fordern, so wird dies gewiß – und wäre es nur schon als erwünschte Abwechselung – willkommen sein; ein wirklicher Künstler wird schon von selbst nichts vortragen, als was er wirklich vollendet vortragen kann, und man wird ihm gern zuhören; wenn aber dilettierende Damen und Herren den Drang in sich fühlen, ihr Können vor der Öffentlichkeit zu zeigen, so sollten sie vorher doppelte Vorsicht walten lassen und nicht die Geduld und die Aufmerksamkeit der andern auf eine zu schwere Probe stellen und sie zum Schluß noch zu einer Heuchelei zwingen, wie sie nun eben einmal der gute Ton vorschreibt, und die sie selbst, bei nur der geringsten Einsicht nicht für bare Münze nehmen können. Ist jemand aber seiner Sache sicher, so lasse er sich nicht erst lange nötigen, ja er biete [61] der Dame des Hauses vielleicht sogar an: wenn sie wünsche, wolle er ein paar Lieder singen oder sonstwie seine Kunst zeigen; man wird es ihm gewiß nicht als aufdringlich anrechnen, wenn er vielleicht einige Noten, seine Geige, sein Cello gleich zur Gesellschaft mitgebracht hat. Das einzige Schwierige ist nur, den passenden Zeitpunkt zu wählen, so z. B. nicht erst anzufangen, wenn sich einige schon zum Fortgehen rüsten, oder nicht zu beginnen, ehe die Gesellschaft nach Tisch sich wieder einigermaßen gesetzt hat, und dann spiele man nicht zu lange, oder solche Sachen, die vielleicht ein viel größeres künstlerisches Können zeigen, aber für die die Gesellschaft kein Verständnis hat und die sie langweilen, anstatt kleiner lustiger Stücke, wenn sie auch etwas trivial und unbedeutend sind. Die Gesellschaft aber ehre die Mühe des Vortragenden durch Aufmerksamkeit und Ruhe. Nicht nur für diesen ist es peinlich, heimliches Zischeln von irgend einer Ecke her zu hören oder das Aufziehen einer Uhr, oder in seinem Spiel durch das Klappern der Teller der servierenden Mädchen u. s. w. gestört zu werden, auch die andern Anwesenden können sich dem Genuß nicht ungestört hingeben, und es ist in jedem Fall eine Rücksichtslosigkeit [62] gegen den, der sein Bestes gibt, um die ganze Gesellschaft zu unterhalten.

Das Zeichen zum Aufbruch wird in der Regel durch die ältesten oder höchststehenden Personen gegeben. Wer vorher aus irgend einem Grund die Gesellschaft verlassen will, der vermeide es, einen allgemeinen Aufstand hervorzurufen; er verabschiede sich leise, unter Angabe seiner Gründe von der Herrin des Hauses und verschwinde unbemerkt; ja bei großer Gesellschaft wird man es ihm kaum übel nehmen, wenn er sich „französisch drückt“, d. h. sich entfernt, ohne sich überhaupt zu verabschieden. Wenn einmal aufgebrochen wird, so gehört es zum guten Ton, daß alle Anwesenden gehen; werden einzelne noch aufgefordert zu bleiben, so hindert nichts, dem nachzukommen, um noch im kleinen Kreis einige Zeit zusammen zu sein. Nur mögen sich sowohl Wirt wie Gäste hüten, dieses behagliche Zusammensein mit der großen Gesellschaft eben irgendwie zu vergleichen: „Nun wollen wir es uns noch recht gemütlich machen“ oder: „Jetzt kann man doch ein vernünftiges Wort miteinander reden“ u. s. w. Bei manchen kann dann der Gedanke entstehen, daß man vielleicht nach seinem Weggang das [63] nächste Mal dasselbe sagt, und unter den Weggegangenen waren vielleicht seine nächsten Bekannten, von denen er nun annehmen muß, daß sie, nach dem eben ausgesprochenen Satz bisher das Platzgreifen wirklicher Gemütlichkeit gehindert haben. Wenn das auch in Wirklichkeit nicht so schlimm ist, und wenn sich die Sache selbst auch in der That und auch ganz naturgemäß so verhält, so gebietet doch der gute Ton, solche Äußerungen, die verletzen oder auch nur mißverstanden werden könnten, zu unterlassen.

Beim Weggehen ist es allgemein üblich, dem öffnenden Diener oder Mädchen ein Trinkgeld zu geben; um aber nicht erst noch auf dem Vorsaal oder der Treppe im Portemonnaie suchen oder gar andre angehen zu müssen, ob sie einem wechseln können, ist es praktisch, wenn man schon zu Hause das betreffende Geldstück in eine besondere Tasche gesteckt hat, aus der man es nur herauszunehmen braucht.

Wenn schon bei den Besuchen gesagt ist, daß man aus dem dort angeführten Grund nicht mit leerem Magen zu andern Leuten gehen soll, so gilt dies bei Gesellschaften noch mehr. Hier kommt aber noch ein andrer Punkt dazu, weshalb man stets vorher etwas essen soll, daß [64] es nämlich oft noch ziemlich lange dauert, bis man in einer Gesellschaft zu Tische geht, daß man erst noch eine Stunde lang allerlei Musik oder einen Vortrag anhören muß, und mit hungrigem Magen geistreich zu sein, ist eine Aufgabe, der nicht jeder gewachsen ist. Gewiß soll man der Mahlzeit des Wirtes alle Ehre anthun, aber für sehr fein kann es trotzdem nicht angesehen werden, wenn man sich über das Essen wie ein ausgehungerter Löwe herstürzt, ganz abgesehen davon, daß Trinken in den leeren Magen oft den Kopf in einer Weise angreift, wie es einem später schon in seinen nächsten Folgen nicht angenehm ist.

Außer Gesellschaften, die nur den Zweck haben, daß man Bekannte oder gute Freunde bei sich versammelt und mit ihnen einige Stunden in geselligem Verkehr verbringt, gibt es noch viele andre Gelegenheiten, zu welchen man Gäste bei sich einlädt. Das sind vor allem Tanzgesellschaften und Bälle. Aus was für Gründen man derartige Veranstaltungen unternimmt, läßt sich ja im einzelnen nicht sagen, für gewöhnlich aber betrachtet man ein solches großes Fest als Gelegenheit, alle seine Verpflichtungen gegen andre auf einmal zu erfüllen. Besonders wird dies [65] der Fall sein, wo viele junge Leute in einem Haus verkehren, und wo man nicht in der Lage oder gewillt ist, öfters kleinere Gesellschaften zu geben. Bei solchen Vereinigungen gilt aber noch mehr das, was schon oben von den gewöhnlichen Einladungen gesagt worden ist: wenn man nicht die nötigen Räume dazu hat, so soll man es lieber ganz unterlassen, als seine Gäste zu zwingen, stundenlang in engen, niedrigen Zimmern, mit vielen andern eingepfercht, womöglich bei großer Wärme tanzen zu müssen, unter steter Gefahr, auf die Füße getreten zu werden, allerhand Erfrischungen über die Kleider gegossen zu bekommen und seiner Dame zum mindesten auf die Schleppe zu treten. Das ist eine Rücksichtslosigkeit gegen seine Gäste, sie zu so einem Vergnügen aufzufordern, und man wird in solchem Fall besser thun, das Ganze in irgend einem Hotel abzuhalten, wo man sowieso schon auf derartige Festlichkeiten eingerichtet ist.

Bei solchen Gesellschaften ist das Tanzen die Hauptsache, doch muß trotzdem, oder gerade deswegen für eine genügende Verpflegung gesorgt werden, wenn dieselbe auch nicht so ausgesucht und mannigfaltig, wie bei einer Mittags- und Abendgesellschaft zu sein braucht. Will man [66] nicht gleich am Anfang speisen lassen, so empfiehlt es sich, schon beim Beginn ein Büffett mit kalten Sachen und Getränken aufzustellen; auch wird eine ähnliche Gelegenheit, sich nach Belieben zu erfrischen und zu stärken, auch noch einmal später, in vorgerückter Stunde mit Vergnügen begrüßt werden. Über Art und Weise der Verpflegung überhaupt wird der Abschnitt „Essen und Trinken“ das Nähere enthalten.

Besondere Rücksicht ist insofern bei Tanzgesellschaften auf die Einladungen zu verwenden, als man Sorge tragen muß, daß zum mindesten ebenso viele Herren, wie Damen geladen werden, damit es nicht etwa an Tänzern fehlt. Ja es empfiehlt sich, bei der leider jetzt so großen Teilnahmlosigkeit der jungen Herren für derartige Vergnügungen, eine viel größere Anzahl einzuladen; finden sie dann keine Damen zum Tanz, so mögen sie ihre Brüder in der großen Gesellschaft dafür verantwortlich machen, die, mit den Händen in den Taschen gewöhnlich dastehen und zusehen, ohne sich bemühen zu wollen. Die große Rücksichtslosigkeit, die in einer solchen – Faulheit liegt, kann nicht genug gerügt werden. Wer am Tanzen keine Lust hat, soll eben die Einladung zu einer Gesellschaft, von welcher er [67] voraussetzen kann, daß dabei getanzt wird, nicht annehmen; folgt er ihr aber, so ist es seine Pflicht, auch zu tanzen, besonders wenn er sieht, daß die eine oder andre Dame keinen Herrn hat. Seine Pflicht als Herr ist aber auch, mit solchen Damen zu tanzen und sich zu unterhalten, die vielleicht nicht alle Reize in sich vereinigen oder sich nicht gerade durch allzu große Liebenswürdigkeit auszeichnen. Er ist diese Rücksicht dem weiblichen Geschlecht überhaupt, in diesem Fall aber auch den Wirten schuldig. Gewiß ist es deren Wunsch, daß sich alle ihre Gäste so gut wie nur möglich unterhalten, der gebildete Mann soll aber nie vergessen, daß er sich stets galant und ritterlich zu zeigen hat, und zwar erst recht da, wo es ihm vielleicht weniger bequem und angenehm erscheint. Und in den meisten Fällen wird es der Betreffende gar nicht einmal zu bereuen haben, denn gerade Damen, die in dieser Hinsicht nicht verwöhnt sind, sind um so dankbarer, wenn man sich ihrer annimmt. Das ist nicht der schlechteste Ruhm, wenn man als stets galanter und ritterlicher Gesellschafter gepriesen wird, auf dessen Zuvorkommenheit und Aufmerksamkeit man sich in allen Fällen verlassen kann.

[68] Daß zu jeder Gesellschaft, bei welcher getanzt wird, Frackanzug unumgänglich notwendig ist, versteht sich von selbst. Ohne Handschuhe zu tanzen ist unter keinen Umständen erlaubt. Da dieselben aber leicht schmutzig werden, wird man gut thun, noch ein zweites Paar in Reserve zu haben, welches man nach dem Abendessen oder nach der Pause anzieht. Überhaupt sollte man sich daran gewöhnen, bei allen Gelegenheiten, bei welchen weiße Handschuhe erforderlich sind, stets doppelte Paare bei sich zu haben und dieselben vor dem Gebrauch schon einmal anzuziehen. Weiße Handschuhe sind in den meisten Fällen unsolid gearbeitet und lieben es, zu den unpassendsten Gelegenheiten zu platzen, oder, trotz aller Vorsicht, Flecke zu bekommen; sich darauf zu verlassen, daß man im letzten Augenblick, auf dem Weg zur Gesellschaft noch welche kaufen könne, ist auch nicht praktisch: da hat man bald die Sonntagsruhe nicht in Betracht gezogen, bald sind die Läden schon geschlossen u. s. w. Daß man aber Handschuhe, welcher Art sie auch sein mögen, schon einmal zu Hause anziehen soll, hat seinen Grund darin, daß dieselben, so lange sie noch neu sind, innen oft ganze Überzüge von Staub und abgeriebenen Lederteilchen enthalten, [69] die an den Händen haften bleiben und in der häßlichsten Weise die Kleider beschmutzen, wenn man die Handschuhe auszieht. Auch auf die Knöpfe kann man einige Aufmerksamkeit verwenden, damit sie nicht bei der Feierlichkeit selbst abplatzen, sondern schon vorher noch einmal besonders festgenäht werden. Handschuhe mit fehlenden Knöpfen sind ein Zeichen sehr großer Unordentlichkeit. Ähnlich wie mit den Handschuhen ist es auch mit den weißen Halsbinden; auch von diesen habe man stets noch eine zweite zur Aushilfe bei sich; ja, der vorsichtige Mann wird auch immer noch ein weiteres Taschentuch einstecken, wäre es auch nur, um einem andern aushelfen zu können.

Zu Gesellschaften im Sommer, die irgendwo im Freien abgehalten werden, geht man nie im Frack oder schwarzen Rock, selbst wenn man voraussieht, daß dabei getanzt werden wird. Ein feiner Jackettanzug ist da am Platz und helle, aber nicht weiße Handschuhe.

Neben Tanzgesellschaften, Hausbällen u. s. w. sind Gesellschaften, in denen Theater gespielt wird, lebende Bilder aufgeführt werden u. s. w., sehr beliebt. Die Vorbereitungen zu solchen Vergnügungen sind natürlich noch mehr, als wie die der [70] bisher genannten von den verfügbaren Räumen, dem „lebenden Material“, den vorhandenen Gebrauchsgegenständen u. s. w. abhängig. Nur mache man gerade die letzteren nicht zum Hauptgrund, weshalb man etwas arrangieren will: Man unternehme keine Theateraufführung, „weil wir einen so schönen Vorhang im Salon haben“ und dergleichen. In jeder Gesellschaft wird sich der eine oder andre anstellige Herr finden, der der sorgenbelasteten Hausfrau mit Rat und That beisteht, und bei nur ein wenig gutem Willen kann man schon mit geringem Aufwand Großes leisten. Wer sich des näheren informieren will, wie solches einzurichten sei, der sei auf des Verfassers „Buch der Spiele“ im gleichen Verlag verwiesen. Sehr hübsche Beschreibungen von ganzen Festen, Geburtstagsfeiern, Verlobungs- und Polterabendscherzen u. s. w. finden sich in Anny Wothes „Frohe Feste“ (Leipzig, Chr. G. A. Müller & Co.).

Eine Zwischenart zwischen Besuch und Gesellschaften könnte man die Empfangsabende oder -nachmittage, die jours fixes nennen, die an manchen Orten sehr Mode sind. Um ohne weitere Förmlichkeiten, auch ohne besondere Einladungen immer Gäste bei sich zu sehen, setzt die [71] Hausfrau z. B. einen bestimmten Tag in der Woche fest, an welchem sie sicher zu Hause und eingerichtet ist, Bekannte und Freunde bei sich empfangen und bewirten zu können. Sie teilt dies allen, unter der Aufforderung, sie an solchen Tagen zu besuchen, mit; das gilt dann als eine immerwährende Einladung, so daß man keinen Umstand zu nehmen braucht, nun auch unaufgefordert hinzugehen. Man weiß, daß man willkommen ist, am Nachmittag eine Tasse Kaffee oder sonstige Erfrischung, am Abend ein einfaches Abendessen erhalten wird und in anregender Unterhaltung einige Zeit verplaudern kann. Am Nachmittag wird man nur kürzere Zeit verweilen, wer aber erst später kommt, von dem nimmt man an, daß er den ganzen Abend bleibt. Im Anfang ist es für die Hausfrau vielleicht etwas umständlich, so aufs ungewisse sich einzurichten, ehe sie weiß, wie viele Personen sie wohl erwarten darf, aber bald wird sich auch hier bei den Besuchern eine gewisse Regelmäßigkeit bilden, und ein großartiges Souper kann keiner erwarten und beanspruchen, wenn er zu einem gemütlichen Plauderstündchen zu Besuch kommt. Auch hierzu geht man weder im Frack, noch im schwarzen Rock.

[72] Etwas ganz andres ist es mit den großen Empfängen, wie sie bei hochgestellten Persönlichkeiten öfters stattfinden, und die man mit dem englischen Namen Rout bezeichnet. Hierzu wird man schon lange Zeit vorher eingeladen. Anzug: Frack. Von irgend welcher Geselligkeit ist dabei aber so gut wie gar nicht die Rede. Man kommt, begrüßt die Wirte, das heißt wird von ihnen empfangen – vielleicht auch nicht – steht einige Zeit in den meist überfüllten Räumen herum, trinkt eine Tasse Thee und verabschiedet sich nach einiger Zeit wieder, ohne Abschied zu nehmen. Trifft man unter den unter gleichen Umständen Anwesenden Bekannte, so begrüßt man sie, unterhält sich ein wenig mit ihnen und geht, einer gesellschaftlichen Verpflichtung erledigt, bald von dannen.

[73]
Essen und Trinken.

Die Mahlzeiten sind der Prüfstein des guten Tones. Bei keiner andern Gelegenheit kann man so gut beweisen, daß man die gesellschaftlichen Umgangsformen beherrscht, und bei keiner andern Gelegenheit kann man sich so leicht – blamieren; bei keiner andern Gelegenheit aber ist es so schwer, sich alles das, was zum guten Ton gehört, anzugewöhnen, wenn man es nicht von Jugend auf gelernt hat. Es liegt dies wohl hauptsächlich darin, daß beim Essen und Trinken ganz andre menschliche Eigenschaften mitsprechen, als bei allen übrigen Verhältnissen, in die man im Verkehr mit der Gesellschaft kommen kann. Wenn Xavier de Maistre[WS 2] in seinem gedankenvollen Buch „Voyage autour de ma chambre“ bei seiner und jedes Menschen Persönlichkeit den Unterschied zwischen mon âme und ma bête aufstellt, so ist es in diesem Fall lediglich la bête im Menschen, mit der man sich beschäftigen muß. Und guter [74] Ton und la bête sind eben zwei einander so schroff gegenüberstehende Begriffe, daß es oft großer Bemühungen bedarf, die zweite dem ersten, die tierischen Eigenschaften im Menschen den ästhetischen Forderungen der Gesellschaft unterzuordnen. Irgend ein sehr geistreicher Mann hat einmal den Satz aufgestellt, daß Essen und Trinken nur ein notwendiges Übel sei. Das ist nun wohl ein wenig übertrieben; ob es sich aber mit der Menschheit Würde verträgt, daß dasselbe in unsrer materiellen Zeit eine so große, ja oft die einzige Rolle spielt, ist eine andre Frage; auf alle Fälle aber entspricht es nicht dem guten Ton, Essen und Trinken als Hauptsache hinzustellen und dadurch zu zeigen, welch großen Einfluß nur la bête auf manchen Menschen hat. Gewiß, man soll sich auch des Essens und Trinkens freuen, eine gute Hausfrau wird es sogar als eine Rücksichtslosigkeit ihrer Gäste betrachten, wenn dieselben den Werken ihrer Küche durchaus keine Ehre anthun, aber man darf diese Freude nicht so zeigen, wie sie ein ungebildeter Mensch oder – ein Tier zur Schau trägt, dem seine Nahrung behagt. Eben weil bei der Befriedigung von Hunger und Durst beim Menschen am meisten seine tierische [75] Seite hervortritt, sollte jeder bestrebt sein, dieselbe nicht noch durch Nichtbeachtung jeglicher Anstandsregel, durch Verachtung alles dessen, was der gute Ton vorschreibt, in helleres Licht zu setzen.

Daß der gebildete Mensch immer tadellos sauber und gut angezogen zu erscheinen hat – auch wenn er ganz allein ist! – versteht sich von selbst; in ganz besonderer Weise gilt dies aber bei allen Mahlzeiten. Sich vor Tisch die Hände zu waschen und wären sie auch noch so rein, sich nochmals das Haar glatt zu streichen und das bequeme Hausjackett mit einem besseren Rock zu vertauschen, ist unbedingt erforderlich, ebenso, wie es sich gehört, Manschetten und Kragen bei Tisch zu tragen, wenn man ja das eine oder andre dieser „unbequemen und überflüssigen“ Kleidungsstücke abgelegt hatte. Ebenso aber, wie der Mensch muß auch der Tisch und alles, was auf ihm steht, tadellos sauber sein. Auf einem fleckenlosen Tischtuch, mit glänzend rein geputztem Besteck und von spiegelnden Tellern gegessen, schmeckt das einfachste Essen doppelt so gut; das Gegenteil von nur einer dieser Bedingungen aber kann die luxuriöseste Mahlzeit gründlich verderben.

Beim Decken und Herrichten eines Eßtisches ist die erste Bedingung, daß derselbe [76] genügend groß sei, so daß alle Personen vollständig bequem an ihm Platz nehmen können. Viele haben die Gewohnheit beim Essen die Ellbogen weit von sich abzuspreizen; wenn dies auch durchaus nicht schön ist, so muß man doch beim Auflegen der Couverts darauf Rücksicht nehmen, damit die beiden Nachbarn eines solchen Unholdes unbehelligt essen, und was noch mehr ist, trinken können, ohne im gefährlichsten Augenblick gestoßen zu werden. Zu weit voneinander sitzen ist allerdings auch nicht angenehm, doch ist dieser Schade immerhin weit geringer; ist man im Zweifel, ob man noch eine Platte mehr in den Ausziehtisch einschieben soll, so thue man es stets und lasse lieber seine Gäste etwas weiter voneinander Platz nehmen, als daß man sie in die Notwendigkeit versetzt, sich immer eine Viertelwendung herumzudrehen, wenn ihnen selbst oder dem Nachbar serviert wird, ganz abgesehen davon, daß selbst bei der geschicktesten Bedienung die Gefahr sehr nahe liegt, daß die Gäste durch die gereichten Schüsseln beschmutzt werden. Man vermeide ferner, daß einer oder der andre gerade vor die Beine des Tisches zu sitzen kommt, was besonders für Damen höchst unangenehm ist. Der Tisch soll aber stets so stehen, daß er von allen [77] Seiten von den servierenden Personen umgangen werden kann, ohne daß sie sich zwischen den Stühlen der Gäste und etwaigen Möbeln durchdrücken müssen, währenddessen sie die in Händen befindlichen Platten hoch über den Köpfen der Speisenden balancieren.

Nichts ist bei einem gedeckten Mittagstisch weniger angebracht als Sparsamkeit an Wäsche, Porzellan, Bestecken u. s. w. Ein Tischtuch, welches nicht wenigstens bis zum Schoß der Davorsitzenden hinabreicht, macht einen höchst unangenehmen Eindruck, schon allein deshalb, weil es sich durch die Bewegung der Arme leicht verschiebt. Man legt es aus demselben Grund auch nicht unmittelbar auf den Tisch, sondern überdeckt diesen erst mit einer Fries- oder Flanelldecke, über welche das Tischtuch ausgebreitet wird. Dies hat aber auch den Zweck, das laute Aufsetzen von feinen Gläsern und Porzellan auf die harte Tischplatte, wodurch schon manches kostbare Stück in Trümmer gegangen ist, zu mildern. Auch wackelige Stühle sind zu vermeiden; das möchte wohl eigentlich als selbstverständlich angenommen werden, aber wo wäre die Haushaltung, in der der eine oder andre aus dem Dutzend Stühle, welche für das Eßzimmer [78] bestimmt sind, nicht doch ein wenig zerbrochen wäre, nun aber herhalten muß, da vergessen worden ist, ihn zeitig genug reparieren zu lassen, und ein Stuhl andrer Art unter den gleichen Brüdern nicht gut aussehen würde. Der Gast aber fühlt die vielleicht nur eingebildete Gefahr unausgesetzt und denkt sich schon, anstatt die köstlichste Mahlzeit würdigen zu können, die verhängnisvollen Folgen aus, wenn er plötzlich zur Erde degradiert würde. Die Servietten werden nicht mehr, wie dies früher Mode war, in der schwierigsten Weise gefaltet, da man doch unwillkürlich beim Anblick eines solchen Kunstwerkes daran denken muß, wie oftmals dasselbe durch die Hände des deckenden Dieners oder Mädchens zusammengelegt, durcheinandergesteckt und wieder ausgezogen worden sein muß, ehe der künstliche Bau entstehen konnte. An jedem Platz steht nur ein Teller, auf welchen dann der Suppenteller gesetzt wird. Zugleich mit diesem wird auch der andre weggenommen und bei jedem weiteren Gang mit einem neuen, warmen Teller vertauscht. Rechts von dem Teller liegen einmal Messer und Gabel, und zwar die letztere links von der Schneide des ersteren, auf einem Messerbänkchen, während der Löffel, mit dem Stiel nach rechts, [79] quer vor dem Teller liegt; neuerdings legt man ihn auch neben Messer und Gabel auf das in diesem Fall breitere Messerbänkchen; dann liegen oben quer vor nur noch ein kleiner Löffel und ein Dessert- oder silbernes Obstmesser. Folgt gleich nach der Suppe ein Gang, bei welchem nur kleinere Gabeln gebraucht werden, oder Austern, zu welchen man besondere Austermesser gibt, so werden diese schräg über das erste Besteck gelegt. Mehr als ein Besteck neben jeden Teller zu legen ist nicht Mode, es verengt auch den Raum zu sehr, und wenn dem Gast angedeutet werden soll, wie vielerlei er zu essen bekommen wird, so geschieht dies besser durch kleine Menükarten, von denen später die Rede sein wird, als dadurch, daß er sich ausrechnen kann, daß drei oder vier Bestecken notwendig ebensoviele Gänge entsprechen müssen. Vor jedem Platz befinden sich so viele Weingläser, wie es Sorten Wein bei Tisch gibt, außerdem ein Wasserglas. Die Anordnung der Gläser ist derart, daß die, welche für den gewöhnlichen Tischwein, weißen und roten, bestimmt sind, mit dem Wasserglas in der ersten, dagegen die für feinere Weine und den Champagner bestimmten, in der zweiten Reihe stehen. Beide Reihen aber müssen militärisch [80] ausgerichtet sein, wie überhaupt beim Decken darauf zu achten ist, daß alle Teller, Gläser, Bestecke u. s. w. über den ganzen Tisch hin in einer Reihe stehen und vor jedem Platz in genau derselben Weise angeordnet sind. Es gehört sich ferner, daß rechts von jedem Teller und über dem Besteck ein Salzfäßchen mit Schäufelchen darin, steht. Zur Not genügt auch eines je zwischen zwei Personen, doch soll man Sorge tragen, daß dieselben weder zu gefüllt, noch so beschaffen seien, daß das Salz, wenn man nur auf der einen Seite an dasselbe rührt, gleich auf der andern Seite auf das Tischtuch rutscht. Auf jeder Serviette liegt ein Brötchen; manchmal hat man für dasselbe auch einen kleinen Teller, welcher dann links vom Gedeck seinen Platz hat. Kleinere Teller oder Glasschalen für Kompott und Salat müssen so gestellt werden, daß man ihre Zugehörigkeit zu jedem einzelnen Couvert gleich erkennt, und daß nicht etwa Verwechselungen zwischen Nachbarn stattfinden können, infolgederen dann der eine oder andre im nötigen Fall nicht einmal eines hat. Ob man den Tisch mit Blumen ausschmücken soll, hängt teilweise von der Größe der Gesellschaft ab. Bei einer größeren Gesellschaft, wo sich eine gemeinsame Unterhaltung sowieso [81] nicht entwickeln wird, auch gar nicht erwünscht ist, kann man ruhig einige Vasen oder Schalen mit ausgesuchten Blumen aufstellen, durch die allerdings meistens die Aussicht einzelner Gäste auf ihr Gegenüber verdeckt wird; in diesem Fall schadet das ja nichts. Bei kleineren Gesellschaften aber vermeide man, durch Blumen, Obstschalen und dergleichen die Unterhaltung auch über die Breite des Tisches zu erschweren. Überhaupt aber dürfen es nur Blumen sein, die gar nicht oder äußerst wenig riechen. Sehr hübsch machen sich ganz niedrige Blumenarrangements, mit denen stilvolle Arabesken auf dem Tisch hergestellt werden können. Der Länge des Tisches nach liegt ein gestickter oder sonstwie kunstfertig hergestellter Tischläufer. Ob man von vornherein die „Speisenfolge“, das Menü, bekannt gibt oder nicht, ist Geschmackssache. Dafür spricht ja, daß man seinen Gästen Gelegenheit geben will, zu erfahren, was sie zu essen bekommen werden, und ihren Appetit so einzurichten, daß sie von allem essen können und nicht bei späteren Gängen schon gesättigt sind; eigentlich aber sollte es solcher Vorsichtsmaßregeln, die doch durchaus nicht ästhetisch sind, nicht bedürfen, da jede Hausfrau von ihren Gästen erwarten muß, daß sie [82] sich überhaupt nicht, weder am Anfang noch am Schluß überessen, und das vorherige Kundgeben, besonders einer größeren Reihe von Gängen einen protzenhaften Eindruck machen kann. Außerdem wird durch solche schriftliche Vorbereitung dem Essen und Trinken überhaupt schon eine viel zu große Bedeutung beigelegt. Ja, man sollte es geradezu für eine Mißachtung seiner Gäste halten, wenn man von ihnen annähme, daß sie so kleine Geister seien, Speise und Trank ein größeres Interesse entgegenzubringen, als unumgänglich notwendig ist.

Großen Anteil an dem guten Gelingen eines Diners oder Soupers trägt die Bedienung bei der Mahlzeit. Ist man in der angenehmen Lage, über so viele Dienerschaft zu verfügen, oder kann man sich Hilfskräfte verschaffen, daß alle Speisen präsentiert werden können, so ist dies stets am besten. Gebietet man aber nur über einen oder zwei dienende Geister, so ist es meistens nötig, daß die Zuspeisen von einem Gast dem andern selbst übergeben werden, während das Mädchen oder der Diener nur die Hauptgänge serviert. Dies hat stets von der linken Seite her zu geschehen; aber nicht etwa auf einem Präsentierbrett und mehrere Schüsseln zugleich, sondern [83] immer nur eine Platte auf einmal, welche auf der flachen Hand gehalten wird. Mit einem Präsentierbrett kann der Bedienende nie zwischen zwei Personen an den Tisch selbst gelangen, während eine einzelne Schüssel bequem bis zur Hand der betreffenden Person, die sich nehmen soll, gereicht werden kann. Dabei darf die Platte oder Schüssel nicht zu hoch gehalten werden, und befindet sich auf ihr irgend eine Speise, die vielleicht schwer zu zerteilen ist, die aber doch nicht schon zerlegt präsentiert werden kann, Eis z. B., so ist es am besten, wenn das betreffende Mädchen die Hand unter der Schüssel auf den Tisch auflegt, um dieser so einen festeren Halt zu geben und das Nehmen zu erleichtern. Sich mit der freien, rechten Hand auf die Stuhllehne des Gastes zu stützen, ist ungehörig, sowie jede sonstige Berührung desselben. Ist die Person, der serviert wird, gerade durch ein Gespräch in Anspruch genommen, so daß sie die dargereichte Platte nicht bemerkt, so muß ruhig gewartet werden; in keinem Fall darf der Gast angeredet oder aufmerksam gemacht, oder gar genötigt werden. Beim Servieren hat man dafür zu sorgen, daß Speisen, die zu einander gehören, wie Fleisch und Sauce, Fisch und Kartoffeln u. s. w. nicht zu sehr voneinander getrennt [84] angeboten werden, so daß man schon lange von der einen genommen hat, und diese womöglich kalt wird, ehe man die Zuspeise erhält. Die bedienenden Personen haben stets weiße, wollene oder baumwollene Handschuhe, die Mädchen auch weiße Schürzen zu tragen.

Nach jedem Gang muß selbstverständlich der Teller, aber auch das Besteck, und zwar dieses am besten allein für sich, gewechselt werden; hat jemand dasselbe zu fernerem Gebrauch etwa wieder auf das Messerbänkchen gelegt, so wird es auch von da weggenommen. Bei Gängen, bei welchen man sich trotz aller Vorsicht doch die Hände beschmutzen könnte[WS 3], z. B. bei Krebsen, sowie beim Schluß der Mahlzeit gehört es zum guten Ton, daß Glasschalen mit lauem Wasser und eine kleine, weiche Serviette zum Abtrocknen gereicht werden, damit man sich die Spitzen der Finger etwas abspülen kann; es ist natürlich, daß man keine große Wäsche bei dieser Gelegenheit vornimmt. Gläser zum Mundausspülen zu reichen ist einfach unanständig.

Was die Getränke anbetrifft, so stellt man, wenn nur eine Sorte von Weinen – Weiß- oder Rotwein – getrunken werden soll, dieselben in solcher Anzahl auf, daß möglichst jeder Gast [85] eine Flasche erreichen kann. Gewöhnlicherer Tischwein wird oft in geschliffenen Glasflaschen auf die Tafel gestellt, doch setzt das eigentlich immer voraus, daß man denselben direkt aus dem Faß im Keller und nicht erst aus sonstigen Flaschen umgegossen hat. Unter jede Flasche gehört ein Untersetzer aus Silber, Porzellan oder dergleichen. Bessere Weine werden in der Regel vom Diener oder Mädchen immer wieder eingeschenkt, wobei es gebräuchlich ist, jedem einzelnen Gast den Namen der Sorte mit leiser Stimme zu nennen. Gibt man nach der Suppe einen besonders starken oder feinen Wein, so wird derselbe in kleinen Gläsern, bereits eingeschenkt, serviert. Das Eingießen von Champagner erfordert eine gewisse Fertigkeit, und wer darauf hält, daß es beim Servieren bei Tisch nach den Regeln des gutes Tones hergeht, der sollte nicht die Mühe und die Kosten scheuen, vorher die Bedienung praktisch einzulernen. Getränke werden stets, entgegen dem Servieren, von der rechten Seite her eingeschenkt. Außer Wein muß aber auf jedem Tisch auch Wasser oder Mineralwasser in genügender Menge vorhanden sein; nicht etwa nur eine Flasche, die vielleicht noch überdies niemand erreichen kann, sondern überall, [86] womöglich vor jeder Dame, sollte Sodawasser oder ähnliches stehen.

Endlich sei hier noch auf einen Punkt hingewiesen, der bereits im Anfang des vorigen Abschnittes erwähnt wurde: Die Beleuchtung. Man sorge dafür, daß der Speisetisch so hell wie nur irgend möglich erleuchtet sei; dies wird sich in erster Linie auf Soupers beziehen, doch sollte auch bei Mittagessen immer darauf Bedacht genommen werden, daß man stets den andern und alles, was man auf dem Teller hat, sieht; man darf nicht mit dem Anzünden der Lampen warten, bis man eben nur noch „den Mund findet“. Freilich liegt da eine andre Gefahr nahe, daß es zu heiß im Zimmer werde, und dies ist ebenso zu vermeiden, wie daß es zu kühl sei. Man hat daher vor Beginn des Essens für eine richtige Temperatur zu sorgen und lasse es lieber am Anfang nicht allzu warm sein, als daß später Wirt und Gäste fast umzukommen meinen.

Wie es mit der weiteren Anordnung im einzelnen auf dem Tisch zu halten ist, ob Kompott und Salat schon von Anfang an dastehen oder erst später gereicht werden, ob man Obst und Backwerk servieren oder von Hand zu Hand gehen läßt u. s. w., darüber steht das Ausführlichste in [87] jedem Kochbuch, in dem sich auch stets eine große Anzahl von Menüs zur Auswahl angegeben finden. Die Hausfrau kann aus ihnen ihre Wahl treffen. Nur bedarf es auch hier eines gewissen Taktgefühles. Es würde sich nicht gut machen, wenn man zu einem feinen Diner Speisen aufsetzen wollte, die „guter Hausmannskost“ entsprächen, während es anderseits nicht am Platz ist, alle möglichen feinsten Genüsse zu bieten, wenn man Leute bei sich sieht, die, in kleineren Verhältnissen vielleicht lebend, derlei Gerichte gar nicht kennen und nicht wissen, was sie mit ihnen anfangen sollen, und denen ein guter, solider Rinderbraten oder dergleichen das höchste der Gefühle ist. Ja, solche Leute werden gerade durch luxuriöses Essen und Trinken oft vielmehr gedemütigt, als man im ersten Augenblick meint, und man sollte daher, ganz im allgemeinen und nicht nur in Bezug auf den Verkehr bei Tisch gesagt, ihnen gegenüber allzugroßen Aufwand, der einem selbst vielleicht gar nicht einmal als solcher erscheint, den sie in ihrer beschränkten Lage aber nur viel mehr empfinden, da sie ihn nicht auch machen können, vermeiden. Das ist eben eine Sache des Gefühls. Mancher wird dadurch verletzt, daß man sich bemüht, zu [88] seiner Sphäre hinunter zu steigen, mancher andre nimmt es wieder übel, wenn er glaubt, daß man von ihm verlangt, er solle aus seinen Verhältnissen heraus, sich besseren, glänzenderen anbequemen, und oft verdirbt man es, trotz des besten Willens mit beiden. Gerade Personen, die das Gefühl und den Drang nach Höherem, Feinerem – auch materiell gedacht – haben, die diesem aber aus irgend welchem Grund nicht folgen können, nehmen viel leichter etwas übel, als solche, die mit ihrem Los zufrieden sind.

Wenn die Regeln des guten Tones ein Gesetz sind, dem sich jeder, der in der Gesellschaft verkehren will, unterwerfen muß, so ist dies Gesetz noch ganz besonders streng in Bezug auf das Verhalten bei Tisch. Zeige mir, wie du ißt, und ich will dir sagen, wer du bist. Aus dem Benehmen eines Menschen bei Tisch kann ohne jede Mühe auf seine sonstige gesellschaftliche Bildung geschlossen werden: es ist daher nötig, daß man sich in erster Linie die hierbei geltenden Gebräuche zu eigen macht; sind sie doch gewissermaßen die Schule für den Verkehr unter gebildeten Menschen und die Quintessenz des guten Tones in der Gesellschaft überhaupt. Wer sich bei Tisch nach allen Vorschriften zu [89] benehmen weiß, dem wird es nicht schwer fallen, auch sonst im gesellschaftlichen Verkehr den richtigen Ton zu treffen.

Der Reinlichkeit und der Notwendigkeit, stets gut und anständig angezogen zu sein, ist bereits Erwähnung gethan worden. Beim Hinsetzen an den Tisch muß man Bedacht darauf haben, daß man das Tischtuch nicht mit sich zieht und daß man nicht beim Anrücken den Teppich mit den hinteren Beinen des Stuhles umschlägt und dadurch eine Falte bildet, über die andre stolpern können. Matt setze sich, wie überhaupt immer, möglichst weit nach der Lehne zu auf den Stuhl. Nur auf einer Ecke oder an der Seite, wie die Damen beim Reiten zu sitzen, ist unpassend. Die Serviette wird auf dem Schoß ausgebreitet; sie in das Knopfloch des Rockes, oder in den Kragen zu stecken, und, um sie noch sicherer zu befestigen, womöglich einen großen Knoten in eine Ecke zu knüpfen ist durchaus nicht schön und zeugt von der Furcht, die man hat, daß man sich mit Suppe oder sonstiger Flüssigkeit beschmutzen könnte. Der Löffel wird mit der Spitze zum Mund geführt und dann nicht etwa ausgeschlürft oder ausgesogen, sondern man hebt das hintere Ende langsam, worauf der Inhalt [90] von selbst in den Mund läuft. Beim Weg vom Teller zum Mund muß man Rücksicht darauf nehmen, den Löffel so zu halten, daß sein hinterer Teil stets etwas höher sei, als der vordere, damit die Suppe nicht wieder auf den Teller oder im letzten Augenblick auf den Schoß laufe. Überhaupt schöpfe man immer nur sehr wenig auf einmal ein; feste Teile, wie Klößchen, geröstete Brotbröckchen oder dergleichen, müssen so gefaßt werden, daß sie ganz an der Spitze des Löffels liegen, damit sie gleich in den Mund gleiten und nicht etwa mit den Lippen beschwerlich herangeholt werden müssen. Besondere Vorsicht ist denen anzuempfehlen, die einen größeren Bart haben; denn ist es schon an und für sich kein ästhetischer Anblick, zu sehen, wie die Suppe vom Löffel wieder herunterläuft, so macht ein Bart, in dem die einzelnen übriggebliebenen Tropfen langsam von Haar zu Haar herunterrieseln, einen geradezu widerlichen Eindruck. Kann man etwa noch im Teller liegen gebliebene Gegenstände nicht allein mit dem Löffel aufnehmen, so bricht man sich ein Stückchen Brot ab und schiebt sie damit auf den Löffel. Besser aber noch ist es, man läßt sie ganz liegen. Maccaroni, Nudeln und dergleichen, wenn sie nicht schon, [91] wie es sich gehört, so klein sind, daß sie bequem auf den Löffel genommen werden können, zerteilt man erst mit dem Rand desselben in möglichst kleine Stücke, ehe man sie zum Mund führt. Das Brot wird zerbrochen, ja nicht zerschnitten und behält stets seinen Platz links oben neben dem Teller. Es ist nicht schön, mit demselben zu spielen, daß schließlich der ganze Platz voll Krumenstücken liegt; man nehme nur so viel auf einmal, wie man gerade braucht. Fisch mit dem Messer zu berühren ist im höchsten Grad unpassend. Man ißt denselben nur mit der Gabel und hilft in diskreter Weise mit einem Stückchen Brot, welches man in der andern Hand hat, nach. Stehen besondere, silberne Fischbestecke zur Verfügung, so kann man sich derselben bedienen, doch ist es immer feiner und zeugt von mehr Geschicklichkeit, nur mit der Gabel zu essen. Daß man beim Zerlegen des Fisches sehr vorsichtig sein muß, um keine Gräten in den Mund zu bekommen, versteht sich von selbst; trotzdem darf man ihn aber nicht so auseinander ziehen, daß das Ganze überhaupt kein festes Stück mehr bleibt. Bei den meisten Fischen und besonders bei solchen, die in Gesellschaft vorgesetzt werden, so auch bei allen See- und Raubfischen sind die Gräten derart [92] angeordnet, daß sie in einer Fläche liegen und ganz bequem mit der Gabel beiseite geschoben werden können, wenn man nur die richtige Stelle des Angriffspunktes findet. Man kann dies schon an einem Fischskelett studieren und sollte nicht versäumen, dies zu thun, wenn man die Gelegenheit dazu hat. Bekommt man doch eine Gräte in den Mund, so entfernt man sie nicht etwa mit der Hand, sondern legt sie säuberlich mit den Lippen auf die Gabel und mit dieser zu den übrigen auf den Rand des Tellers. Beim Fischessen ist die einzige Gelegenheit, wo die Gabel in die rechte Hand genommen wird, sonst hat man sie stets und ausnahmslos in der linken und das Messer in der rechten Hand. Beide weiter unten, als am Griff anzufassen, oder bei der Gabel den einen Finger gar dahin zu legen, wo die Zinken anfangen, ist unpassend.

Man ißt, außer bei Fisch, stets mit Messer und Gabel. Hat man nichts zu schneiden, so hilft man mit dem Messer nach. Dagegen wird dieses nie, unter keiner Bedingung zum Mund geführt oder sonst irgendwie als Löffel, überhaupt zu einem andern Zweck, als zum Zerschneiden gebraucht. Es ist anzuraten, [93] beim Zerschneiden Gabel sowohl wie Messer in möglichst spitzen Winkel zum Teller zu halten. Je steiler man die Gabel hält, mit der man den betreffenden Gegenstand gefaßt hat, um so größer ist die Gefahr, auszugleiten, was einen häßlichen Ton hervorruft. Streng verboten ist es, mehr im voraus zu schneiden, als man gleich darauf mit der Gabel anspießen will. Sämtliches auf dem Teller befindliche Essen in mundgerechte Stückchen zu zerteilen, um es dann bequemer verzehren zu können, ist höchst unpassend. Der Vergleich mit einem – Hundefutter liegt zu nahe. Sauce oder sonstige Flüssigkeiten dürfen nicht mit Brot aufgenommen werden, darum soll man sich auch nie zu viel von ihnen nehmen, überhaupt muß man sich daran gewöhnen, den Teller stets möglichst ordentlich aussehen zu lassen. Gemüse oder dergleichen darf nicht beim Essen auf ihm überall herumgezogen werden, sondern muß auf einer Stelle bleiben; das Fleisch bleibt ebenfalls auf seinem Platz, wo es zerschnitten wird, u. s. w. Es ist natürlich, daß ein Teller, von dem gegessen worden ist, nicht rein sein kann, im Gegenteil, das soll er gar nicht und daß man ihn zum Schluß nicht mit angespießten Brotstückchen reinigen darf, daß [94] er wie abge–waschen aussieht, versteht sich von selbst; aber aufgeräumt soll er sein und nicht unordentlich. Ebenso muß man auch dafür Sorge tragen, daß das Besteck nicht unappetitlich aussehe. Bemerkt man, daß dasselbe, wie es freilich bei einer feinen Gesellschaft nicht vorkommen sollte, nicht gewechselt wird, und daß es von andern nach einem Gang wieder auf die Messerbänkchen gelegt wird, so thut man dies auch, nachdem man das Messer mit der Gabel und umgedreht etwas abgeputzt hat. Beides mit Brotstückchen zu reinigen ist sehr unpassend. Für gewöhnlich läßt man das Besteck aber auf dem Teller und zwar so, daß Messer und Gabel nebeneinander, mit den Griffen nach rechts, und nicht gekreuzt zu liegen kommen. Kreuzt man das Besteck, so bedeutet das für eine aufmerksame Bedienung, daß man noch einmal präsentiert zu haben wünscht, legt man es dagegen nebeneinander, so darf ein kundiger Diener schon beim zweitenmal Herumgeben von dem betreffenden Gang nicht wieder anbieten. Dadurch, daß man das Besteck in beiden Händen hat, verbietet es sich schon von selbst, den Teller vom Tisch aufzuheben und dem Mund näher zu bringen. Allenfalls kann man dies mit kleineren [95] Tellern thun, auf welchen sich Kompott befindet, was mit dem kleinen Löffel gegessen wird. Doch darf man nie die Schale so hoch heben, daß man sie womöglich gleich ausschlürfen könnte. Der Löffel wird nur zum Essen von Suppe, Kompott und Mehlspeisen, Puddings oder Eis benutzt. Alles andre muß man mit der Gabel dem Mund zuführen. Bei gewissen Speisen ist es nicht möglich, dieselben anders, als mit Gebrauch der Finger zu essen, z. B. Krebse und dergleichen und Artischocken. Ein schöner Anblick ist aber solche Esserei nie, und fast wäre anzuraten, derlei deshalb überhaupt nicht auf das Menü einer größeren Gesellschaft zu setzen. Spargel mit den Händen zu essen ist unanständig; man zerschneidet dieselben wie jede andre Speise und ißt sie mit der Gabel.

Man hüte sich, zu große Bissen auf einmal auf die Gabel zu nehmen und in den Mund zu stecken. Nichts macht einen häßlicheren Eindruck, als einer solchen Fütterung zusehen zu müssen und immer in Zweifel zu sein, ob es der Betreffende nur überhaupt fertig bringt, eine derartige Ladung auf einmal in den Mund zu schieben. Noch häßlicher ist es aber, wenn dies nicht gelingt und auf beiden Seiten die Reste [96] herunterfallen, oder im Bart und an den Lippen haften bleiben. Überdies ist es auch gefährlich, denn man kann sich leicht verschlucken, und außerdem kann man, bis eine solche Ladung zerkaut und verschluckt ist, was naturgemäß länger dauert, kein Wort sprechen. Daß man mit vollem Mund überhaupt nicht spricht, versteht sich wohl von selbst. Das Verschlucken kann fast stets vermieden werden, wenn man nur wenig auf einmal in den Mund nimmt und während des Kauens und Hinunterschluckens nicht atmet. Das kann man sich angewöhnen, wie das Essen mit geschlossenem Mund. Dadurch wird auch jedes häßliche Geräusch, wie Schmatzen, Kauen u. s. w. vermieden, und das sollte man schon aus Rücksicht gegen seine Nachbarn thun. Hat man sich aber doch verschluckt, so vermeide man, sofort zu husten, sondern unterdrücke womöglich den Reiz, indem man schnell einen Schluck Wein oder Wasser trinkt. Oft gibt sich die Unannehmlichkeit von selbst; bemerkt man aber, daß ein starker Hustenanfall doch kommen muß, so steht man lieber möglichst unbemerkt auf und entfernt sich in ein Nebenzimmer, als daß man den ganzen Tisch an dem unschönen Schauspiel teilnehmen läßt. Ein gutes [97] Mittel, die an einen falschen Platz geratenen Gegenstände zu entfernen, ist, daß man plötzlich beide Hände über dem Kopf zusammenschlägt, indem man zugleich hustet. Dadurch kommen die angegriffenen Teile in eine andre Lage und das verhängnisvolle Krümchen wird heraufgeschleudert. Daß man sich bei einem Hustenanfall die Hand vor den Mund hält, ist wohl nicht erst nötig gesagt zu werden.

Wenn möglich sollte man den Gebrauch des Taschentuches bei Tisch und überhaupt in Gesellschaft ganz vermeiden; geht dies doch nicht, so bediene man sich desselben möglichst geräuschlos; sich dabei zu bücken oder ganz abzuwenden, oder gar halb unter den Tisch zu kriechen, ist nicht fein. Dann steckt man das Taschentuch sofort wieder ein, ohne es erst, wie das allerdings viele Leute in der Gewohnheit haben, anzusehen. Auch das Niesen gehört nicht zu der Notwendigkeit bei Tisch und in der Gesellschaft. Wer es nicht ganz unterdrücken kann – das geht aber bei einiger Übung doch – der muß sich stets das Taschentuch vor den Mund halten und darf, wenn ihm dies auch erst vielleicht den wahren Genuß des Niesens ausmacht, doch auf keinen Fall irgend welchen Lärm dabei hervorrufen. Das [98] kann und muß sich jeder angewöhnen, der in feiner Gesellschaft verkehren will.

Ist beim Essen etwas von den Speisen heruntergefallen, so läßt man es ruhig liegen, höchstens kann man es mit dem Fuß unbemerkt unter den Tisch schieben, damit es später beim Aufstehen nicht zertreten wird. Auch vom Tisch gefallene Gabeln, Messer u. s. w. hebt man nicht selbst auf; eine aufmerksame Bedienung muß solchen Unglücksfall gleich bemerken und den fehlenden Gegenstand durch einen neuen, auf einem Teller – ja nicht in der Hand! – gebracht, ersetzen. Zwischen jedem Bissen, ebenso wie mit vollem Mund zu trinken, schickt sich nicht. Auch ist es unpassend, wenn man die Spur der Lippen am Glas bemerkt, oder wenn ein Tropfen am Rand herunterläuft. Man kann beides leicht dadurch vermeiden, daß man das Glas nicht in den Mund nimmt und mit der Unterlippe unterstützt, sondern daß man mit den Lippen die Zähne vor der Berührung mit der kalten Flüssigkeit schützt, also etwa dieselbe Mundstellung hat, wie der Trompeter, wenn er sein Schallzeug ansetzt.

Wenn auch bei einer feinen Mahlzeit alles so hergerichtet sein sollte, daß man nichts in [99] den Mund bekommt, was man nicht vollständig essen könnte, so ist es doch möglich, daß sich unbemerkt kleine Knochensplitter, Sehnenteile oder dergleichen, in einem Ragout z. B., befinden, die man nicht verschlucken will. Diese legt man dann, wie die Fischgräten, auf die Gabel und mit dieser auf den Rand des Tellers. Ähnlich verfährt man mit Kernen von gekochtem Obst und dergleichen, welches man mit dem kleinen Löffel ißt. Diese legt man mit dem Mund wieder in denselben und von da auf den Teller. Andre kleine Gegenstände, wie Schalen und dergleichen zuerst in die geschlossene Hand zu spucken und aus dieser auf den Teller zu legen, ist unanständig. Man denke nur daran, in welchem Zustand von Unreinlichkeit dann die Hand sein muß; da hilft auch ein flüchtiges Abwaschen in einer Spülschale nicht. Unschön ist es ja immer, aber Kerne, Weintraubenschalen u. s. w. läßt man lieber möglichst unbemerkt, indem man sich etwas über den Teller beugt, aus dem Mund fallen, als daß man sie auf so schmutzigem Weg entfernt. Falsch wäre es aber auch, wollte man sie aus übertriebener Ängstlichkeit gar etwa verschlucken; denn dies würde auch schon unwillkürlich bemerkt werden, wenn sich bei allen [100] andern die betreffenden Überreste auf den Tellern finden, und nur bei einem fehlen.

Wünscht man von einer Speise noch einmal zu nehmen, wenn sie zum zweitenmal präsentiert wird, so lasse man sich ja nicht davon abhalten, daß die Personen, denen vor einem angeboten wurde, gedankt haben. Oft liegt es wie ein Bann auf einer ganzen Gesellschaft; die meisten würden vielleicht sehr gern noch einmal essen, doch „geniert“ sich immer der folgende vor seinen Vordermännern, und das Gericht geht unberührt wieder hinaus. Hat aber jemand am Anfang nochmals zugelangt, geht er mit gutem Beispiel voran, so folgen die andern sicher nach. Wohl ist es etwas peinlich, als einziger an einer Tafel noch zu essen, das läßt sich aber dann einmal nicht ändern; man werde nur nicht verlegen dadurch, daß man glaubt, alle andern sähen einem zu, denn das ist die beste Gelegenheit, sich zu verschlucken; die andern aber sollten vermeiden, überhaupt von der Thätigkeit dieses armen Einzelnen Notiz zu nehmen und dadurch das Peinliche seiner Lage noch zu erhöhen.

Jemand, der nicht viel in der Gesellschaft verkehrt hat, wird oft in die Lage kommen, nicht zu wissen, wie man sich der einen oder [101] andern Speise gegenüber verhalten muß. Da ist freilich guter Rat teuer; er muß eben dann versuchen zu sehen, wie es die andern machen, und kann er sich doch nicht entschließen, dies nachzuahmen, so nehme er sich ruhig etwas davon auf seinen Teller, esse von der, vielleicht gleichzeitig gegebenen Zuspeise und lasse schließlich den unbekannten Gegenstand, wenn er inzwischen doch nicht noch mit ihm fertig geworden ist, liegen. Ebenso unangenehm wie es ist, noch allein von der ganzen Gesellschaft zu essen, ebenso unangenehm ist es, während alle andern essen, vor einem leeren Teller zu sitzen. Das ist manchmal auch darin begründet, daß man glaubt, man könne irgend eine Speise nicht essen. Diese Entschuldigung darf es aber für jemand, der in der guten Gesellschaft verkehren will, nicht geben. Man soll sich an alles gewöhnen, und wenn auch nicht verlangt wird, daß man sich von einer Speise, die einem unangenehm ist, besonders viel vorlege, so muß man sich doch soweit bezwingen können, daß man einige Gabeln davon ohne äußere Zeichen des Widerwillens zu essen vermag.

Manche Leute glauben, ohne nach Tisch den Zahnstocher zu gebrauchen, nicht bestehen zu [102] können; es wird aber doch wohl gehen, wenn man sich daran gewöhnt. Wer solch wenig schöne Mundreinigung gar nicht vermeiden zu können vermeint, der nehme sie wenigstens nicht vor, so lange er sich noch mit andern unterhält, sondern betrachte, wenn von Tisch aufgestanden ist, scheinbar ein Bild an der Wand, eine Blume im Fenster, um unbemerkt die Angelegenheit zu erledigen. Ist es wirklich einmal nötig, den Zahnstocher zu gebrauchen, so thue man es so diskret wie möglich; erst die vor den offenen Mund gehaltene Hand, hinter der man eine Operation, würdig eines geprüften Zahnarztes, vornimmt, macht die Sache auffällig. Aber auch schon während des Gespräches mit der Zunge etwaige Reste im Mund zusammenzuschieben ist sehr unpassend, wie überhaupt alles, was an eine Reinigung der Eßwerkzeuge erinnern könnte.

Was das Trinken anbetrifft, so lasse man stets die größte Mäßigkeit walten. Viel zu trinken ist an und für sich schon nicht schön, dann aber hat es gewöhnlich die Folge, daß man warm wird, daß man angeregt wird, und dann, dann ist die Gefahr so nahe, daß man zu angeregt wird, und dann ist das Unglück fertig. Nur einen einzigen Tropfen mehr [103] zu trinken, als man vertragen kann, ist eine Rücksichtslosigkeit gegen den Wirt und gegen die Gäste, und in erster Linie gegen die Dame, die man etwa zu Tisch geführt hat. Man kann einwenden, daß es unter anständigen Leuten einer solchen Ermahnung überhaupt nicht bedarf, und doch kommt es so oft vor, daß sich jemand im Lauf eines guten Essens durch lebhafte Unterhaltung, und nicht zum mindesten auch durch guten Wein verleiten läßt, etwas mehr zu trinken. So lange er bei Tisch sitzt, merkt er es vielleicht gar nicht, wird aber erst aufgestanden, so fühlt er sich plötzlich unsicher, und dann ist oft die Annahme, daß die andern seinen Zustand vielleicht bemerken könnten, viel peinlicher, als dieser selbst. Aber auch, wer viel vertragen kann, sollte nicht viel bei einer Gesellschaft trinken, schon um den andern Gästen das sorgliche Gefühl zu ersparen, daß er sich betrinken könnte.

Die bisher aufgestellten Regeln dürften so etwa alles das enthalten, worauf jemand, der sich des guten Tones befleißigen will, bei Tische zu achten hat. Sie sollen aber nicht nur Regeln bleiben, an die er sich im vorkommenden Fall erinnert, sondern sie sollen ihm so in Fleisch und Blut übergehen, daß er gar nicht anders handeln [104] kann, als sie ihm vorschreiben; unbewußt muß er nach ihnen handeln; sich erst in jedem einzelnen Fall zu fragen, wie er sich verhalten soll, dazu hat er keine Zeit, da seiner noch ganz andre Aufgaben warten, als bloß zu essen und zu trinken. Und das ist die Unterhaltung während der Mahlzeit mit seinen Nachbarn und der Gesellschaft im allgemeinen. Von dem Augenblick an, daß man der Dame, die man zu Tisch zu führen gebeten wurde, den Arm gereicht hat, ist man deren Ritter und hat vor allem für sie und ihre Unterhaltung zu sorgen.

Wird die Gesellschaft vom Hausherrn oder der Hausfrau aufgefordert, zu Tisch zu gehen, so verbeugt man sich vor seiner Dame, bietet ihr den Arm und führt sie in das Speisezimmer. Natürlich läßt man älteren und höherstehenden Personen dabei den Vortritt, doch darf man auch nicht zu bescheiden sein, gleichstehenden gegenüber; nicht etwa um seiner selbst willen, da kann man es gar nicht genug sein, sondern der Dame wegen, die man führt und der es vielleicht großen Kummer bereiten würde, wenn sie durch das Zögern ihres Herrn gezwungen wird, etwa eine jüngere Dame vorangehen zu lassen, der sie sich überlegen glaubt. Der Streit zwischen [105] Brunhild und Kriemhild an der Kirchenthür ist eben leider keine veraltete Sagenerzählung, und vor menschlicher Schwäche bleibt selbst die gescheiteste Frau nicht bewahrt. Im Eßzimmer angekommen, bemüht man sich, möglichst schnell seinen Platz zu finden, damit man die Dame nicht gar mehreremal um den ganzen Tisch herumzuführen braucht. Gewöhnlich wird der Hausherr und die Hausfrau bemüht sein, dieses Suchen zu erleichtern; im befreundeten Haus kann man sich auch vorher wohl erkundigen, in welcher Gegend man sitzen soll.

In manchen Gesellschaften ist es Gebrauch, daß vor Tisch gebetet wird; ist dies der Fall, so führt man seine Dame bis zu ihrem Stuhl und bleibt dann selbst hinter dem seinigen stehen und – richtet sich danach, wie es die andern machen. Jedenfalls vermeide man durch Unachtsamkeit oder dadurch, daß man weiter plaudert, die Gewohnheit der andern Personen zu stören.

Setzt man sich dann, so macht man durch Zurückschieben des Stuhles der Dame Platz am Tisch, stellt sich links von ihr auf, erfaßt die Stuhllehne mit beiden Händen und schiebt den Stuhl nach vorn, indem man zugleich mit dem rechten Fuß am linken hinteren Stuhlbein nachhilft. [106] Die Dame setzt sich in demselben Augenblick, so daß sie nun bequem am Tisch sitzt, ohne sich selbst durch Rücken des Stuhles bemühen zu müssen. Dann nimmt man selbst Platz, und die Unterhaltung kann beginnen.

Ja, wenn das nur immer so leicht wäre. Aber wie schon früher gesagt ist, daß die Dame einem schüchternen oder verlegenen Herrn entgegenkommen soll, so sollte sie auch hier nicht Anstand nehmen, ein Gespräch zu beginnen, wenn sie merkt, wie der Herr durchaus nicht den rechten Anfang finden kann. Dafür werden auch schon die Wirte gesorgt haben, daß sie nicht gleich zwei Schüchterne oder der Gesellschaft ungewohnte Personen nebeneinander gesetzt haben; kommt es aber doch vor, so muß der Herr stets das Gespräch beginnen und wäre es selbst vom Wetter oder den schönen Blumen auf dem Tisch oder der neuesten Oper im Theater. In den meisten Fällen wird dann schon nach und nach eine Konversation zustandekommen, denn ein Anknüpfungspunkt findet sich immer, man muß nur etwas Geschick anwenden, denselben herauszubekommen. Aber auch mit seiner Nachbarin zur Linken soll man sich unterhalten, besonders wenn man merkt, daß dieselbe [107] von ihrem Herrn nicht allzu aufmerksam behandelt wird. Nach der Suppe hat jeder Herr seine Dame mit Wein zu versorgen, wenn solcher auf dem Tisch steht. Bei Weißwein ist es eine fromme Sitte, von unsern Vätern überkommen, daß man erst ein paar Tropfen in sein eignes Glas gießt, um etwaigen Staub von Korkabfällen nicht andern zukommen zu lassen. In einem guten Haus kann man aber wohl erwarten, daß schon vorher dafür gesorgt ist, derlei aus jeder Flasche zu entfernen. Werden einzelne Gerichte von einem Gast dem andern gereicht, so muß man die an die Dame zur Rechten sowohl wie an die zur Linken kommende Schüssel dieser sofort abnehmen und präsentieren und darf nie dulden, daß sie sie selbst hält; man reicht sie dann an der Dame vorüber dem zunächst sitzenden Herrn weiter, nachdem man sich selbst genommen hat. Außer der Reihe sich zu nehmen, d. h. erst seiner Nachbarin, die nach einem kommen würde, anzubieten, ist nicht guter Ton. Wem zuerst vom Diener oder vom Mädchen präsentiert werden soll, ist Sache der Dame vom Hause. Sie wird gewöhnlich bei derjenigen Dame anfangen lassen, die am meisten geehrt werden soll; dann ist es aber immer am praktischsten, ohne Ansehen der [108] Person der Reihe nach servieren zu lassen und nicht nach der vorgeschriebenen Rangordnung. Befindet sich auf einer Schüssel, wenn sie zu einem kommt oder serviert wird, nur noch ganz wenig, so nehme man dieses ohne jedes Zagen, denn man muß voraussetzen, daß Vorsorge getroffen ist, daß noch mehr da ist, und darf überhaupt einen Rest seiner Nachbarin anzubieten nicht wagen. Die leere Platte behält man so lange in der Hand, bis sie von der Bedienung abgenommen wird. Glaubt man aber zu bemerken, wie es ja allerdings nicht vorkommen sollte, daß nichts weiter da ist, und daß das Wenige auf der Schüssel liegende noch für mehrere Personen reichen soll, so dankt man, zumal dies wohl nur beim zweitenmal Herumgeben stattfinden wird, entschieden und läßt das Gericht weiter gehen. Während des Herumreichens ein neues Gespräch anzufangen, ist nicht praktisch, schon deshalb, weil man dann leicht in die Lage kommen könnte über die gerade neben einem befindlichen Speisen weg mit seiner Nachbarin sprechen zu müssen, und das ist unpassend. Unpassend aber ist es auch, über die Speisen überhaupt zu sprechen; ein bescheidenes Lob allerdings wird der Hausfrau im [109] kleinen Kreis stets angenehm sein. Es ist eine Pflicht jedes Herrn, auch ohne dazu aufgefordert zu sein, dafür zu sorgen, daß man selbst, sowie alle Herumsitzenden, stets ein gefülltes Glas vor sich habe; doch beachte man, welches Glas für den betreffenden Wein bestimmt ist; da es sich beim Selbsteinschenken meistens nur um Tischweine handelt, so muß man vermeiden, die feineren Gläser, die für bessere Weine aufgehoben sind, zu benutzen. Man muß sich nicht erst vom Hausherrn nötigen zu lassen, sich wieder einzuschenken. Aber auch hierbei muß man in besonderer Weise aufmerksam sein; es kann wohl vorkommen, daß der Herr und die Frau vom Haus, durch irgend welche Gespräche beschäftigt, nicht darauf achten, daß eine Flasche Wein leer getrunken und durch eine neue zu ersetzen ist, und daß das Mädchen oder der Diener nicht eingelernt sind, solchem Mangel unaufgefordert abzuhelfen; bemerkt man dies, oder hat man die Empfindung, daß es vielleicht ein wenig sparsam mit dem Wein überhaupt zugeht, so vermeide man es, sein Glas leer zu trinken und den Hausherrn in die Notwendigkeit zu versetzen, eine neue Flasche bringen zu lassen; ja, selbst eine Behauptung, man tränke stets zum Essen so gut wie gar nichts, oder eine ähnliche, [110] wenn sie auch nicht wahr ist, wäre hier am Platz.

Das Zeichen zum Aufstehen wird von der Hausfrau gegeben. Man erhebt sich dann sofort und schiebt nun wieder den Stuhl seiner Dame, während sich diese erhebt, zurück, bietet ihr den Arm und führt sie in das andre Zimmer. Den Stuhl, so wie man ihn verlassen hat, stehen zu lassen, ist unpassend, er gehört sich stets unter den Tisch gerückt.

Wenn während des Essens „Trinksprüche“, Toaste (sprich stets „Toost“ und nie „To-ast“, wie es unbegreiflicherweise selbst die gebildetsten Leute, die sonst alle Fremdwörter richtig aussprechen, thun) gehalten werden, so versteht es sich von selbst, daß man alles Sprechen und jedes sonstige Geräusch unterläßt. Selbst bei Reden von längerer und längster Dauer hat man aufmerksam dazusitzen, wenn man auch vielleicht seinen Gedanken einstweilen anderweitig Urlaub gibt; nur soll man dafür sorgen, daß die Gläser aller Umsitzenden zum Anstoßen am Schluß gefüllt sind. Eine besondere Regel, ob man zu der betreffenden Person, auf die man soeben zu trinken aufgefordert worden ist, hingeht, um mit ihr anzustoßen, oder nicht, kann nicht gegeben werden; [111] das richtet sich zu sehr nach den einzelnen Umständen. Auf alle Fälle aber ist es besser, besonders in einer großen Gesellschaft, sitzen zu bleiben und die Nachbarn ebenfalls dazu aufzufordern und nur mit ihnen anzustoßen: es werden dadurch so viele zerbrochene Gläser, begossene und abgetretene Schleppen, überschüttete Fräcke vermieden, daß der Gewinn entschieden ein großer ist. Ob und wann man selbst reden soll, das läßt sich erst recht nicht im allgemeinen bestimmen; wenn man erst einmal soweit im gesellschaftlichen Verkehr vorgeschritten ist, daß man in diese Verlegenheit kommen kann, dann hat man schon selber das richtige Gefühl dafür oder sollte es wenigstens haben. Nur bedenke man zuvor gründlich, ob es wirklich unumgänglich notwendig ist, daß man redet, ob man es nicht vielleicht mehr sich zur Befriedigung, als andern zum Vergnügen thut, ob die Zeit und damit die Stimmung nicht schon zu weit vorgeschritten ist, und dann – unterlasse man es doch lieber. Jeder Toast, der nicht geredet wird, ist ein Gewinn für die Gesellschaft. Immerhin kann aber an jeden die Notwendigkeit herantreten, daß er doch reden muß. Dann bemühe er sich wenigstens, seinen Spruch so kurz wie [112] möglich sein zu lassen und die Geduld der Gäste nicht über die Gebühr in Anspruch zu nehmen. Wenn man im voraus weiß, daß man bei einem Diner oder Souper reden muß, so kann man sich schon zu Hause vorbereiten; muß man dagegen improvisieren, so spreche man, wie es einem ums Herz ist; das macht dann immer einen besseren, unmittelbareren Eindruck, als wenn man sich in der Eile zwischen zwei Gängen eine Reihe gekünstelter Phrasen zurecht gemacht hat. Wer das Talent hat, in Versen zu sprechen, der mag es bei dieser Gelegenheit leuchten lassen; immer aber, und das ist die Hauptsache, sei man kurz.

Wird nach einer Mahlzeit Kaffee genommen, so geschieht dies gewöhnlich im Salon, im Stehen. Das ist auch keine leichte Sache, die volle Tasse zu balancieren und dabei Achtung zu geben, daß man von niemand gestoßen wird und selbst niemand zu nahe kommt oder auf die Schleppe tritt. Der kleine Löffel bleibt beim Trinken stets auf der Untertasse liegen. Man hüte sich, zu früh zu trinken und sich vielleicht gar den Mund zu verbrennen, sondern warte ruhig, bis der Inhalt der Tasse kühl geworden ist. Umrühren, um dies zu befördern, oder blasen ist ungehörig.

[113] Es versteht sich von selbst, daß bei kleineren, intimeren Gesellschaften meist ein ungezwungenerer Ton herrschen wird, als bei einem großen Diner, und daß auch die Verpflegung weit einfacher sein wird. Bei solchen Gelegenheiten würde man natürlich auch wieder anstoßen, wollte man sich so feierlich und förmlich benehmen, wie man dies in einer großen Gesellschaft thut, in der man vielleicht zum erstenmal verweilt. Wie man sich zu geben hat, das muß natürlich dem Gefühl jedes einzelnen überlassen bleiben, aber auch hier empfiehlt es sich, ebenso wie schon anläßlich der Besuche gesagt wurde, lieber etwas zu bescheiden und zurückhaltend zu sein, als diese guten Eigenschaften zu wenig zur Schau zu tragen. Bemerkt man, daß es gewünscht wird, daß man sich mehr gehen läßt, „ungenierter“ ist, so kann man dies immer leichter thun: viel schwerer ist es, wenn man gleich anfangs einen zu freien Ton angeschlagen hat und nun wieder zurückgehen muß, da man merkt, daß man damit anstößt.

Ist bei einem Ball oder einer Tanzgesellschaft nur ein Büffett aufgestellt, so hat der Herr die angenehme Aufgabe, nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Dame sorgen zu dürfen. In der Regel wird man diese Art, seine Gäste [114] mit Speise und Trank zu versehen, nur in sehr großen Gesellschaften anwenden, wenn man ein feierliches und umständliches Souper vermeiden will. Es sind dann in einem besonderen Zimmer alle möglichen kalten Schüsseln aufgestellt in mehr oder weniger großer Auswahl, Vorspeisen, kaltes Fleisch, Salate, süße Schüsseln, Butter, Käse u. s. w. Ebenso befinden sich da Teller, Servietten, Bestecke, Gläser, kurz alles, was zu einer Tafel gehört, und jeder Herr muß nun seine Dame zu einem der überall aufgestellten kleineren Tische geleiten, ihr ein Couvert bringen und sie mit allem, was sie sich nur irgend wünscht, versehen. Glaubt man, dies ohne sie vorher zu fragen, mit welchen Speisen man ihr dienen darf, thun zu können, so bringe man ihr nach eignem Gutdünken, andernfalls erkundige man sich vorher nach ihren Befehlen. Der Wein steht gewöhnlich schon vorher auf allen Tischen, an denen gegessen werden soll; im andern Fall muß man sich auch damit am Büffett versorgen. Nur sei man bei dieser Gelegenheit nicht zaghaft, denn da die ganze Veranstaltung etwas sehr Zwangloses hat, so wird es auch immer bei einem solchen Angriff auf ein Büffett, besonders da nur Herren dabei sind, nicht immer sehr förmlich zugehen, und manche werden ihre Formlosigkeit [115] auch noch damit begründen, daß sie für eine Dame zu sorgen hätten, wodurch alles erlaubt sei. Wer aber bescheiden ist, der muß erstlich lange warten und bekommt dann für seine Dame überhaupt nichts sehr Gutes mehr. Da wohl die Gäste meist nicht in die Kunst des Servierens eingeweiht sind, so erfordert es viel Geschick, mit einem vollen Teller von dem Büffett wieder an seinen Tisch zu gelangen, oder nur allein schon ein Couvert zu tragen, ohne Messer und Gabel vorher einmal unabsichtlich auf den Fußboden zu legen; da muß man eben seinem guten Glück vertrauen und sich damit trösten, daß es andern vielleicht auch nicht viel anders ergehen wird. Hat man selbst für keine Dame zu sorgen, so bittet man an irgend einem Tisch, bei schon Dasitzenden Platz nehmen zu dürfen, und macht sich durch Heranholen etwa noch gewünschter Dinge nach Möglichkeit nützlich.

Ein weniger reich besetztes Büffett, auf dem nur kleinere Erfrischungen, belegte Brötchen, Torte, Bowle und dergleichen stehen, wird oft im Verlauf eines Balles noch spät aufgestellt. Auch dabei muß man seine Dame fragen, ob man ihr etwas davon bringen darf, oder geht mit ihr zu demselben und ißt die Kleinigkeit gleich [116] im Stehen ohne weitere Umstände. Überhaupt bedenke man immer, daß eben deshalb ein Büffett aufgestellt worden ist, um die Umstände eines großen Soupers zu vermeiden.

Werden, wie das wohl auch geschieht, Platten mit belegten Brötchen, Kuchen u. s. w. herumgereicht, so braucht man nur für sich zu sorgen. Man zieht dabei den rechten Handschuh aus. Unpassend ist es, aber freilich nichtsdestoweniger sehr beliebt, nicht gleich das nächstliegende Stück zu nehmen, sondern erst auf dem Teller herumzusuchen, was einem wohl schmecken könnte, und sich etwa bessere Sachen mitten herauszuholen. Kaviar- oder Lachsbrötchen haben besonders die Eigenschaft, daß sie stets bereits am Anfang mit einer Geschicklichkeit aus der Fülle der übrigen belegten Brötchen herausgegessen sind, die einer besseren Sache würdig wäre.

[117]
Familienfestlichkeiten.

Die alles ausgleichende moderne Richtung hat mit den von unsern Altvordern überkommenen Gebräuchen, ohne die man sich früher kaum irgend ein Geschehnis im ganzen Leben denken konnte, so gründlich aufgeräumt, daß man fast nirgendwo solch sinnigen Erinnerungen an alte Zeiten begegnet. Nur bei den hauptsächlichen festlichen Ereignissen im Familienleben haben sich noch allerlei hergebrachte Gebräuche bewahrt, bei Taufen, Verlobungen, Hochzeiten u. s. w. Es wird aber wohl kaum zwei Orte im ganzen großen Vaterland geben, an welchen dieselben gleich wären; überall sind andre Gebräuche im Schwang: was hier zur unumgänglichen Notwendigkeit gehört, das ist am nächsten Ort streng verboten; die Sitte, die dort herrscht, wird oft schon wenige Meilen weiter als Unsitte angesehen. Es lassen sich daher alle diese Gebräuche gar nicht im einzelnen feststellen; wer fremd an [118] einen Ort kommt, um sich, sei es nur als Gast, sei es als handelnde Hauptperson, an derlei Festlichkeiten zu beteiligen, wird gut thun, sich vorher gründlich bei einem Wissenden danach zu erkundigen, was er zu thun und zu lassen hat. Es kann ihm nicht schwer fallen, sich die nötigen Kenntnisse zu verschaffen, denn all diese Gewohnheiten stehen fest, wie das Evangelium, und wer wissen will, was sich in dieser Hinsicht ziemt, der frage nur bei älteren Frauen an, sie werden es ihm bis in die kleinste Einzelheit mitteilen. Es können daher hier nur die allgemeinen Gepflogenheiten bei Familienfestlichkeiten angeführt werden.

Bei der Geburt eines Kindes erfordert es der gute Ton, daß man das frohe Ereignis allen denen, von welchen man voraussetzt, daß sie ein gewisses Interesse an der Familie nehmen, mitteilt. Dies hat mündlich oder durch einen kurzen Brief an alle näheren Verwandten und Freunde des Hauses zu geschehen, während man sich für den weiteren Bekanntenkreis am besten gedruckter Karten bedient, die man durch die Post verschickt. Außerdem pflegt man die Geburt eines Kindes auch in den Zeitungen anzuzeigen. Bei Beamten wird es in den meisten Fällen zum guten Ton gehören, ja sogar gefordert werden, daß den direkten [119] Vorgesetzten von dem Ereignis Mitteilung gemacht wird. Sehen es viele auch für eine schlimme Vorbedeutung an, wenn man sich im voraus, noch ehe das frohe Ereignis eingetreten ist, mit solchen Dingen beschäftigt, so kann es doch nichts schaden, daß man sich, wenigstens im allgemeinen, schon früher darüber klar ist, wie der Text einer solchen Geburtsanzeige abzufassen ist. Denn gewöhnlich ist später die Aufregung im ganzen Haus so groß, daß selbst der vernünftigste Mann oft eine Anzeige verfaßt und veröffentlichen läßt, die wohl seiner augenblicklichen Vaterfreude entspricht, bei Fernerstehenden aber geeignet ist, ein leichtes Lächeln hervorzurufen. Die einfache Kundgabe der Thatsache mit einfachen Worten bleibt stets die passendste Form. Witzig sein wollen ist bei dieser Gelegenheit sehr unpassend.

Vielfach ist es Gewohnheit, daß der glückliche Vater seiner Gattin irgend ein kostbares Geschenk, einen Schmuckgegenstand, ein Bild oder dergleichen, macht, um auch äußerlich seiner Vaterfreude Ausdruck zu geben; natürlich müssen alle zur Haushaltung gehörigen Personen, als Dienstleute, Zugängerinnen, die regelmäßigen Hausarmen u. s. w. bedacht werden. Wer in der Lage ist, weist wohl auch irgend einer wohlthätigen [120] Anstalt bei dieser freudigen Gelegenheit einen größeren Betrag zu; doch wird es vielleicht am Platz sein, darauf aufmerksam zu machen, daß man sich dann noch besonders ausbitten muß, von einem eignen öffentlichen Dank abzusehen, da unbeteiligte Dritte nur zu leicht der ganzen Handlungsweise andre Beweggründe unterlegen, als die wirklich vorhandenen.

Es ist nötig, daß man auf eine Geburtsanzeige mit einem freundlichen Glückwunsch antwortet. Näherstehende Damen können schon nach wenigen Tagen sich selbst Erkundigungen über das Wohlbefinden der Betreffenden einholen und bei dieser Gelegenheit der Mutter einen Besuch machen. Daß dabei natürlich alle aufregenden Gespräche zu vermeiden sind und der Besuch so kurz wie nur irgend möglich zu bemessen ist, versteht sich von selbst.

Wenn keine besonderen Gründe vorhanden sind, sollte man mit der Taufe nicht allzulange warten, wie das allerdings vielfach in protestantischen Gegenden der Fall ist. Über den Namen des zu taufenden Kindes werden sich die Eltern schon sowieso vorher klar sein; es ist dies ja auch wegen der standesamtlichen Formalitäten notwendig. Wenn man aber in Betracht zieht, [121] daß der Name eines Menschen doch vielfach das einzige Moment ist, welches ihn von andern unterscheidet, daß er diesen Namen Zeit seines Lebens tragen muß und daß der eine oder andre Name doch immer einen kleinen Beigeschmack des Lächerlichen hat, so wird man doppelte Überlegung bei der Wahl desselben walten lassen müssen. Eltern, die einen sehr verbreiteten Familiennamen haben, sollten ihren Kindern nicht auch noch einen gewöhnlichen Vornamen geben, sondern im Gegenteil bemüht sein, durch einen weniger gebräuchlichen ihnen dadurch eine gewisse Individualität zu verschaffen. Die Zahl der „Karl Müller“, „Paul Schmidt“ u. s. w. u. s. w. ist so ungemessen groß, daß man sich bei einem solchen Namen eine bestimmte Person viel schwerer denken können wird, als wenn man sich eines „Lothar Müller“ oder „Siegfried Schmidt“ u. ä, erinnert. Anderseits würde freilich ein Name wie Kaspar oder Peter, Anatole oder Adolar seinem Träger, wenn er im letzteren Fall nicht über einen ebenso romantischen Zunamen gebietet, doch immer einen etwas lächerlichen Anstrich geben. Beim Wählen des Namens ist es durchaus nicht anzuraten, der Mode zu folgen, die in diesem Fall geradezu etwas Ausgleichendes [122] hat. Heutzutage liebt man es, womöglich jedes kleine Mädchen „Elsa“ und jeden kleinen Jungen „Hans“ zu nennen; aber der Name soll doch stets etwas Individualisierendes sein. Allerdings ist es manchmal schwer, den rechten Weg zu finden, denn wohl bei keiner andern Gelegenheit kommen so viele Rücksichten in Betracht wie bei der Wahl eines Namens. Am besten ist es dann, man richtet sich nach gar niemand und wählt einen Namen, der bei keinem Angehörigen vorkommt; dann kann sich wenigstens nicht der eine oder andre einzelne verletzt fühlen; überdies ist es ja gebräuchlich, einem Kind außer seinem Rufnamen noch verschiedene andre Vornamen zu geben; dabei kann dann auf die Großväter, die Großmütter, Tanten und Onkel gebührende Rücksicht genommen werden.

Wen man zu Paten wählt, und wie viel man solcher einem Kind gibt, ist lediglich Sache der Eltern. Die katholische Kirche kennt grundsätzlich nur einen Paten und eine Patin; bei den Protestanten ist die Zahl derselben unbeschränkt. Während früher die Paten immer in einem gewissen Verhältnis zu dem Kind blieben, hat dies in unsrer Zeit so gut wie ganz aufgehört. Wenn die Eltern jemand bitten, bei ihrem Kind Patenstelle [123] zu vertreten, so ist dies lediglich als eine Höflichkeit anzusehen, die weiter keine Folgen für den Betreffenden hat. Wollten die Paten ihrer bei der heiligen Handlung übernommenen Pflicht, sich als dessen „geistige Eltern“ um des Kindes weitere Entwickelung zu kümmern, wirklich nachkommen, so würden sich die Eltern diese Einmischung in ihre Rechte wohl freundlichst verbitten; in den meisten Fällen wird sich natürlich das freundschaftliche Verhältnis, welches zwischen Eltern und Paten bestanden hat, später auch auf das Patenkind ausdehnen. Eine direkte Verpflichtung aber, außer einem Geschenk bei der Taufe oder beim ersten Geburtstag und meistens auch bei der Firmelung oder bei der Konfirmation erwächst niemand aus der Übernahme der Patenschaft. Gewöhnlich wird der Täufling während der Taufe von den Paten gehalten; daß sich ein Herr dabei nicht allzu ungeschickt benehme, muß seine Hauptsorge sein, und lieber gebe er das Kind der Wärterin möglichst bald wieder zurück, ehe er Veranlassung ist zu unliebsamer Störung des feierlichen Aktes. Der gute Ton erfordert, daß ebenso viele Herren wie Damen zu Paten gebeten werden; man bezeichnet dann jedem Herren noch eine von den Damen besonders als [124] dessen „Gevatterin“. Er hat dieselbe im Wagen abzuholen, ihr vorher ein Bouquet zu schicken und ist während der ganzen Festlichkeit ihr Herr. Früher war es Mode, daß der Gevatter seiner Dame ein Paar weiße Handschuhe und diese ihrem Gevatter ein Taschentuch schickte. Immerhin wird es anzuraten sein, wenn man an irgend einem weltvergessenen Ort zur Taufe gebeten ist, vorher Umfrage zu halten, ob diese Gebräuche etwa nach im Gang sind, damit man nicht durch deren Unterlassung vielleicht ein junges Mädchen, welches zum erstenmal Patin ist und seine Aufgabe verzweifelt ernst ansieht, tödlich beleidigt, ohne überhaupt zu wissen, wodurch.

Bei besseren Familien und in größeren Städten findet vielfach die Taufe im Haus statt, und oft ist dies durch die Jahreszeit, den weiten Weg zur Kirche, das Befinden der Mutter u. s. w. auch wirklich begründet. Wie dazu die Zimmer herzurichten sind, welche Bestellungen sich nötig machen, was alles dazu herbeizubringen ist, richtet sich nach den ortsüblichen Gebräuchen, die allen älteren Frauen gründlich bekannt sind. Wer nur einigen künstlerischen Geschmack hat, wird mit leichter Mühe die Wohnung für eine so festliche Gelegenheit stimmungsvoll ausschmücken können. [125] Nur sei man dabei bedacht, peinlichst alles das zu vermeiden, was an eine andre, traurige Gelegenheit erinnern könnte, bei der man auch oft veranlaßt ist, die Wohnung zu schmücken und der Stimmung entsprechend herzurichten. Bei Taufen haben gewöhnlich die Paten die Verpflichtung, an alle möglichen Personen Trinkgelder auszuteilen. Da ist der Küster, die weise Frau, die Amme, die Wärterin, der Lohndiener und wie sie alle heißen mögen, die überflüssig-geschäftigen Geister, die immer gerade zur rechten Zeit um die Wege sind. Man erkundige sich daher auch genau nach dem Üblichen und versehe sich mit genügendem kleinen Geld, um nicht in Verlegenheit zu kommen. Auch von solchen Leuten, nicht nur von den Schauspielern im „Hamlet“, ist oft „üble Nachrede“ zu haben so lange man lebt, schlimmer als eine schlechte Grabschrift.

Nach der Taufe findet stets ein Frühstück, ein Mittagessen oder dergleichen statt. Wohnt der Geistliche demselben bei, so hat dieser den ersten Trinkspruch und zwar auf den Täufling auszubringen; bei größeren Gesellschaften kann es nicht schaden, wenn sich die Herren vorher darüber einig werden, wer die weiteren Gesundheiten ausbringen soll auf die Eltern, Großeltern, [126] Tanten, Onkel und sonstige Verwandte – denn alle diese rechnen fest darauf! – die Gevatterinnen u. s. w. Eine solche Verteilung der Toaste ist überhaupt bei allen Gelegenheiten, wo viele Tischreden erwartet werden, anzuraten. Was endlich das Gespräch bei einem Tauf-Diner anlangt, so möchte es einem Herrn, der sonst vielleicht kein allzugroßes Interesse an Kindern, und an so kleinen schon gar nicht, hat, zu empfehlen sein, für diesen Tag wenigstens seine Ansichten zu unterdrücken und Teilnahme zu zeigen für Dinge, die ihm sonst sehr fern liegen.

Ein Kind überhaupt nicht taufen zu lassen, ist im höchsten Grad rücksichtslos gegen das kleine Wesen selbst. Mögen die Ansichten der Eltern sein, wie sie wollen, das ist ihre Sache; sie dürfen aber durchaus nicht das Kind in eine Lage bringen, durch die es später in direkten Gegensatz zu seinen Mitmenschen gestellt wird und durch die es schon in seiner Jugend auf Verhältnisse aufmerksam gemacht wird, die dem kindlichen Gemüt so lange, wie nur irgend möglich fern gehalten werden sollten. Wir sind glücklicherweise noch nicht soweit, und werden hoffentlich auch nie soweit kommen, daß der Zustand der Religions- und Glaubenslosigkeit überhaupt anders als wie eine [127] Ausnahme angesehen wird; warum also sein Kind von Anfang an in Gegensatz zu der ganzen übrigen Menschheit bringen? Empfindet es dereinst, wenn es erst selbst dazu Unterscheidungsvermögen genug bekommen hat, seinen christlichen Glauben als einen Zwang, so bedarf es nur sehr geringer Bemühungen, denselben abzuthun; umgedreht aber, erst später in die Gemeinschaft der Gläubigen, womöglich als Erwachsener, aufgenommen zu werden, ist mit so viel Umständen verbunden, daß der Betreffende dann freilich oft genug lieber ganz davon absieht. Und sind es nicht innere Gründe, die ein Elternpaar veranlassen könnten, ihr Kind taufen zu lassen, so sollten sie es doch wenigstens aus der praktischen Überlegung thun, daß sein keiner Religion Angehören dem späteren Jüngling, dem Mann in jeder Stellung hinderlich sein, ja sein Fortkommen geradezu in Frage stellen kann.

Der Brautstand ist für gewöhnlich diejenige Zeit im Leben, in welcher sich die Beteiligten berechtigt glauben, die wenigste Rücksicht auf die Forderung der Gesellschaft nehmen und doch die größte für ihren Zustand beanspruchen zu dürfen. Besonders bei jungen Leuten pflegt diese Zeit ein Ausnahmezustand zu sein, und die umgebende [128] Gesellschaft kann nur froh sein, wenn Braut und Bräutigam nicht noch fordern, daß auch sie unausgesetzt teilnehme an dem himmlischen Glück, das den andern im Grund doch wohl nicht so interessant erscheint, als ihnen selbst. Es ist natürlich nicht möglich und würde auch nicht in den Rahmen des vorliegenden Buches passen, über das Verhalten bei einer Verlobung, die Vorbereitungen zu dem verhängnisvollen Schritt, die Wege, die Auserwählte des Herzens näher kennen zu lernen, u. s. w. irgend welche Regeln zu geben. Nur auf allgemeineres möge hingewiesen werden, was überall und unter allen Umständen als Vorschrift aufrecht zu halten ist.

Ehe man nur überhaupt daran denkt, sich ernstlich für jemand zu interessieren, und vor allem, ehe noch das Herz die Gewalt über den Verstand gewonnen hat, überlege man den beabsichtigten Schritt gründlich und von allen Seiten. Man lasse nicht den Wunsch den Vater des Gedankens sein und ziehe alle Möglichkeiten in Betracht, die eintreten können, nicht nur in materieller, sondern auch in geistiger Hinsicht; man prüfe sich unparteiisch, ob man sich auch den vielen Zufällen gewachsen fühlen wird, die einem begegnen können und werden, [129] und ob auch später noch, wenn aus den Brautleuten erst Gatten geworden sind und der Ernst des Lebens an sie herangetreten ist, die Liebe, die man jetzt empfindet, stark genug sein wird, über manches beim andern hinwegzusehen, manche Eigenschaften zu ertragen, welche dem glückseligen Verlobten kaum auffallen, gewiß nicht mißfallen, den feinfühlenden Gatten, die Gattin aber vielleicht nicht nur unangenehm berühren, sondern oft geradezu unglücklich machen. In keinem Verhältnis ist der Trost: Das wird sich später schon geben! gefährlicher als hier, denn wenn diese Voraussage nicht eintritt, dann ist es zu spät. Obgleich Verlobte gegeneinander die größte Rücksicht haben wollen und nur einer im andern aufzugehen wünschen, so macht sich doch gerade bei ihnen fast ausnahmslos in ihren Zukunftsgedanken der größte Egoismus geltend. Jeder Teil wird überzeugt sein, daß der andre, schon ihm zuliebe dies oder jenes, was ihm nicht gefällt, von selbst lassen oder daß es ein Leichtes sein werde, es ihm abzugewöhnen; daß man selbst aber Pflichten gegen den andern habe und, ehe man sich jenen nach seinem Wunsch heranzieht, viel eher bestrebt sein müsse, sich seinerseits dem andern anzupassen [130] und ihm, mit dem man die ganze Zeit des Lebens vereint wandern soll, zu Gefallen zu sein, das bedenken oft beide Teile, meistens aber der Mann, viel zu wenig. Denn er ist geneigt, das „Aufgeben seiner Freiheit“ so hoch anzuschlagen, daß er schon dadurch alle Ergebenheit der Frau erkauft zu haben glaubt, und zieht doch nicht in Betracht, daß das Opfer, welches ihm jene bringt, indem sie alles verläßt, um dem Mann nachzufolgen, oft viel größer und tiefer empfunden ist. Es liegt in der menschlichen Natur, daß man sich, nur um zu seinem Ziel zu gelangen, auch wohl einmal eines Mittels bedient, dessen Tragweite man gar nicht absehen kann; so wird es mancher für ungefährlich halten, wenn er sich besser gemacht hat, als er wirklich ist, ja er wird vielleicht augenblicklich nicht einmal die Unwahrheit, die er dadurch begeht, empfinden; dann aber, hat er erst den gewünschten Zweck erreicht und läßt er sich wieder gehen, welche bittere Enttäuschung wird es für den andern sein und welche Beschämung für ihn selbst, wenn jener ihm seine Unlauterkeit zum Vorwurf macht. Daher ist die hauptsächlichste Pflicht der Verlobten: stets vollkommen wahr gegeneinander zu sein und keinerlei Hintergedanken zu haben. Denn [131] wenn es schon jetzt zwischen ihnen, da sie von dem Glück ihrer Liebe gehoben und getragen sind, der Verstellung und des Verleugnens bedarf, wie wollen sie dann mit Vertrauen zu einander aufschauen, wenn sie erst, ganz verbunden, den Kampf mit dem Leben gemeinsam aufnehmen sollen.

Ebenso wahr aber, wie gegen die Braut ist es Pflicht des Bräutigams gegen deren Eltern zu sein. Auch hier würde eine Täuschung erst recht ein moralisches Verbrechen bedeuten, und die Vorwürfe, die ihm dereinst die „Schwiegereltern“ machen würden, wären nur zu berechtigt. Wohl sagt der Volksmund, daß man ja Eltern und Geschwister nicht mit heirate, aber wenn man stets bedächte, wie viel größere und ältere Anrechte Eltern an ihr Kind haben, als ein Bräutigam, ein Gatte, der sie ihnen wegnimmt, so würde wohl manches unangenehme Verhältnis, bei dem das ominöse Wort „Schwieger“ vorkommt, nicht bestehen. Anderseits ist es aber auch Pflicht jeder Braut, jedes Bräutigams, sich vorher zu überlegen, was sie aufgeben und aufgeben müssen, wenn sie einander heiraten wollen. Denn der Gattin, dem Gatten zu gehören und zugleich doch die Eltern, die Schwester nicht zu [132] verlassen, ja womöglich dem andern zuzumuten, sich mit den Angehörigen in den Gegenstand seiner Liebe zu teilen, ist unentschlossen und feig: Der Mann hat in erster Linie zu seiner Frau zu stehen, die Frau zum Mann, das geloben sie sich vor dem Altar, und dann erst kommen Eltern und Geschwister, wenn man ein solches Verhältnis zwischen Angehörigen überhaupt in dieser Weise zeitlich oder räumlich feststellen will. Eine viel bessere Auskunft ist es aber, wenn beide, Mann und Frau, bemüht sind, sich des Glückes, anstatt eines Elternpaares nun zwei zu besitzen, durch Liebe und Verehrung derselben würdig zu zeigen. Jedes der beiden bedenke, daß von der Verlobung an die Familie des andern auch so gut wie die eigne ist, und unterlasse es, durch irgend welche lieblosen Aussagen über jene den andern zu kränken; ja, auch auf die gegenseitigen Freunde und Freundinnen möge sich diese Rücksicht ausdehnen. Pflicht der Angehörigen aber ist es, sich nicht in manchmal wohl berechtigter Eifersucht zwischen Verlobte oder Verheiratete einzudrängen und Unfrieden zu säen, vielmehr sollen und müssen sie dem Glück des Kindes, der Schwester, des Bruders ihr eignes Gefühl zum Opfer bringen. Ist es trotz alles [133] guten Willens dem einen Teil doch nicht möglich, sich mit dem andern zu befreunden, so erfordert es der gute Ton, daß wenigstens die gegenseitige Achtung und Höflichkeit gewahrt bleibe und nicht etwa die schlecht verborgene Eifersucht einerseits, die Empfindlichkeit anderseits in offene, beabsichtigte Feindschaft ausarte. Ein solches Verhältnis ist einfach unanständig.

Der gute Ton erfordert, daß ein junger Mann, welcher sich um die Liebe eines jungen Mädchens bewirbt, möglichst bald auch Gelegenheit nimmt, deren Eltern vorgestellt zu werden. Ein Liebesverhältnis, und sei es auch noch so unschuldig, gleichsam hinter dem Rücken der Angehörigen anzuknüpfen, ist sehr unpassend, daneben ist es aber auch unpraktisch und unnötig, denn der rechtlich denkende Mann sollte nie versuchen, in irgend welcher Weise bei einer jungen Dame tieferes Interesse für sich zu erwecken, wenn er nicht die feste Absicht hat, sich um ihre Hand zu bewerben, und bald genug auch in der Lage ist, sie heimzuführen. Dann steht aber auch nichts im Weg, daß man die Eltern derselben davon in Kenntnis setze. Es braucht ja nicht gleich zu einem Antrag, zu Zusage oder Ablehnung zu kommen; aus welchem Zweck der [134] Betreffende im Haus der jungen Dame zu verkehren sucht, das werden sich die, welche es angeht, schon allein denken können und dann von vornherein ihre Maßregeln treffen. Hat einer aber keine ernsten Absichten und ist doch gewissenlos genug, sich um die Zuneigung eines Mädchens zu bemühen, so geht er wohl, wenn es ihn langweilt und eine andre ihm besser gefällt, ungestört von dannen: in welche Lage er aber die Dame bringt, wenn er sich vorher so um sie bemüht hat, daß es andre bemerkt haben – und andre bemerken solches nur zu schnell! – und sie nun plötzlich verläßt: schon diese Erwägung allein sollte jeden von so verhängnisvoller Spielerei abhalten. Vor allem aber ist solches Gebaren unehrenhaft.

Da sich die geschäftige Zunge sämtlicher männlichen und weiblichen Klatschbasen mit der Colportage irgend eines Liebesverhältnisses von zwei jungen Leuten, und ständen diese den betreffenden lebendigen Chroniken auch noch so fern, beschäftigen, so ist es anzuraten, eine Verlobung so bald wie irgend möglich auch zu veröffentlichen und dadurch ein fait accompli, eine vollendete Thatsache, zu schaffen. Vor einer solchen haben die vielen unberufenen Freunde [135] und Zuträger doch immer einen gewissen Respekt, während sie es vorher oft genug geradezu für ihre Pflicht halten, jedem der beiden Liebenden so viel des Unangenehmen über den andern mitzuteilen und so viel in der ganzen Stadt herum zu klatschen, daß doch manchmal wirklich Mißverständnisse entstehen und zum mindesten das Glück der Beteiligten vorübergehend getrübt werden kann. Die Verlobung wird sowohl vom Bräutigam als von den Eltern der Braut, sofern diese noch nicht verheiratet war, zusammen bekannt gegeben. Ist die Braut Witwe, so geschieht die Anzeige nur von seiten des Bräutigams. Wie bei allen derartigen Gelegenheiten pflegt man die Nachricht einer Verlobung oder Verheiratung außer durch gesandte Karten auch durch die Zeitungen des betreffenden Ortes und, falls der Bräutigam oder der Vater der Braut irgendwie in der Öffentlichkeit lebende Personen sind, auch durch die einschlägigen Fachblätter kund zu geben. Man nehme bei der Abfassung einer solchen Anzeige Bedacht darauf, daß dieselbe so klar, wie irgend möglich sei. Geradezu unbegreiflich ist die jetzt so beliebte Form der Verlobungsanzeigen, nach welchen es den Anschein hat, als ob der Bräutigam [136] Thatsachen erst noch ganz besonders bekannt zu geben für nötig hielte, die sich denn doch wohl von selbst verstehen: und der Mädchenname der Mutter der Braut wird doch schon unter der Anzeige von seiten der Eltern genannt. Ob endlich der Eindruck der Person des Bräutigams bedeutend erhöht wird, wenn unter der meist nur sehr kurzen Angabe seiner Stellung noch in zwei bis drei Zeilen sein Verhältnis als Sekondeleutnant der Reserve irgend eines Regiments bekannt gemacht wird, muß dahingestellt bleiben, auf keinen Fall aber ist es richtig, zuerst diese militärische Würde und dann erst in zweiter Linie seine bürgerliche Stellung zu nennen, die doch hier die Hauptsache ist.

Wenn auch erst durch die standesamtliche Trauung eine Ehe als wirklich geschlossen gilt, so ist doch das Jawort, welches das Mädchen dem Mann gibt, wenn er um ihre Hand anhält, viel bedeutungsvoller als jenes Ja vor dem Standesbeamten oder in der Kirche. Nicht erst mit diesem wird der Entschluß, einander fürs Leben angehören zu wollen, ausgesprochen, er wird nur noch einmal und förmlich bestätigt: bei der Verlobung hingegen entscheidet jeder von beiden bereits über seine Zukunft. Denn allen [137] anständig denkenden Menschen muß das Verlöbnis ebenso heilig sein, wie die Ehe selbst; ein Bräutigam muß mit seinem Junggesellenleben abgeschlossen haben, ehe er sich verlobt, die Braut darf sich nichts mehr erlauben, was sie später als Gattin unterlassen würde oder müßte. Beide sollen ihr Benehmen der Gesellschaft gegenüber so einrichten, als seien sie bereits verheiratet. Es bleibt daher auch stets eine sehr peinliche Sache, wenn eine Verlobung wieder rückgängig wird, peinlich zumal für die Braut. In den Kreisen der guten Gesellschaft wird man daher auch nur, wenn durchaus zwingende Gründe vorliegen, einen solchen Schritt thun. Ist die Trennung aber unvermeidlich und der Bruch geschehen, dann wird man beiderseits alles aufbieten, die Sache mit feinem Takt zu Ende zu bringen. Wer immer der schuldtragende Teil ist, nie wird es einem gut anstehen, dem andern Schlimmes nachzureden – man liefert nur den lieben Bekannten noch mehr Stoff zu dem ohnehin reichlichen Klatsch, ohne die eigne Lage zu bessern. Wenn es möglich ist, wird es zumal in dem Fall, daß die ehemals Verlobten in einem Ort wohnen, für die Beteiligten (beide oder doch die Braut) am besten sein, für einige Zeit [138] zu verreisen, bis das Ereignis mehr zurückgetreten ist und auch sie selbst die Ruhe so weit wiedergewonnen haben, um unbefangen aufs neue in die Gesellschaft eintreten zu können. Selbstverständlich vermeidet man ihnen gegenüber möglichst jede Erinnerung an jenen Vorfall, überhaupt an jene Zeit.

Wenn Verlobte und manchmal auch junge Eheleute glauben, daß es nichts Interessanteres, Schöneres, Lieberes geben könnte, als den andern von ihnen beiden, so sollten sie doch ihre Ansicht nicht der ganzen übrigen Welt aufdrängen wollen und vermeiden, bei allen denen, die schon diesen Zustand selbst durchgemacht haben, durch ihre Zärtlichkeit ein mitleidiges oder sarkastisches Lächeln hervorzurufen.

Der gute Ton fordert, daß ein Brautpaar bei sämtlichen bekannten Familien der Braut sowohl, wie des Bräutigams Besuche macht. Näheres darüber findet sich schon in dem Kapitel über die Besuche.

Daß ein Bräutigam ganz besonders galant gegen seine Braut und diese so aufmerksam wie nur möglich gegen ihren Bräutigam zu sein hat, braucht wohl nicht besonders angeführt zu werden; nur soll darauf hingewiesen sein, [139] daß es wohl niemand schaden wird, wenn er sich durch kleine Aufmerksamkeiten auch bei den Angehörigen des Gegenstandes seiner Zuneigung in gutes Licht zu setzen weiß.

Ein liebender Bräutigam soll nicht nur in der herkömmlichen Weise liebenswürdig und galant sein, er muß auch Unausgesprochenes ahnen, nur vielleicht gedachten Wünschen schon zuvorkommen. Trotzdem muß er aber bei allem in den vorgeschriebenen Grenzen bleiben. Nicht der Wert der Geschenke, nicht die große Ausgabe ist es, sondern die Gesinnung, mit der sie überreicht werden, welche den Ausschlag geben. Ein einfaches Veilchensträußchen, eine Rose sind oft dem Betreffenden viel kostbarer als ein teures Bouquet der seltensten Blumen. Ja, oft rufen derlei Geschenke gerade den entgegengesetzten Eindruck hervor, als den man beabsichtigt, wenn der andre empfindet, wie sich jener über seine Kräfte angestrengt hat und sich womöglich anderweitige Entbehrungen auferlegt, um nur recht kostbare Geschenke machen zu können oder gar zu diesem Zweck Schulden eingeht.

Das erste Geschenk, welches sich Verlobte machen, sind Verlobungsringe; gewöhnlich schenken sie sich dieselben gegenseitig; an andern Orten [140] ist es Brauch, daß sie der Bräutigam besorgt und einen davon der Braut ansteckt. Manchmal sind dies auch schon die künftigen Trauringe; man trägt sie dann an der linken und erst nach der Trauung an der rechten Hand.

An vielen Orten ist es Sitte, sowie die Verlobung stattgefunden hat, oder wenigstens kurze Zeit darauf, daß die Eltern der Braut ein feierliches Verlobungsessen geben, bei welchem zugleich Gelegenheit geboten ist, daß Braut und Bräutigam den gegenseitigen Verwandten, sofern sie diese noch nicht kennen, vorgestellt werden. Meistens müssen bei einer solchen Gelegenheit die Brautleute den ersten Toast über sich ergehen lassen, dem dann, wenn der Brautstand lange währt, noch ungezählte andre, durchschnittlich bei jeder Gesellschaft, in welcher sie sich befinden, folgen werden. Zur Beruhigung des Bräutigams sei aber gesagt, daß derselbe nicht genötigt ist, auf einen solchen Trinkspruch zu antworten. Gut wird es sein, wenn man sich von vornherein überlegt, wie man sich während einer solchen Anrede benehmen will, um nicht immer wieder in Verlegenheit zu geraten, Brotkügelchen drehen oder was immer solche Verlegenheitsbewegungen sind, machen zu müssen.

[141] Was man auch über die „schönste Zeit im Leben“, den Brautstand, sagen mag, so sollte man doch Sorge tragen, daß derselbe nicht ohne Grund zu lange dauert; die Verlobten selbst werden sicherlich das geringste Interesse daran haben. Dauert es noch verhältnismäßig lange Zeit, ehe zwei Leute sich ein eignes Heim gründen können, so wird es immer besser sein, bis kurz vor der Verheiratung von einer öffentlichen Verlobung abzusehen. Haben sich die zwei wirklich lieb, so wird es zwischen ihnen dieser Formalitäten nicht bedürfen, während im andern Fall die Fragen und mäßigen Vermutungen, warum das Brautpaar nicht heirate, nicht aufhören werden.

Die Hochzeit wird gewöhnlich durch einen Polterabend eingeleitet, der, entgegen der eigentlichen Vermählungsfeier, die doch einen ernsteren Charakter hat, so lustig und munter wie nur irgend möglich sein soll. Die Rolle des jungen Paares ist an demselben eigentlich nicht sehr beneidenswert, und ein umsichtiger Festordner wird bemüht sein, zu verhüten, daß die Zahl der Vorführungen, der witzigen Gedichte und sonstiger Scherze, die dasselbe über sich ergehen lassen muß, ins ungemessene wachse. [142] Alle die aber, die irgend welche Aufführung, irgend welches Gedicht, oder was sonst für unberechenbare Überraschungen dem nachdenkenden Gehirn entsprungen sein mögen, nicht unterdrücken zu können glauben, sollten wenigstens dafür sorgen, daß ihre Produktionen nicht allzuviel des Taktlosen enthalten und sich nicht allzusehr in die Länge ziehen, und stets bedenken, daß doch der Hauptzweck ist, nicht sich, sondern andern Freude zu bereiten. Am besten ist es, wenn man das ganze Arrangement eines solchen Festes einem Herrn aus der Bekanntschaft, der in dergleichen Sachen geübt ist, übergibt; gewöhnlich werden die Eltern der Braut, die stets und überall sowohl den Polterabend, wie auch die Hochzeit auszurichten haben, nicht in der Stimmung sein, sich um so etwas zu bekümmern, während ein Dritter dem Ganzen viel objektiver gegenüber steht. Es sei auch an dieser Stelle noch einmal, neben den verschiedenen Schriften aus dem Verlag von Bartholomäus & Sohn in Erfurt, das treffliche Werkchen Anny Wothes: „Frohe Feste“ (Leipzig, G. A. Müller & Co.) bestens empfohlen.

Die Vermählung findet gewöhnlich am Tag oder zwei Tage nach dem Polterabend statt. [143] Der Feierlichkeit auf dem Standesamt folgt die Einsegnung in der Kirche. Diese sollte man stets vornehmen lassen, wenn nicht ganz besondere Gründe dagegen vorhanden sind. Mancher mag vielleicht für sich Gründe haben, weswegen er von einer kirchlichen Feier absehen möchte, und wird anderseits die Kirche und ihre Einrichtungen ethisch zu hoch schätzen, als daß er ihre Gebräuche zu einem leeren Schauspiel vor sich selbst herabgewürdigt sehen wollte, es wird aber sich stets empfehlen, dem allgemeinen Herkommen dieses Zugeständnis zu machen, aus Rücksicht gegen die Frau, gegen die Verwandten, gegen die zukünftigen Kinder.

Wer nicht in der Lage oder nicht willens ist, auch zur Hochzeit eine größere Gesellschaft einzuladen, kann dieselbe, ohne irgendwie anzustoßen, im kleinen Kreis der Verwandten und näheren Freunde feiern. Doch werden stets dem Brautpaar eine Anzahl von Brautführern und Brautjungfern beigegeben werden. Dies sind die nächsten Freunde des Bräutigams und Freundinnen der Braut. Sie gehen vor ihnen zum Altar, stehen ihnen während der feierlichen Handlung zur Seite und bilden gewissermaßen ihren Hofstaat. Jeder Brautführer hat seiner Dame ein Bouquet [144] zu schicken und holt sie im Wagen zu der Trauung ab; er sitzt bei Tische neben ihr und ist überhaupt für die ganze Dauer des Festes ihr Kavalier. Findet eine größere Hochzeit statt, so entfernt sich gewöhnlich das junge Paar unbemerkt nach dem Essen, und nun hindert nichts mehr, daß die eingeladenen jungen Leute noch einige Stunden bei Spiel und Tanz zusammen bleiben. Wer zu einer Hochzeit an einen andern Ort gekommen ist, bemühe sich nach Möglichkeit, kein Spielverderber zu sein, denn überall gibt es bei einer solchen Gelegenheit so viele lustige Neckereien, die freilich dem Fremden meistens ganz unbekannt sind, daß er sich vielleicht manchmal „geniert“ und sich aus Verlegenheit nicht beteiligen will; das muß sich jemand, der in der Gesellschaft verkehren will, überhaupt abgewöhnen, und dazu gibt es ein sehr einfaches Mittel: er mache nun erst recht von Anfang an jedes Vergnügen, jeden Spaß mit, auch wenn er die betreffenden Gebräuche dabei nicht kennt; man wird ihn bald als guten Gesellen schätzen, ja mit ein wenig Geschick kann er dann, als Neuhinzugekommener, die ganze Gesellschaft, der er sich noch vor kurzem so fremd gegenüber fühlte, beherrschen und nach seinem Geschmack leiten.

[145] Es erübrigt noch ein Wort über die Hochzeitsgeschenke zu sagen. Wer solche zu geben hat, läßt sich natürlich nicht feststellen; die meisten Freunde eines Hauses aber werden die Gelegenheit willkommen heißen, ihrer Freude an einem so frohen Ereignis auch noch andern Ausdruck als durch Glückwünsche zu geben. Nur möge man auch hierbei einen ganz besonderen Takt walten lassen, besonders Personen gegenüber, denen man ferner steht und die man durch ein, womöglich kostbares Geschenk in nicht geringe Verlegenheit bringen würde. An manchen Orten ist es Sitte, daß alle diejenigen Personen, welche zu einer Hochzeit eingeladen sind, auch Geschenke geben; man thut daher gut, sich nach den herrschenden Gebräuchen vorher zu erkundigen. Junge Leute, besonders wenn sie noch nicht selbständig sind, haben nie die Verpflichtung, ein Geschenk zu überreichen, es sei denn irgend ein selbsterdachtes oder selbstgefertigtes Erzeugnis. Näheres darüber findet sich in der Abteilung über Geschenke. Ob man künstlerische oder nützliche Gegenstände, Luxussachen oder Einrichtungsstücke schenkt, wird in jedem einzelnen Fall verschieden sein; praktisch ist es immerhin, wenn man beim Ankauf ausmacht, daß das betreffende Stück auch [146] umgetauscht werden kann, denn bei einem großen Bekanntenkreis wird es wohl nicht ausbleiben, daß einzelne Geschenke doppelt und dreifach vertreten sind. An einzelnen Orten besprechen sich auch deshalb die näheren Freunde einer Familie vorher über diesen Punkt; die Gepflogenheit, wie sie in den Hansestädten z. B. vorkommt, daß das Brautpaar einen Wunschzettel vorher ausgibt und dann von den einzelnen Freunden bei dieser oder jener Firma mit einer bestimmten Summe accreditiert wird, ist etwas sehr prosaisch und spricht nicht für eine allzu ideale Anschauung des ganzen Verhältnisses. Die Hochzeitsgeschenke werden in den letzten Tagen vor der Trauung ins Haus der Eltern der Braut geschickt, und der Überbringer ist stets mit einem guten Trinkgeld zu bedenken.

Die schwerste gesellschaftliche Aufgabe, wenn man es so nennen kann, tritt an ein Haus, an eine Familie bei einem Todesfall heran. Wenn derselbe auch noch so lange vorauszusehen ist, so widerstrebt es doch jedem, sich nur irgendwie näher mit dem zu beschäftigen, was zu geschehen hat, wenn er wirklich eingetreten ist, und dann muß alles in der verhältnismäßig kurzen Zeit von drei oder vier Tagen erledigt werden. Fast überall befinden sich allerdings Unternehmer, [147] Gesellschaften oder Geschäfte, denen man sämtliche Vorbereitungen für eine Beerdigung und diese selbst, die Besorgung der nötigen Formalitäten u. s. w. übertragen kann, und damit ist man freilich einer ganzen Reihe von Sorgen überhoben; trotzdem bleibt aber noch für die Familie soviel zu thun, daß es der genauesten Einteilung der Zeit bedarf, um nur den dringendsten Anforderungen genügen zu können. Vor allem ist es daher nötig, daß wenigstens eines der Familienglieder einen klaren Kopf behält, um die unerläßlichen Anordnungen zu treffen und dafür zu sorgen, daß den übrigen Leidtragenden alle peinlichen Störungen möglichst fern gehalten werden, denn leider bleiben dieselben bei solchen Gelegenheiten am wenigsten aus. Viele Menschen sind gewissenlos genug, aus dem aufgeregten Zustand eines Hauses Nutzen ziehen zu wollen, und deshalb muß jemand vorhanden sein, der Lieferanten, Beauftragte und Unberufene, die sich zu irgendwelcher Dienstleistung herandrängen wollen, kontrolliert und nötigenfalls ohne weitere Umstände entfernt; der aber auch auf tausenderlei Anfragen, die sich alle in der kurzen Zeit zusammendrängen, genaue Auskunft geben kann; kurz, der überhaupt das Ganze leitet. [148] Manchem wird sogar die Notwendigkeit, sich zusammennehmen und den heißen Schmerz für den Augenblick zurückdrängen zu müssen, zu einer Wohlthat werden; er wird durch die Geschäfte, den unausbleiblichen Ärger bei solchen Gelegenheiten wenigstens über die ersten, schwersten Tage hinweggebracht. Bemerken aber nahestehende Freunde, daß durch einen plötzlichen Todesfall in einem Haus solche Verwirrung eingetreten ist, daß niemand im stande ist, die nötigen Anordnungen zu treffen, und daß alles „drunter und drüber“ geht, so ist es deren Pflicht, sich eines solchen leitungslosen Zustandes anzunehmen und das Nötige nach bestem Wissen und Gewissen zu veranlassen.

Die Anzeige eines Todesfalles hat sobald wie irgend möglich zu geschehen. Auch hierbei bedient man sich am besten gedruckter Briefe, die man durch die Post verschickt. Wenn auch jeder bei einer so traurigen Gelegenheit geneigt ist, eine sonderbare Anzeige, übertriebene Ausdrücke, Stilfehler u. s. w. zu entschuldigen, so sollte man doch bestrebt sein, die Nachricht so einfach wie nur thunlich abzufassen und jedes überflüssige Wort, wenn es auch vielleicht die augenblickliche Stimmung anders eingibt, zu vermeiden. [149] Vor allem ist es das eine Wort „unvergeßlich“, welches sich beinahe in jeder Todesanzeige wiederfindet und dem Schmerz der Betreffenden besonderen Ausdruck verleihen soll; und doch gibt es in der ganzen Welt nichts Selbstverständlicheres, als daß man geliebte Eltern, ein geliebtes Kind, welches man verloren hat, nicht vergißt; wozu dann also dieser natürlichsten Empfindung, die jeder, jeder auf dem ganzen Erdenrund teilt, noch besonders erwähnen! Man muß Sorge tragen, den vollen Namen und Stand des Verstorbenen anzugeben, damit auch Fernerstehende gleich wissen, wer gemeint ist, und sich danach einrichten können. Als Unterschrift nur zu setzen: „Die trauernden Hinterbliebenen“ oder ähnliches ist deshalb nicht anzuraten, weil ja manche weitere Bekannte von den Betreffenden den Namen kaum wissen und erst aus der Unterschrift ersehen können, daß es sich z. B. um einen Schwager, eine Schwiegermutter u. s. w. handelt. Frauen aus der Familie sollten darum auf solchen Anzeigen auch stets ihren Mädchennamen nennen. Unpassend ist es aber auch, womöglich ein ganzes Geschlechtsregister von Unterschriften auf eine Todesnachricht zu setzen, besonders, wenn sich darunter [150] noch jüngere Leute oder Kinder befinden, die von sich aus niemand eine Mitteilung machen würden, oder weitläufigere Verwandte, die in so gut wie gar keinem Verhältnis zu dem Verschiedenen gestanden haben. Außer durch gedruckte Anzeigen kündigt man einen Todesfall noch durch die Zeitungen an; wenn möglich, wird auch zugleich die Zeit der kirchlichen Trauerfeier und des Begräbnisses angegeben.

Auf eine Traueranzeige muß man sofort mit einigen Zeilen des Beileides antworten. Viele Worte zu machen ist durchaus nicht nötig und auch gar nicht am Platz, denn bei den Anforderungen, die nach einem Todesfall an die Angehörigen gestellt werden, und bei der großen Zahl von Beileidsbezeugungen, die sie erhalten, kann naturgemäß die Aufmerksamkeit für einen einzelnen Brief nicht sehr groß sein. Wer das Bedürfnis hat, dem Betreffenden noch besonders seinen Schmerz über den Verlust auszusprechen, der soll versuchen, ihnen einige Zeit nach dem Begräbnis seinen Besuch zu machen. Doch muß man auch hierbei vorsichtig sein; manchem thut ein teilnehmendes Gespräch äußerst wohl, andre wieder verschließen ihren Schmerz in sich und vermeiden alles, was sie an die traurige [151] Zeit, die sie eben durchlebt haben, erinnern könnte; sie sind dankbar, wenn man sie auf andre Gedanken bringt. Es würde daher rücksichtslos sein, wenn man, um nur seiner eignen Stimmung Ausdruck zu geben, beim andern Gefühle erwecken wollte, die sie möglichst zu unterdrücken bemüht sind. Man muß eben auch da taktvoll sein.

Oft würde es vielleicht mehr dem Gefühl der Angehörigen entsprechen, wenn bei einem Begräbnis aller Prunk und alles Aufsehen vermieden würde, um so mehr, wenn man überzeugt ist, wie wenig eine solche Feierlichkeit nach dem bescheidenen einfachen Sinn des Verstorbenen gewesen wäre, doch muß man gerade in solchen Fällen allen Freunden und Bekannten Gelegenheit geben, ihren Anteil oder ihre Dankbarkeit auch äußerlich beweisen zu können. Der gute Ton fordert diese Rücksicht schlechterdings.

Wie lange die Angehörigen nach einem Todesfall äußerlich zu trauern haben, richtet sich nach den Gewohnheiten des betreffenden Ortes. Beim Verlust von Eltern oder Gatten dürfte man aber wenigstens ein Jahr Trauerkleidung zu tragen haben. Das ist eben Gefühlssache, denn die wahre Trauer ist im Herzen und bedarf nicht des Ausdruckes durch schwarze Kleider.

[152]
Der Verkehr auf der Straße.

Der Verkehr auf der Straße stellt nicht minder große Anforderungen an den gebildeten Menschen, wie der in Gesellschaften, bei Besuchen u. s. w., der sich doch immer nur im engeren Kreis, unter Bekannten bewegt. Ja, die Regeln des guten Tones sind eigentlich hier noch strenger; denn wenn man dort stets noch Gelegenheit hat, sich durch innere, geistige Eigenschaften auszuzeichnen, die etwaige Mängel im äußeren Benehmen leichter übersehen zu lassen geeignet sind, so wird man auf der Straße, von der unbekannten Menge lediglich nach seiner äußeren Erscheinung und nach den Manieren, die man zur Schau trägt, beurteilt. Und in unserm modernen Leben, in dem doch jeder mehr oder weniger der Öffentlichkeit angehört, sollte man dieses Urteil durchaus nicht gering achten, hätte man auch sonst noch so große Verdienste, im Hinblick auf welche man sich über dasselbe hinwegsetzen zu können [153] berechtigt hält oder es wirklich ist. Schon deshalb darf man sich nie unbeachtet glauben; eine einzige Vernachlässigung des feinen Tones kann die gute Meinung, die man von einem Menschen hat, derart zerstören, daß er nie wieder im stande ist, sich bei andern in das rechte Licht zu setzen; denn darin liegt ja eben das Wesen des guten Tones, daß man sich desselben nicht der andern, sondern seiner selbst wegen befleißigt. Erst dann kann man überhaupt von gutem Ton reden, wenn derselbe nicht mehr in angelernten Manieren besteht, die man hervorkehrt, wenn man sich beobachtet weiß oder in Gesellschaft dazu gezwungen ist, sondern wenn er in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß man stets und überall, also auch, wenn man allein ist oder es zu sein glaubt, handeln muß, wie er es vorschreibt.

Die erste Forderung des gutes Tones beim Verkehr auf der Straße ist die, daß man alles Auffällige in Tracht, Gang und Haltung, Sitte und Benehmen vermeidet und den vorgeschriebenen Mittelweg weder nach der einen noch nach der andern Seite hin verläßt. Es versteht sich von selbst, daß der gebildete Mensch sich äußerlich nie so vernachlässigen darf, daß er dadurch die Aufmerksamkeit andrer erregt; er darf [154] das allgemeine Aufsehen aber auch nicht dadurch herausfordern, daß er in irgend welcher Art übertrieben erscheint. Dies gilt in besonderer Weise von der Kleidung. Es kann nicht von jedem gefordert werden, daß er stets in neuen, der herrschenden Mode entsprechenden Kleidern herumgeht; das kann man aber von jedem verlangen, daß er Sorge trägt, sich nicht in schmutzigem oder zerrissenem oder abgetragenem Anzug zu zeigen. Es gehört durchaus nicht zum guten Ton, jede Laune der Mode mitzumachen oder gar als erster mit einer neuen auf dem Platz zu erscheinen. Das fordert geradezu heraus, von dem Äußern auf das Innere des Menschen zu schließen, denn wer an solchen Thorheiten wie sie heutzutage der seichte Witz irgend welches maßgebenden Modegecken zeitigt, Gefallen findet, muß selber ein Geck sein, dem die Bewunderung seines äußeren Menschen über alles geht, der darf es dann aber auch nicht übel nehmen, wenn man ihm irgend welches andre Interesse, als für seine eigne, unwiderstehliche Person nicht zutraut. Wer in der Lage ist, sich für seinen Anzug besondere Ausgaben erlauben zu können, soll, solange er jung ist, sicher in gewisser Weise die Mode mitmachen, sofern sie sich in den hergebrachten [155] Grenzen bewegt, er soll sich jedoch allen Auswüchsen derselben fern halten; ist man aber erst älter geworden, in Amt und Würden vielleicht, so muß man doppelt vorsichtig sein und sollte lieber hinter der herrschenden Mode ein wenig zurückbleiben, als sich allzu modern anziehen. Ein junger Geck ist lächerlich, ein alter verächtlich. Es liegt in der Natur des Menschen, daß er seine Ansichten und seinen Geschmack als die richtigen hinstellt und von andern auch von diesem Standpunkt aus beurteilt zu werden wünscht; wenn sich diese Ansichten und dieser Geschmack im allgemeinen nun aber nicht aus dem Menschen heraus und nach großen Vorbildern und berühmten Meistern, sondern hier im besonderen nach irgend einem englischen oder französischen Modebericht gebildet haben, so kann man doch unmöglich verlangen, daß sie von einem ernster denkenden Menschen geteilt werden. Jede Übertreibung in der Kleidung ist unästhetisch, seien es nun zu kurze oder zu lange Röcke, zu enge oder zu weite Beinkleider, zu hohe oder zu weit ausgeschnittene Westen u. s. f. Es ist mit dem Interesse für den Anzug beim Mann ähnlich wie mit dem für Essen und Trinken. Wohl soll es einem ebensowenig gleichgültig sein, [156] ob man gut oder schlecht gekleidet ist, als ob man gut oder schlecht ißt. In beidem aber weiteres zu sehen, als ein Mittel zum Zweck, hier zweckmäßig bekleidet, dort ernährt zu werden, ist nicht männlich.

Man kleidet sich nicht für andre, sondern wegen seiner selbst; vor sich selber aber soll man stets so viel Achtung haben, daß man immer ordentlich angezogen ist, auch wenn man die Überzeugung hat, daß man von niemand bemerkt wird. Deshalb müssen auch sämtliche Kleidungsstücke – nicht nur die, welche man von außen sieht – in größter Ordnung sein. Man soll ja nicht glauben, daß eine aufgesprungene Naht am Ärmel, ein fehlender Knopf an der Weste nicht gesehen würden, weil man vielleicht auf der Straße den Überzieher anhat; war man auch noch nie in der Verlegenheit, denselben am dritten Ort aus irgend welchem Grund auszuziehen, so wird man dazu doch sicher gezwungen werden, wenn man am wenigsten darauf eingerichtet ist. Ein Freund, der einen auffordert, ein Glas Wein mitzutrinken, ein Bekannter, der seine neu eingerichtete Wohnung zeigen will oder dergleichen, keinem von beiden kann man den Wunsch abschlagen: man muß den Paletot ausziehen, und dann ist die Verlegenheit oft viel [157] peinlicher, als die kleine Mühe gewesen wäre, sich vor dem Ausgehen ordentlich anzuziehen. Noch nie hat man sich auf der Straße bücken müssen, oder war sonst irgendwie genötigt, den Fuß zu zeigen; ist man aber ein einziges Mal nachlässig genug gewesen, Stiefel zu tragen, die nicht ganz taktfest mehr waren, oder Beinkleider, deren unterer Rand ein wenig ausgefranst war, so kann man sicher darauf rechnen, daß man etwas aufheben, bei Bekannten auf einen Stuhl steigen muß oder sonst zu irgend welcher, ohne Zweifel ganz ungewöhnlichen oder ganz unerwarteten Stellung veranlaßt wird, die die unbemerkt geglaubte Nachlässigkeit offenkundig macht. Die Annahme: „Man sieht es ja doch nicht“, ist sehr falsch; mag man auch noch so „patent“ angezogen sein, ein einziger Taillenknopf, der ein wenig abgestoßen ist, zieht die Aufmerksamkeit der andern mehr auf sich, als der ganze neue Anzug nebst Hut und Lackstiefeln. Der lange Havelock bei den Herren und der beliebte Regenmantel bei den Damen, was müssen sie manchmal gnädig verdecken, und wie oft enthüllt ein einziger unbarmherziger Windstoß an einer Ecke all diese „Bequemlichkeit“. Wer nicht aus Achtung vor sich selbst so angezogen ist, daß er sich zeigen [158] kann, der sollte es doch wenigstens aus dem Grund thun, daß er nicht vor andern nachlässig erscheint.

Es gehört zum guten Ton, daß man auf der Straße stets Handschuhe trägt, nebenbei sollte man es aber auch schon aus dem sehr praktischen Grund thun, daß man dann immer reine Hände hat. Mit bloßen Händen auf der Straße zu erscheinen ist eine Nachlässigkeit, mag auch die augenblickliche Herrenmode, deren ganze Richtung nur für das Bequeme (= faule) und Zwanglose (= rücksichtslose) ist, dies begünstigen. Hat man allerdings nur die Wahl, schmutzige, zerrissene Handschuhe zu tragen, oder gar keine, so mag man lieber aus der Not eine Tugend machen, sich für das letztere entscheiden und der neuen Mode huldigen, als andern solch unappetitlichen Anblick zu gewähren.

Es dürfte hier am Platz sein, noch ein Wort über das Tragen von Schmuck u. s. w. bei Herren zu sagen. Wieviel Ringe man anstecken, ob man eine Busennadel tragen will oder nicht, ist Geschmackssache, nur achte man auf das eine, daß derartige Schmuckgegenstände stets echt sein müssen, und der ganze äußerliche Mensch auch zu der Kostbarkeit derselben passen muß. [159] Ringe, Busennadeln oder Hemdenknöpfchen zu tragen, denen man ihre Wertlosigkeit womöglich von weitem ansieht, ist unfein; ganz besonders sollte man vermeiden, falsche große Steine zu tragen, denn bei ihnen erkennt man zuerst, daß sie nicht echt sind, da sie sonst von so großem Wert sein müßten, daß sie der Betreffende gewiß nicht besitzen würde. Wer nicht in der Lage ist, sich eine goldene Uhrkette anzuschaffen, der soll lieber eine solide silberne tragen, als eine Kette, der man schon nach der kürzesten Zeit anmerkt, daß sie wohl den Anschein, von Gold zu sein, erwecken sollte, aber nur aus der gewöhnlichsten Kompositionsmasse besteht. Einfache Hemdenknöpfchen aus Elfenbein oder Perlmutter sind viel feiner als die glänzendsten Knöpfe aus Talmi, Gold doublé oder wie diese herrlichen Zusammensetzungen alle heißen mögen, die man in jedem Schaufenster für einige Pfennige anempfohlen sieht.

Trägt man aber echte Schmuckgegenstände, so muß auch die Umgebung derselben ihnen angepaßt sein. Ein Brillantring und eine schmutzige, rote, ungepflegte Hand mit unreinlichen Nägeln, mit ausgefransten Manschetten gehören ebensowenig zusammen, wie eine goldene Busennadel [160] und eine abgetragene Halsbinde, kostbare Hemdenknöpfchen und ein nicht mehr sauberer Einsatz, eine protzige goldene Uhrkette und eine glänzende Weste. Trägt man einmal Ringe oder sonstige Schmuckgegenstände, so muß man sie auch immer an sich haben; unmännlich ist es, sich mit dergleichen zu besonderen Gelegenheiten zu schmücken, ganz abgesehen davon, daß andre meistens auch gleich bemerken, wenn jemand nicht die Gewohnheit hat, so „fein“ auszusehen. Mit Ringen, wohlgepflegten weißen Händen u. s. w. zu kokettieren, ist unschön und lächerlich.

Damit soll aber wieder nicht gesagt sein, daß man nicht sogar die Verpflichtung hat, will man in der Gesellschaft verkehren, auch dafür zu sorgen, daß man bei andern durch gar zu große Vernachlässigung seines äußeren Menschen nicht Ärgernis erregt. Dazu gehört, daß man stets gut frisiert erscheint und nicht etwa mit einer Mähne herumgeht, die genial aussehen soll, aber viel eher an das Bild des unverwüstlichen Struwwelpeters erinnert. Wer von der Natur nicht mit guten Zähnen begabt ist, muß wenigstens bemüht sein, daß dieselben stets sauber sind, und wem etwa vorn im Mund welche fehlen oder zerbrochen sind, der lasse sich lieber ein Gebiß [161] vom Zahnarzt machen, ehe er seinen Mitmenschen den häßlichen Anblick gewährt. Nebenbei erfordert es schon die Gesundheit, daß man mit seinem Kauapparat vollkommen in Ordnung ist; und überdies kann man ohne vollständige Zähne, wenigstens vorn, nie ganz ungestört sprechen, wodurch andre erst recht auf den, doch so leicht abzustellenden Mangel aufmerksam gemacht werden.

Große Aufmerksamkeit erfordert auf der Straße das Grüßen. Als allgemeine Regel gilt, daß der jüngere stets den älteren und der Herr stets und ohne Ausnahme die Dame zuerst grüßt.

Gehen ein Herr und eine Dame zusammen, so grüßt der Herr entgegenkommende Herren nicht, entgegenkommende, ihm bekannte Damen aber stets, auch wenn sie die Dame, mit der er geht, nicht kennt; diese grüßt aber mit.

Der Herr grüßt mit, wenn die Dame ihr bekannte, ihm aber unbekannte Damen grüßt; doch darf er diese, wenn er auch weiß, daß sie mit seiner Dame bekannt sind, nicht zuerst grüßen, sondern muß warten, bis seine Dame zu grüßen anfängt.

Geht ein Herr mit einer Dame und sie begegnen einem Ehepaar, von denen der Herr [162] nur den Herrn kennt, so grüßt er und seine Dame grüßt mit.

Geht ein Herr mit einer Dame und sie werden gegrüßt, so dankt die Dame stets mit, denn

Wenn ein Herr allein einem ihm bekannten Herrn mit einer Dame begegnet, so gilt sein Gruß stets der Dame, auch wenn sie ihm persönlich unbekannt ist. In diesem Fall grüßt auch der Höherstehende, Ältere zuerst, denn er grüßt ja die Dame und nicht den Herrn.

Werden mehrere Herren von einem andern Herrn gegrüßt, so erwidern sie alle den Gruß, auch wenn der andre vielleicht ein Untergebener eines der Herren war; dies ist entgegengesetzt der militärischen Gepflogenheit, wo, wenn mehrere Offiziere zusammen sind, nur der Rangälteste den Gruß eines Untergebenen erwidert.

Eine Dame hat man jedesmal zu grüßen, wenn man sie auf der Straße trifft, auch wenn dies an einem Vormittag z. B. mehreremale geschieht. Herren grüßen sich in solchem Fall gewöhnlich nur einmal, doch hängt dies von den Umständen ab, und man muß auch darauf Rücksicht nehmen, ob ein etwaiges Nichtgrüßen [163] von andern, dritten Personen, die wissen, daß man sich sonst mit jenem Herrn doch gegrüßt hat, nicht falsch ausgelegt wird. Überhaupt: Zu viel grüßen und auch zuerst grüßen, wenn man auch berechtigt ist, den Gruß des andern zu erwarten, das schadet nie. Bei Dämmerung und am Abend grüßt man überhaupt nicht, es sei denn, man träfe sich gerade unter einer Laterne oder in solcher Nähe einer elektrischen Lampe, daß man den andern unter allen Umständen sehen muß. Es ist nicht Sitte, daß man „über die Straße“ grüßt, das heißt daß man Personen grüßt, die auf der andern Seite der Straße gehen, wenn diese nur halbwegs breit ist; natürlich darf man sie dann auch nicht besonders ansehen. Überhaupt: Sobald man bemerkt, daß man von einem andern gesehen wird, muß man ihn auch grüßen, sei die Entfernung selbst noch so groß. Aufdrängen darf man aber seinen Gruß niemand, geht man auch noch so nahe an ihm vorbei, wenn man nicht bemerkt wird. Es kann vorkommen, daß Damen z. B. nicht bemerkt und daher auch nicht gegrüßt zu werden wünschen; etwa, wenn sie Einkäufe gemacht haben und vielleicht mit Paketen beladen sind, die sie selbst [164] nach Hause tragen müssen, und ähnliches; das muß man eben sehen und empfinden. Man kann mit Grüßen aber gar nicht vorsichtig genug sein, denn während es die eine Dame als eine Zuvorkommenheit ansehen wird, wenn man in solchem Fall thut, als bemerke man sie überhaupt nicht, so wird eine andre gerade darin eine doppelte Unhöflichkeit erblicken und glauben, man habe sich ihrer, weil sie bepackt gewesen sei, geschämt, und was dergleichen Annahmen mehr sind, mit denen empfindliche Leute einander das Leben schwer machen. Bemerkt man, daß ein Bekannter aus irgend welchen Gründen nicht gesehen und erst recht nicht gegrüßt zu sein wünscht, so erfordert es allein schon die Diskretion, daß man solchem Wunsch nachkommt. Einem jungen Mann wird es öfter vorkommen, daß er nicht mehr genau weiß, wie die Personen, denen er bei einer Gesellschaft, oder sonst irgendwo vorgestellt worden ist, aussehen. Das ist sehr schlimm; denn dann wird er sie auch auf der Straße nicht wiedererkennen und nicht grüßen. Man muß sich deshalb fremde Gesichter möglichst fest einprägen, der andre aber, der bemerkt, daß er nicht mehr gekannt ist, kann dann wenigstens dem Betreffenden, falls er ihn nicht zuerst grüßen will, [165] die Annehmlichkeit erweisen, daß er ihn nur ein wenig freundlich oder lächelnd anblickt, um ihn auf sich aufmerksam zu machen.

Man erfaßt beim Grüßen den Hut stets mit der dem Begegnenden abgewandten Hand und dies wird, da man stets auf der rechten Seite der Straße geht und auch nach rechts ausweicht, somit immer die rechte Hand sein; deshalb gewöhne man sich daran, wenn man ohne Stock oder Schirm nicht gehen zu können glaubt, diese Unterstützungsgegenstände in der linken Hand zu tragen, um die rechte immer frei zu haben. Führt man eine Dame, so grüßt man natürlich nur mit der freien Hand und läßt ja nicht etwa des Grüßens mit der andern Hand wegen die Dame los. Wird man zuerst gegrüßt, so hat man den Gruß zum mindesten ebenso höflich zu erwidern, wie er geboten ist; dies kann man selbst aber auch von jedem, den man grüßt, erwarten. Junge und allerdings manchmal auch alte Damen halten es freilich oft für fein, auf einen höflichen Gruß kaum durch ein flüchtiges Kopfnicken zu danken; das ist eben dann ungezogen, entbindet aber trotzdem den Herrn nicht, das nächste Mal doch wieder zu grüßen; denn hat man einmal jemand gegrüßt, so muß man es auch [166] stets thun und darf nicht etwa nach einiger Zeit damit aufhören. Beim Grüßen sieht man sich an; in geschlossenen Räumen, wo man ohne Hut ist, grüßt man durch eine leichte Verbeugung. Fürchtet man, auf der Straße jemand nicht gegrüßt zu haben, dem man einen Gruß schuldig ist, so kann man, wenn sich dies ohne Aufsehen machen läßt, die Gelegenheit, ihm nochmals zu begegnen, dadurch herbeiführen, daß man schnell, vielleicht unbemerkt auf der andern Seite der Straße oder durch Nebenstraßen an ihm vorbei geht, weit vor ihm wieder umdreht, ihm entgegen geht, um ihm nun die gebührende Ehrfurcht zu erweisen. Jungen Damen gegenüber ist dies Verfahren nicht erlaubt, da es leicht von andern Personen falsch gedeutet werden könnte.

Kurzsichtigkeit ist kein Entschuldigungsgrund für unterlassenes Grüßen. Wer nicht gut sieht, muß ein Glas tragen. Vielfach begegnet man der Meinung, daß es der Anstand erfordere, einen Klemmer von der Nase zu nehmen, wenn man mit jemand spricht. Das ist falsch. Ebensowenig, wie man bei einer Vorstellung oder dergleichen Gelegenheit eine Brille abnimmt, braucht man dies mit andern Gläsern zu thun, besonders wenn dieselben ohne Band oder Schnur getragen [167] werden, da ja der Fall, daß man ohne dringende Notwendigkeit und bloß der Mode wegen Augengläser trägt, für jeden gebildeten, vernünftigen Menschen ausgeschlossen – sein sollte. Ein Monocle ins Auge zu klemmen ist erstens ungesund, denn es verdirbt das eine Auge, zweitens unpraktisch, denn man sieht dann erst recht nichts, weder mit dem „bewaffneten“ noch mit dem „unbewaffneten“ Auge, und drittens dumm und lächerlich.

Wird man auf der Straße von einem Bekannten angesprochen, so vermeidet man möglichst, mit diesem stehen zu bleiben, sondern geht lieber ein Stück mit ihm, um kein Hindernis im Verkehr zu bilden. Bei einem älteren Herrn bleibt man natürlich stehen, setzt den Hut aber, wenn man gegrüßt hat, wieder auf. Mit dem Hut in der Hand bleibt man nur Fürstlichkeiten oder ganz hochstehenden Personen gegenüber stehen, bedeckt sich aber auch sofort, wenn man dazu aufgefordert worden ist. An und für sich ist es nicht passend, jemand auf der Straße anzureden.

Man gewöhne sich daran, stets auf der linken Seite des andern zu gehen; nur muß man vermeiden, bei etwaigem Auf- und Abgehen [168] womöglich bei jeder Wendung hinter dem andern herumzutanzen, um wieder dessen linke Seite zu gewinnen, wenn man es nicht auf eine geschickte und unauffällige Art kann; sonst macht es einen lächerlichen Eindruck, und man bleibe lieber einmal rechts. Ist der Weg sehr eng oder auf einer Seite weniger schmutzig, oder bietet das Trottoir nur für eine Person Raum, so überläßt man natürlich den guten Weg dem andern und geht dann auch, wenn nötig, auf dessen rechter Seite. Stock und Schirm, oder was man sonst in der Hand hält, darf man nie so tragen, daß man es zwischen sich und dem andern hat. Man kann unnötiges Hin- und Hergehen dadurch vermeiden, daß man, beim Herausgehen aus einem Haus oder beim Treffen auf der Straße gleich von Anfang an die linke Seite des andern zu gewinnen sucht, indem man sich z. B. dicht an den Häusern hält oder so nahe an der Kante des Trottoirs geht, daß für den andern kein Platz ist und er notgedrungen rechts bleiben muß. Glaubt man zu bemerken, daß man von jemand, der einem entgegenkommt, nicht mehr gekannt ist, so kann man dadurch, daß man Stock oder Schirm in die andre Hand nimmt, oder die Pelerine des Mantels zurückschlägt oder durch irgend eine [169] andre ähnliche Vorbereitung seine Absicht, ihn zu grüßen, zeigen und ihn gewissermaßen auf sich aufmerksam machen.

Es ist selbstverständlich, daß man Damen und älteren Personen stets den Vortritt läßt. Bei einer Thür, die nach innen schlägt, ist es praktischer, daß der Herr doch vorausgeht und von innen den Thürflügel hält, bis der andre vorbeigegangen ist. Der gute Ton verlangt aber, daß man die Thür auch für weitere, etwa nachkommende Personen, wenn sie einen auch weiter nichts angehen, offen hält und sie nicht etwa einfach hinter sich zufallen läßt. Treppen hinauf geht der Herr der Dame stets voraus. Bei breiteren Treppen, wo man nebeneinander gehen kann, ist der bessere Platz stets der, an welchem die Stufen am breitesten und bequemsten sind.

Daß man gegen seine Bekannten vor allem höflich und zuvorkommend zu sein hat, ist selbstverständlich; der gute Ton erfordert aber, daß man es auch gegen unbekannte Damen sei, wenn man ihnen in irgend einer Weise behilflich sein kann. Man braucht gar keinen Anstand zu nehmen, eine Dame auch nötigenfalls anzureden, wenn sie z. B. etwas verliert oder wenn ihre Frisur [170] aufgegangen ist, wenn ihr die Uhr herunterhängt u. s. w. Nur ist es nötig, daß dies in der ausgesucht höflichsten Weise geschehe und vor allem so, daß die Betreffende und ebenso alle etwa Dabeistehenden schon beim ersten Wort merken, worum es sich handelt. Und nicht nur Damen, sondern jedem weiblichen Wesen gegenüber soll man so sein, auch wenn man annehmen kann, daß die Betreffende gesellschaftlich nicht auf der Höhe steht, die man selbst einnimmt. Natürlich darf man sich nicht aufdrängen, es wird aber keinem Herrn übel genommen werden, wenn er einer Dame hilft, etwa zu Boden gefallene Gegenstände aufzuheben, oder ihr den Schlag öffnet und wieder schließt, wenn sie gerade aus einem Laden kommt und in ihren Wagen steigen will u. s. w. Höchst unpassend freilich wäre es, auf Dank zu warten; man entfernt sich mit einem höflichen Gruß so schnell wie möglich.

Geht man mit jemand aus der Straße, so hüte man sich, über dritte Personen, die man sieht, irgend welche Bemerkungen zu machen. Es ist schon an und für sich nicht fein, jedem etwas „anzuhängen“, dann weiß man aber auch gar nicht, ob die Betreffenden nicht vielleicht [171] Bekannte oder gar Verwandte von dem sind, mit welchem man geht, und der dadurch gekränkt und leicht zu der Annahme berechtigt sein könnte, daß man gelegentlich über ihn, einem Dritten gegenüber, auch nicht minder lieblos urteilen würde.

Für einen jungen Mann, dem daran liegt, eine möglichst freie und ungezwungene körperliche Haltung zu bekommen, empfiehlt es sich, stets ohne Stock oder Schirm auf der Straße zu gehen und die Arme ruhig hängen zu lassen. Erscheint ihm dies anfänglich auch sehr schwierig und glaubt er keinen Halt zu haben, so wird er sich doch bald daran gewöhnen und dann ganz anders gehen und stehen können, als der, welcher nicht den geringsten Weg machen zu können vermeint, wenn er nicht einen Stock in den Händen hält. Auf alle Fälle soll man diesen aber stets so tragen, daß er niemand stößt oder gar verletzt. Stock und Schirm unter dem Arm zu halten, so daß sie rückwärts weit hinausstehen, ist an vielen Orten sogar polizeilich verboten. Hat man doch jemand gestoßen, so ist es nötig, daß man sich durch ein „Entschuldigen Sie“ oder „Verzeihen Sie“ oder ähnliches Wort bei demselben entschuldigt.

[172] Man darf nie dulden, daß eine Dame, mit welcher man auf der Straße geht, oder die man trifft, Pakete und dergleichen selbst trägt. Man nimmt ihr dieselben sofort ab, auch wenn es für einen Herrn sonst nicht gerade sehr passend ist, derlei zu tragen. In Gesellschaft einer Dame kann man dies ruhig thun, ja, es würde sogar gegen den Anstand verstoßen, wenn der Herr dulden wollte, daß die Dame ihre Sachen selber trüge, während er leer neben ihr geht.

Es dürfte hier vielleicht am Platz sein, noch ein Wort über das Rauchen und das Parfümieren einzufügen. Beides sind Gewohnheiten, die oft genug als lästig empfunden werden, und die wohl beide, die erstere auf alle Fälle, jeder Berechtigung entbehren. Doch darüber zu entscheiden, ist nicht die Aufgabe des vorliegenden Buches. Es sei deshalb nur darauf aufmerksam gemacht, daß Rauchen in Damengesellschaft sowohl im Zimmer, wie auf der Straße stets und unweigerlich verboten ist. Sobald man mit einer Dame zusammenkommt, muß sofort die Zigarre entfernt werden und soll nur auf den ausdrücklichen Wunsch der Betreffenden, den man aber nicht durch eine Frage, welche eine verneinende Antwort so gut wie ausschließt, hervorrufen darf, [173] wieder angezündet werden. Die Zigarre muß entfernt werden, ist gesagt worden, denn ausgegangene Zigarren in der Hand getragen oder nur in den Aschenabstreicher auf dem Tisch gelegt riechen noch viel schlimmer und sind für solche, die nicht rauchen, unangenehmer als brennende. Wer nur halbwegs stark raucht, hat allerdings meistens jegliches Gefühl verloren, daß einem andern sein Gepaffe unangenehm sein könnte, ja, er beansprucht es geradezu als sein gutes Recht, überall die Atmosphäre durch den Geruch glimmenden Tabakskrautes verunreinigen und die empfindlichen Nasen seiner Mitmenschen beleidigen zu dürfen. Und leider gibt es gegen solche Rücksichtslosigkeit, die einem oft genug den Genuß eines herrlichen Waldspazierganges, eines duftigen Sommerabends gründlich verderben kann, kein Mittel, als sich eben selbst zu entfernen. Geht aber die Rücksichtslosigkeit so weit, daß jemand raucht, obgleich Personen in der Nähe sind, deren Gesundheit unter dem riechenden Qualm leidet, so ist es jedes Herrn Pflicht, den Betreffenden darauf aufmerksam zu machen und ihn zu veranlassen, sein Rauchen einzustellen. So viel Gewalt muß jeder über sich haben, daß er den Genuß einer Zigarre, sei es auch für die Zeit [174] einer ganzen Abendgesellschaft, entbehren kann, ohne darunter zu leiden. Auch beim Arbeiten am Schreibtisch, zum mindesten beim Verfassen von Schriftstücken, die andern in die Hände kommen, sollte man das Rauchen vermeiden; man vergegenwärtige sich nur den Eindruck, den in einem Damenboudoir die Zusage auf eine Einladung macht, wenn ihr der Tabaksgeruch geradezu entströmt und die zarten Fingerspitzen der Leserin infiziert! Oder wird eine so lieblich duftende Eingabe, ja selbst ein Geschäftsbrief, dem man die tabaksrauchgeschwängerte Atmosphäre schon durch das Couvert anmerkt, die Sympathien des Lesers besonders fördern? Ebensowenig wie es für den gebildeten Menschen nötig sein sollte, sich erst durch den Genuß von Bier, Wein oder sonstigen Spirituosen anzuregen, ebensowenig sollte man es nötig haben, stets zur Zigarre greifen zu müssen, wenn man arbeiten will. Der vielgehörte Ausspruch: „Wenn ich nicht rauchen kann, bin ich nur ein halber Mensch“ u. ä. legen ein trauriges Zeugnis ab von der Selbstbeherrschung des Betreffenden. Und ist es nicht geradezu lächerlich, wenn im Theater oder bei Musikaufführungen oder ähnlichen Gelegenheiten in einer Pause die Herren kaum erwarten können, aus dem Saal zu [175] kommen, um nur schnell eine Zigarette rauchen zu können und dann mit duftenden Kleidern wieder zurückzukehren.

So rücksichtslos aber die meisten Raucher gegen andre sind, indem sie ihnen den häßlichen Geruch ihrer Zigarre aufdrängen, um so empfindlicher und unduldsamer sind sie selbst meist gegen jeden Parfümgeruch und lehnen sich gegen ihn auf, wie gegen ein Verbrechen, begangen an der gesamten Menschheit. Und es möchte doch noch sehr zu bezweifeln sein, ob es nicht angenehmer ist, im Theater, im Konzert oder sonst irgendwo im geschlossenen Raum neben jemand zu sitzen, der den leichten Duft einer feinen, wohlriechenden Essenz an sich hat, als den Dunst, der den Kleidern eines Rauchers entströmt, stundenlang riechen und einatmen zu müssen. Und bei den Kleidern bleibt es nicht einmal, selbst der Hauch verrät den unappetitlichen Tabaksgenuß, und die gelb gewordenen Zähne deuten ihn an. Allerdings kann mit Vergnügen festgestellt werden, daß das Rauchen, besonders in den feineren Kreisen, schon immer mehr abkommt, und so hat es wenigstens niemand, der noch dieser edlen Gewohnheit fernsteht, nötig, sich daran unter wer weiß was für Opfern [176] zu gewöhnen. Gewiß soll dem starken Parfümieren nicht das Wort geredet werden, denn es ist wenig schön, wenn man schon von weitem den Duft eines „Extrait de musc“ (Moschus) oder „Triple essence de Patchouly“ riecht, aber ein einziger Tropfen eines feinen Odeurs im Taschentuch oder unter dem Rockaufschlag wird genügen, zum mindesten den Betreffenden selbst vor widerlichen Gerüchen, die an ihn herankommen, zu bewahren und die unangenehmen Folgen einer stärkeren Transpiration, wie sie im Sommer, im heißen Ballsaal unvermeidlich sind, zu überdecken. Außer den feinen französischen Odeurs – in den englischen befindet sich fast immer etwas Moschus, weshalb sie denen, die einen stärkeren Geruch lieben, empfohlen werden können – ist immer Eau de Cologne das feinste und diskreteste Parfüm, und man nehme keinen Anstand, sich weder jener noch dieser zu bedienen; ja, Eau de Cologne kann man sogar viel stärker wie jede andre wohlriechende Essenz anwenden.

Ein schwieriger Punkt ist es mit dem Verhalten eines Herrn Damen gegenüber beim Bezahlen von kleinen Auslagen, wie Brückengeld, Pferdebahn, Theaterzettel u. s. w. Als Regel [177] muß man aufstellen, daß man sich nicht erlauben darf, für eine Dame, falls sie einem nicht sehr nahe steht, zu zahlen. Handelt es sich aber darum, einen ganz kleinen Betrag zu verlegen, und kann man ohne weitere Umstände die Sache abmachen, so soll man es ruhig thun; es wird gewiß nicht weiter übelgenommen werden. Natürlich darf man nicht erst weitläufig darüber reden, im Gegenteil, man muß es als etwas Selbstverständliches ansehen, und eine taktvolle Dame wird auch ihrerseits über die zehn oder fünfzehn Pfennige keine lange Auseinandersetzung beginnen. Ebensowenig aber ist es eine Beschämung, wenn ein andrer für einen selbst mitbezahlt; doch muß man sich natürlich mit einem kurzen Wort für die Zuvorkommenheit bedanken. Im allgemeinen sei man bei allen Gelegenheiten, bei denen, und sei es auch nur in der entferntesten Weise, Geld oder Bezahlen in Betracht kommt, so peinlich wie möglich. Späße mit Geld sind stets taktlos. Hat ein andrer etwas „vorläufig“ mitbezahlt, ein Theaterbillet, eine Droschke oder dergleichen, und kann man den Betrag nicht sofort wiedererstatten, weil man vielleicht kein kleines Geld bei sich hat, so lasse man sofort wechseln und zahle seine Schuld [178] zurück; in dem Fall kann man es mit einem kurzen Dankeswort thun. Je längere Zeit darüber vergeht, daß man in des andern Schuld bleibt, desto peinlicher ist es dann, sie zurückzuzahlen. Weiß man aber im voraus, daß man aus Gründen, die bei jungen Leuten hin und wieder vorkommen können, ohne ihren Ruf weiter zu beeinträchtigen, nicht in der Lage ist, derartige Schulden gleich zu bezahlen, so – mache man eben keine und vermeide die Gelegenheit, oder sage es dann wenigstens gleich, daß man erst in einer gewissen Zeit die freundlichst verlegte Ausgabe wiedererstatten könne. Das ist durchaus keine Schande und viel weniger schlimm, als wenn man gar nichts sagt und die Sache hinhängen läßt.

Wie es unpassend ist, bei einem Besuch länger zu bleiben als es nötig ist, so muß man auch wohl aufmerken, ob man nicht jemand, den man auf der Straße getroffen und der einen aus Höflichkeit angeredet hat, durch seine längere Gesellschaft lästig ist. Vielleicht erwartet der Betreffende einen andern, oder möchte aus sonst irgend einem Grund allein sein; in solchen Fällen kann man ruhig, wenn man sich sonst nicht anders zu helfen weiß, zu einer gesellschaftlichen [179] Lüge seine Zuflucht nehmen: daß man noch etwas zu besorgen hätte, daß man einen Besuch machen, daß man zu Tisch gehen müsse, verabredet sei und dergleichen. Man sollte auch hier, wie überall im gesellschaftlichen Leben, lieber zu zurückhaltend sein, als daß man, und sei es nur für einen einzigen Augenblick, „überflüssig“ wird.

[180]
Verkehr im Theater, Konzert u. s. w.

Es ist nötig, daß der gebildete Mensch, der in der guten Gesellschaft verkehren will, auch ein gewisses Interesse an dem Kunstleben, zum mindesten des betreffenden Ortes nimmt, an welchem er lebt. Ebenso, wie man über alle Zeitereignisse unterrichtet sein soll, so muß man auch die Entwickelung aller künstlerischen Bestrebungen soweit wenigstens verfolgen, daß man mitzureden im stande ist, wenn das Gespräch darauf kommt. Es kann natürlich nicht gefordert werden, daß jemand, der von Musik durchaus nichts versteht, jedes Konzert und jede Opernvorstellung besucht, wohl aber kann man verlangen, daß er im allgemeinen über die herrschende Richtung, über die Tendenz der bekanntesten Komponisten etwas weiß, ja es wird ihm auch nichts schaden, wenn er, und wäre es nur, um sie aus eigner Anschauung kennen zu lernen, die neuste Oper, von der in der Gesellschaft geredet wird, sich anhört. Geradeso [181] ist es mit dem Schauspiel. Es gehört nun einmal dazu, daß einem das neuste Sudermannsche oder Wildenbruchsche Stück bekannt ist; und wenn auch durchaus nicht behauptet werden soll, daß man nicht manchmal seine Zeit und sein Geld besser anwenden kann, als zu dem Besuch der modernen dramatischen Erzeugnisse, so muß man es wenigstens als eine Vorbereitung zu den nächsten Gesellschafts- oder Ballunterhaltungen ansehen, wenn man ein Konzert anhört oder in ein Stück geht, dem man sonst gar kein Interesse abgewinnen kann.

Für gewöhnlich wird man aber doch wohl eine künstlerische Vorführung besuchen, weil man einen geistigen Genuß von derselben erwartet, weil man eine Abwechselung von der täglichen Beschäftigung, eine Ausspannung von des Tages Arbeit und Mühe ersehnt. Man soll daher einen Theaterabend als etwas Außergewöhnliches, ja, fast könnte man sagen, Feierliches ansehen und ihn nicht mit dem allabendlichen Gang ins Wirtshaus oder in den Klub auf gleiche Linie stellen. Man geht ins Theater oder ins Konzert nicht wie man von der Straße kommt, sondern deutet schon äußerlich durch seinen Anzug – auch wenn man auf einem Platz sitzt, auf welchem man weniger [182] gesehen wird – die Achtung an, die man vor der Kunst und der Verehrung, die ihr dargebracht wird, empfindet.

Wie überall, so ist auch beim Theater, beim Konzert u.s.w. die größte Pünktlichkeit notwendig. Ganz abgesehen von der Störung, die jedes Zuspätkommen verursacht, verliert man auch den Anfang der dargebotenen Leistung und wird oft im Theater nicht wissen, worum es sich handelt, und so eines großen Teiles des Genusses, den man erwartet, verlustig gehen. Gegen seine Nachbarn aber ist es besonders eine große Rücksichtslosigkeit, wenn man sie veranlaßt aufzustehen, damit man zu seinem Platz gelangen kann. Konnte man wirklich nicht früher als erst nach Anfang des Stückes kommen, so bleibe man wenigstens an irgend einer Ecke im Zuschauerraum, wo man niemand belästigt, ruhig bis zum Schluß des Aktes stehen und nehme erst dann seinen Platz ein, damit man niemand andern stört. Übrigens schädigt man sich selbst sehr häufig durch unpünktliches Kommen auch insofern, als man oft sogar einen ganzen Akt oder ein ganzes Musikstück verliert, da bei vielen Theatern und Konzerten die löbliche Gewohnheit eingeführt ist, die Thüren des Saales oder des Zuschauerraumes [183] während des Spieles geschlossen zu halten und niemand einzulassen. Muß man, um zu seinem Platz zu gelangen, an andern Personen vorbeigehen, so thue man dies stets so, daß man ihnen die Vorderseite zuwendet; geht man an Damen vorbei, so entschuldige man sich bei jeder durch ein kurzes „Entschuldigen Sie!“ oder dergleichen. Kommt man selbst in die Lage, andre vorbeilassen zu müssen, so stehe man sofort auf, klappe seinen Sitz zurück und lasse sie ungehindert passieren, ohne irgend welche Bemerkung über die Störung zu machen, denn in dem Augenblick hilft es auch nichts mehr, sich darüber zu beschweren, es veranlaßt nur eine Stockung, wenn es nicht etwa gar Veranlassung zu einer unliebsamen Auseinandersetzung gibt, die erst recht Störung verursacht. Ob man, wenn man am Anfang einer Reihe sitzt und während des Spieles für einen zu spät kommenden Herrn aufstehen soll, diesem Wunsch immer folgen, oder den Betreffenden, schon um die Ruhe der weiter in der Reihe Sitzenden nicht stören zu lassen, höflich ersuchen muß, bis zum Aktschluß zu warten, das kommt auf den einzelnen Fall an. Jedenfalls muß man etwaigen Skandal vermeiden. Damen muß man stets ihren Platz einnehmen lassen.

[184] Wenn oben gesagt wurde, daß es passend ist, das Theater in einem anständigen, feiertäglichen Anzug zu besuchen, so soll doch damit ja nicht angedeutet werden, daß Theater und Konzert der Platz sind, sich in irgend einer auffälligen Tracht oder einer neuen Mode dem versammelten Publikum zu zeigen; und das gilt nicht nur von den Damen. „Ohne Gage mitzuspielen“ und die Aufmerksamkeit andrer durch Aussehen und Manieren auf sich zu ziehen, ist höchst unfein. Ebenso ist es unschicklich, seinen Beifall oder sein Mißfallen an dem Dargebotenen in andrer, als diskreter Weise zu äußern. Hat einem die Darstellung, das Stück, die Musikaufführung gut gefallen, so kann niemand etwas darin finden, wenn man diesem Gefühl durch Klatschen Ausdruck gibt, doch muß sich dies stets in den Grenzen des Anstandes halten. Durch allzustarkes Applaudieren womöglich eine Wiederholung oder eine „Zugabe“ erzwingen zu wollen, ist unpassend. Streng verboten aber ist es dem gebildeten Menschen, sein Mißfallen in irgend welcher lauten Weise zu äußern. Wem etwas nicht gefällt, dem bleibt es ja unbenommen, sich zu entfernen; durch Zischen oder gar Pfeifen und ähnliche Töne sein Mißfallen auszudrücken, ist [185] unanständig und zeugt von ungebildeten Manieren. Man kann durch Schweigen in ebensowenig mißzuverstehender Weise seine Ansicht kundthun, als wenn man sich wie ein Straßenjunge im Theater oder Konzert benimmt. Wie der gebildete Mann seine Ansichten stets nur in diskreter Weise äußern und niemand aufdrängen soll, so muß er sich im Theater und Konzert immer in den durch den Anstand und den feinen Ton vorgezeichneten Linien bewegen. Freilich glauben heutzutage gerade junge Leute, ihre Gesinnungstüchtigkeit stets beweisen und zur Schau tragen zu müssen, und halten es womöglich für die größte Unterlassungssünde, irgend eine Kunstrichtung, eine Ansicht, die sie nicht teilen zu können – sich einbilden, über sich ergehen zu lassen, ohne dagegen zu protestieren; sie sollen sich aber doch einmal prüfen, ob sie stets und überall so gesinnungstüchtig sind und auch dann, wenn es gilt, ihre Ansichten durch mehr zu verfechten, als durch schüchternes Zischen, solange es niemand sieht, und an Orten, wo ihnen nichts geschehen kann; und ob es nicht viel öfter die Lust am „Krakehl“ ist, die sie veranlaßt, sich unpassend zu benehmen, als ihre innere Überzeugung – wenn sie wirklich eine haben. Gewiß soll man stets bemüht [186] sein, sich eine eigne Meinung zu bilden; man soll sie aber nicht von vornherein als unumstößlich hinstellen, sondern soll sich zu belehren suchen und sich belehren lassen, wo man nur kann. Schon aus praktischen Gründen müßte man solch absolutes Gebaren vermeiden, denn gerade diejenigen, welche nur ihre Auffassung als die einzig richtige hinstellen, sind gewöhnlich die, welche alle vier Wochen ihre Ansicht ändern; und welche Beschämung ist es dann für sie, wenn sie darauf aufmerksam gemacht werden, wie sie vor kürzester Zeit gerade das Gegenteil von dem, was sie heute aufstellten, behauptet haben. Aber es ist ein Zeichen der Zeit, dieses Fehlen jeglicher Pietät dem Bestehenden, Bewährten gegenüber und dieses unbarmherzige Verurteilen jeder andern Bethätigung, mit der man nicht ganz einverstanden ist, jeder andern Ansicht überhaupt, ohne daß man dazu durch Studien, Kenntnisse und Erfahrungen berechtigt ist. Abgesehen davon, daß sich ein junger Mann, der, anstatt seine Meinung zu äußern, ein Urteil fällt, im Kreis älterer Personen stets lächerlich macht, wird er sich kaum irgendwo durch seine Unbescheidenheit Sympathien erwerben und bald genug aus der Gesellschaft, die sich sein jungenhaftes Benehmen [187] nicht bieten lassen will, ausgeschlossen werden. Wird man aufgefordert, seine Ansicht zu äußern, so thue man dies in bescheidener Weise, und hat man überhaupt keine eigne Ansicht, so ist dies durchaus keine Schande, nur gebe man es einfach zu; dadurch wird man sich nicht lächerlich machen, wohl aber, wenn man irgend eine Kritik oder eine Folgerung, die man einer Zeitung oder dem Konversationslexikon entnommen hat, als aus seinem eignen Verstand entsprungen vorbringt. Man lasse sich aber auch durch das Urteil andrer nicht imponieren, wenn man es nicht teilen oder billigen kann, und prüfe stets bei sich, ob jener, der seine Meinung so unumstößlich hinstellt, nicht vielleicht selbst in den eben gerügten Fehler verfallen ist und sich mit fremden Federn geschmückt hat, die gar nicht zu seinem sonstigen Wesen passen. Weiß man aber etwas Näheres, vielleicht über den Verfasser des Stückes, den Komponisten der betreffenden Oper, den Maler, den Bildhauer, deren Werke gerade das herrschende Thema in der Unterhaltung der Gesellschaft bilden, so halte man damit nicht hinter dem Berg. Ja, man kann sich geradezu vorher darüber unterrichten, nur muß man dann beim Gespräch auch gleich die Quelle mitteilen, aus der man geschöpft hat. Es würde [188] unpassend sein, dies zu unterlassen und solche Kenntnis derartig zur Schau zu tragen, als ob man es für selbstverständlich hielte, daß jeder gebildete Mensch dieselbe haben müßte, denn dadurch würde man die andern indirekt für ungebildet und unwissend erklären. Nur zu oft wird dagegen gefehlt, und jeder Satz, der mit einem Wort, wie „Bekanntlich“ oder „Wie jeder weiß“ oder ähnlichem eingeleitet wird, ist eine Ungezogenheit gegen den andern, denn man setzt durch diese Einleitung schon von selbst voraus, daß derselbe das „Bekannte“ eben doch nicht wisse. Anderseits wird man dadurch, daß man sagt, man habe sich da und dort über den betreffenden Künstler zu unterrichten gesucht, in den Ruf eines strebsamen und aufmerksamen Menschen kommen.

Es ist selbstverständlich, daß man im Theater, Konzert u. s. w. stets die größte Ruhe bewahrt, aus Rücksicht gegen seine Nachbarn und gegen die Ausführenden, die ihr Bestes geben, um uns einen Genuß zu bereiten. Es ist daher auch nicht taktvoll, eine derartige Veranstaltung zu besuchen, wenn man weiß, daß man z. B. durch starken Husten das übrige Publikum stören würde. Kann man solche unästhetische Äußerungen nicht unterdrücken, so gehe man eben überhaupt lieber nicht [189] ins Theater, ins Konzert, als daß man den Unwillen der ganzen versammelten Gesellschaft auf sich lädt. Man erinnere sich in solchen Fällen nur daran, wie unangenehm man selbst durch so rücksichtslose Störungen seitens andrer berührt wird.

Sitzt in einer Loge eine Dame weiter rückwärts als ein Herr, so muß der Herr seinen Platz sofort der Dame abtreten und sich selbst auf den ihrigen setzen; auch wenn er die Dame nicht kennt, und auch wenn die einzelnen Plätze numeriert sind, erfordert der gute Ton diese Rücksicht. Es versteht sich von selbst, daß man behilflich ist, wenn etwas heruntergefallen ist, daß man älteren Damen eine Fußbank bequem rückt, wenn man sieht, daß sie sich damit bemühen u.s.w. Aber auch gegen andre, mitanwesende, besonders ältere Herren muß man möglichst zuvorkommend sein, hätte es auch weiter keinen Grund, als daß man nie wissen kann, ob man nicht vielleicht schon in der nächsten Gesellschaft ihnen vorgestellt wird, ob der Betreffende nicht ein künftiger Vorgesetzter sein kann u.s.w., ganz abgesehen von der Rücksicht, die der gebildete Mensch jedem andern erweisen soll. Man darf andern durch zu starkes Vorbeugen nicht die Aussicht versperren, man darf sie nicht durch [190] Aufstehen und Hinauslaufen aus der Loge in jeder Pause belästigen u. s. w. Glaubt man Programm oder Theaterzettel entbehren zu können, so ist das jedes eigne Sache, sehr unpassend aber ist es dann, den Nachbar um den seinigen zu bitten, oder ihn um Auskunft zu fragen; der Preis für einen Zettel ist so gering, daß man sich den Luxus, selbst einen zu besitzen, wohl gönnen kann. Ganz unpassend ist es, sich während des Spieles mit andern, und wäre man mit ihnen noch so befreundet, zu unterhalten, oder sie gar zu fragen, wenn man etwas nicht verstanden hat; denn abgesehen davon, daß man den andern und die ganze Umgebung dazu stört, verliert man während der Unterhaltung erst recht den Zusammenhang.

Vor Schluß des Stückes oder Konzerts den Saal zu verlassen, ist unpassend, ebenso wie, noch während des Spiels, durch Zuklappen des Opernglasfutterals, Zusammenfalten des Zettels u. s. w. Anstalten dazu zu machen. Sind die Garderoben mangelhaft eingerichtet, so muß man diesen Fehler mit in den Kauf nehmen, darf sich aber in keinem Fall dadurch berechtigt halten, wie dies leider oft genug vorkommt, alle Rücksicht beiseite zu setzen und seine Kleider durch einen [191] Sturmangriff, bei dem alle weiter Vornstehenden einfach weggeschoben werden, zu erobern. Wenn man aus irgend welchen Gründen sofort nach Beendigung der Darbietung fortgehen muß, so verlasse man den Saal lieber vor dem letzten Akt oder der letzten Musiknummer, nur störe man nicht durch Aufbruch während des Spieles dieses und die andern Zuschauer. Vor dem Schluß seine eigne und die Garderobe befreundeter Damen auf leeren Plätzen im Saal selbst aufzustapeln, ist ungehörig und an den meisten Orten verboten.

[192]
Sprache, Gespräch und Unterhaltung.

Wie man in seinem ganzen Benehmen in der Gesellschaft niemals etwas Gezwungenes oder Geziertes zur Schau tragen soll, so muß man auch in seiner Sprache und Sprechweise alles Gemachte und künstlich Angewöhnte vermeiden. Vor allem ist es nötig, daß man seine Muttersprache vollständig und richtig beherrscht. Bei einem gebildeten Menschen darf ein grammatikalischer oder stilistischer Fehler schlechterdings nicht vorkommen. Wer in seiner Jugend nicht die Gelegenheit hatte, seine Muttersprache richtig sprechen zu lernen, muß daher bestrebt sein, dies vor allem nachzuholen, ehe er daran denken kann, in der Gesellschaft zu verkehren. Er bilde sich an der Sprache unsrer klassischen Dichter oder studiere z. B. Heyse, einen der besten Stilisten und Beherrscher der deutschen Prosa. Ist man sich über irgend einen Ausdruck, eine Redeform im unklaren, so vermeide man lieber ein ganzes [193] Gespräch, im Verlauf dessen man gezwungen sein könnte, sich derselben zu bedienen, ehe man sich – blamiert. Die beste Meinung, die man von jemand hat, kann durch den einfachen Ausspruch, daß etwas mir nichts angeht, anstatt mich, oder durch einen einzigen ähnlichen Satz so gründlich ins Wanken gebracht werden, daß es der größten Mühe bedarf, seinen guten Ruf wiederherzustellen; vergessen wird man es aber dem Betreffenden nie, daß er einmal unrichtig gesprochen und dadurch bewiesen hat, daß er nicht einmal seine Muttersprache beherrscht. Ferner aber ist man dadurch, daß man sorglich aufpassen muß, um nichts Falsches zu sagen, im Gespräch stets gehindert und kann keine Unterhaltung führen, die den Geist nur etwas mehr in Anspruch nimmt. Um nun aber diesen Fehler zu vermeiden, verfallen viele in eine Sprechweise, wie man sie sich oft nicht unnatürlicher denken kann, und zeigen dadurch erst recht, wie wenig ihnen ihre Muttersprache geläufig ist. Wenn auch später über den Dialekt gesagt ist, daß man sich desselben, sofern er nur mäßig zu Tage tritt, nicht zu schämen braucht, so soll doch hier schon vor allen mundartlichen Eigentümlichkeiten gewarnt werden, die grammatikalisch oder stilistisch [194] falsch sind. Für die Unkenntnis des Unterschiedes zwischen Dativ und Akkusativ gibt es keine Entschuldigung, mag der Dialekt auch noch so frei über „Dir“ und „Dich“ und „Wem“ und „Wen“ verfügen. Wer solche Fehler macht, ist eben ungebildet.

Es ist unfein, beim Sprechen alle möglichen Fremdwörter zu gebrauchen, die man leicht und ohne Mißverständnisse hervorzurufen durch deutsche Worte ersetzen kann; viele glauben durch solche Ausdrücke, die sie oft selbst kaum halb verstehen, sich einen besonders gebildeten oder gelehrten Anstrich zu geben, während sie sich in den meisten Fällen nur lächerlich machen. Ebenso lächerlich ist aber die jetzt so sehr beliebte Art, überhaupt alle Fremdwörter zu verbannen und sich nur deutscher Ausdrücke zu bedienen. Wenn auch zugegeben werden muß, daß es möglich ist, für jeden aus einer andern Sprache stammenden Ausdruck einen deutschen zu setzen, so verbinden wir doch mit einer ganzen Reihe von Fremdwörtern fest bestimmte Begriffe, die durch das deutsche, ihm entsprechende Wort nicht im entferntesten gedeckt werden. Und die gebildete Gesellschaft kennt nun einmal diese Ausdrücke, die, wie man fast sagen könnte, eine Bereicherung [195] unserer Sprache bilden, in jedem Fall aber zu einer größeren Leichtigkeit der Unterhaltung beitragen. Anderseits sind die deutschen Übersetzungen gerade der gebräuchlichsten Fremdwörter selbst so unverständlich, daß sich der, welcher sie gebraucht, erst recht des Fehlers schuldig macht, gesucht und künstlich zu sprechen, anstatt zu reden, „wie ihm der Schnabel gewachsen ist“. Mit dieser Deutschtümelei macht sich der gebildete Mensch lächerlich. Solange man sich schon mit der deutschen Sprache als solcher beschäftigt hat, haben sich immer wieder „Reformatoren“ gefunden, die alles fremde Beiwerk ausmerzen wollten und doch nie einen rechten Erfolg mit ihren Bestrebungen hatten. Und so wird es wohl auch mit der augenblicklichen Bewegung, nur deutsch zu reden, gehen. Fühlt man trotzdem den Drang, sich an diesem Kampf gegen alles Fremdländische zu beteiligen, so braucht man sich ja keinen Zwang aufzulegen, nur hüte man sich, besonders älteren Personen gegenüber, durch aufdringlichen Gebrauch deutscher Ausdrücke den Schein von Unbescheidenheit und Naseweisheit zu erwecken. Die wenigsten Personen können es vertragen, verbessert zu werden, und wer sich erst einmal zum Vertreter irgend welcher, und sei es auch der [196] verschrobensten Richtung, bekennt, der liebt es, dieselbe nicht nur durch sich selbst zu vertreten, sondern wünscht auch für sie Propaganda zu machen; und damit soll man sehr vorsichtig sein, vor allem, wenn man einstweilen weder durch sein Alter noch durch seine Stellung berechtigt ist, vom andern zu verlangen, daß er einen für fertig und eines eignen Urteils fähig hält.

Der gebildete Mensch sollte möglichst vermeiden, Dialekt zu sprechen. Wenn sich auch nur die allerwenigsten Personen eine ganz reine, dialektlose Aussprache aneignen können, so sollte man doch als gebildeter Mensch anderseits auch nichts darin suchen, wie es allerdings viele thun, erst recht, gewissermaßen aus unwillkürlicher Opposition, die heimatliche Sprechweise zu gebrauchen, besonders wenn deren Ausdrücke vom „Gebildeten Gesellschafts-Deutsch“ allzuviel abweichen. Wer sich im Feuer der Unterhaltung einmal gehen läßt, dem wird das niemand übel nehmen, vor allem wenn er einen Dialekt spricht, den andre gern hören. So ist die sächsische Sprechweise z. B. in Süddeutschland, die süddeutsche in Norddeutschland sehr beliebt. Andre Dialekte, wie z. B. der darmstädtische, wirken oft ein wenig lächerlich. Immerhin aber ist es besser, wenn man nicht anders kann, [197] in seiner heimatlichen Sprechweise zu reden, als sich einen künstlichen Dialekt zurecht zu machen, von dem jedermann merkt, daß er angelernt und unnatürlich ist.

Es zeugt nicht von gutem Ton, stets in Übertreibungen zu sprechen, bei denen man sich noch dazu, wie bei vielen andern Ausrufen der Verwunderung, des Bedauerns, des Zweifels u. a. m. in den meisten Fällen gar nichts denkt. Wenn man nur ein ganz klein wenig vorher überlegt, was für ungereimtes Zeug man aufstellt, wenn man von einem „riesig kleinen Zwerg“ spricht, oder wenn man von einer idyllischen Aussicht sagt: das ist großartig, oder das Muster einer künstlich geklöppelten Spitze „kolossal fein“ nennt, aber auch, wenn man dem andern, der einem eine Neuigkeit mitteilt, einfach antwortet: „Das ist doch gar nicht wahr“ oder ihm freundschaftlichst erwidert: „Du bist wohl verrückt“, so wird man bald erkennen, wie sehr man solche Ausdrücke am unrechten Ort gebraucht. Noch schlimmer ist es mit einzelnen Worten, die man stets und überall gewohnheitsmäßig anwendet, wie „schneidig“, „pyramidal“ und dergleichen, die geradezu der Mode unterworfen sind. Es macht einen sehr oberflächlichen Eindruck, wenn man seine Rede [198] mit solchen Ausschmückungen versieht, und ist im ernsten Gespräch und höher stehenden Personen gegenüber geradezu unhöflich. Man nimmt aber jemand, der stets in Superlativen und von der geringsten Leistung, die eben gut war, in Ausdrücken des übertriebensten Lobes, und wenn sie ihm nicht ganz gefallen hat, mit dem vernichtendsten Tadel und Abscheu spricht, nicht ernst, weiß, was man von seinem Urteil zu halten hat und mißt diesem auch dann keine Glaubwürdigkeit bei, wenn es wirklich auch einmal begründet ist.

Fachausdrücke zu gebrauchen ist fremden Personen gegenüber unpassend, doch wird man immerhin dem Offizier einen militärischen Ausdruck verzeihen, dem genialen Künstler wird man es nicht übel nehmen, wenn er in begeisterten, dem Laien unverständlichen Worten von einem Kunstwerk spricht, der Musensohn darf sich wohl eines studentischen Ausdruckes bedienen. Lächerlich wird sich aber stets der machen, der solche Redensarten gebraucht, ohne Offizier oder Künstler oder Student u. s. w. zu sein. Ein junger Kaufmann, der in der Woche hinter seinem Ladentisch steht, wird ebenso die allgemeine Spottlust erregen, wenn er von einem [199] „schneidigen Handicap auf dem grünen Rasen beim letzten Herbstmeeting“ spricht oder mit absolutem Urteil irgend welches Gemälde für „Kitsch“ erklärt, wie ein sonst noch so tüchtiger Offizier, der, da er einmal mit Kameraden von der Marine zusammen war, nun nur noch von „Volldampf voraus!“ und „Stop!“ und „Obermarsstenge“ spricht. – Besonders beliebt sind alle möglichen „forschen“ Ausdrücke bei jungen Damen, die sich dadurch einen interessanten Anstrich zu geben glauben. Und wie wenig Wirkung erzielen sie durch solche Backfischgewohnheiten bei Personen, die nur ein ganz klein wenig ernster und tiefer denken, als die übliche Gesellschaftsunterhaltung erfordert. Man merkt ja doch stets, wo diese Redensart aufgeschnappt worden ist und welchen Ursprung jene hat und wie wenig sie alle verstanden sind.

Auch mit der Ironie muß man vorsichtig sein, denn das Gefühl, das man hat, wenn man merkt, daß andre den verborgenen Witz oder Spott nicht verstanden haben und einen Spaß für Ernst, eine Übertreibung für Wahrheit nehmen, und wenn man dann gar noch eine lange Erklärung nachträglich geben muß, ist sehr beschämend, und der andre wird stets geneigt sein, [200] daraus, daß er die ganze Sache nicht richtig aufgefaßt hat, dem Erzähler einen Vorwurf zu machen. Hat man Gelegenheit, einen geistreichen Witz anzubringen, so benutze man dieselbe; nur vergewissere man sich vorher, daß man nicht unbescheiden erscheine oder durch denselben in irgend welcher Weise anstoße und – daß ihn alle verstehen. Man zerstöre sich nicht durch undeutliches Sprechen, durch Vergessen irgend welcher nötigen Nebenumstände die Wirkung, vor allem aber lache man nicht selbst, womöglich ehe man die Pointe gebracht hat. Um eines Witzes willen ein Gespräch zu beginnen ist unpassend, denn der schlaue Zuhörer wird doch die Absicht merken und verstimmt werden. Daß man Geschichten oder Witze, die nur im entferntesten anstößig sein könnten, in der Gesellschaft nicht erzählt, versteht sich von selbst, oft findet man aber an dergleichen gar nichts, während andre doch unangenehm berührt werden; dann sei man doppelt vorsichtig und unterlasse lieber solche Erzählungen ganz. Überhaupt bleibt es stets ein sehr zweifelhaftes Vergnügen, zweifelhafte Geschichten und Späße zu erzählen, auch wenn man nicht zu befürchten braucht, daß man Anstoß erregt. Man vergibt sich etwas vor sich selber dadurch, und der wirklich [201] gebildete Mensch sollte an Zweideutigkeiten kein Vergnügen haben.

Geschichten und Anekdoten zu erzählen ist in den meisten Fällen eine mißliche Sache. Der eine aus der Gesellschaft kennt sie doch immer schon, der andre versteht sie nicht, der dritte findet sie nicht witzig, der vierte fühlt sich durch irgend eine Anspielung, an die man gar nicht gedacht hat, beleidigt, und der Ruhm, den man bestenfalls davon trägt, ist nicht weit her. Besonders muß man sich hüten, in den Ruf eines „Anekdoten-Revolvers“ zu kommen, d. h. eines, der stets die andern mit seinen Geschichten langweilt, mögen sie nun passend sein oder nicht. In dasselbe Kapitel gehört auch die Produktion aller möglichen sonstigen geselligen Scherze, wie Nachahmen von Tierstimmen, Kopieren berühmter Persönlichkeiten oder beliebter Schauspieler, Verrenken oder Verbiegen der Finger, Gesichterschneiden, mit den Ohren wackeln u. s. w. Am rechten Platz und zur rechten Zeit und seltener angebracht, werden diese Künste gewiß nicht verfehlen, die größte Heiterkeit hervorzurufen; in einer Gesellschaft aber, die nicht das Verständnis für dergleichen witzige Vorführungen hat, wird oft genug eine Verlegenheit eintreten, die geradezu [202] beängstigend wirkt und nicht zum mindesten auf den unvorsichtigen Künstler, der sich sein Publikum nicht vorher angesehen hat.

Wer einige Übung im gesellschaftlichen Verkehr hat, wird schnell erkennen, ob ein Gespräch, in welches er mit einer andern Person gekommen ist, wirklich aus Interesse an der Sache oder an einem selbst, oder nur der Unterhaltung halber geführt wird. Ist ersteres der Fall, so wird man später, wenn man dieselbe Person wieder trifft, auch wieder auf dasselbe Thema kommen können, zumal wenn man sich vielleicht nachträglich darüber des weiteren unterrichtet hat; ja, man wird sogar, den Umständen nach, sich erlauben können, wenn es sich um ein Datum, einen Namen oder dergleichen handelt, ohne zudringlich zu erscheinen, schon am andern Morgen nach der Gesellschaft in einem kurzen Billet eine Auskunft zu geben, die man am Abend vorher nicht gewußt hat; nur geschehe es mit der nötigen Bescheidenheit und ohne den Anschein, irgend welche Vertraulichkeit hervorzurufen. Auf der andern Seite liegt eine große Gefahr darin, jedes beliebige Gespräch als ernst anzusehen und mehr hinter ihm zu suchen, als eben eine Gesellschaftsunterhaltung. Man kann sogar zu einer größeren Intimität während [203] derselben gelangt sein, und doch, wenn man sich wieder trifft, kennt einen der Betreffende vielleicht gar nicht mehr oder erinnert sich wenigstens nicht mehr, worüber und daß man sich überhaupt je unterhalten hat. Das ist dann eine bittere Enttäuschung, die freilich dem, der erst länger in der Gesellschaft verkehrt und die Oberflächlichkeit, welche vielfach in ihr herrscht, kennen gelernt hat, nicht mehr begegnen wird.

Ist man mit jemand in ein Gespräch gekommen, so erfordert es der gute Ton, daß man demselben, sei es einem auch noch so langweilig, seine ganze Aufmerksamkeit zuwendet und nicht etwa auf andres, was in der Nähe verhandelt wird, hört. Ganz unpassend, weil äußerst rücksichtslos, ist es, plötzlich seine Unterhaltung zu unterbrechen, um ein erklärendes Wort in das Gespräch der andern einzuwerfen; wenn man sich dann auch mit einer Entschuldigung zu dem ersten wendet, so muß doch dieser in der Zwischenzeit die Wahrnehmung gemacht haben, wie wenig interessant seine Unterhaltung ist, und daß man während derselben noch auf andre gehört hat. Hat man selbst aber eine Auskunft, eine Erklärung erbeten, so muß man derselben unweigerlich zuhören und wenn sie sich auch noch soweit [204] von der ursprünglichen Frage entfernte, und wenn sie auch noch so wenig der gewünschten Antwort entspräche. Gut und aufmerksam zuzuhören ist eine große Kunst, die wohl gelernt sein will. Den andern zu unterbrechen ist immer unhöflich und taktlos, spricht man aber selbst, so muß man auch darauf achten, daß man ja nicht zu gründlich und ausführlich bei einem Thema verweilt, welches einem selbst vielleicht von großem Interesse erscheint, bei andern aber nur geringe Aufmerksamkeit hervorzurufen geeignet ist. Gerade in diesem Punkt fehlt den meisten Menschen die nötige Objektivität.

Worüber man sich mit jemand, den man zum erstenmal an einem Ort trifft, unterhalten soll, kann freilich nicht gesagt werden, das richtet sich zu sehr nach den Umständen, unter denen man sich kennen lernt, nach dem Grund, aus welchem man sich trifft u. s. w.; wovon man aber unter keinen Umständen reden soll, das sind Politik und Glaubenssachen. Nichts ist geeigneter als diese beiden Stoffe, Personen, noch ehe sie sich überhaupt näher kennen gelernt haben, so auseinander zu bringen, daß an ein angenehmes Nebeneinanderleben, an freundschaftliche Beziehungen nie wieder gedacht werden kann. Kommt man dennoch in die Lage, auf ein derartiges [205] Gespräch eingehen zu müssen, so benutze man jede Gelegenheit, dasselbe auf ein andres Thema überzuleiten. Natürlich soll man selbst eine feste Meinung, sowohl in politischen wie in religiösen Dingen haben, auch wissen, warum man so denkt und nicht anders, daran aber lasse man sich genügen; nichts ist undankbarer, als Proselyten machen zu wollen, als zu versuchen, andre zu seiner Ansicht zu bekehren. Man schließe doch von sich selbst auf andre: ebensowenig wie man selbst seine Ansicht, die man sich nach und nach gebildet hat, nicht auf ein kurzes Gespräch hin ändern wird, ebensowenig wird man verlangen können, daß ein andrer sofort die seinige aufgibt, zu der er vielleicht erst nach ebenso langen Zweifeln und Kämpfen gelangt ist. Auch hier gilt, was früher schon von der Gesinnungstüchtigkeit gesagt worden ist; man kann ja ruhig nebeneinander leben, wenn man auch weiß, daß der andre unsre Ansicht in gewissen Punkten nicht teilt, man braucht diese Punkte eben nur nicht zu berühren. Und außerdem ist es doch durchaus nicht unser Beruf, für das geistige Wohl und Wehe andrer zu sorgen, die einen im Grund eigentlich gar nichts angehen. Gespräche politischer Art selbst hervorzurufen ist unpassend. Sehr [206] taktlos aber würde es sein, eine Unterhaltung auf religiöses Gebiet hinüberzuspielen, besonders wenn man weiß, daß andre die eigne Ansicht nicht teilen. Ja, der gute Ton erfordert es sogar, daß man in dieser Hinsicht die größte Schonung walten läßt und nichts sagt, was einen der Anwesenden nur im geringsten unangenehm berühren könnte. Die religiöse Unduldsamkeit, die gerade von den „aufgeklärt“ sein wollenden, am meisten ausgeübt wird, gehört wenigstens nicht in den Salon, in die Gesellschaft.

Und noch ein drittes ist es, was sich freilich den beiden eben genannten Punkten kaum zur Seite stellen darf und doch nach dem gesellschaftlichen Übereinkommen mit nicht geringerer Schonung im Gespräch behandelt werden muß: der Aberglaube. Es würde im höchsten Grad taktlos sein, wollte man sich bei einem andern über irgend eine abergläubische Gewohnheit lustig machen oder gar dieselbe mit Absicht verletzen. So vollkommen ist niemand, daß er nicht irgend welche kleine Schwächen hat, die er vom andern respektiert zu haben wünscht, obgleich sie manchmal recht störend sind; warum also den oder jenen Aberglauben nicht berücksichtigen, der doch in den meisten Fällen niemand belästigt.

[207]
Wetten, Vielliebchen und Geschenke überhaupt.

Sobald man erst etwas länger in der Gesellschaft verkehrt hat und mit vielen Personen näher bekannt geworden ist, kann leicht der Fall eintreten, daß man genötigt wird, zum Austrag irgend welcher Meinungsverschiedenheit Wetten einzugehen. Das ist eine ziemlich heikle Sache, besonders Damen gegenüber. Am besten ist es, man vermeidet die Gelegenheit dazu überhaupt, indem man der betreffenden Dame einfach Recht gibt, auch wenn man vom Gegenteil überzeugt ist, oder womöglich gleich die Richtigkeit seiner Behauptung so gründlich beweist, daß die Dame die Irrigkeit ihrer Ansicht einsehen muß. Allerdings werden da nur logische Gründe nicht viel nützen. Auf Wetten einzugehen, von denen man im voraus weiß, daß man sie sicher gewinnt, und dies auch sofort darlegen kann, ist unfein. Man kann aber doch in die Verlegenheit kommen, augenblicklich selbst nicht genau Bescheid zu wissen, [208] und dann gibt es kaum einen passenden Grund, die vorgeschlagene Wette zu verweigern. Taktvolle Damen werden den Gegenstand, um welchen man wettet, selbst so gering wie möglich bestimmen; eine schöne Rose, eine Photographie oder dergleichen sind Preise, die jedermann erschwingen kann; höher aber als ein Paar Handschuhe, ein Bouquet oder ähnliches darf man nie gehen, ohne den andern in Verlegenheit zu bringen. Ein kleines Geschenk kann man sich ruhig, selbst von Fernerstehenden, gefallen lassen, etwas Wertvolleres aber darf sich der eine Teil weder erlauben zu geben, noch der andre es anzunehmen. Am besten ist es, wenn man ganz vermeidet, den Gegenstand fest zu bestimmen und nur allgemein „Etwas Schönes“, „Etwas Nützliches“ zum Preis der Wette festsetzt. Gegen ein teures Geschenk kann und muß man sich verwahren. Das ist auch gar nicht so schwer, wenn man seinen Protest gegen solchen Vorschlag vielleicht in ein komisches Gewand kleidet, wie z. B., daß kurz vor dem Ersten die zerrütteten Finanzen dergleichen riskante Sachen nicht erlaubten, oder daß man dann ja, wenn man verlöre, überhaupt gleich Konkurs anmelden müßte, oder daß es die Pflicht des Mannes sei, die Dame, die ja doch [209] verlieren würde, vor so großer Ausgabe zu behüten u. a. m. Natürlich bedarf es eines großen Taktes bei solchen Gelegenheiten, und wenn man sieht, daß ein andrer sich nicht gut herauszufinden weiß, muß man ihm beistehen, wie man es auch selbst dankbar anerkennen wird, wenn einem ein guter Freund in der Verlegenheit zu Hilfe kommt.

In solchen Fällen ist oft das Gewinnen von Wetten peinlicher, als das Verlieren, da jemand, der noch nicht große gesellschaftliche Erfahrung hat, oft genug nicht wissen wird, wie er sich dabei benehmen soll. Bei Wetten braucht man sich nicht zu „revanchieren“, muß sich aber natürlich für ein etwaiges Geschenk bedanken, und das geschieht am besten durch ein selbst gemachtes Gedicht, welches man mit einigen Blumen übersendet oder indem man es bei einem Besuch mit einem Bouquet überreicht. Jemand an seine verlorene Wette zu erinnern, ist streng verpönt. Oft ist die Wette vom andern auch vielleicht gar nicht vergessen worden, er ist nur in Verlegenheit, was er als Buße schicken soll; merkt man dies, so leistet man ihm einen großen Dienst, wenn man scheinbar zufällig im Gespräch irgend einen Wunsch ausspricht nach einer Kleinigkeit, z. B. nach einem Hausschlüsseletuis, einem [210] Taschenbürstchen, einem Tintenwischer und was dergleichen billige Gegenstände mehr sind. Nur muß man mit solchen Anspielungen sehr vorsichtig sein, damit die Absicht nicht durchschaut wird. Verliert man selbst die Wette, so muß man dies sofort durch Übersendung des betreffenden Gegenstandes, um welchen gewettet wurde, bekennen. Ist dieser schon vorher ausgemacht worden, so muß man doch immer die Zusendung noch mit einigen humoristischen Worten, mit einigen Versen, einer erfundenen Geschichte begleiten, und wenn er sich allein nicht gut zum Geschenk eignet, so umgibt man ihn mit Blumen, befestigt ihn in einem kleinen Bouquet, um ihn so der Gewinnerin zustellen zu lassen. Man verschiebe die Erfüllung einer Wette so wenig wie möglich, damit gar nicht erst der Gedanke aufkommen kann, man wolle sich darum „drücken“. Sehr beliebt sind Wetten um eine Flasche Champagner, „Sekt-Wetten“. Verliert man eine solche, so darf man natürlich nicht eine ganz gewöhnliche Marke übersenden, sondern muß schon etwas besseres aussuchen und umgibt die Flasche mit einem Blumenkranz, fügt ein Gedicht bei oder dergleichen. Besser aber ist es, wenn man es vermeiden kann, einen solchen Gegenstand zum Preis der Wette zu wählen, denn während [211] die Überreichung eines Fächers, eines Gedichtbuches u. s. w. keinerlei Folgen nach sich ziehen, so erfordert doch eine übersandte Flasche Sekt schon von vornherein die Einladung, dieselbe mit austrinken zu helfen. Wenn eine junge Dame übermütig genug ist, solchen Preis vorzuschlagen, so wird es manchmal ganz am Platz sein, ihr anstatt des wirklichen Schaumweines eine Attrappe in Form einer Champagnerflasche gefüllt mit Bonbons oder Eau de Cologne zuzusenden mit einem lustigen Gedicht. Wetten mit andern Herren sind immer etwas Ernsthafteres, Geschäftlicheres; man muß dann natürlich seine Verpflichtungen noch peinlicher erfüllen, wenn man verloren hat.

Ähnlich wie bei Wetten verhält es sich mit Vielliebchen, die man mit jemand ißt; man wird diesem Scherz in einer lustigen Gesellschaft von jungen Leuten kaum entgehen können. Ein Vielliebchen essen heißt, wenn zwei Personen je eine von zwei Mandeln, die sich in einer Schale finden, zu gleicher Zeit essen und irgend welche schwer zu erfüllende Bedingung daran knüpfen. So ist z. B. eine Bedingung, daß sich Personen, die sonst „Sie“ zu einander sagen, „Du“ nennen und umgekehrt, oder man ißt das Vielliebchen auf „Geben und Nehmen“, d. h. sobald die eine [212] Person der andern etwas gibt, muß diese sofort „Ich denke daran“ (J’y pense) sagen, oder man macht aus, daß derjenige verloren hat, der von einer beliebigen Sache, die gerade das allgemeine Interesse bildet, zuerst wieder zu reden anfängt, oder endlich es wird bestimmt, daß der gewonnen hat, welcher den andern bei der nächsten Begegnung zuerst mit „Guten Morgen, Vielliebchen!“ begrüßt. Bei diesem geselligen Vergnügen braucht man durchaus nicht galant zu sein, ja beide Teile müssen sich geradezu bemühen, den Gegner so schnell wie möglich „hereinfallen“ zu lassen. Bei Vielliebchen wird kein bestimmter Gegenstand ausgemacht, den der Verlierer zu zahlen hat, das bleibt dem Takt des einzelnen überlassen. Er muß aber eben dann auch Takt haben! Am witzigsten ist es, wenn man durch irgend ein Geschenk eine schwache Seite des betreffenden Gewinners oder der Gewinnerin treffen kann; das muß man aus dem Gespräch herausbekommen, nur bedarf es natürlich großer Vorsicht, daß aus der unschuldigen Neckerei keine beabsichtigt scheinende Beleidigung wird. Doch kann es eine junge Dame, die vielleicht auf irgend einem geographischen Fehler im Gespräch ertappt worden ist, einem Herrn kaum übel nehmen, wenn er [213] ihr mit einem bezüglichen Gedicht einen kleinen Globus auf den Schreibtisch schickt; die Bilder der deutschen Kaiser sind ein ganz hübsches Geschenk für jemand, der sich gar noch rühmt, in der Geschichte unwissend zu sein; ein Fleißknäuel kann auch mit Anzüglichkeiten übersandt werden u. s. w.; will man aber sonst nur ein beliebiges Geschenk senden, so wähle man eine hübsche Blumenvase, ein kleines Lichtbild ans Fenster zu hängen, einen Sonnenfächer, ein Gedenkbuch für Geburtstage, eine hübsche Miniaturausgabe eines klassischen Stückes, eine Bonbonniere voll Süßigkeiten, das Bild einer beliebten Künstlerin, einen eleganten Brieföffner, eine Flasche Parfüm, ein Taschen-Nähnecessaire oder dergleichen. In jeder größeren Stadt gibt es Galanteriewarenläden, wo man solche Geschenke erstehen kann, und wo einem genug vorgelegt wird, wenn man selbst nicht weiß, was man schenken soll. Doch dürfte einer oder der andre der eben angeführten Gegenstände stets einer Dame willkommen sein. Hat man als Gewinner ein Geschenk erhalten, so muß man dasselbe umgehend erwidern. Da ist es dann am besten, wenn man seine Gabe der erhaltenen entsprechend einrichtet. War diese etwas Scherzhaftes, so wähle [214] man selber eine Neckerei; eine Arbeit, etwas Gemaltes, Geschnitztes oder dergleichen erwidere man durch ein Geschenk, lasse aber ein beigefügtes selbstgemachtes Gedicht oder eine Zeichnung, eine Komposition die Hauptsache bilden u. s. w. Weiß man sich gar nicht zu helfen, so schicke man einfach ein Bouquet, eine blühende Pflanze oder dergleichen mit einigen verbindlichen Worten. Im übrigen gilt auch hier, was schon beim Wetten gesagt worden ist.

Ohne weitere Veranlassung einer Dame Geschenke zum Namenstag oder Geburtstag zu machen ist für einen jungen Mann, der in einer Familie verkehrt, nicht erlaubt. Will man seine Glückwünsche noch anders als durch Worte ausdrücken, so kann dies lediglich durch Blumen geschehen, deren Wert aber auch nicht allzusehr in Widerspruch mit der Kasse des Gebers stehen darf. Allenfalls kann man irgend eine besondere Süßigkeit oder sonstige Spezialität, die nur in der eignen Heimat hergestellt wird, „als kleine Probe“ bringen, z. B. Königsberger oder Lübecker Marzipan, Aachener Printen, Düsseldorfer Müggelchen, Nürnberger Lebkuchen, Schwarzwälder Kirschwasser u. s. w. Das wird niemand falsch ausgelegt werden. Für jeden einzelnen Fall kann natürlich nicht angegeben werden, wie man sich [215] zu benehmen hat, darüber muß der Takt entscheiden. Kostbare Geschenke, ohne jede weitere Veranlassung, darf ein junger Mann schlechterdings nicht machen. Besonderer Takt gehört aber auch dazu, von fernerstehenden Personen Geschenke anzunehmen. Für gewöhnlich wird man ja nicht in die Lage kommen, doch finden sich immer wieder Gelegenheiten, wo in einer Gesellschaft um die Weihnachtszeit z. B., bei einem Cotillon vielleicht, oder bei einem Pfänderspiel allen Anwesenden kleine Geschenke überreicht werden, oder wo eine freundliche Hausherrin einem jungen Mann, der sich beim Ball, im Theater, beim Arrangement einer Gesellschaft sehr nützlich gemacht hat, eine Aufmerksamkeit erweisen will. Da wäre es sehr unpassend, wenn man eine solche Gabe etwa zurückweisen wollte oder den Beleidigten spielte oder gar von „revanchieren“ spräche. Die einzige „Revanche“ ist, daß man sich über das Dargebotene freut und dieser Freude auch wirklich Ausdruck gibt, wenn einem der Gegenstand selbst auch ziemlich gleichgültig ist. Auf den kommt es aber erst in zweiter Linie an, die freundliche Absicht ist die Hauptsache. Eingewickelte Geschenke muß man sofort aufmachen und darf sie nicht etwa, aus falscher Verlegenheit, ohne sie angesehen zu haben, in die Tasche stecken.

[216]
Ehrenangelegenheiten.

Es kann jedem, sei er noch so vorsichtig, geschehen, daß er in ernstere Meinungsverschiedenheiten mit einem andern gerät, die in Wortwechsel oder Streitigkeiten ausarten, und in deren Verlauf er sich durch irgend einen Ausdruck in seiner Ehre gekränkt fühlt. Die erste Regel des guten Tones ist es natürlich, derartige Gelegenheiten möglichst zu vermeiden und vor allem in Gesellschaft und ganz besonders, wenn Damen dabei sind, alles zu thun, daß keinerlei Mißhelligkeiten entstehen oder, wenn dies schon geschehen ist, doch niemand weiter Kenntnis davon erhalte.

„Wo im Wortwechsel die Grenze zwischen harmloser Neckerei, absprechender Beurteilung oder Unhöflichkeit einerseits und einer Beleidigung zu ziehen ist, dafür gibt es keine Regeln. Nur das Taktgefühl, der Grad der Empfindsamkeit sind hierfür entscheidend. Hüte jeder – namentlich in erregterem Zustand, nachdem der Wein [217] die Gemüter erhitzt – seine Zunge und halte sich auch bei lebhaftem Wortwechsel stets in den Grenzen der Höflichkeit und vorgeschriebenen Form.“

Es ist an und für sich unpassend, einen Streit hervorzurufen, und die Achtung vor der Gesellschaft erfordert, daß man denselben so schnell als möglich beilegt; hält man aber eine weitere Aussprache für durchaus nötig, so muß man sich möglichst unbemerkt oder unter einem passenden Vorwand in ein andres Zimmer begeben, wo man allein ist, und darf, wie auch die Auseinandersetzung ausfalle, durch keine Miene oder gar Andeutung verraten, daß man eine ernstere Angelegenheit zu erledigen gehabt hat. Sich vor andern zu zanken, zu streiten oder gar zu beleidigen ist ungehörig und zeugt von der größten Mißachtung der gesellschaftlichen Formen. Zwischen gebildeten Menschen darf es überhaupt nie so weit kommen, daß unbeteiligte Personen merken, daß eine Zwistigkeit eingetreten ist; die äußere Form der gesellschaftlichen Höflichkeit muß stets gewahrt werden.

Tritt aber doch der Fall ein, daß durch einen erregten Wortwechsel zwischen zwei Personen eine ganze Gesellschaft aufmerksam gemacht wird, [218] so ist es jedes andern Pflicht, nach Möglichkeit einzugreifen und die Angelegenheit zu schlichten, ehe sie ernster wird. Dies geschieht oft am besten durch einen Scherz, und sei er auch im Augenblick noch so schlecht, der das Ganze ins lächerliche zieht. Ein allgemeines Gelächter wirkt dann oft wie ein Blitzstrahl als eine Erlösung aus der schwülen Stimmung und wird auch die Beteiligten selbst, die sich schon so weit vergaßen, an ihre Pflicht gegen die übrigen Anwesenden erinnern, ihre Angelegenheit wenigstens nicht öffentlich weiter zu betreiben. Es bedarf zu einer solchen Intervention jedoch stets großen Taktes, und leicht wird ein nur um so größerer Skandal hervorgerufen, wenn sich jemand, und wäre es auch in der besten Absicht, hinein mischt, der die erregten Gemüter nicht richtig zu behandeln weiß. Anderseits kann sich aber jeder, der in taktvoller Weise solch unangenehme Unterbrechung einer frohen Gesellschaft zu beseitigen weiß, von vornherein der Unterstützung aller andern versichert halten. Am besten wird es immer sein, wenn man die beiden Streitenden möglichst in ein andres Zimmer zu bringen weiß oder die Gesellschaft bittet, sich ihrerseits für einen Augenblick in ein andres Zimmer zu begeben.
[219] Ist die Lage der Dinge aber derartig, daß man sich beleidigt und Genugthuung zu fordern berechtigt glaubt, so hat die weitere Verfolgung der Angelegenheit innerhalb 24 Stunden spätestens zu geschehen. In den meisten Fällen wird ein Mann, der in solche Lage kommt, wissen, was er zu thun hat. Der Angehörige eines Offizierskorps, der Reserveoffizier kennt die genauen Vorschriften, der Student, der nur irgendwie mit einer Verbindung in Beziehung steht, weiß, wie er sich verhalten soll, und so werden es im Grund nur wenige Personen sein, die im unklaren über die einzuschlagenden Schritte sind. Diese thun dann am besten, sich an einen älteren Bekannten zu wenden, von dem sie voraussetzen können, daß er in derartigen Angelegenheiten Bescheid weiß, und der ihnen, sowie es sich wirklich um etwas Ernstes handelt, mit seinem Rat zur Seite stehen wird, denn von den bei der Sache beteiligten Personen selbst dürfen in keinem Fall irgend welche weiteren Schritte gethan werden.

Eine ganz falsche Ansicht ist es, daß es sich beim Austrag von Ehrenhändeln darum handele, wer der Forderer und wer der Geforderte sei; es kommt nur in Betracht, wer der Beleidiger und wer der Beleidigte ist; letzterer ist stets derjenige, [220] der zuerst vom andern durch eine Unhöflichkeit, eine Beschimpfung oder gar durch einen Schlag in seiner Ehre verletzt worden ist, gleichgültig, ob er in gleicher Weise darauf erwidert hat.

Es ist hier nicht der Platz, des Genaueren auf die einschlägigen Verhältnisse einzugehen, nur sei, um eine irrige Meinung gerade bei solchen, die nicht durch ihre Stellung je in die Lage gekommen sind, sich mit den durch den Gebrauch und das Herkommen vorgeschriebenen Regeln zu beschäftigen, auf dies eine aufmerksam gemacht, daß es „eine ganz falsche Anschauung ist, daß diese Genugthuung stets in einem Zweikampf bestehen müsse. Es ist vielmehr Pflicht eines Ehrenmannes, sein Unrecht einzusehen, und schädigt nie seine Ehre, wenn er dies eingesteht und sein Bedauern über diesen Vorfall ausspricht. So lassen sich viele Ehrenhändel in einer für beide Teile gleich ehrenvollen Weise beilegen, ohne daß es notwendig wird, zu einem Zweikampf zu schreiten.“

Mancher junge Mann besonders liebt es, in jugendlicher Renommisterei stets von „Ehre“, „Beleidigung“, „Genugthuung“ und „Forderung“ zu reden oder sich schon durchgemachter Ehrenangelegenheiten [221] zu rühmen. Das ist kindisch und imponiert wohl kaum jemand; im Gegenteil, es zeigt, daß der, der solche „tapfere“ Redensarten stets im Mund führt, oft sehr verschrobene Begriffe von Ehre hat, dem höchsten Gut des Mannes, mit dem allerdings nie und in keiner Weise gespielt werden darf, welches man aber eben deshalb auch nicht mit jedem Dummen-Jungen-Gespräch, mit jedem Zank auf der Bierbank in Verbindung bringen soll. Wer sich des näheren über die Verhandlungen in Ehrenangelegenheiten und deren Austrag unterrichten will, der sei auf die Broschüre „Die konventionellen Gebräuche beim Zweikampf. Von einem älteren aktiven Offizier“ (Berlin, Verlag von R. Eisenschmidt) hingewiesen, welcher auch die beiden angeführten Abschnitte in diesem Kapitel entnommen sind.

[222]
Konventionelle Lügen.

Wenn sich auch unser ganzer geselliger Verkehr von dem leichtsinnigen und doch geschraubten, geschminkten und unwahren Wesen der, wie man sie wohl bezeichnet hat, klassischen Zeit des Gesellschaftslebens im vorigen Jahrhundert und dem Zopf, der bis vor verhältnismäßig kurzer Zeit noch bei uns herrschte, endlich losgemacht hat, so daß Offenheit, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit zu den ersten Pflichten desjenigen gehören, der in der Gesellschaft einen Platz einnehmen will, so verlangt doch der gute Ton oder hier vielmehr die hergebrachte Sitte, daß man in gewissen Fällen, vor allem, wo sie verletzend wirken könnte, dem andern doch nicht die reine Wahrheit ins Gesicht sagt, sondern daß man ihr durch irgend welche Ausrede oder konventionelle Lüge ein Mäntelchen umhängt. Meistens sind es ja nur Redensarten, bei denen sich keiner etwas denkt, und die mit dem Namen [223] „Lüge“ zu hart bezeichnet werden, aber der gute Ton verlangt auch vorkommenden Falles eine wirkliche, überlegte Unwahrheit, der sich kaum jemand entziehen können wird, nähme er es mit der Wahrheit auch noch so genau.

Die Höflichkeit erfordert es, daß man einen Bekannten, den man trifft, nach seinem Befinden fragt, ja im Englischen besteht die gewöhnliche Begrüßung geradezu in einer solchen Frage, aber prüfe man sich doch einmal ernstlich: hat man in den meisten Fällen nur das geringste Interesse daran, zu wissen, wie es dem andern geht? – Oder jemand stellt sich vor, nennt seinen Namen, und man antwortet ihm: „Ich bin sehr erfreut!“ (nämlich, Sie kennen zu lernen); ist es einem nicht vollständig gleichgültig, ob man diesen jemand, den man möglicherweise nie wiedersehen wird, kennen gelernt hat oder nicht? Und doch würde es eine grobe Unhöflichkeit sein, wollte man nicht irgend ein paar freundliche Worte auf eine Anfrage nach unserm Befinden, auf eine Vorstellung erwidern. Man braucht ja nicht gleich auf die Frage eines andern, der uns auf den Fuß getreten hat, ob es uns wehe gethan habe, zu antworten: „O nein, im Gegenteil!“, doch würde es immer unpassend sein, [224] wenn man mit einem einfachen: „Ja wohl, sehr!“ bestätigen würde, daß man starke Schmerzen hatte. Das sind eben alles Redensarten. Mehr als solche aber werden schon Ablehnungen sein, wenn man z. B. irgend eine dringende Beschäftigung, eine Verabredung, zu welcher man erwartet wird, vorschützt, um sich das Fortgehen zu erleichtern bei einem Besuch, den man nur aus Höflichkeit macht, machen muß, und bei dem man, wieder nur aus Höflichkeit, gebeten wird, noch länger zu bleiben, während man doch schon empfindet, wie überflüssig man ist. Oder ist es nicht eine Unwahrheit, wenn man schreibt, mit wie großer Freude man einer Einladung folgen wird, und bei sich schon im voraus über die langweiligen Stunden entsetzt ist, die man verleben wird? „Wir würden uns sehr freuen, Sie morgen abend bei uns zu sehen“, so steht es in der Einladung, und wie manchmal wird die Freude des Gastgebers noch weit größer sein, wenn er eine abschlägige Antwort des ihm so unsympathischen Gastes erhält, den er nur aus irgend welcher Rücksicht einladen mußte. Und doch wird weder der eine in der Einladung, noch der andre in der Antwort seine wirklichen Empfindungen ausdrücken dürfen. Eine Lüge fernerhin ist es, [225] wenn die Dame des Hauses sich dadurch der Verlegenheit entzieht, Besuche zu empfangen, daß sie durch das Mädchen sagen läßt, sie sei nicht zu Hause. Und gerade diese Verleugnung läßt sich noch am besten vermeiden, indem man einfach, ohne weitere Angabe der Gründe, sein Bedauern ausdrücken läßt, jemand nicht empfangen zu können.

Eine ebenso große Lüge ist es aber auch wenn man einen Besuch macht zu einer Zeit, von der man gewiß weiß, daß die Betreffenden ausgegangen oder bei Tisch sind und niemand empfangen können, und eine noch gröbere Unwahrheit würde es sein, wollte man jemand auf einen Tag einladen, von welchem einem bekannt ist, daß an demselben schon eine andere Festlichkeit stattfindet, bei welcher jener beteiligt ist oder sein muß.

Der feinfühlende Mann wird aber öfters noch zu andern Unwahrheiten genötigt sein. Wenn man z. B. etwas spät am Nachmittag einen Besuch macht und eine Gesellschaft trifft, die schon früher Kaffee getrunken hat, so erfordert es der gute Ton, daß die Hausfrau fragt, ob sie einem noch eine Tasse anbieten dürfe; ebenso wird es aber der gute Ton fordern, daß man für dieses Anerbieten bestens dankt, wenn man das Empfinden hat, daß seine Ausführung mit großen Umständen [226] verbunden sein würde, daß vielleicht noch einmal besonders deshalb Kaffee gekocht werden müßte oder dergleichen. Genügt dann ein einfaches Ablehnen nicht, so muß man zu einer Ausrede seine Zuflucht nehmen, daß man bereits Kaffee getrunken habe, daß man überhaupt keinen am Nachmittag tränke u. s. w. Bemerkt man bei einer Gesellschaft, daß von einer Speise, vom Wein nicht genügend vorhanden ist, so muß man sich selbstverständlich von vornherein mit dem Zulangen danach einrichten, wird einem aber trotzdem noch einmal angeboten, so muß man lieber mit einer glaubwürdigen Ausrede danken, ehe man Veranlassung ist, daß vielleicht die „andre“ Flasche Wein angebrochen oder irgend ein Gericht, das nur für die allerdringlichste Reserve zurückgestellt und eigentlich für den nächsten Mittagstisch bestimmt ist, herbeigebracht wird. Besonders Personen gegenüber, die nicht in der Lage sind, große Kosten für Gesellschaften aufzuwenden, ist solche Rücksicht angebracht, nur muß man da gerade mit der größten Vorsicht und dem feinsten Takt vorgehen, damit aus der bestgemeinten Absicht nicht die größte Beleidigung werde. Ist man in einer kleinen Gesellschaft der einzige, welcher raucht, wie das wohl kommen mag, so wird man [227] gewiß den Gastgeber zu großem Dank verpflichten, wenn man die angebotene Zigarre verbindlichst ablehnt. Aus Höflichkeit mußte er, trotzdem vielleicht Damen anwesend waren, die das Rauchen nicht gut vertragen, Zigarren anbieten, aus Höflichkeit müssen aber auch wir ablehnen, ja womöglich jeder weiteren Nötigung durch die Angabe, daß man überhaupt nicht rauche, oder daß man es sich abgewöhnen wolle, zuvorzukommen suchen.

Das sind alles nur Beispiele, aber so werden jemand, der in der Gesellschaft verkehrt, immer und immer wieder Gelegenheiten vorkommen, bei denen er sein augenblickliches Gefühl mehr oder weniger verleugnen, zum mindesten aber unterdrücken muß. Das bezieht sich natürlich nicht auf ein ernsteres Gespräch, bei welchem es jedes Mannes Pflicht ist, seine Gesinnung zu verteidigen und für seine Ansicht einzustehen, wenn er sich einmal geäußert hat. Aus einer kleinen konventionellen Lüge aber als Ausflucht in der oberflächlichen Unterhaltung eines Balles, einer Gesellschaft braucht sich niemand ein Gewissen zu machen, nur sei er hübsch konsequent und vergesse nicht schon eine halbe Stunde später, was er 30 Minuten vorher behauptet oder vorgeschützt hat.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: dasselae
  2. französischer Schriftsteller (1763–1852) (Quelle: Wikipedia)
  3. Vorlage: konnte