Der gefangene Fisch

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Autor: Heinrich Beta
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Titel: Der gefangene Fisch
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aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 229–230
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Kleiner Seeroman
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Der gefangene Fisch.
Kleiner Seeroman zwischen der englischen und französischen Flotte hindurch, der mündlichen Mittheilung des Gefangenen nacherzählt von H. Beta in London.

„Liebt mich“ – „Liebt mich nicht“ – „Liebt mich“ – „Liebt m–“

So weit war ich an meinen Rockknöpfen, in Ermangelung einer Gänseblume, gekommen, als ich erschreckt auf meinem Sitze zusammenfuhr und meine schöne Wittwe und mich selbst vergaß. Ich saß nämlich auf einer Bank unter den Ulmen des luftigen Platzes, welcher die Hochstadt von Boulogne und ihre alten Wälle umgiebt, um über mein Schicksal nachzudenken und ob „sie“ wohl endlich Ja sagen würde, eine melancholische, aber eine der schönsten Situationen, in der hoffentlich sich jeder halbweg erwachsene Mann einmal befunden haben wird. Die Bank unter mir, die Wälle, die Bäume, die Luft, ich – Alles zitterte und dröhnte. Es war ein dumpfes, fernes Beben und Brummen, das kaum in fernen Echo’s erstorben war, als es sich von Neuem erhob. Die alten, verwitterten Thürme über mir zitterten auch, und ich sprang mit neuem Schreck auf, um aus dem Bereiche ihrer Sturzweite zu kommen. War es ein. Erdbeben? Nein. Die Schildwache schritt methodisch und ernst am Schlosse auf und ab, als wenn gar Nichts zu zittern wäre, und so fass’ auch ich wieder Muth. Horch! Dasselbe dumpfe Brüllen und Dröhnen unter mir, in mir, über mir und diesmal deutlicher und gewaltiger. Es kam vom Meere her. Da sah ich’s. Mein Herz pochte laut. Mein friedliches, englisches Herz erbebte von Stolz, Trauer, Reue, Demuth, Groll – ich weiß nicht von was. Ich sehe die Blitze herausfahren, ich höre den Donner nun deutlicher, die Donnerstimme, die beinahe ein halbes Jahrhundert über Europa geschwiegen und nun plötzlich unabweisbar aufgefordert war, aus ihren tiefsten, verderblichen Schlünden sich desto furchtbarer vernehmen zu lassen.

Der Donner englischer Flottenkanonen, der erste Ton der europäischen Kriegsarie!

Seit Wochen hatten wir fast tagtäglich gehört und gelesen von kriegerischen Vorbereitungen, Märschen, Bemannungen von Schiffen, von Männer-Enthusiasmus und Frauenthränen; wir wußten, daß unsere Flotte die französische hier vor Boulogne begrüßen würde, um zusammenzugehen; aber wie gewaltig anders stellte sich jetzt die Wirklichkeit dieses Lesens und Hörens und Wissens dar. Mein Auge wanderte an den grimmen Bogen der Wälle hin, die zum „Kaiserpalast“ Napoleon’s I. führen. Er sieht noch ganz so aus, wie damals, als er sich zur „Invasion Englands“ rüstete. Jahrhunderte lang hatten sich England und Frankreich als Feinde betrachtet und behandelt. Und jetzt, welch ein brüderliches Jubeln zwischen dem Kanonendonner hindurch – der beiden Feinde!

Ich blickte scharf durch die noch blätterlosen Bäume in’s blaue Meer hinaus, um die weißen Segel schimmern zu sehen und ihnen meinen Gruß zuzuwinken. Die wiederholten Donnersalven hatten mich zu einer Begeisterung, einer Trauer aufgerüttelt, daß ich hätte weinen mögen. Ich sah mich um nach mitfühlenden Seelen; aber der Bäcker mit seinem Korbe, die Bonne mit ihrer schreienden Last, die Kinder mit ihren Federbällen, Mädchen mit ihren Springriemen, Arbeiter mit Instrumenten – Alles ging an mir vorbei, ohne Lust zu zeigen, meine patriotische Aufregung zu theilen. Auch die Engländer, die sich hier und da zeigten (denn Boulogne ist beinahe halb englisch) sahen stumm und kalt aus. Sie ließen sich wohl nicht einmal gern an die Heimath erinnern.

Das bedarf einer Erklärung. Boulogne ist der Gegenpol zu der „Königin-Book“ [1] in London. Wer sich vor dem Zudrange von Gläubigern, die den Glauben an uns verloren haben, retten und das Seinige in Ruhe verzehren will, geht „hinüber“, am Liebsten nach Boulogne. Ich gestehe offen, daß ich auch ein solcher Flüchtling war. Ich war mit neunzehn Jahren ein freier Mann, Baronet und einziger Erbe eines unmenschlich reichen Onkels. Die Gauner und Schacherer und Jobberer wußten das und hatten durch meine Unerfahrenheit, meinen Leichtsinn, meine Lebenslust mich bis über die Ohren in Schulden gestürzt. Ich weiß, daß ich förmlich meuchlings mit Geld angefallen wurde, um es durchzubringen. [230] bringen. Hernach, als ich an’s Durchbringen gewöhnt war, gaben sie mir nur gegen 20 – 30 – 50 Procent neue Nahrung. Als mein Onkel gestorben und mir 20,000 Pfund Sterling hinterlassen hatte, weinte und rechnete ich. Die Summe reichte kaum hin, meine Schulden zu bezahlen. Ich hielt meine Gläubiger für Schurken und befestigte in mir die Ueberzeugung, daß sie allein die Schuld meiner Schuld seien. Gelernt hatte ich nichts, dafür war ich Erbe und Baronet. Was hätte ich als „schuldenfreier“ Gentleman anfangen sollen? Kurz, ich nahm meine 20,000 Pfund und siedelte mich in Boulogne an. Hier beschäftigte ich mich mit Rasiren, Wäschewechseln, Handschuhanziehen und später mit doppelten Vorbereitungen zum Krieg. Die eine Art las ich in den Zeitungen, die andere trieb ich selbst gegen die schöne Wittwe, die seit einigen Wochen hier wie ein Venusstern am Himmel der guten Gesellschaft aufgegangen war. Sie trug ein Köpfchen, ein paar Augen auf ihren weißen Schultern, die mich stets seltsam an meine schönsten Kinderjahre erinnerten, ohne daß ich wußte, wie es zugehe. Um den Stern bewegten sich mehr Trabanten, als um alle Planeten unseres Sonnensystems, Herren mit Schnurrbärten und Sporen, Herren mit Backenbärten und Diamantringen und Herren, die noch alle Tage ihr Gesicht im Spiegel untersuchten, um zu entdecken, welche zukünftige Gestalt ihr Bart dermaleinst anzunehmen geneigt sein könnte, falls er aufginge.

Die Hälfte der Boulogner Jungen machte Fensterparade mit ihren Mappen unterm Arme, wenn sie in die Schule gingen. Die Franzosen fangen früh an zu lieben, um spät wieder aufzuhören. Mich kümmerte weder Alt noch Jung, denn ich wußte, daß sie Niemand liebte, gegen Alle freundlich und geistreich, aber auch so zurückhaltend war, daß Niemand bisher gewagt hatte, ihr sein Herz zu Füßen zu legen. Was mich betrifft, so hatte ich dann und wann zu bemerken geglaubt, daß sie mich ohne besondere Veranlassung länger ansah, als es nöthig erschien; das war aber auch Alles. Mehr als einmal freilich hatte sie auch geäußert, daß sie mich in London, wohin sie bald zurückkehren werde, wiederzusehen hoffe, aber das wirkte begreiflicher Weise auf mich nicht annähernd.

Sie ließ sich fast alle Tage in’s Meer hinausfahren, um zu angeln. Einige Schnurr- und einige Backenbärte hatten eine Art Privilegium, sie auf diesen Partieen zu begleiten. Mir schlug sie ein Gesuch der Art geradezu ab, und zwar mit dem Bemerken, daß ich vielleicht noch Verpflichtungen gegen Land und Leute habe und sie dafür die Verantwortlichkeit für mein Leben, das auf dem Wasser immer mehr gefährdet sei, als auf dem Lande, nicht übernehmen könne. – Ich rieb mir die Stirn, als hätte ein Geist der Hölle die Rechnungen meiner Gläubiger darauf geschrieben und sah in meinen Hoffnungen eine Partie, die ganz zu Wasser ward. Und doch war sie dann wieder so rührend, so herzlich, so sinnig! – Ich fing damit an, zu erzählen, wie ich das Schicksal in Form meiner Rockknöpfe fragte, ob sie mich liebe, und wie der seit 40 Jahren stumme Kanonendonner des Krieges mit Erd und Himmel erschütternder Stimme aus den kleinlichen Leiden eines einzigen Individuums zu umfassenderen Gedanken rief. Jetzt dacht’ ich sie vergessen zu können. Und grade jetzt stand sie vor mir und lud mich lebhaft ein, sie zum Besuche der Flotten zu begleiten. Auf dem Wege sprach sie mit erröthender Begeisterung von dem schnupftabakschmutzigen, vatermördergeknickten, genialen Kraftmenschen Rapier und der Begeisterung seiner Mannschaft und dem hohen Berufe der englischen Flotte, diesmal für die Civilisation und nicht für einen Bourbonen und dergleichen kämpfen zu müssen.

Unter solchen Gesprächen, die mich, aus dem Munde des schönsten Weibes, um so mehr hinrissen und erhoben, waren wir in ein unten wartendes großes Seeboot gestiegen, welches nun lustig in die Wogen hinaussegelte, um den „Wellington,“ der jetzt mit Napoleon Arm in Arm ging, persönlich zu begrüßen. Ihr Gespräch, ihre schönen, leuchtenden Augen fesselten mich, daß ich mich kaum nach den Flotten umsah. Erst nach langer Zeit merkte ich, daß wir in der offenen See tüchtig geschaukelt wurden und von Küste und Schiffen nicht das Geringste zu bemerken war. Ich äußerte mein Erstaunen und meinte, es sei wohl Zeit, sich dem Lande wieder zu nähern.

„Haben Sie mich nicht gebeten, mich auf meinen Angelpartieen begleiten zu dürfen?“

„Sie wollen doch heute und hier nicht angeln?“

„Ich habe geangelt?“

„Haben geangelt?“

„Ja, mein Herr, und meinen Fisch gefangen.“

„Was für einen Fisch?“

„Sehen Sie da drüben das Land?“

„Das ist Morgate, England! Lootse, den Augenblick wenden Sie das Schiff!“

Die Matrosen lachten. Mir ging ein entsetzliches Licht auf. „Meine Börse!“ schrie ich, „25 Louisd’ors, wenn ihr mich in Boulogne absetzt!“

„Fünf und zwanzig Louis gegen zwanzig tausend Pfund?“ frug die Wittwe ironisch.

Wüthend kochte alles Blut in mir auf. Ich wandte ihr den Rücken und befahl den Matrosen und dem Lootsen mit Stentorstimme, sofort das Schiff zu wenden, wenn ihnen ihr Leben lieb sei. Der Lootse kam ganz ruhig mit zwei Mann heran, die bedeutende Stricke in den Händen schwangen. Er meinte, wenn ich mich nicht ruhig verhalte, müsse ich nach Seemanier gebunden in die Segeltuchkammer spazieren. Ich erkannte meine Lage und nahm sofort nach Außen eine stoische Ruhe an. Nach einiger Zeit ging ich in die Cajüte hinunter, wo die schöne Verrätherin in Gedanken vertieft saß.

„Nur ein Wort, Madame,“ sagte ich; „warum haben Sie, die ich wahrhaft, wahrhaft liebte, sich zu einer so unwürdigen List hergegeben, da Ihnen mein ganzes Vermögen zu Gebote stand?“

„Sie mich lieben? Ein Baronet die Bürgerliche?“

„Ich hatte nicht an Ihren Stand, Ihr Vermögen gedacht, sondern blos gewartet, bis ich ein untrüglichen Zeichen entdecken würde, daß meine Bewerbung – Untrügliches Zeichen! Sie haben’s nun gegeben.“

Ich hatte eine Pflicht übernommen. Sie erniedrigte mich, aber sie kam von einem sterbenden Vater, der – schreckliche Erinnerung! – mit Verwünschungen gegen Sie starb.“

Nun schilderte ich ihr mit den lebhaften Farben des bitter Erlebten die Art, wie mich ihr Vater, dessen Freunde und Gaunergehülfen aus meiner harmlosen Jugend und Unschuld absichtlich und planmäßig in Schulden gebracht und meinen jugendlichen Leichtsinn bis zum letzten Heller meinen Onkels als Schuldforderung in ihrer Gewalt hatten. Dabei sahen mich die schönen Augen des Weibes so rührend an, als sei ihre Rolle und meine Lage ein böser Traum. Ich fühlte mich so tief erschüttert, daß ich weinte, herzlich, tief, unaufhaltsam weinte. Ich saß da, wie ein bestrafter, reuiger, gerührter Schulbube, versteckte mein Gesicht in’s Taschentuch und blieb so sitzen, bis das Schiff die Themse hinauf und in einen der Docks eingelaufen war. Von hier begleiteten mich zwei Matrosen in ein Hotel, wo mich die Verrätherin schon erwartete. Sie nahm mir das Versprechen ab, daß ich das Hotel nicht verlassen wolle, ehe sie mich wieder gesehen. Ich gab es und, allein gelassen, ließ ich mir einen Bogen Papier kommen, durch welchen ich alle meine Besitzthümer meinen Gläubigern zur Verfügung stellen wollte. Dann warf ich mich auf’s Bett und ward nach einer kläglichen Nacht durch die Anmeldung eines Besuchs aus meinen Plänen, was ich nun anfangen werde, geweckt.

Meine Verrätherin stand vor mir. „Bringen Sie die Gläubiger nicht mit?“

„Sie stehen alle vor Ihnen“ (mit niedergeschlagenen Augen).

„Sie haben –“

„Alle Forderungen an mich gebracht, um“ – hier warf sie mehrere Papiere in das Kaminfeuer – „um Ihnen Ihre Freiheit wieder zu geben.“

„Um mich zu fesseln, ewig, unauflöslich zu fesseln! Ja? Ja? Ja?“

„Wenn es denn sein muß, in Gottes und der Liebe Namen herzlich und treu! Ja!“

Und wie sie dabei auf die Zehen trat und sich an mir in die Höhe wand und so reizend roth aufblühte und die leuchtenden Augen aufschlug und dann wieder nieder, und wie wir nun draußen in einer herrlichen Villa wohnen und glücklich sind, das sind Alles Dinge, nach denen der Leser nicht mehr fragt, wenn er erst weiß, daß „sie sich wirklich gekriegt haben.“


  1. queens Bench“ Schuldgefängniß.