Der fünfte Zeuge

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Titel: Der fünfte Zeuge
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 351–352
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[351] Der fünfte Zeuge. Es giebt in Paris neben den anerkannten und patentirten Gewerben noch eine große Anzahl kleiner Neben-Industrien, die sich dem aufmerksamen Beobachter nach und nach offenbaren. Z. B. das Feueranbieten auf den belebtesten Plätzen und Straßen, das Aufheben weggeworfener Cigarren-Stummel auf dem Boulevard des Italiens, das Oeffnen und Schließen der Wagenthüren an Kirchen und Theatern macht die tägliche Beschäftigung einer gar nicht unbedeutenden Anzahl von allerdings nicht eben hoffnungsvollen Pariser Jünglingen aus. Ferner findet man Katzenjäger, die allen Batels der Barrieren den Stoff zu ihren Fricasssé liefern; Künstler in Silhouetten, die für den bescheidenen Preis von zehn Sous in den kleinen Weinkneipen etwa gewünschte Portraits sehr zierlich im Profil ausschneiden. Sodann existirt die große Zunft der „Contremarken-Verkäufer“, die übrigens eine geordnete Gesellschaft bilden und eine Casse von 400.060 Francs besitzen. Noch zu nennen sind die „Fabrikanten von volksthümlichem Gefrorenen“ (fabricants de glaces populaires, wie sie sich nennen), die der Bevölkerung von Paris für zwei Heller eine anständige Portion von Gefrorenem à la vanille und au citron anbieten. Die „vereinsamten Claqueurs“ darf ich nicht vergessen; sie sind nicht zu verwechseln mit der großen Masse der in allen Theatern angestellten und allabendlich bezahlten Claqueure, nein, der „vereinsamte Claqueur“ klatscht und überläßt sich den lebhaftesten Beifallsbezeigungen nur dann, wenn alle anderen Menschen still sind, er zieht also die allgemeinste Aufmerksamkeit auf sich und sein Zweck ist, das Publicum auf diese Art zum größten Enthusiasmus hinzureißen; es geschieht ihm freilich zuweilen, daß er vor die Thür geworfen wird, oft aber erreicht er seine Absicht und dann wird er sehr gut bezahlt. Alle diese kleinen Gewerbe ernähren ihre Leute mehr oder minder gut.

Es giebt aber noch ein Metier, das meiner Nomenclatur bis jetzt fehlte; ich werde es „das Geschäft des fünften Zeugen“ nennen. Es ist jedenfalls eine der Eigenthümlichkeiten der großen Stadt.

Auf der Mairie des zweiten Arrondissements bemerkte ich sehr oft einen jungen Mann von einnehmenden Aeußern, in der Uniform eines National-Gardisten, der auf dem Hofe des stattlichen Gebäudes regelmäßig Sonnabends in den Stunden zwischen zwölf und zwei Uhr zu lustwandeln schien.

„Sie haben wohl Dienst?“ fragte ich ihn eines Tages.

„Ja, mein Herr!“

„Alle Sonnabende?“

„So ist es.“

„Das setzt mich in Erstaunen, da meines Wissens jeder Pariser National Gardist nur aller zwei Monate zum Wachdienste gezogen wird!“

„Da haben Sie allerdings Recht; indessen mich bestimmen philanthropische Rücksichten den Dienst für meine Cameraden zu übernehmen.“

„Jeden Sonnabend gerade?“

„Ja, jeden Sonnabend. Nun aber thun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich allein, begleiten Sie mich nicht und sprechen Sie nicht mehr mit mir. Sie sind doch nicht hierher gekommen, um mir zu schaden?“

„Gewiß nicht.“

„Sie haben auch nicht den grausamen Hintergedanken mir Concurrenz zu machen?“

„Da sei Gott vor!“

„So bitte ich Sie, verlassen Sie mich. Später bin ich gern bereit Ihnen Alles zu erklären, was Sie zu wissen wünschen.“

Ich gab der Bitte nach, aber meine Neugierde war lebhaft angeregt.

Ich wollte wissen, warum dieser National-Gardist, dessen Diensteifer mir offenbar eine belobende Anerkennung zu verdienen schien, gerade den Sonnabend gewählt hatte, um sich dem Vaterlande zu widmen, und warum er so eindringlich darauf bestand zwischen zwölf und zwei Uhr auf dem Hofe der Mairie allein herum zu spazieren. Ich wendete mich an den Sergeanten der Wache.

„Wer ist der junge Mann,“ fragte ich den bärtigen Sohn des Mars, „der da auf und nieder geht?“

„Das ist ein sehr bekannter junger Mann, ein Original!“

„Was thut er?“

„Er ist Schreiber bei einem Notar.“

„Um einen gerichtlichen Act aufzunehmen, ist er denn doch wohl nicht hier?“

„Vielleicht doch. Passen Sie nur auf, was geschehen wird. Er liebt das Vergnügen, die gute Kost, Musik und Tanz.“

„Und darum zieht er auf die Wache?“

„Eben darum.“

„Ich verstehe Sie nicht!“

„Passen Sie nur auf, und Sie werden nach und nach vielleicht verstehen. Ich muß Sie aber nun verlassen, um die Parole zu holen.“

Der Sergeant ging, und ich stellte mich neben ein Fenster des Wachtgebäudes. Von hier aus konnte ich Alles übersehen, was in dem Hofe vorging. Es erschienen Täuflinge, die in ihren schönen weißen Mänteln von sorgsamen Ammen getragen und von freudestrahlenden Papas geleitet wurden; es kamen lustige Hochzeitszüge mit ihrem Gefolge von geputzten Brautjungfern, bedenklichen Großeltern und gerührten Müttern etc.

Plötzlich kam ein Herr mit weißen Handschuhen, weißer Cravatte, frisirtem Haar, neuem schwarzem Frack, mit sehr besorgtem Gesicht die breite Treppe der Mairie wieder herab gesprungen, er sah sich ängstlich nach allen Seiten um und schlug sich plötzlich vor die Stirn.

Mein lustwandelnder National-Gardist sah den Herrn sehr wohl, that aber als ob er ihn nicht bemerke, ging in weiten Bogen um ihn herum und pfiff: „Malb’rough s’en va-t-en guerre!“ Plötzlich stellte sich der Mann in weißen Handschuhen dicht vor ihn hin. Beide standen ganz in meiner Nähe, ich verlor also kein Wort ihrer Unterhaltung.

„Mein Herr,“ seufzte der schwarze Frack, „ich bin recht unglücklich!“

„Was fehlt Ihnen?“ fragte der Nationalgardist.

„Ich verheirathe mich.“

„Das nennen Sie ein Unglück?“

„Das nicht, aber es fehlt mir ein Zeuge, und die Trauung ist unmöglich ohne die vorgeschriebenen fünf Zeugen.“

„So will es das Gesetz; ein Artikel des Code Napoléon hat diesen Fall vorausgesehen, mein Herr!“

„Wollten Sie wohl die große Liebenswürdigkeit haben, den fehlenden Zeugen zu vertreten, der mich schändlicher Weise im Stich läßt?“

[352] „Mit dem größten Vergnügen, mein Herr!“ entgegnete sehr höflich der Nationalgardist und folgte dem Bräutigam nach der Mairie. Als er von der Feierlichkeit zurückkehrte, schien mir sein Gesicht ganz verklärt.

Mittlerweile war der Sergeant wieder an mich herangetreten, stieß mich mit dem Ellenbogen an und flüsterte mir zu: „Jetzt hat er seinen Zweck erreicht; er ist Hochzeitsgast.“

„Wirklich?“

„Versteht sich; man kann doch einen Mann, der die Gefälligkeit gehabt hat, den Contract mit zu unterzeichnen, nicht wieder verabschieden, ohne ihn zum Hochzeitsschmause und Balle einzuladen.“

„Und er macht das Geschäft alle Sonnabende?“ (Der Sonnabend ist nämlich der Tag, der in der Regel zu den Trauungen auf den Mairieen anberaumt wird.) „Ja, alle Sonnabende, und zwar in der Hoffnung, daß es ihm einmal glücken wird, irgend eine der niedlichen Brautjungfern als Gattin heimzuführen. Er ist übrigens kein übler Mensch, hat angenehme Manieren, ist sehr unterrichtet, leider aber besitzt er einen Hauptfehler.“

„Und der wäre?“

„Er ist arm, wie eine Kirchenmaus.“

Wir hatten eben, der Sergeant und ich, unsere Unterredung beendet, als der heirathslustige Nationalgardist an seinen Vorgesetzten herantrat und ihn für den heutigen Abend um Urlaub bat.

„Wie gewöhnlich!“ sagte lachend der Sergeant.

„Was wollen Sie? Ich suche die Gelegenheit, Bekanntschaften anzuknüpfen, und darum übernehme ich das Geschäft eines ‚fünften Zeugen‘. Das ist ein Gewerbe, so gut wie ein anderes.“

„Ich wünsche, daß Ihnen die Hochzeit, der Sie heute beiwohnen werden, Glück bringen möge!“ sagte ich, indem ich mich in das Gespräch mischte.

„Gott gebe es,“ erwiderte der Nationalgardist, „ich bin dreißig Jahre alt, demnach ist es die höchste Zeit, und ich muß mich dazuhalten.“

„Wohlan,“ entgegnete ich scherzend, „ich habe Ihnen heute keine Concurrenz gemacht, und dafür müssen Sie mir einen Dienst leisten.“

„Mit Freuden; Alles, was ich kann!“ rief er.

„Wenn Sie sich in Folge des heutigen Hochzeitsballes, dem Sie beiwohnen werden, verheirathen, so erzeigen Sie mir die Ehre, mich zu Ihrem Trauzeugen zu wählen.“

„Topp! Ich nehme Ihr Anerbieten an!“ sagte er vergnügt. Wir schüttelten uns die Hände, wechselten unsere Karten und trennten uns lachend.

Zwei Monate waren verflossen. Ich hatte das lustige Abenteuer schon wieder vergessen und hatte mich begnügt, das Geschäft eines „fünften Zeugen“ meiner Liste über seltsame Gewerbe beizufügen. Da brachte mir einen schönen Morgens die Post zwei Briefe. Der eine, schön gestochen auf elegantem Papier, war folgenden Inhaltes: „Herr Anatole Desberois giebt sich die Ehre, Ihnen seine Verlobung mit Cléonine verwittweten Frau von Arboville anzuzeigen. Die feierliche Einsegnung dieses Bündnisses, welcher er Sie beizuwohnen bittet, wird kommenden 17. März in der Kirche Notre-Dame de Lorette stattfinden.“

Der andere Brief sagte Folgendes: „Ich habe Ihnen versprochen, Sie zu meinem Trauzeugen zu wählen, wenn ich mir auf dem Hochzeitsballe, zu dem ich mich in Ihrer Gegenwart einladen ließ, eine Frau erobern könnte. Das Glück hat mir gelächelt, und der Maire des zweiten Arrondissements wird nächsten Sonnabend meiner innigsten Befriedigung gesetzliche Geltung verschaffen. Ich bitte Sie, mir zum Zeugen zu dienen; lassen Sie mich aber ja nicht im Stiche, denn, soviel ich weiß, habe ich noch keinen Nachfolger im Hofe der Mairie.
Anatole.“ 

Zwei Tage vor der Hochzeit begab ich mich zu dem glücklichen Sterblichen und hoffte von ihm den nähern Bericht über sein Glück zu erfahren.

„O,“ sagte er, „jener Hochzeitsball war mir günstig.“

„Aber eine Wittwe!“ warf ich ein.

„Ja wohl, eine Wittwe, aber immerhin eine reizende Frau!“

„Hat sie Vermögen?“

„Sehr viel.“

„Kinder?“

„Nein.“

„Sie werden also reich durch sie?“

„Ja; das ist aber gerade, was mich ärgert, denn ich liebe sie wirklich.“

„So sind Sie denn belohnt und glücklich durch Ihr sonderbares Gewerbe?“

„Allerdings. Aber da fällt mir ein, Sie sind ja auch unverheirathet, warum folgen Sie nicht meinem Beispiel?“

„Wer weiß, was geschieht,“ sagte ich, „jedenfalls soll mir Ihr glückliches Abenteuer nicht verloren sein!“

Ich nahm mir vor, die lustige Geschichte dem freundlichen Leser der Gartenlaube zu erzählen und zu etwaiger Nachachtung zu empfehlen.