Der arme Greis

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Christian Fürchtegott Gellert
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der arme Greis
Untertitel:
aus: Sämmtliche Schriften. 1. Theil: Fabeln und Erzählungen, Zweytes Buch. S. 142–144
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1769
Verlag: M. G. Weidmanns Erben und Reich und Caspar Fritsch
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck 1746/48
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
[[index:|Indexseite]]


[142]
Der arme Greis.


Um das Rhinoceros zu sehn,
(Erzählte mir mein Freund,) beschloß ich auszugehn.
Ich gieng vors Thor mit meinem halben Gulden,
Und vor mir gieng ein reicher reicher Mann,

5
Der seiner Miene nach, die eingelaufnen Schulden,

Nebst dem, was er damit die Messe durch gewann,
Und was er, wenns ihm glücken sollte,
Durch den Gewinnst nun noch gewinnen wollte,
In schweren Ziffern übersann.

10
     Herr Orgon gieng vor mir, (ich geb ihm diesen Namen,

Weil ich den seinen noch nicht weis:)
Er gieng; doch eh wir noch zu unserm Thiere kamen,
Begegnet uns ein alter schwacher Greis,
Für den, auch wenn er uns um nichts gebeten hätte,

15
Sein zitternd Haupt, das nur halb seine war,

Sein ehrlich fromm Gesicht, sein heilig graues Haar
Mit mehr als Rednerkünsten redte.
Ach! sprach er, ach erbarmt euch mein!
Ich habe nichts, um meinen Durst zu stillen,

20
Ich will euch künftig gern nicht mehr beschwerlich seyn;

Denn Gott wird wohl bald meinen Wunsch erfüllen,
Und mich durch meinen Tod erfreun:
O lieber Gott! laß ihn nicht ferne seyn!

[143]
     So sprach der Greis; allein was sprach der Reiche?
25
Ihr seyd ein so bejahrter Mann,

Ihr seyd schon eine halbe Leiche,
Und sprecht mich noch um Geld zum Trinken an?
Ihr unverschämter alter Mann!
Müßt Ihr denn noch erst Brandwein trinken,

30
Um taumelnd in das Grab zu sinken?

Wer in der Jugend spart, der darbt im Alter nicht. – – –
Drauf gieng der Geizhals fort. Ein Strom schamhafter Zähren
Floß von des Alten Angesicht. – – –
O Gott! du weißts! Mehr sprach er nicht.

35
Ich konnte mich der Wehmuth kaum erwehren,

Weil ich etwas mitleidig bin.
Ich gab ihm in der Angst den halben Gulden hin,
Für welchen ich die Neugier stillen wollte,
Und gieng, damit er mich nicht weinen sehen sollte:

40
Allein er rufte mich zurück.

Ach! sprach er mit noch nassem Blick,
Ihr werdet euch vergriffen haben,
Es ist ein gar zu großes Stück.
Ich bring euch nicht darum, gebt mir so viel zurück,

45
Als ich bedarf, um mich durch etwas Bier zu laben!

Ihr, sprach ich, sollt es alles haben,
Ich seh, daß ihrs verdient; trinkt etwas Wein dafür.
Doch, armer Greis, wo wohnet ihr?
Er sagte mir das Haus. Ich gieng am andern Tage

50
Nach diesem Greis, der mir so redlich schien,

Und that im Gehn schon manche Frag an ihn.
Allein, indem ich nach ihm frage,

[144]
War er seit einer Stunde todt.

Die Mien auf seinem Sterbebette

55
War noch die redliche, mit der er gestern redte.

Ein Psalmbuch und ein wenig Brodt
Lag neben ihm auf seinem harten Bette.
O! wenn der Geizhals doch den Greis gesehen hätte,
Mit dem er so unchristlich redte,

60
Und der vielleicht ihn itzt bey Gott verklagt,

Daß er vor seinem Tod ihm einen Trunk versagt.

     So sprach mein Freund und bat, die Müh auf mich zu nehmen,
Und öffentlich den Geizhals zu beschämen.
Wiewohl ein Mann, der sich zu keiner Pflicht

65
Als für das Geld versteht, der schämt sich ewig nicht.