Die Antenne im fünften Stock

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Walther Kabel
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Antenne im fünften Stock
Untertitel:
aus: Vorlage:none
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1926
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Wikisource
Kurzbeschreibung: Eine Harald Harst Erzählung.
Band 32 der Reihe Kabel Kriminalbücher.
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[1]
Die Antenne im fünften Stock.


[2]

[3]
Walther Kabel


Die Antenne im fünften Stock.


Kriminal-Roman




Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44


[4]
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1926 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin



Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin


[5]
1. Kapitel.


Auf Welle 900 …


Sieglinde von Lauken trat vom Fenster zurück, ließ den gelben Vorhang fallen und ging ins Nebenzimmer, wo die verwitwete Exzellenz von Lauken, eine Brille auf der spitzen, kampflustigen Nase, an einer Filet-Antik-Decke eifrigst stichelte und gerade das Muster abzählte.

Sieglinde sagte atemlos:

„Mama, sie haben sie wieder herausgestreckt … Mit dem Operngucker sieht man’s ganz deutlich …“

Die Mama rief unwillig:

„Still, Sigi … Ich zähle …“

Die aschblonde Sigi schaute nach der Stutzuhr auf dem Damenschreibtisch …

Dachte: „Wieder genau halb zwölf … Das fünfte-mal also …!“

Ihre Exzellenz war jetzt mit dem Zählen fertig.

„Also, was sagtest Du, Kind?“ meinte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken.

„Die Antenne ist wieder herausgeschoben worden, Mama …“

Exzellenz zuckte die mageren Schultern …

[6] „Was geht Dich das an, Sigi! Wenn die Leute dort oben in der aufgestockten Wohnung Schwarzhörer sind, – mögen sie! Das muß jeder mit sich selbst abmachen. Eine Gemeinheit bleibt es stets, die Funkgesellschaft um die zwei Mark monatlich zu betrügen …“

Sigi setzte sich in die Sofaecke.

Ihr rundes frisches Gesicht war sehr nachdenklich.

„Das sind keine Schwarzhörer, Mama … Die Leute haben ein Auto, haben echte Kelims an den Fenstern. Die Dame trägt einen Pelz, der mindestens zweitausend Mark wert ist …“

„Der reine Steckbrief, Sigi!“ Und jetzt schaute die Exzellenz auf und warf ihrer Einzigen einen bitterbösen Blick zu …

„Schreibe lieber die Doktorarbeit zu Ende ab,“ fuhr sie wirklich ärgerlich fort. „Jeden Abend vertrödelst Du eine halbe Stunde damit, diese Leute zu beobachten. Ich begreife Dich nicht!“

„Die Abschrift ist fertig, Mama. Es ist wirklich schade, daß man mit Dir so gar nichts durchsprechen kann … – Verzeih – ich meine Dinge, die interessant sind …“

„Also eine Antenne!“ spöttelte Frau von Lauken – aber sie lächelte schon. „Du bist mit Deinen dreiundzwanzig Jahren noch immer …“

„… unverheiratet – – leider!“ ergänzte Sigi mit komischem Seufzer.

[7] „Hm – ich wollte sagen: ein rechter Kindskopf! Und das stimmt …!“

„So?! – Hör mal, Mutti, wenn also ein junges Mädchen Augen hat, die mehr sehen als nur Putz, Tand und die tägliche Misere, – dann soll sie ein Kindskopf sein?! Und wenn ein Mädchen wie ich sich über Dinge Gedanken macht, die offenbar das Tageslicht scheuen, dann – dann …“

Exzellenz warf belustigt hin: „Herrgott, Sigi, dann sprich Dir also Deine Vermutungen von der Seele … Seit Tagen quälst Du mich damit …“

Sieglinde hatte das Kinn in die schmale Hand gestützt. Die Fingerspitzen zeigten einige lila Stellen von dem Farbband der Schreibmaschine …

„Also, Mama: das sind niemals Schwarzhörer …“

„Was Du beweisen mußt …“

„Die Leute stecken die beiden dünnen Eisenstangen, zwischen denen ihre Dreidrahtantenne gespannt ist, immer erst gegen halb zwölf abends heraus. Die Antenne bleibt so eine Stunde etwa hängen … Dann wird sie wieder eingeholt, stets bei verdunkelten Fenstern …“

„Nun ja – mag sein … Sie werden eben englische Sender hören wollen …“

„Aber die Leute sind doch wohlhabend, Mama … Da könnten sie die Antenne ruhig auch über Tag an den Fenstern belassen und die zwei Mark bezahlen …“

[8] Exzellenz gähnte und blickte nach der Stutzuhr hin. Punkt zwölf gingen Laukens zu Bett.

„Noch zehn Minuten,“ murmelte die hagere Dame und gähnte wieder…

Sigi rief: „Mutti, mit Dir ist’s zum Verzweifeln! – Ich bleibe heute auf … Ich …“

„Unsinn, Kind! Ich denke, wir müssen schwer genug arbeiten … Da soll man den Nachtschlaf nicht derartiger Nebensächlichkeiten wegen verkürzen …“

Sie stichelte eifrig. „Wenn Du nur bald wieder eine Abschrift bekämest, Sigi … Das Frühjahr steht vor der Tür, und Du mußt unbedingt ein neues Kostüm haben … Vorgestern sah Dich Regierungsrat Sommer so – so mitleidig an … Er merkte wohl, daß Dein Wintermantel gewendet ist …“

„Ach – – Sommer!!“ Und Sigi beschrieb mit der Hand einen Bogen durch die Luft …

So … schnuppe ist er mir, Mutti!“ bekräftigte sie nochmals …

„Auf wen wartest Du eigentlich?!“ Exzellenz erregte sich leicht … Ihre Stimme klang scharf … „Wenn Sommer um Dich anhält, wirst Du seinen Antrag annehmen …!“

Sigis graublaue Augen flimmerten plötzlich. Um den vollen Mund erschien ein Zug von unbeugsamer Willensstärke …

„Wenn er um mich anhält, Mama, werde ich ihn [9] fragen, wieviel ihm die Senta Malten, der Filmstar, jährlich kostet und ob er wirklich nebenher noch eine Frau ernähren kann – trotz seiner Millionen!“

Exzellenz ließ die Stickerei sinken …

Schob die Brille hoch …

„Sieglinde, das ist die Sprache der Straße …!!“

„Das ist die Wahrheit, Mama … – Ich bedanke mich bestens für diesen welken Sommer … Ich – brauche Mai, Frühling, Frische!“

„Um Gott, – – woher hast Du diese …“

„Aus mir selbst, Mama. – Entschuldige, daß ich Dich unterbrach. – Die heutige Zeit ist anders als vor zwölf Jahren. Damals hätte niemand Dir voraussagen dürfen, daß Du einmal für Geschäfte Decken sticken würdest und daß Deine Tochter – Klapperschlange spielen müßte … Nehmen wir die Dinge wie sie sind, Mama … Und mit den Redensarten von Dazumal aus Marlittschen Romanen gibt sich niemand mehr ab.“

„Leider – – leider! Damals gab es noch Ideale …“

„Von denen die Hälfte – falsch war …“

„Vielleicht! Immerhin blieb noch die andere Hälfte übrig … Und die genügte, andere Menschen zu erziehen …“

„Ganz recht …“ – Sigi war zerstreut. Ihre Gedanken weilten schon wieder drüben im fünften Stock.[1]

Oh – wenn die Mama geahnt hätte …!

Und – – Sigi lächelte spitzbübisch … –

[10] Exzellenz packte ihre Arbeit zusammen … Ihr Gesicht war bekümmert.

„Ach, Sigi, – ich werde doch erst übermorgen fertig,“ meinte sie ganz kläglich. „Wieviel Wirtschaftsgeld haben wir eigentlich noch …?“

„Eine Mark und dreißig Pfennig …“

Dann haschte Sigi aber nach den Händen der Mutter und fügte lachend hinzu:

„Heute haben wir so viel … Morgen bekomme ich für die Abschrift achtzehn Mark und fünfundsiebzig Pfennig. Ich habe es schon ausgerechnet …“

„Gott sei Dank!“ Und Frau von Lauken nickte ihrer Tochter freudig zu. Der Blick wurde zärtlich und gütig. „Bist ja doch mein wackeres Mädel, Du – Du Kindskopf …“

„Trotz der Antenne …!! – O Mutti, ich bin ganz etwas anderes … – eine Heuchlerin!“

„Du – – Heuchlerin?! Mit Deinem vorlauten Mundwerk …!“ Exzellenz lachte und erhob sich, begann dann die Betten für sich und Sigi auf den beiden Diwanen herzurichten, die jeder in einem der Zimmer standen. Die anderen drei Räume der Wohnung hatte Exzellenz vermietet.

Sigi half der Mutter.

Und zehn Minuten nach Mitternacht war sie im sogenannten Salon allein, und das war das Erkerzimmer, in dem Mutter und Kind jeden Abend so fleißig schafften.

[11] Das junge Mädchen schaltete das Licht aus und zog dann den gelben Vorhang des mittleren Fensters beiseite, nahm den Operngucker und setzte sich in den einen Korbsessel.

Die Laukensche Wohnung lag im vierten Stock. Sigi brauchte das Fernglas also nur ganz wenig nach oben zu richten, um dort jenseits der Luitpoldstraße die sechs Fenster der aufgestockten Wohnung beobachten zu können …

Auch heute waren alle diese sechs Fenster dunkel …

Und doch war wieder, nur für ein scharfes Auge zu entdecken, die Antenne zwischen den beiden äußeren Fenstern ausgespannt – an sehr langen dünnen Stäben, die aus Eisen bestehen mußten … Jedenfalls hing die Antenne ganz wenig über der Höhe des Dachrandes.

Sigi beobachtete …

Und – heute stellte sie etwas Neues fest: dort, wo die Mittelableitung der Antenne in das dritte Fenster schräg hineinlief, war links ein winziger heller Strich zu sehen!

Es brannte dort doch Licht! Das Fenster oder die Fenster waren nur dicht verhängt …!

Da kam Sigi mit einem Male ein besonderer Gedanke …

Sie selbst besaß einen Detektorapparat, ein ganz billiges Fabrikat mit auswechselbarer Honigwabenspule und einem Drehkondensator. Und hier im Erkerzimmer [12] war eine Antenne an den Wänden gespannt – aus weißbesponnenem Draht, damit die Drähte nicht auffielen …

Ein Gedanke …

Und Sigi setzte ihn sofort in die Tat um …

Zog den Fenstervorhang zu, machte Licht, holte den Apparat aus dem Schranke und stellte ihn auf den Schreibtisch, rückte die Klappermaschine beiseite und stöpselte Antenne, Erde und den Hörer ein, setzte sich und stülpte den Hörer über …

Dann stellte sie den Detektor ein. Das war so ein ganz billiger Hebeldetektor. Aber das Bleiglanzkristall war tadellos, gab an jeder Stelle an …

Sieglinde hörte zunächst nur Luftgeräusche und die Niederfrequenzstörungen der in der nahen Martin-Luther-Straße vorbeiratternden Elektrischen …

Sie drehte den Kondensator von null bis hundertachtzig …

Geräusche …

Sie wartete – hoffte …

Vielleicht traf ihre Vermutung wirklich zu und die Antenne drüben war an einen Sender angeschlossen …

Wenn’s so war, mußte sie hier so nahe der Sendeantenne unbedingt hören, was die Leute drüben in die Nacht hinausfunkten … –

Fünf Minuten vergingen …

Nichts …

[13] Geräusche …

Da nahm Sigi eine andere Honigwabenspule mit hundert Windungen und stöpselte sie an Stelle der Fünfziger, die nur für Wellen bis sechshundert Meter reichte, in die betreffenden Buchsen ein …

Drehte wieder den Kondensator und – stoppte bei 130 Grad …

Sie – hörte etwas …

Sie erschrak fast, so deutlich klang die Stimme, die da wirr durcheinander einzelne Buchstaben sprach …:

AZKE – Pause – BDAILE – Pause – und so weiter …

Sie überlegte …

Nein – das konnte kein Versuchssender eines Radioamateurs sein, denn für diese waren nur die kurzen Wellen bis zweihundert hinauf freigegeben …

Und die Welle, auf der diese Buchstaben ihren Detektorapparat erreichten, war nach Spulengröße und Kondensatorstellung mindestens neunhundert …

Auch ein Versuchssender der Telefunken-, der Lorenz-Aktiengesellschaft oder der Reichspost kam nicht in Frage.

Also – es konnte nur die Antenne von drüben sein, die diese Buchstaben ausstrahlte …

Und immer noch sprach die tiefe, volle Männerstimme nichts als Buchstaben – scheinbar sinnlos durcheinander.

Immer noch …

[14] Unwillkürlich griff Sigi nach Papier und Bleistift, schrieb nieder, was sie hörte …

Und – – fuhr plötzlich halb empor …

Erblaßte …

Stierte auf den schwarzen unheimlichen Zauberkasten.

Und – sank wieder in den Schreibsessel zurück – halb ohnmächtig …

Da verstummte plötzlich die Trägerwelle des Senders.

Im Telephon war nichts mehr zu hören …

Sigi zitterte …

Zitternd nahm sie den Hörer ab, schaute sich verstört um …

Hatte sie – geträumt …?!

Nein – – nein, – klar und scharf hatte sie alles verstanden …

Nicht nur Buchstaben zuletzt … –

Fröstelnd entkleidete sie sich …

An Einschlafen war vorläufig nicht zu denken …

Wenn … wenn er – er es war, dem diese wahnwitzige Drohung gegolten hatte …!! –

Endlich der mitleidige Schlaf …

Aber wilde Träume schreckten Sigi Lauken immer wieder auf …

In diesen Träumen spielte der Herr von drüben eine Hauptrolle … nicht die Antenne von drüben …




[15]
2. Kapitel.


Die leere Wohnung.


Und am folgenden Abend halb acht saßen die beiden Laukens im Eßzimmer beim Abendbrot.

Sieglinde hatte der Mama ihr nächtliches Funkerlebnis vollständig verschwiegen …

Exzellenz hatte zwar morgens ärgerlich gefragt, ob Sigi wirklich noch aufgeblieben …

„Du siehst ja ganz übernächtig aus, Kind …!!“

Sigi hatte – geschwindelt … –

Jetzt blätterte sie in der Zeitung … Frau von Lauken las einen Brief von ihrem Bruder, dem ostpreußischen Agrarier. Dem ging’s jetzt auch miserabel. Während der Inflation hatte er sein Gut verkauft und spielte nun, völlig verarmt, Inspektor bei seinem Nachfolger – mit achtundfünfzig Jahren, einer verwöhnten Frau und zwei anspruchsvollen Töchtern.

Seine Briefe enthielten stets nur Klagen, Selbstvorwürfe und wütende Ausfälle gegen seine Damen. Seiner Schwester gegenüber schüttete er sein Herz aus – bis zum geheimsten Winkel. Und auch heute schrieb er wieder zum Schluß:

„Sei froh, meine alte Mathilde, daß Deine Sigi ein so vernünftiges fleißiges Mädel ist … Meine [16] beiden Prinzessinnen stecken noch immer nicht den Finger in kalt Wasser … Man könnte mit dem Krückstock dreinschlagen …! Aber – von mir haben die Marjellen diesen Hang zum Faulenzen weiß Gott nicht!“

Und als Exzellenz diese Sätze überflogen hatte, stieg wieder ein inniges Gefühl von Zärtlichkeit für ihre Einzige in ihr auf …

Sie ließ den Brief sinken und blickte zu Sigi hinüber.

Rief entsetzt: „Um Gott, Sigi, was fehlt Dir?!“

Sieglinde war auf ihrem Stuhl kraftlos zusammengesunken … war erschreckend bleich …

Und nochmals rief Frau Mathilde von Lauken: „Sigi, was fehlt Dir?“

Das junge Mädchen raffte sich auf …

„Oh – nur … nur eine augenblickliche Schwäche, Mama … Das geht schon vorüber …“

„Ich werde Dir ein paar ätherische Tropfen holen.“ Und schon eilte Exzellenz in die Küche.

Hier stand der eine ihrer Mieter, Herr Rentner Haberlein, am Gasherd und briet auf der eisernen Pfanne zwei Setzeier.

Sagte höflich: „Guten Abend, Exzellenz. Ich räume die Küche sofort wieder. Ich …“

„Oh – nicht doch … – Sigi ist plötzlich schlecht geworden … Wo sind denn nur die Baldriantropfen?!“

„Dort auf dem Regal, Exzellenz …“

[17] Der alte Herr tat etwas Butter auf die Pfanne … Das Fett zischte, und Frau von Lauken meinte: „Bitte, Herr Haberlein, – helfen Sie mir doch … Mir zittern die Hände so … Fünfzehn Tropfen, bitte …“

Haberlein half … Die Tropfen fielen in den silbernen Teelöffel auf den Streuzucker.

„So – hier ist auch ein Glas Wasser, Exzellenz,“ sagte er in seiner freundlichen Art. „Übrigens täte ein Kognak bessere Dienste … Wenn ich damit aushelfen dürfte … Kognak wirkt schneller …“

Und er nahm die Pfanne vom Feuer und trippelte in sein Zimmer, erschien sofort wieder mit Flasche und Likörglas und trat bei Laukens ein. Exzellenz hatte die Tür halb offen gelassen.

„Guten Abend, gnädiges Fräulein …“ begrüßte er die noch immer recht farblose Sigi … „Hier – trinken Sie nur … Es wird Ihnen gut tun … Oh – nicht nippen! Herunter mit einem Zug … – So, das war brav!“

Und so neben dem gedeckten Abendbrottisch stehend, überflog er durch die Gläser seiner goldenen Brille die links neben Sigis Platz liegende Zeitung …

Es war die Beilage der Berliner Abendpost … Und in der rechten Spalte waren da am Rande zwei feine blaue Striche zu erkennen …

Einen Moment nur zogen sich Rentner Haberleins Augen zusammen …

[18] Im übrigen blieb sein von einem grauen Bart umrahmtes hageres Gesicht unverändert … –

Sieglinde bekam Farbe … Ihre Mutter bedankte sich wortreich bei dem Mieter und reichte ihm auch die Hand – zum ersten Male. Haberlein wohnte kaum erst eine Woche bei Laukens, war am 15. Februar zugezogen und hatte bisher kaum Gelegenheit gehabt, den Damen näherzutreten.

Er verabschiedete sich nun wieder.

Auch Sigi gab ihm die Hand …

„Ich danke Ihnen, Herr Haberlein … Der Kognak hat wirklich geholfen …“ Und dann ein wenig zögernd: „Verzeihung, waren Sie nicht früher Polizeibeamter? Auf Ihrer Anmeldung stand doch außer Rentner noch ein Titel …?“

Haberlein nickte. „Ich war Detektivinspektor auf Java in niederländischen Kolonialdiensten, gnädiges Fräulein … Ich beziehe auch eine kleine Pension …“

Und wieder verbeugte er sich und kehrte in die Küche zurück, stellte die Pfanne auf die Gasflamme und begoß sinnend mit einem Löffel die beiden Setzeier mit Fett …

Dann ging er in sein Zimmer hinüber, das nur einfenstrig war und das neben Laukens sogenanntem Salon lag. Die Verbindungstür war hier durch einen Schrank verstellt.

Haberlein nahm gemächlich sein Abendbrot ein …

Links neben ihm lag – ebenfalls die Abendpost …

[19] Aber hier waren in der Beilage nicht jene beiden Artikel angestrichen, obwohl Haberlein dafür reges Interesse zeigte und immer wieder hinschaute, als wollte er sich den Inhalt genau einprägen.

Da stand unter der Überschrift: „Ein Radioamateurscherz?!“ folgendes:

„Ein Radioamateur teilt uns mit, daß er in der verflossenen Nacht von 11 Uhr 35 Minuten einen Sender auf Welle 900 gehört habe, der offenbar Chiffredepeschen in Buchstaben, nicht in Morsezeichen, verbreitete. Dieser Sender, wahrscheinlich ein Experimentiergerät eines Amateurs, müsse mit mindestens 100 Watt gearbeitet haben. Die Welle sei sehr konstant gewesen, und die Sprache überaus klar. Um 12 Uhr 16 Minuten sei dann ganz plötzlich offenbar dicht vor dem Mikrophon dieses Senders lauter Wortwechsel einer männlichen und einer weiblichen Stimme erklungen und daher durch den Sender wiedergegeben worden. Zum Schluß habe die Frauenstimme gellend geschrien: „Wenn Du das tust, hast Du die längste Zeit gelebt!“ Dann sei der Sender abgestellt worden. – Unser Gewährsmann meint, daß dieser angebliche Streit wohl nur Komödie gewesen sei, eben ein Scherz jenes Amateurs, der seinen Amateurkollegen eine kleine Sensation bereiten wollte. – Ob der Sender hier in Berlin oder in einem Vorort arbeitete, konnte der Herr, dem wir diese Angaben verdanken, nicht feststellen. Immerhin sagte ihm seine Rahmenantenne, [20] die für Richtungsempfang sehr empfindlich sein soll, daß er nur in westlicher Richtung zu suchen sein kann. – Auffallend bei alledem ist uns die Wellenlänge 900, da die RTV. für Privatsendungen nur die Wellen bis 200 bekanntlich freigegeben hat. Es wäre von Interesse, zu erfahren, ob dieser Sender schon häufiger gehört worden ist.“ – –

Das war der eine Artikel. Und zehn Zeilen tiefer der andere:

Mord oder Selbstmord? Eine unheimliche Überraschung erlebte heute vormittag halb neun Uhr das Ehepaar Professor S., als es die leere Tauschwohnung Winterfeldtstraße 43 betrat, die es heute beziehen wollte. Im Hinterzimmer neben der Küche lag auf den Dielen eine elegant gekleidete jüngere Dame, neben ihr ein kleiner Revolver, dessen Trommel, wie später festgestellt wurde, zwei abgefeuerte und drei geladene Patronen enthielt. – Professor S., der von Heidelberg hierher versetzt worden ist, hatte noch gestern abend die Wohnung mit einem Dekorateur zusammen besichtigt und dabei auch dieses Hinterzimmer betreten. Er wußte also, daß die Tote erst während der Nacht in die Wohnung unbefugterweise eingedrungen sein konnte. – Die sofort herbeigerufene Kriminalpolizei fand bei der Toten, die einen überaus kostbaren Pelzmantel, Zobel mit sehr breitem modernen Kragen, und einen ebenso modernen kleinen Hut mit Reiherstutz trug, weder [21] Schmucksachen, Geld noch sonst etwas vor, das über ihre Person hätte Auskunft geben können.

Als Todesursache wurde ein Schuß in die linke Schläfe festgestellt. Dieser Schuß ist aus nächster Nähe abgegeben worden. Trotzdem deuten verschiedene Umstände darauf hin, daß die bisher Unbekannte den Schuß kaum selbst abgefeuert haben dürfte.

Türschlösser und Fensterverschlüsse der im vierten Stock des Vorderhauses gelegenen Wohnung waren in Ordnung. Wie die Tote in die Wohnung gelangt ist, blieb bisher ein Rätsel. Sowohl den Hausbewohnern, als auch denen der Nachbarschaft ist die etwa dreißigjährige hübsche Frau völlig fremd. Als besondere Kennzeichen der Unbekannten sei noch angeführt, daß sie hellblondes, künstlich gebleichtes Haar und sehr kleine Hände und Füße hat. Ihre Lackschuhe, fast ganz neue, sind amerikanisches Fabrikat. Der Revolver gleichfalls.

Wer über die Tote irgendwelche Angaben machen kann, möge sich im Polizeipräsidium, Alexanderplatz, Zimmer Nr. 32a, bei Kriminalkommissar Köstlin melden, Hausanruf 563.“ – –

Rentner Haberlein schob die Teller zurück und schenkte sich eine frische Tasse Tee ein. Dann faßte er in die Tasche seiner Hausjacke und holte ein goldenes Zigarettenetui hervor, auf dessen Vorderseite in kleinen Brillanten sein Monogramm schimmerte, zwei verschlungene H – also Herbert Haberlein.

[22] Der Rentner und Detektivinspektor a. D. rauchte bedächtig und mit offenbarem Genuß. Die Zigarette hatte einen süßlichen, aromatischen Duft und ein Korkmundstück.

Immer noch interessierte er sich für die beiden Artikel. Besonders der zweite schien seine Phantasie stark anzuregen, denn des öfteren murmelte er ein paar Worte vor sich hin oder machte eine Handbewegung, als ob er soeben in ihm aufgetauchte Vermutungen wieder verwürfe.

Dann stand er auf, ging an die Tür und lauschte …

Als er in der Küche das Klappern von Geschirr hörte, stellte er die von ihm benutzten Teller auf das Teebrett und verließ sein Zimmer.

In der Küche war Sigi gerade mit dem Säubern des Abendbrotgeschirrs beschäftigt. Die große dunkle Wirtschaftsschürze kleidete sie vortrefflich und nahm ihr in nichts jenes unbestimmbare Etwas, das nun einmal jede Dame der ersten Gesellschaft kennzeichnet.

Haberlein nickte ihr zu.

„Nun, wieder auf dem Posten, gnädiges Fräulein?“

„Ja – danke …“ Und doch klang’s kleinlaut, bedrückt.

Der alte Herr stellte das Teebrett auf den Küchentisch und sagte so nebenher:

„Weshalb fragten Sie mich vorhin nach meinem früheren Beruf, gnädiges Fräulein …?“

[23] Er wandte sich um, sah, daß Sigi errötete, und fügte leiser hinzu:

„Falls Sie irgendein Anliegen an mich haben, – sprechen Sie ohne Scheu!“

Das junge Mädchen schaute ihn fast entsetzt an …

Haberlein lächelte gütig …

„Ein alter Mann wie ich ist ein guter Beichtvater, gnädiges Fräulein … Und gerade ich habe so viel in meinem Dasein erlebt, daß nichts mir mehr fremd ist … nichts!“

Sigi schlug vor diesen grauen prüfenden Augen den Blick zu Boden …

Der Rentner trat näher auf sie zu …

Flüsterte jetzt:

„Sie wissen, auch ich bin Radiohörer, gnädiges Fräulein …“

Sigis Kopf schnellte hoch …

Ihr Gesicht war blaß…

„Wie – wie – soll ich das verstehen, Herr Haberlein?“

„Nun – so, wie Sie es auffassen müssen, Fräulein Sieglinde … gerade Sie!“

„Mein Gott – – haben … haben Sie’s auch gehört, Herr Haberlein?“ entfuhr es ihr halb gegen ihren Willen …

„Nein … Ich war gestern nacht um ein Viertel eins nicht daheim …“

[24] „Richtig, Sie kamen erst gegen zwei Uhr nach Hause. Ich war noch wach …“

„Vor Aufregung … Kann’s mir vorstellen…

Es muß auch ein böser Schreck gewesen sein, als Sie so plötzlich den lauten Streit der beiden vernahmen …“

„Ja – ich erschrak furchtbar … Und das, was da in der Zeitung steht von einem Amateurscherz, – das ist … Unsinn. Der Zank war – echt. Die Frau war halb wahnsinnig. Ihre Stimme klang – abschreckend!“

Und dann – jäh in Sigis Hirn ein Gedanke …

„Herr Haberlein, haben Sie etwa im Abendblatt die beiden Artikel blau angestrichen?“

„Ja … Ich halte ja auch die Abendpost. Und da ich die durch den Briefspalt in den Flur geworfenen Zeitungen als erster fand, auch als erster las, erlaubte ich mir die blauen Striche …“

Sigi starrte ihn fassungslos an …

„Wußten Sie denn, daß ich in der vergangenen Nacht meinen Empfänger eingeschaltet hatte?“

„Gewiß. – Und ich weiß noch mehr, Fräulein Sieglinde. Ich war ja vor acht Tagen ebenfalls im Blüthner-Saal, als Bötel sang …“

Wieder wechselte Sigi die Farbe …

Haberlein wurde ihr plötzlich unheimlich …

Ließ sich jedoch durch ihr verstörtes Antlitz nicht beirren und fuhr fort:

„Sie haben dort mit Herrn Ingenieur Thomas Eriksen [25] sich längere Zeit unterhalten … Er saß links neben Ihnen. Sie kamen zufällig ins Gespräch … Seitdem interessierte Sie der fünfte Stock uns gegenüber …“

Sigi konnte kein Wort hervorbringen …

Haberlein lächelte wieder unendlich gütig …

„Nicht wahr, nun haben Sie – Angst vor mir … Das brauchen Sie nicht. In meiner Brust ruhen andere Geheimnisse, Fräulein Sieglinde – ganz andere als diese Ihre Teilnahme für den Amerikaner …“

Er nahm ihre Hand – ganz zart …

„Wir beide, Fräulein Sieglinde, sind da durch einen Zufall Mitwisser von Vorgängen geworden, um die sich jetzt die Polizei bemüht … Die Dame von drüben ist – die Tote … Und der, dem sie drohte, war das Thomas Eriksen? Sie müssen seine Stimme doch erkannt haben …“

Sigi nickte nur matt …

„Haben Sie Eriksen nochmals gesprochen?“ fragte Haberlein dann …

„Nein …“

„Und er ahnt nicht, daß Sie ihm hier gegenüber wohnen?“

Sie schüttelte energisch den Kopf …

„Es war ja nur eine Konzertsaalbekanntschaft, Herr Haberlein … Ich wußte bis heute nicht einmal seinen Namen … Erst durch Sie erfuhr ich ihn jetzt … – Was mich für den Herrn einnahm, war sowohl seine bescheidene [26] Liebenswürdigkeit, als auch sein großes Musikverständnis, besonders aber seine Schwermut und sein Weltschmerz … Noch nie habe ich einen Mann mit so melancholischen Augen gesehen – noch nie …“

„Brav, daß Sie Vertrauen zu mir haben, Fräulein Siglinde …“

Er drückte ihre Hand …

„Was wir hier besprochen, bleibt unter uns …“ – Er war mit einem Male sehr ernst geworden. „Ich werde Ihnen morgen schon etwas mehr über diese drei Leute dort drüben sagen können … Wenn Sie mir nun noch den Gefallen tun und heute spät abends wieder aufpassen wollten, ob die Antenne wieder in Tätigkeit tritt, so wäre ich Ihnen sehr dankbar …“

Sigi schaute ihn ängstlich an. „Das will ich gern tun. Nur – nur – müssen wir nicht der Polizei melden, daß die – die – tote Frau …“

Er schüttelte den Kopf. „Das besorge ich schon, Fräulein Sieglinde. – Gute Nacht nun! Ich gehe noch aus.“

So schieden sie … –

Und Sigi von Lauken arbeitete jetzt doppelt eifrig in der Küche. Eine schwere Last war von ihr genommen. Sie hatte zu dem alten Herrn Haberlein ein so unbegrenztes Vertrauen … Und kannte ihn doch kaum. Erst so kurze Zeit wohnte er hier bei ihnen – acht Tage.

Wie das nur gekommen sein mochte, daß sie Herrn Haberlein so ohne Scheu ihr Herz ausgeschüttet hatte?! [27] Überhaupt – manches war ja rätselhaft an dem alten schlanken Herrn …

Mitten in diese Gedanken hinein schrillte die Stimme der Exzellenz …

„Kind, noch nicht fertig?!“

Frau von Lauken stand in der Küchentür. Sieglinde hatte die Mutter gar nicht kommen gehört.

„Denk Dir, Sigi,“ fügte Ihre Exzellenz eifrig hinzu, „denk Dir, soeben hat der Ansager vom Voxhaus eine ganz schaurige Geschichte mitgeteilt … Das Publikum soll mithelfen, eine unbekannte Tote festzustellen … Im Hause Winterfeldtstraße …“

„Aber das steht ja alles in der Zeitung, Mama …“ Sieglinde trocknete den letzten Teller ab und stellte ihn in den Schrank …

„Alles steht doch nicht in der Zeitung, Kind … – Weshalb hast Du übrigens die beiden Artikel blau angestrichen?“

„Ach, so etwas interessiert doch wohl jeden Radiohörer, Mama … – Was hat der Ansager denn Neues mitgeteilt?“

„Die Frau ist ermordet worden …“

Sigi ließ die Arme schlaff herabfallen.

„Unmöglich!“ murmelte sie geistesabwesend. „Es – muß Selbstmord gewesen sein …“

„Muß?! – Aber Kind, – wie kannst Du so etwas [28] behaupten?! Die Polizei hat bereits ermittelt, daß die Frau nicht mehr lebte, als man sie heimlich in die leere Wohnung schaffte … Sie ist oben auf dem Dache erschossen worden und dort zusammengebrochen, wie die Blutflecke beweisen …“

Sigi war immer blasser geworden …

„Mir – mir – wird wieder – schlecht, Mama … Ich – ich will Herrn – Herrn Haberlein – um einen – Kognak bitten!“

Und hastig lief sie in den Flur, pochte an des Rentners Tür …

„Wer dort?“ rief er.

„Sieglinde …“

Da schob er rasch den Riegel zurück, ließ sie ein … Drückte ebenso rasch die Tür zu und flüsterte:

„Keine Angst …!! Ich bin Haberlein – – tatsächlich …!“

Diese merkwürdigen Worte hatten einen guten Grund.

Vor Sieglinde stand ein bartloser Herr mit kühnem, geistreichem Gesicht, etwas starker Nase und grauen, scharfen Augen …




[29]
3. Kapitel.


Unsere Hilfstruppen.


Sigi regte sich nicht …

Starrte den Fremden nur an …

„Wer – sind Sie?“ brachte sie nur mühsam über die Lippen.

Er verbeugte sich …

„Kennen Sie den Namen Harald Harst, gnädiges Fräulein?“

Und da leuchtete Sigis Gesicht förmlich auf …

„Ah – Herr Harst – – Sie …!!“

„Ja – – ich!“ Er lächelte liebenswürdig … „Sie werden mich nicht verraten… Ich bin beruflich hier. – Was hatten Sie auf dem Herzen?“

„Einen – Kognak …! Das heißt: zum Schein …! Mama erzählte mir soeben, daß –“

Im Flur jetzt die Stimme Frau von Laukens:

„Sigi …!!“

Und Sigi flüsterte dem berühmten Detektiv zu:

„Nachher …! – Oder nein – ich schreibe Ihnen alles auf einen Zettel … Den Zettel stecke ich durchs Schlüsselloch …“

Und sie huschte hinaus, während der verwandelte [30] Haberlein sich eng an die Tür drückte, damit Ihre Exzellenz ihn nicht sähe … –

Sieglinde beruhigte die Mutter …

„Alles schon wieder vorüber, Mama … Der Kognak tut Wunder …“

Sie gingen ins Eßzimmer.

„Scheint so!“ meinte Frau von Lauken hier … „Du bist ja recht vergnügt, Kind …“

Sie musterte ihre Einzige etwas mißtrauisch.

„Herr Haberlein versteht es prächtig, einem derartige Nervenkrisen auszureden, Mama,“ lachte Sigi harmlos. „Jetzt aber – an die Arbeit …“

Ihre Exzellenz ließ sich täuschen …

Gleich darauf saßen die Damen im Salon. Frau von Lauken hatte den Kopfhörer auf und stickte und genoß das Abendkonzert der Funkstunde. Sigi klapperte am Schreibtisch an der Maschine und – haute immer wieder daneben …

Ihre Gedanken waren anderswo … Und ihr Herz war leicht und frei … Ihre Angst, daß womöglich Thomas Eriksen die Frau ermordet haben könnte, war zerflattert. Sie hatte jetzt ja einen Harald Harst zum Verbündeten. Der würde diesen Mord schon aufklären.

Als es aber zehn Uhr geworden und das Voxhaus die Tagespresse „gab“, da machte Sigi eine Pause, stöpselte auch den zweiten Hörer ein und – wartete gespannt …

Endlich dann der Ansager:

[31] „Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf Ersuchen des Polizeipräsidiums möchten wir Sie nochmals auf den in der verflossenen Nacht auf dem Dache des Hauses Winterfeldtstraße Nr. 43 verübten Raubmord aufmerksam machen. Die Person der Ermordeten hat bisher nicht festgestellt werden können. Wir geben daher nochmals eine genaue Personalbeschreibung …“

Und zum Schluß:

„Die Kriminalpolizei hat im übrigen nichts Neues ermittelt … Vielleicht haben die Täter – denn es müssen mindestens zwei Leute die Tote vom Dache in die leere Wohnung geschafft haben – auch nur einen Raubmord vortäuschen wollen und die Leiche deshalb so vollständig aller Schmucksachen beraubt. An den Fingern, den Armgelenken und am Halse der Toten ist zu erkennen, daß sie Ringe, Armbänder und Halskette getragen hat. – Die ausgesetzte Belohnung von tausend Mark sollte jeden anspornen, sein Gedächtnis zu durchforschen, ob ihm nicht eine hellblonde Dame im Zobelpelz und schwarzem Hütchen mit Reiherstutz irgendwo aufgefallen ist. Mitteilungen nimmt jedes Polizeirevier sowie Kriminalkommissar Köstlin, Polizeipräsidium, Zimmer 32a, Hausanschluß 563, entgegen …“

Sigi atmete erleichtert auf …

Wie hatte sie nur diesen Verdacht gegen Thomas Eriksen hegen können?! Wie sollte dieser feingebildete, schwermütige Mann zum Mörder werden?! Und wie [32] sollte er noch dazu im Verein mit einem anderen die Tote dort in das leere Zimmer getragen haben?! Undenkbar …!

Arbeitsfreudig setzte sie sich wieder an ihre Schreibmaschine … – –




Inzwischen hatte der Detektiv Harst längst vorsichtig die Wohnung verlassen und war zu Fuß nach dem Café Viktoria Louise am gleichnamigen Schmuckplatz gewandert.

Hier erwartete ihn an einem abseits stehenden Tischchen ein kleiner korpulenter Herr mit Hornbrille und heiterem, freundlichem Gesicht …

Die beiden nickten sich zu, Harst gab dem Kellner Sportpelz und Hut und setzte sich neben seinen Intimus Max Schraut …

Sie drückten sich die Hände…

„Wie schaut’s, mein Alter?“ fragte Harst und nahm die Speisenkarte, bestellte Kaviarbrötchen und eine halbe Flasche Sekt …

Der Kellner verschwand.

Schraut meinte achselzuckend:

„Wie soll’s schauen?! Alles dunkel, Harald – wie bisher …“

„Hm – hast Du die Abendzeitungen gelesen?“

„Welche Frage?!“

[33] „Nun – da ist doch eine Frau ermordet worden …

Schraut erlaubte sich zu lächeln …

„Und die Frau ist nicht Frau Lizzia Douglas, lieber Harald,“ sagte er triumphierend.

„Nicht?!“

„Nein, denn Frau Lizzia Douglas ist vormittags neun Uhr mit Thomas Eriksen im Auto davongefahren … Leider, leider bekam ich so schnell kein anderes, um ihnen folgen zu können …“

Harst sann vor sich hin …

„War es bestimmt Frau Douglas?“ fragte er dann.

„So sicher, wie Du hier neben mir sitzest …“

„Ja – aber die Tote war doch genau so gekleidet, wie wir nun die Douglas seit zehn Tagen kennen …“

Schraut machte eine großartige Handbewegung …

„Es gibt eben zwei Hütchen mit Reiherstutz und zwei Zobelpelze …!“

Harst wiegte den Kopf hin und her …

„Da stimmt irgend etwas nicht …!“

Der Kellner brachte den Sektkühler und die Kaviarbrötchen …

Als er wieder gegangen, meinte Harst:

„Dieser Fall ist eine harte Nuß, mein Alter … Jede Nacht auf der Lauer liegen – kein Vergnügen! Ich habe wieder drei Stunden auf dem Dache von Nr. 9 zugebracht … Und dann noch den Haberlein spielen [34] müssen und von Eiern leben, weil das die einfachsten Gerichte ergibt …!!“

Der Kellner brachte die Sektgläser und schenke ein. Verschwand …

Die Musik spielte einen Walzer.

Walzer waren ja wieder in Mode gekommen. Selbst die Halbwelt und die Lebewelt hatten anscheinend die exotischen Verrücktheiten satt.

„Prosit, mein Alter … Stärken wir uns zu neuen Taten …“

Und Harst trank das Glas mit Behagen leer …

Nachdem er noch zwei Kaviarbrötchen verzehrt hatte, kam die Mirakulum an die Reihe. Er rauchte, streckte sich …

„Nun ist mir wohl … Und nun laß uns die Sache nochmals in Ruhe durchgehen, mein Alter … – Vor zehn Tagen flatterte uns morgens der anonyme Brief ins Haus, Schreibmaschinenschrift … Da stand, wir sollten uns doch um Luitpoldstraße Nr. 9 so etwas kümmern … Da würde jede Nacht in der aufgestockten fünften Etage eine Antenne gespannt und gefunkt. – Wir hatten gerade nichts Besseres vor und prüften die Angaben. Es stimmte. Und wir erkundigten uns auch nach den Bewohnern der fünften Etage: Ehepaar Douglas aus Neuyork nebst Bruder der Frau Douglas, namens Eriksen, – keine Dienstboten, nur eine Aufwärterin trotz der fünf Zimmer, eingezogen am ersten [35] Januar des Jahres, anscheinend reich. – Und dann zog ich zu Laukens, dann sah ich, auf Eriksens Fährte, im Blüthner-Saal Fräulein Sigi neben Eriksen – ein Zufall übrigens, wie sie mir heute eingestanden hat …“

„So?!“

„Ja – – so!! Sie lügt nicht. – Ein trauriger Zufall, denn sie hat sich in den Menschen verliebt, was ich begreiflich finde … Traurig deshalb, weil diese drei Amerikaner zweifelhafte Herrschaften sind … Mister Allan Douglas nennt sich hier Vertreter des Manhattan-Trust, und wir haben längst heraus, daß es einen solchen Trust nicht gibt … – Zehn Tage haben wir jetzt mit dieser Geschichte vertrödelt und noch nicht einmal die Depeschen entziffert, die die Leute jede Nacht heimlich ins Weite senden … Sieben Nächte hast Du, mein Alter, daheim bei uns am Empfänger gesessen und diese Telegramme notiert … Sieben Nächte habe ich Märzkater gespielt und bin auf Dächern umhergeklettert … Und nun, wo diese Frau ermordet worden ist, bilde ich mir ein, daß wir zupacken können: nichts davon! Du beweist mir, daß es offenbar zwei völlig gleiche Lizzia Douglas’ gibt!“

Schraut sog an seiner Zigarre…

„Ja, wenn man nur die Depeschen enträtseln könnte!“ meinte er grüblerisch.

„Ja, – wenn man nur wüßte, für wen sie bestimmt sind!“ ergänzte der Detektiv in demselben Ton.

[36] Dann füllte er die Sektgläser …

„Prosit …! Heute – brechen wir ein …!“

Der Dicke neben ihm machte ein sehr bedenkliches Gesicht. „Was versprichst Du Dir davon, Harald?“

„Mehr als von unseren bisherigen Taten, mein Alter. Ich will Schluß machen. Die Sache fällt mir auf die Nerven … Ich stehe wie ein Blinder da … Oder besser: ich liege! Denn dort auf dem neuen Dache von Nr. 9 liege ich wirklich zumeist und spähe hinab, sehe die Antenne, die Eisenstangen … Und – das ist dann alles …!“

„Hm – Du hoffst die drei belauschen zu können?“

„Ja. – Sie kommen regelmäßig erst gegen elf Uhr abends heim, sitzen bis dahin in irgendeinem Restaurant, wie Du längst ausspioniert hast … Wenn wir jetzt aufbrechen, können wir noch in aller Gemütsruhe uns einschleichen …“

Er sah nach der Uhr.

„Zehn vor zehn … – Bezahlen wir …!“ –

Harst besaß einen Nachschlüssel für die Haustür von Luitpoldstraße Nr. 8. Da der Portier im Hintergebäude wohnte, war nichts zu befürchten. Die Freunde langten denn auch unbelästigt vor der Bodentür an, öffneten sie mit einem Dietrich und kletterten mit Hilfe der Leiter durch die Luke auf das Dach.

Das Nebenhaus Nr. 9 war durch die Aufstockung vorn bedeutend höher. Die Hinterfenster der aufgestockten [37] Wohnung lagen jedoch nur einen halben Meter über dem Pappdach, waren durch Rolljalousien und Eisengitter geschützt und eigneten sich daher kaum zum Eindringen.

Anders die sechs Vorderfenster.

Vor diesen zog sich noch ein ganz schmaler Balkon hin, den der Architekt mehr aus Schönheitsgründen angebracht hatte, damit die Dachwohnung nicht allzu sehr einem langen Vogelkäfig gliche.

Sich auf diesen Balkon hinabzulassen, war bei der geringen Höhe nicht weiter gefährlich.

Die beiden Detektive hatten bald festgestellt, daß die Vorderfenster sämtlich dunkel waren.

Harst wagte als erster den Sprung, indem er sich an der Dachrinne festhielt und diese dann losließ. Er landete wohlbehalten auf dem Balkon und schlich nun erst einmal die Fenster entlang.

Das dritte war gleichzeitig Tür – eine Doppeltür …

Sie stand … offen – – zwei Handbreit …

Harst zögerte …

Diese Entdeckung behage ihm nicht …

Er machte kehrt, rief Schraut leise zu:

„Bleib oben … Die Balkontür ist offen. Besser, daß einer von uns dem andern den Rücken decken kann … Krieche mehr nach links – genau über die Balkontür.“

Der Dicke tat’s.

Harst stieß die Doppeltür mit dem Fuße noch weiter auf …

[38] Das machte einigen Lärm …

Minutenlang starrte er in das dunkle Zimmer hinein.

Dann von oben Schrauts Stimme:

„Sigi Lauken beobachtet uns von drüben …“

Der Detektiv drehte sich um …

Wirklich – da stand die schlanke Mädchengestalt am hellen Fenster – den Operngucker an den Augen …

Harst winkte – winkte absichtlich.

Sigi sollte ihn erkennen, damit sie nicht etwa Lärm schlüge …

Und – sie winkte zurück …

Trat ins Zimmer, ließ den Vorhang fallen …

Der Detektiv ahnte, daß sie jetzt an einem der Fenster des dunklen Speisezimmers sich aufstellen würde.

Er schaltete seine Taschenlampe ein, bückte sich …

Und so glitt er mit zwei – drei langen Sätzen durch die offene Tür, ließ ebenso rasch dann den hellen Leuchtkegel umherfahren.

Ein Damensalon … Zwei Türen … Alles sehr elegant … Nichts Verdächtiges …

Leise öffnete er die Tür, die in den Flur münden mußte …

Lauschte …

Alles still …

Und zehn Minuten darauf wußte er, daß er hier in der Wohnung allein war.

Nun holte er den Freund.

[39] Auch Max Schraut landete glücklich auf dem Balkon.

Nochmals durchsuchten sie die Wohnung. Die Zimmer waren sämtlich ungeheizt, sämtlich mit Geschmack eingerichtet.

Die Flurtür, die auf den Vorboden führte, war von innen gepanzert und hatte ein dreifaches Stangenschloß.

Alles schauten die Freunde sich an …

Und in der schmucken Küche sagte Harst:

„Die sind – ausgekniffen, mein Alter …! Die kommen nicht mehr zurück. Die haben doch etwas mit dem Morde an dieser Doppelgängerin der Lizzia Douglas zu tun …! Immerhin – verbergen wir uns. Die Mädchenstube neben dem Bad dürfte der geeignete Ort sein …“

Hier stand ein Schrank, der bis auf einige Pappkartons leer war. Und in diesem Schrank machten die beiden es sich nun bequem. Die Schranktür ließen sie vorläufig weit offen …

Als Sitz diente ihnen eine kleine Küchenbank.

Bequem war das nicht. Und der allzeit ein wenig zu Spöttereien geneigte Schraut meinte denn auch nach einer halben Stunde: „Ein Klubsessel wäre mir lieber. Vielleicht holen wir uns die beiden aus dem Herrenzimmer.“

„Bitte, – es wird Dir aber kaum bekommen, mein Alter … Denn schon vorhin hörte ich im Flur das leise Knarren von Dielen…“

[40] Auf diese Antwort war Schraut nicht vorbereitet …

Hier in der Finsternis des Schrankes tastete er nach dem Arm des Freundes und legte seine Hand mit schwerem Druck darauf.

„Also sind sie doch nach Hause gekommen, Harald?!“

„Nein … Das waren schleichende Schritte … Die rechtmäßigen[2] Bewohner dieser Räume würden sich weniger vorsichtig bewegen …“

„Wer soll’s denn sonst sein?!“

„Vielleicht Kollegen von der offiziellen Polizei …“

„Du meinst, die Polizei ist ebenfalls schon auf die drei aufmerksam geworden?“

„Beweise habe ich nicht … Es kann sein – kann! Schweige jetzt!“

Und nach dieser kurzen geflüsterten Zwiesprache streckte Harst den Kopf wieder zum Schranke hinaus und horchte aufs angespannteste …

Es war jedoch nichts mehr zu hören …

Wieder verging so eine Viertelstunde.

Dann wurde ganz plötzlich die Tür des Mädchenzimmers geöffnet.

Gleichzeitig schoß der dünne Strahl einer Blendlaterne hinein …

Harst konnte gerade noch den Kopf zurückziehen und ebenso schnell seine Pistole aus der äußeren rechten Pelztasche herausnehmen …

[41] Der Lichtschein glitt umher … Die Schranktür war offen geblieben …

Dann erschien ebenso plötzlich im Sehbereich der beiden Freunde ein rotbärtiger, untersetzter Mensch in dunkelbrauner Lederjacke …

Harst hielt ihm die Waffe entgegen, war im Nu aus dem Schranke …

„Ruhe!!“ befahl er flüsternd …

Der Mann war so völlig verdattert vor Schreck, daß er den Detektiv ganz blöde anstierte.

„Kennen Sie mich?“ fragte Harst nun ebenso leise … „Mein Gesicht ist in gewissen Kreisen nicht gerade beliebt …“

„Herr – Harst …“ nickte der unscheinbar, aber anständig gekleidete Mann …

„Stimmt. – Seid Ihr zu mehreren hier?“

„Noch einer …“

Schraut hatte jetzt gleichfalls den Schrank verlassen und seine Taschenlampe eingeschaltet.

„Sie brauchen keine Angst zu haben,“ erklärte Harst. „Wir verlangen nur, daß Ihr beide den Mund haltet! – Schraut, bewache ihn!“

Und der Detektiv winkte, schlich in den Flur und sah linker Hand die zweite Tür geöffnet. Dort brannte Licht. Es war das Speisezimmer der Douglas.

Vor dem Büfett stand ein hagerer langer Mensch und packte das Silberzeug in eine große Handtasche …

[42] „Guten Abend,“ machte sich der Detektiv bemerkbar. „Legen Sie die Sachen wieder in die Schieblade zurück – auch alles andere …“

Der Einbrecher hatte gute Nerven …

„Pech!!“ meinte er. „Verdammtes Pech …! Det jibt drei Jahre Knast …!“ (Gefängnis)

„Nein, das gibt fünfzig Mark von Harald Harst, wenn Sie und Ihr Kollege uns ein paar Fragen beantworten wollen …“

„Mit Vajniejen, Herr Harst!“

Und dann saßen die vier am großen Eßtisch, und Harst nahm die jetzt durchaus beruhigten Gauner ins Gebet.

„Habt Ihr diesen Einbruch seit langem ausbaldowert?“ begann er das Verhör.

Der Hagere, der ein reines Totenkopfgesicht hatte, war eine redselige Natur.

„Seit finf Tajen sind wir auf die Sache aus, Herr Harst … Wir hatten janz zufällij jehört, hier wohnen reiche Amerikaner … Und da haben wir sie eben beobachtet …“

„Und Ihr wußtet, daß die drei Leute in dieser Nacht nicht heimkehren würden?“

„Na ob, Herr Harst …“ Der Mensch grinste überlegen. „Wat ick besonders bemerken möchte, Herr Harst: es sind nur zwee – zwee Herren … Det Weib is Schwindel.“

Der berühmte Detektiv lächelte jetzt gleichfalls …

[43] „Ihr versteht Euer Geschäft …! Ihr habt es also auch bemerkt …“ Und er blickte seinen Freund Schraut etwas ironisch an und fügte hinzu: „Es gibt nämlich keinen Mister Douglas, mein Alter … Insofern befinden sich die beiden Herren hier doch im Irrtum… Die Frau hat stets den Mister Douglas gespielt … Man sah die drei ja nie gleichzeitig …“

Schraut lachte kurz auf. „Das kann nicht sein …! Ich habe noch gestern abend die drei im Siechen an einem Tisch zusammen gesehen …“

„Allerdings,“ nickte Harst. „Der dritte war eben ein uns noch fremder Mitspieler …“

Da meinte auch der Hagere: „Da is nu nischt zu wollen, Herr Schraut: hier wohnten nur zwee! Und Herr Harst mag recht haben: die Dame hier hat sich denn also als Mann anjekluftet, wenn der anjebliche Douglas ufftrat …“ –

Und ich, Max Schraut, der nun den zweiten Teil der „Antenne im fünften Stock“ mit meinen eigenen Worten berichten will, – ich glaubte noch immer nicht an diese feine Komödie, die Lizzia Douglas und Thomas Eriksen hier aufgeführt haben sollten …

Harald sah’s meinem Gesicht an, erklärte abermals:

„Ich hatte schon am zweiten Tage meiner Gastrolle als Haberlein festgestellt, daß Allan Douglas’ Spitzbart falsch war … Dieser „Mann“ ließ sich ja auch stets nur nach Dunkelwerden sehen … – Wer aber der [44] dritte ist, mit dem Lizzia und Eriksen sich stets abends erst trafen, das weiß ich nicht. Er entwischte mir regelmäßig … Jedenfalls war er aber äußerlich genau das Abbild der verkleideten Lizzia …“

Ich saß da und fuhr mir mit der Hand über die Stirn.

Das alles wollte erst einmal geistig verdaut sein …

Und wie ich mir nun meine Tätigkeit als Beobachter dieser Wohnung und dieser Leute so mit allen Einzelheiten ins Gedächtnis zurückrief, da wurde mir klar, daß ich … unglaublich blind gewesen! Es stimmte schon: die drei hatte ich stets nur abends in den verschiedenen Restaurants zusammen gesehen, und stets waren Frau Lizzia und Eriksen allein aus dem Hause getreten und in die Stadt gegangen …!

Mißmutig – denn ich fühlte mich vor den beiden Einbrechern geradezu blamiert! – sagte ich nun:

„Gut: – mag sein!“

Und Harst dann zu dem Skelettgesicht:

„Habt Ihr etwa herausgebracht, wer der dritte ist?“

„Nee … Det war uns ooch ziemlich schnuppe, Herr Harst … For uns war die Hauptsache, det die Dame und der Schent heite vormittag nach Amsterdam abjereist sind und die Bude hier mithin leerstand …“

„So – seid Ihr ihnen denn bis zum Bahnhof gefolgt?“

„Ick hatte doch mein Rad da, Herr Harst … Von’n Bahnhof Friedrichstraße sind se abkutschiert, hatten [45] noch zwee Handtaschen in de Friedrichstraße jekooft … Zweeter Klasse – Billjetts bis Amsterdam … – Nu, und da sind wir eben injestiegen hier in die Wohnung – übers Dach, Herr Harst …“

„Störte Euch die offene Balkontür nicht?“

„Nee …“

„Saht Ihr uns denn nicht?“

„Nee, Herr Harst … Sonst wären wir wohl scheenste fern jeblieben …“

„Habt Ihr noch etwas an diesen Leuten bemerkt?“

„Nischt … – Det heeßt: die beeden waren Schwarzhörer, Herr Harst … Jede Nacht haben sie ’ne Antenne …“

„Danke … – Sonst noch etwas?“

Der Hagere besann sich – schüttelte den Kopf …

„Nee – wirklich nich …“

Harald gab nun jedem einen Fünfzigmarkschein …

„Verschwindet jetzt! – Habt Ihr eine Leine oben an die Dachrinne geknotet?“

„Natierlich …“

„Dann laßt die Leine hängen, damit wir nachher bequem weg können …“

„Wird jemacht … Und besten Dank auch, Herr Harst …“

Sie erhoben sich …

Aber der Totenschädel schien noch etwas auf dem Herzen zu haben …

[46] „Hm – – entschuldjen Sie, Herr Harst …“

„Bitte …“

„Ja – da steht doch heite abend in die Blätter, daß da in eene leere Wohnung Winterfeldtstraße eene kalt jemacht is – eene Dame … Und nach die Beschreibijung kennte man denken, es wär’ die Frau Douglas …“

„Allerdings …“

„Hm – ’ne komische Jeschichte is das … Nicht wahr, Herr Harst?“

„Gewiß …“

„Hm – na ja, – und … dann muß es zwee Frau Douglasse mit ’n selben Pelzmantel und Hut jejeben haben …“

„Scheint so …“

Da grinste der Lange …

„Ick merke, Sie wollen nich reden, Herr Harst … Sie werden ja schon Bescheid wissen … – Juten Abend, die Herren! Und wenn Sie uns mal brauchen kennten… Man vadient jern ’n ehrlichen Jroschen. Det Jeschäft jeht schlecht … Die Leite haben heit alle Wachhunde, und – – na, es is wenij zu machen, Herr Harst …“

Harald schaute die beiden durchdringend an …

„Wenn Ihr das Maul halten könntet …!“

„Oh – unser Ehrenwort, Herr Harst … For Ihnen jehn wir jetzt durchs Feier …“

[47] „Gut … – Wie heißt Ihr?“

„Ick bin der lange Benno, und mein Freind heeßt der schiefe Otto … von wejen den kleenen Buckel … Schuster war er frieher …“

„Janz frieher!“ nickte der Rotbart.

„Dann hört mal zu… Ihr beide bleibt oben auf dem Dach und versteckt Euch hinter den Schornsteinen. Sollte jemand über die Dächer hier nach Nummer 9 kommen, so packt Ihr den Betreffenden …“

„Wird jemacht! – Und wenn etwa zwee kommen?“

„Dann warnt Ihr uns, turnt am Seil hinab und knotet es los … Ihr habt es doch auch sicher nur über den Rinnenhaken gelegt, so daß zwei Enden herabhängen?“

„Nee, daran haben wir nicht jedacht… Soll aber nu jeschehen … – Herr Harst, da oben uff det Dach wird’s een bißken sehr kühl werden … Und hier ins Bieffett stehn so nette kleene volle halbe Flaschen Kohnjack … Wie wär’s, wenn Sie uns jestatten mechten, so zur Erwärmung unseres sojenannten inneren Leibes …“

„Gut – eine halbe ist bewilligt …“

Sehr zufrieden zogen die beiden nun ab …




[48]
4. Kapitel.


Nochmals der lange Benno …


Harst deutete auf die Fenster …

„Da – ganz dicke Vorhänge … Auch hier … Die Leute wollten sich nicht beobachten lassen …“

Und dann sah er nach der Uhr.

„Zehn Minuten nach halb zwölf … Wir müssen uns beeilen …“

„Womit?!“

„Nun – wir werden … senden!“

„Senden?!“

„Ja … Suchen wir zunächst die Eisenstangen und die Antennen … Hilf mir …“

Ich war reichlich erstaunt, schwieg aber … –

Wir fanden alles Nötige in einem geschnitzten Schrank des Herrenzimmers.

Wie gesagt: die Räume waren vornehm und mit Geschmack möbliert. Nur fehlte ihnen jedes Persönliche. An den Wänden nur Schmuck, wie ihn jeder Neureiche sich kaufen könnte … Nirgends eine Photographie irgendeiner Person – nirgends …!

Die Antenne war in wenigen Minuten gespannt, obwohl wir uns hüteten, bei Licht zu arbeiten, sobald wir die Fenstervorhänge aufziehen mußten.

[49] Die Zuleitung der Antenne führten wir durch die hierzu vorgesehenen Porzellantüllen des einen Fensters des Herrenzimmers bis zum nahen Schreibtisch …

Da wir uns seit anderthalb Jahren mit der Äthertelegraphie und -telephonie aufs eingehendste beschäftigt hatten und da besonders Harald längst als Mitglied des Radio-Klubs auch mit Röhrensendern völlig vertraut ist, gelang es ihm, fünf Minuten vor zwölf den kleinen Sender dieser fragwürdigen Herrschaften in Betrieb zu setzen.

Wir kannten den Anruf, mit dem dieser Sender allnächtlich seine Arbeit begann, ganz genau: dreimal hintereinander die Buchstaben ALMA – also Alma.

Und dieses Alma sprach Harst nun langsam und nach Möglichkeit die Stimme Eriksens kopierend in das Mikrophon hinein.

Ich selbst saß am Empfangsapparat, konnte also gleichzeitig Harsts Stimme mit übergestülptem Kopfhörer kontrollieren.

Dieser Empfangsapparat war eine Dreiröhrenreflexschaltung mit Rahmen.

Klar und fast überlaut hörte ich so den Anruf mit, dieses dreimalige ALMA

Dann warteten wir …

Warteten, ob irgendwoher irgend jemand antworten würde …

Harald schaute mich gespannt an …

[50] Anderthalb Minuten nichts …

Ich fürchtete schon, den offenbar sehr abstimmscharfen Reflexempfänger schlecht eingestellt zu haben. Doch nein … Die Welle 900 stimmte …

Mit einem Male vernahm ich trotz der Morsezeichen eines anderen Senders eine Stimme …

Englische Worte … Mir jagte plötzlich das Herz …

„Weshalb so spät?“ fragte eine Männerstimme …

Ich wiederholte Harst ganz leise die Worte …

Und er erwiderte in das Mikrophon hinein für den Unbekannten: „Umgehend hierher kommen … Es ist etwas geschehen …“

Und wieder dann die Antwort des Fremden:

„Was ist geschehen? Sagt mir die Wahrheit …“

„Nur persönlich … Anders zu gefährlich,“ lautete Harsts Entgegnung. „Schluß jetzt … Und rasch!!“

„Auf Eure Verantwortung … In drei Stunden!“

Dann blieb alles wieder still …

Nur der Telegraphiesender war noch zu hören …

Nein – doch nicht …

Es blieb nicht alles still …

Eine andere Stimme plötzlich – scharf, befehlend:

„Sie wissen wohl, daß unbefugtes Errichten und Betreiben einer Sendestation verboten ist …! Wir belauschen Sie seit drei Abenden … Wir werden, falls Sie den Unfug nicht einstellen, durch unsere Peilinstrumente Ihre Anlage schon herausfinden. – Hier die [51] Reichstelegraphenverwaltung … – Also richten Sie sich danach …“

Diese deutschen Sätze waren nur sehr schwach zu hören, da der Rahmen des Empfängers nicht die Richtung hatte, aus der die amtliche Stelle sandte.

Ich nahm jetzt den Hörer vom Kopf …

Harst montierte den Sender bereits in aller Gemächlichkeit ab und stellte ihn in den Schrank zurück.

Als ich ihm diese Warnung der Reichstelegraphenverwaltung mitteilte, meinte er nur:

„Einen Sender durch Peilen zu finden, ist überaus schwierig …“ – Damit war dieser Zwischenfall für ihn erledigt.

Nicht so das Gespräch mit dem Unbekannten …

„Siehst Du, mein Alter,“ lächelte er vergnügt, „nun werden wir in etwa drei Stunden den Mann kennenlernen, der diese Buchstabendepeschen erhielt …“

Auch ich baute den Empfänger ab und erwiderte nachdenklich:

„Hm – eins fällt mir auf …“

„Natürlich,“ nickte er und nahm eine Mirakulum aus dem Etui. „Natürlich sinnst Du darüber nach, weshalb Eriksen und die Frau vor ihrer Flucht nach Amsterdam diesen Mann nicht benachrichtigt haben, daß heute der Radioverkehr ausfallen müsse …“

„Ja …“

„Nun, mein Alter, dafür weiß ich vielleicht eine Erklärung. [52] Nimm an, daß dieser Fremde irgendwo in der Einsamkeit haust – ganz abgelegen … Daß es also zeitraubend ist, ihn zu besuchen. Andererseits mögen Eriksen und die Douglas nicht gewagt haben, ihn etwa durch ein Posttelegramm zu verständigen. Sie hatten es auch sehr eilig bei ihrer Flucht – falls diese Bezeichnung zutrifft …“

Er stand vor mir und rauchte …

Und ich fragte hastig:

„Hast Du denn immer noch keinerlei Anhaltspunkt, wie man dieser mysteriösen Geschichte beikommen könnte?!“

„Wirklich, mein Alter: ich bin genau so schlau wie Du! Ich weiß nur eins bestimmt: Eriksen hat die Unbekannte, die Doppelgängerin der Lizzia Douglas niemals ermordet! Ein Zusammenhang zwischen ihnen besteht selbstverständlich … Welcher – das ahne ich nicht. Wenn wir je sagen durften, wir tappen im Dunkeln, so ist es hier der Fall!“ –

Dann nahmen wir auch die Antenne herein …

Um ein Viertel eins verließen wir die Wohnung …

Kletterten an der Leine empor …

Unsere neuen Freunde, der lange Benno und der schiefe Otto, kamen sofort herbei.

Wir zogen die Leine nach oben, und der lange Benno wand sie sich um den Leib …

[53] Gemeinsam traten wir den Rückweg an, gelangten auch unbekümmert unten in die Luitpoldstraße.

Hier lohnte Harald die beiden Einbrecher ab. Jeder erhielt noch zehn Mark. Sie bedankten sich wortreich und gingen mit ihrer leeren Handtasche davon.

Wir beide gingen bis zur Ecke der Martin-Luther-Straße und riefen ein Auto an. Der Chauffeur war ein älterer Mann von vertrauenswürdigem Aussehen. Harald verhandelte mit ihm, und der Chauffeur versprach, seinen Benzinvorrat zu ergänzen und sich nach einer halben Stunde hier wieder einzufinden.

Er kam auch. Er war genau instruiert worden, fuhr uns bis vor Luitpoldstraße 6 und hielt hier an der Bordschwelle.

Wir saßen im Innern des Kraftwagens und hatten das linke Türfenster hinabgelassen. Harald konnte den Eingang von Nr. 9 bequem überblicken, auch einen Teil des Bürgersteiges …

Wir machten uns auf eine lange Geduldsprobe gefaßt …

Es kam jedoch anders.

Wer die Luitpoldstraße kennt, weiß, daß sie eine der ruhigsten des alten Berliner Westens ist.

Sehr selten gingen Leute vorüber …

Jeder wurde scharf aufs Korn genommen …

Die Nacht war nicht gerade kalt. Trotzdem froren wir sehr bald.

[54] Harst meinte, auch wir hätten uns eine halbe Flasche Kognak „borgen“ sollen – von oben aus dem Büfett.

Ein Jammer, daß es dazu zu spät war … Ich hatte bereits Eisbeine …

Wir sprachen wenig …

Was wohl auch?! – Der Fall lag so dunkel – – wie diese Februarnacht über Berlin …

Eine Stunde verging …

Vom Turm der Kirche auf dem Winterfeldptlatz schlug es zwei … Zwei Uhr morgens …

Und gerade da hörten wir ein Auto von der Martin-Luther-Straße nahen …

Es hielt …

Vor uns – vor Nr. 12 … Ein Herr stieg aus – in langem Pelz … Ging über die Straße – und schaute zum fünften Stock von Nr. 9 empor … Das Laternenlicht traf das graubärtige Gesicht eines schlanken Herrn … –

Fraglos – es war unser Mann …!!

Und – daß er es war, bewies jetzt der Trillerpfiff, den er einer kleinen Metallpfeife entlockte …

Immer noch starrte er nach oben … Schaute dann auch mißtrauisch in die Runde …

Unser Chauffeur benahm sich tadellos …

Auf Harsts Klopfzeichen hin war er abgestiegen und hantierte an dem einen Vorderrad herum, als ob da etwas nicht in Ordnung wäre.

[55] Der Graubart pfiff abermals …

Dann eilte er plötzlich wieder auf sein Auto zu, sprang hinein – und jagte davon …

Leider – leider setzte sich unser Wagen etwas zu spät in Bewegung …

Wir kamen in die Hohenstaufenstraße … Nichts mehr zu sehen …

Entkommen …!!

Harst fluchte …

Er flucht selten … Diesmal mit Recht … Wir hatten unglaubliches Pech gehabt …

So ließen wir uns denn nach Hause fahren, nach Blücherstraße 10 – zum Harstschen Familienhause – zu unserem lieben alten Heim.

Harald war in einem unglaublichen Läunchen …

Saß im Klubsessel seines Arbeitszimmers und blies Trübsal. Ich ging auf und ab …

„Kaffee!“ sagte er da plötzlich.

Ich holte den elektrischen Kocher und bereitete alles vor …

Harst lebte mit einem Male auf …

„Es war ein Taxameterauto, mein Alter … Wir werden es finden … Wenigstens ein Lichtpunkt … – Und wenn wir uns gestärkt und erwärmt haben, werden wir nochmals die Wohnung im fünften Stock besuchen …“

„Und der Zweck?“

[56] „Alles durchsuchen … Irgendein Fetzen Papier wird doch zu finden sein, der uns wenigstens etwas klüger macht als dieser – Briefumschlag es tut …“

Und er holte aus der Tasche eine graugrüne Papierkugel hervor …

„Das hier lag als einziges im Papierkorb des Herrenzimmers … Ein Geschäftsumschlag ist’s … – Ah – Donnerwetter …!!“

Er hatte das Papier glattgestrichen …

„Schau her, Alterchen…!“ Er strahlte …

Und ich las:

Und ich lasFräulein

Und ich lasFräuAnna-Grete Meier

Und ich lasFräuAnnaCharlottenburg, Waitzstr. 27

Und ich lasFräuAnnaChaGth. r. II, b. Worge.

Oben links war ein Firmenaufdruck zu erkennen:

Chemische Fabrik
Wardana,
Berlin SO. 26,
Prinzenstraße 72.

Ich machte ein langes Gesicht …

„Was soll uns das helfen?!“ meinte ich achselzuckend.

„Oh – bitte …! Strenge Dein Hirn an … Stelle Dir vor: gestern nacht ist die ermordete Unbekannte dort bei Frau Douglas, als Eriksen gerade den Sender bedient … Aus irgendeinem Grunde kommt es plötzlich zum Zank … In der Erregung schleudert [57] die Unbekannte etwas in den Papierkorb – vielleicht diesen zusammengeknüllten Umschlag …“

„Phantasie …!!“

„Bitte – rieche! Der Umschlag duftet – nach Puder, kann in einem Handtäschchen neben einem Puderbüchschen gelegen haben …“

„Phantasie …!!“

„Bitte, bring mir doch mal das neue Berliner Adreßbuch – alle Bände …“

Ich tat’s …

Und Harald stellte fest, daß Waitzstraße 27 Gartenhaus rechts 2 Treppen wirklich eine Witwe Emilie Worge wohnte …

Aber – was er nicht fand, war die chemische Fabrik Wardana …!

Wieder nahm er nun den Briefumschlag zur Hand …

„Diese Fünfpfennigmarke hier ist vorgestern abgestempelt, mein Alter … Und dieser Firmenaufdruck Wardana ist – Hausarbeit, ist mit zusammensetzbaren Gummidrucktypen hergestellt und soll den Brief recht harmlos erscheinen lassen: Reklame – dergleichen! – Ich gehe jede Wette ein: die Unbekannte wohnte unter dem Namen Anna-Grete Meier bei der Worge!“

Jetzt warf ich nicht mehr mein eines Wort „Phantasie“ so ironisch dem Freunde ins Gesicht …

Ich bemühte mich um den Kaffee und sagte nur:

„Nicht ausgeschlossen …!!“

[58] Dann tranken wir. Harald hatte aus der Speisenkammer allerlei leckere kalte Sachen geholt.

Wir aßen mit Heißhunger …

Und – kurz nach drei Uhr morgens schrillte das Telephon …

„Nanu?“ rief Harald … „Was hat denn das zu bedeuten?! Etwa Sigi Lauken …?“

Und er sprang auf …

Meldete sich …

„Hier Harald Harst … – Wer ist dort …?! Der lange Benno? – So …?! Das ist ja glänzend …! Bitte – recht genau … Also … – Gut, verstanden. Wir kommen … Legen Sie sich wieder auf die Lauer. Wir bringen Ihnen etwas Trinkbares mit …“

Dann legte er den Hörer weg …

Drehte sich um …

„Alterchen, der lange Benno hat spioniert, wollte wissen, was wir in Nr. 9 vorhätten … Und … ist dem Auto mit dem Rade gefolgt … bis Zehlendorf-West. Dort stieg der Graubart aus und ging zu Fuß weiter … Jenseits der Bahn im Walde soll da eine neue Eigenheimkolonie liegen … Und in einem ganz versteckt gelegenen Häuschen verschwand der Mann … – Der lange Benno ist dann nach Zehlendorf zurückgewandert und hat vom Bahnhof aus mich angerufen … Ich schickte ihn zurück nach dem Häuschen, damit …“

[59] „Das hörte ich …“

Ich war genauso erregt wie Harald …

Rasch beendeten wir unsere Mahlzeit …

Um ein Viertel vier trug uns ein Auto gen Zehlendorf …




5. Kapitel.


In der Blücherstraße.


Sieglinde von Lauken saß um dieselbe Zeit im sogenannten Salon am Schreibtisch und schrieb folgendes mit spitzem Bleistift auf ein Quartblatt:

„Sehr geehrter Herr H.! Es ist jetzt ein Viertel vier Uhr morgens, und Sie sind noch immer nicht heimgekehrt. Ich hatte die Tür nach dem Flur nur angelehnt, damit ich Sie bestimmt hörte. Ich wollte Sie gern persönlich sprechen. Leider bin ich jetzt doch zu müde geworden, um noch länger aufbleiben zu können. – Ich sah Sie drüben … Ich habe dann auch „gehört“ – – Sie verstehen!! Ich stand am dunklen Fenster und beobachtete – – das Auto … Und sah beide Autos davonfahren. Ich habe in Gedanken alles miterlebt … Aber – ich beobachtete noch mehr … Zehn Minuten später (nach dem Verschwinden der beiden Kraftwagen) wollte ich gerade den Fensterplatz verlassen, als „drüben“ im Zimmer mit der Balkontür Licht eingeschaltet wurde. [60] Ich erkannte Th. E. – ganz deutlich … Dann wurde das Zimmer wieder dunkel. Aber nach abermals fünf Minuten bemerkte ich, daß Th. E. an einem Tau, das wahrscheinlich an einem Ende einen eisernen Haken hatte, zum Dache emporkletterte. Das Tau befestigte er oben mit Hilfe der dünnen Eisenstangen für die Antenne. – Er hat das Dach mit einer Taschenlampe abgeleuchtet. Er schien nach Spuren zu suchen. Nach zehn Minuten kletterte er wieder hinab, entfernte das Tau und schloß die Balkontür. Etwa um halb drei trat er aus dem Hause und ging sehr eilig davon. – Herr H.! Sie werden mich nicht falsch beurteilen, wenn ich Sie hier nochmals bitte, alles zu tun, damit jeder Verdacht von Th. E. genommen wird. Ich bin vielleicht nur eine mäßige Menschenkennerin, und doch habe ich das bestimmte Gefühl, daß Th. E. unmöglich zu etwas Schlechtem fähig ist … Wer ihn auch nur ein einziges Mal gesprochen hat, wer diese todestraurigen Augen gesehen hat, der weiß, daß er nur ein Unglücklicher ist … – Hoffentlich kann ich Sie gleich morgen früh sehen … Mama geht um neun Uhr die Stickereien wegtragen. Dann kommt sie vor zwölf nicht heim. – Bis dahin bleibe ich Ihre im voraus dankbare S. …“ – –

Nochmals überlas sie das Geschriebene … Und errötete vor sich selbst …

Harst würde ahnen, daß sie Eriksen liebte, daß hier – [61] Liebe auf den ersten Blick ein Mädchenherz jetzt qualvoll ängstigte …

Liebe und Leid …! Beides war über die heitere, frische Sigi gekommen …

Und Sieglinde seufzte schmerzlich, erhob sich und schlich in den Flur, schob den zum Röllchen zusammengedrehten Zettel in das Schlüsselloch …

Dann entkleidete sie sich langsam …

Ihre Gedanken waren bei Thomas Eriksen …

Und ein paar Tränlein rannen plötzlich über Sigis Wangen …

Liebe und – Leid …

Und gerade ihr mußte das Schicksal diese Herzensprüfungen aufbürden – gerade ihr, die bisher so achtlos an allen Männern vorübergegangen war, die kaum eine Backfischschwärmerei gehabt hatte … –

Sie konnte nicht einschlafen …

Sie horchte nur immer, ob Herr Haberlein nicht heimkehrte …

Der war jetzt ihr einziger Trost … Der würde die Wahrheit an den Tag bringen …

Und dann erbarmte sich doch der Schlummer mitleidig dieses jungen Geschöpfs, das, im Glanze aufgewachsen, jetzt so tapfer den Kampf mit dem harten Dasein führte.

Liebe und Leid …

Kein Tröster erschien – kein Haberlein …

Es wurde zehn Uhr vormittags – elf Uhr …

[62] Noch immer steckte das Papierröllchen im Schlüsselloch …

Da hielt Sigi es vor verzehrender Ungeduld doch nicht länger aus …

Sie eilte hinab in den nahen Zigarrenladen, telephonierte …

An Harst …

Aber nur eine feine, etwas zittrige Damenstimme meldete sich …: „Mein Sohn ist nicht zu Hause – ist – verreist!“

Sigi wußte: Das konnte nur Harsts Mutter sein!

Und mit raschem Entschluß fragte sie: „Darf ich Sie besuchen, gnädige Frau? Ich habe so sehr dringend mit Ihnen zu sprechen … Mein Name ist Sieglinde von Lauken, Luitpoldstraße 32 …“

Frau Harst schien überrascht. „Habe ich richtig verstanden? von Lauken?“ rief sie hastig …

„Ja … Bei uns wohnt ein Herr Haberlein, gnädige Frau …“

„Ah – Sie wissen also …?“

„Ja … Herr Haberlein hat mir selbst gestern abend – Einiges mitgeteilt …“

„Gut denn … Ich erwarte Sie … –

Sieglinde kehrte eilends in die mütterliche Wohnung zurück, steckte Geld zu sich und legte für die Mama einen Zettel auf den Tisch im Eßzimmer. Sie müsse eine [63] dringende Besorgung erledigen und würde gegen halb eins wieder daheim sein.

Nachdem sie dann noch das Papierröllchen mit einer spitzen Nadel wieder aus dem Schlüsselloch entfernt hatte, verließ sie das Haus und fuhr mit der Straßenbahn nach Schmargendorf.

In ihrer trüben, angstvollen Stimmung empfand sie diesen warmen klaren Februartag, der so gar nichts Winterliches an sich hatte und bereits den nahenden Frühling ahnen ließ, wie etwas Lästiges, wie etwas, das sie nur doppelt an ihre Seelennot erinnerte.

Und als sie dann in der Blücherstraße vor dem freundlichen alten Hause stand, in dem der berühmte Detektiv in so seltener Harmonie mit seiner Mutter, seinem Freunde und der alten Köchin Mathilde zusammenlebte, – als sie im Vorgarten wirklich schon die Krokusse blühen sah und die Sträucher mit grünen Blattknospen gleichfalls das Lied des Frühlings verkündeten, da befiel sie plötzlich eine große Mutlosigkeit und Verlegenheit …

Was – – wollte sie eigentlich hier bei der fremden Dame?! Nur nach Harald Harst sich erkundigen?!

Sollte sie etwa auch Frau Harst anvertrauen, daß sie sich auf den ersten Blick in einen Mann verliebt hatte, der nun in eine so dunkle tragische Angelegenheit verwickelt war?!

Sie zauderte immer noch …

[64] Ihr Blick überflog die blanken Fenster …

Sollte sie wirklich eintreten?! Sollte sie dann vielleicht, wenn sie der alten Dame gegenübersaß, mit aller Deutlichkeit spüren, daß dieser Besuch eine gedankenlose Übereilung gewesen?!

In diesem Moment war Sigi von Lauken ganz gegen ihre sonstige Art feige …

Sie – ging weiter …

Immer schneller – schneller …

Als ob sie fürchtete, es könnte sie jemand zurückrufen …

Die Straße war leer …

Und nur ein einzelner Herr kam Sigi auf dieser Seite entgegen – ein Herr im graubraunen Ulster …

Sieglinde beachtete ihn nicht …

Und – schaute jetzt nur flüchtig auf – ganz flüchtig.

Helle Röte schoß ihr in die Wangen … Ihre Füße waren wie gelähmt …

Sie stand – regte sich nicht, starrte den Herrn an …

Gerade jetzt diese Begegnung – gerade jetzt …! Und – hier in der Blücherstraße – keine fünfzig Meter vom Harstschen Hause entfernt … –

Thomas Eriksen hatte Sieglinde jetzt erkannt …

Seine dunklen, melancholischen Augen weiteten sich. Ein Strahl von Freude leuchtete ebenso jäh in ihnen auf …

Er grüßte, trat näher …

[65] „Gnädiges Fräulein, sehe ich Sie also doch wieder?!“ sagte er in seinem fließenden, wenn auch etwas scharf akzentuierten Deutsch.

Er streckte ihr die Hand hin …

„Sie wollten mir damals im Konzertsaal Ihren Namen und Ihre Wohnung durchaus nicht nennen … Jetzt entgehen Sir mir nicht, gnädiges Fräulein …!“

Er lächelte ein wenig – ein liebes, harmloses Lächeln …

Sieglinde konnte nicht anders, nahm seine Hand …

Und jetzt war sie nicht feige … Jetzt wollte sie Gewißheit haben …

„Ich wohne Ihnen in der Luitpoldstraße gegenüber, Herr Eriksen,“ sagte sie fast zu laut.

Und da – wurde sein Blick mit einem Schlage anders: traurig, forschend, verschleiert …

Sie zog ihre Hand zurück …

Er aber fragte langsam: „Woher kennen Sie meinen Namen, gnädiges Fräulein?“

„Ich hörte ihn zufällig …“

Er schaute sie seltsam prüfend an …

„Zufällig – so, so …“ – Er murmelte es mehr. Er schien nachzudenken, zu überlegen …

„Sie haben mich also wohl dort oben im fünften Stock gesehen?“ fügte er dann hinzu.

„Häufiger … Auch abends … Ich bin auch Radioverehrerin …“

[66] Sein Gesicht verzerrte sich – nur für Sekunden …

Dann blieb nur ein müdes weltschmerzliches Männerantlitz nach diesem erschreckenden Wechsel des Ausdrucks zurück …

Sigi war hart. Sigi bohrte weiter …

„Ihre Antenne ist sehr praktisch, Herr Eriksen …“

Er nickte nur, seufzte unmerklich …

„Ihre Sendeversuche sind jetzt sogar in der Zeitung erwähnt, Herr Eriksen …“

Und – da raffte er sich auf …

„Gnädiges Fräulein, sprechen wir besser von etwas anderem … – Gestatten Sie, daß ich Sie begleite Ich – möchte Sie einiges – fragen …“

Seine Stimme klang ganz anders. Es war das angenehme, aber kräftige Organ eines Mannes, dessen Tatwille mit einem Male alle Bedenken zurückgestellt hatte.

„Bitte,“ sagte Sigi nur …

Dann gingen sie weiter die Blücherstraße hinab … Vorbei an den langen hohen Holzzäunen der Bau- und Kohlenlager … Und mit ihnen wanderten ihre Schatten – immer auf dem Holzzaun entlanggleitend, scharf umrissen in dieser Sonnenhelle …

Eine Weile schwieg der Mann neben Sigi …

Es – wanderten ja auch noch andere Schatten mit ihnen – Schatten, die unsichtbar und doch drohend sich zwischen ihnen hochreckten.

[67] Eriksen sagte unvermittelt: „Weshalb erwähnten Sie gerade die Antenne, gnädiges Fräulein? Sie verfolgten damit doch einen bestimmten Zweck. – Ich bin sehr gespannt auf Ihre Antwort …“

Er schaute Sigi von der Seite an …

„Weil – weil ich – Ihre Stimme erkannt habe, Herr Eriksen,“ erwiderte Sieglinde überstürzt. „Sie besitzen einen Sender … Sie werden das nicht leugnen …“

Eriksen blieb wieder eine Weile stumm …

Dann:

„Was haben Sie gehört, gnädiges Fräulein?“

„Den Streit – die Frauenstimme – die Drohung, die Ihnen galt …“

Er seufzte jetzt – ohne Scheu …

Murmelte:

„Ja – es ist ein – Verhängnis …“

„Was ist ein Verhängnis?“

„Alles – alles … Und am schlimmsten, daß man nichts einem anderen anvertrauen darf … Jedenfalls nur einem Menschen, der unbedingt schweigen würde … Und das – täte er …“

Sigi horchte auf …

Sie war nicht begriffsstutzig … – Eriksen hier in der Blücherstraße …!! Mit diesem „Er“ konnte nur Harst gemeint sein …!

Und als ihr dies durch den Kopf schoß, stieg eine jubelnde Freude in ihr empor …

[68] Wenn Eriksen etwa Harst hatte aufsuchen wollen, dann mußte er ja ein gutes Gewissen haben …!

Sigi blieb stehen …

Dicht vor ihm stand sie …

„Herr Eriksen, wollten Sie zu Herrn Harst?“

Jetzt fuhr er doch leicht zusammen …

„Kennen Sie den – Detektiv?“ rief er verwirrt.

„Ja …“

„Und – Sie waren jetzt bei ihm? Weshalb?“

„Ich war nicht bei ihm, Herr Eriksen … Aber – gehen Sie zu ihm, rate ich Ihnen … Harst ist das, was man einen Gentleman nennt …“

„Ja – das weiß ich …“ – Er sprach’s ganz leise vor sich hin – grüblerisch und beunruhigt … „Aber auch er wird uns kaum helfen können … Außerdem würde er sich auch Gefahren aussetzen, die ich nicht verantworten könnte …“

Sigi von Lauken nahm jetzt all ihren Mut zusammen.

„Herr Eriksen, es handelt sich um die ermordete Frau, nicht wahr?! Um die Dame, die der Frau Lizzia Douglas so ähnlich sieht …“

Abermals wich er wie erschrocken zurück … Abermals wurde sein Blick mißtrauisch und verschlossen …

„Oh – Sie sind ja sehr gut unterrichtet, gnädiges Fräulein …“ Das klang bitter und vorwurfsvoll.

„Gehen Sie zu Harst!“ sagte Sigi bittend. Gehen [69] Sie …! Er wird Ihnen helfen … Allerdings – jetzt ist er nicht zu Hause …“

Thomas Eriksens Mund zeigte harte Falten …

„So … so – nicht zu Hause …! Also auch das wissen Sie …!“ – Er stieß es hervor wie eine Anklage. „Auch das …!! Wer sind Sie eigentlich?! – Gnädiges Fräulein, ich – kann mir nicht denken,“ – seine Stimme wurde wieder weich – „daß Sie – etwa im Auftrage des Detektivs mich – beobachtet haben. Oh – seien Sie mir dieser Bemerkung wegen nicht böse. Wenn Sie ahnen würden, was seit Monaten auf mir lastet …, – – ein Verhängnis, etwas nicht Greifbares – ein unheimlicher Spuk …“

Sigi erblaßte, so trostlos klangen diese Sätze …

Und Eriksens sah’s, griff plötzlich nach ihrer Hand …

„Sie – sind gut … Ich fühle es … Sie haben Mitleid mit mir … – Wo ist Harst?“

„Ich weiß es nicht …“

„War – Harst etwa auf dem Dach über meiner Wohnung?“

„Ja …“

„Also – ist er hinter uns her …?“

„Der Ausdruck trifft nicht zu. Ihr – Sender interessierte ihn, Ihre Buchstabendepeschen …“

„Ah – so gut kennen sie ihn …!“

„Seit gestern, Herr Eriksen … Das ist die Wahrheit …“

[70] „Ich glaube Ihnen!“ – Er sann wieder vor sich hin. „Ich will doch erst mit Lizzia sprechen … Sie ist krank, die Ärmste …“

„Und – wer ist’s?“ – Sigi hielt den Atem an …

„Meine Schwägerin, die Witwe meines verstorbenen Bruders …“

„Und – die andere?“

„Ihre Zwillingsschwester Mary Douglas …“

„Sie drohte Ihnen …?“

„Ja …“

„Sie sprach von einem Geheimbund …“

„Leider …“

„Und diesem Bunde haben Sie angehört, Herr Eriksen …?“

„Als unreifer Student – drüben in Amerika …“

„Oh – sagen Sie mir doch alles … Ich flehe Sie an …“

Er hatte ihre zitternde Hand noch in der seinen …

Seine Augen leuchteten wieder auf …

„Sie – fürchten für mich, Fräulein Sieglinde …?“ meinte er unendlich weich …

Sigi von Lauken erwiderte ehrlich: „Ja! Unser Gespräch während der Konzertpausen damals habe ich nicht vergessen können. Man trifft so selten Menschen, die einem auf den ersten Blick sympathisch sind. Ich – bin ja kein Kind mehr … Das Leben hat mich hart angepackt … Mein Vater war Minister in einem kleinen [71] thüringischen Staate … Nach dem Umsturz stellte man ihn vor Gericht … Er starb in der Untersuchungshaft – aus Verzweiflung, weil er seine Unschuld nicht beweisen konnte … Meiner Mutter wurde jeder Anspruch auf Pension abgesprochen … Da war ich es, die – den Kopf oben behielt, Herr Eriksen … Wer solches durchgemacht hat, verachtet alle Redensarten … Ja – ich habe für Sie gefürchtet, habe Sie sogar kurze Zeit im Verdacht gehabt …“

„Des – Mordes wegen?“

„Ja … – kurze Zeit …“

„Jetzt wissen Sie wohl, daß ich einer solchen Tat nicht fähig bin …“

„Ich weiß es …“

„Dann – – wollen wir gemeinsam zu Herrn Harst gehen, Fräulein Sieglinde. Er wohnt doch mit seiner Mutter zusammen … Die wird vielleicht sagen können, wo wir ihn antreffen …“

„Versuchen wir es … – Sigi schritt neben ihm her …

Und es war ihr, als ob sie diesen Mann seit Jahren kannte …

Jetzt freute sie sich über die frühen Frühlingslüfte … Jetzt – würde alles gut werden …




[72]
6. Kapitel.


„Lautstärke tadellos …“


Der lange Benno trat aus dem Dunkel der Kiefernschonung hervor …

„’n Abend, die Herren!“ flüsterte er uns zu. „Sie haben fein herjefunden – allerhand Achtung … Ick dachte schonst, Sie würden sich bei die Dusterheit verirren … Diese Jejend is der reene Irrjarten – ’n bißken Wald, een Haus, wieder Wald, wieder een Haus. Hier in diese Eijenheimkolonie mecht’ ick nich bejraben sein – nischt als Kiefern und Sand!“

„Und – sonst was Neues, Benno?“ fragte Harald gedämpft …

„Nischt … Der Olle is wohl in die Klappe jekrochen … Kommen Sie man … Nur fufzig Schritt sind’s …“

Wir durchquerten den schmalen Streifen Schonung.

Da lag denn nun dicht vor uns ein einstöckiges Häuschen, umgeben von einem schlichten Lattenzaun. Der Garten war klein. Einzelne Bäume hatte man stehen lassen …

„Ob ein Hund auf dem Grundstück ist?“ meinte Harald.

„Nein … Aber – ’ne Antenne is da … Kieken [73] Sie man jenau hin, Herr Harst … Da oben in die beeden Kiefern sieht man die Verlängerungsmasten … Und die Drähte flimmern ooch so wie dünne Striche!“

„Ich sehe, Benno. – Wir werden den Mann nun besuchen …“

„Von mir aus – man zu, Herr Harst! – Was hat der Olle denn ausjefressen?“

„Vielleicht gar nichts … Wir werden ja hören, was er zu erklären hat.“

Die Zaunpforte war unverschlossen.

Das Häuschen hatte ein sehr hohes Fundament von Feldsteinen. Zum Eingang führte eine Zementtreppe mit Eisengeländer empor. Eine Glocke fehlte.

„Ihr beide könnt die Hintertür bewachen,“ flüsterte Harald. „Für den Fall, daß der Herr flüchten will …“

Dann – donnerte er mit der Faust gegen die Tür.

Der lange Benno und ich umschritten das Haus.

Hinten stand noch ein kleiner Stall. Und über diesen Stall hinweg lief hoch oben in der Luft die Antenne. Es war eine T-Antenne. Die Ableitung führte in eins der beiden Hinterfenster hinein.

Wir hörten Harald zum zweiten Male gegen die Tür hämmern …

Der lange Benno flüsterte: „Herr Schraut, det Häuschen sieht janz freindlich aus … Ob der Olle hier alleen wohnt?!“

„Haben Sie Absichten?!“ versuchte ich zu scherzen.

[74] Da wurde er beinahe böse …

„Nee – hier klauen wir nischt, Herr Schraut … Hier –“

Ein Geräusch ließ ihn verstummen …

Auch hier führten zur Hintertür fünf Stufen empor.

Die Tür hatte sich geöffnet …

„Was wünschen Sie?“ fragte eine tiefe Stimme.

Da stand der Graubart, in einen Schlafrock gehüllt. Trat noch weiter vor …

„Gehören Sie zu dem Herrn, der vorn Einlaß begehrt?“ fragte er wieder …

„Und ob!“ rief der lange Benno. „Lassen Sie uns man rinn …“

Ich suchte den schlechten Eindruck dieser Worte etwas zu verwischen und sagte sehr höflich:

„Verzeihung, wir möchten nur einiges von Ihnen erfahren … Eine kurze Unterredung … Wir werden Sie in keiner Weise belästigen …“

„Ich fürchte mich nicht … Bitte, treten Sie ein. Ich werde sofort Licht machen.“

Er verschwand im dunklen Flur …

„Vorsicht!“ raunte der lange Benno mir zu …

Im Flur wurde es hell … Ich sah durch die weit offene Tür den Graubart neben einem Tischchen. Er hatte eine Petroleumlampe angezündet.

Ich glaubte an keine Hinterlist des Alten, wollte ihn [75] auch nicht unnötig verletzen … Winkte Benno und stieg die Stufen empor …

Benno folgte zögernd …

Der Graubart hielt die Lampe jetzt mit der Linken hoch und meinte:

„Ich werde Ihren Freund einlassen … Bitte – dort hinein …“

Und er wies auf eine der Türen …

Wenn ich damals auch nur ein ganz klein wenig achtsam gewesen wäre, hätte ich unbedingt mißtrauisch werden müssen.

Es war doch sehr auffallend, daß der Alte uns beide zuerst einließ – scheinbar! – und daß Harald sich gar nicht mehr meldete …

Jedenfalls: Benno war nun dicht hinter mir, und ich steuerte auf die Tür zu, die der Graubart mir bezeichnet hatte …

Ich sollte sie nie erreichen …

Dieses harmlose Eigenheim hatte seine Tücken … Der alte Herr war auf unliebsame Besuche gut vorbereitet …

Jählings klappten die Dielen des Flurs an der Stelle, wo wir uns gerade befanden, nach unten …

Zu spät streckte ich die Hand aus, um noch den Rand der Falltür zu erwischen …

Wir fielen ins Dunkle …

Nicht allzu tief – auf raschelndes Laub …

[76] Halb übereinander …

Lagen eine Weile still, wunderten uns, wie weich wir gelandet waren …

Und da – eine Stimme aus der Finsternis, Haralds Stimme:

„Auch schon da?! Auch auf denselben Trick hineingepurzelt?!“

Der lange Benno fluchte …

„Det is doch Herr Harst …!! Na – da is ’s Ende von wej …! Die gelehrtesten Leite jeben sich hier een Randewuz …!“

„Leider!“ meinte Harald.

Und dann flammte seine Taschenlampe auf … Dann sahen wir, daß wir uns in einem gemauerten Kellerraum ohne Türen befanden …

Hörten auch etwas: Schritte oben, die eiligst hin und her gingen …

Hörten, wie Möbel hin und her geschoben wurden – wieder Schritte …

„Der türmt jetzt!“ sagte der lange Benno und erhob sich von dem Laubhaufen. „Der kneift aus …! Daruff nehm’ ick Jift …“

Harst beleuchtete die beiden Löcher in der Decke …

Zwei Falltüren gab es, jede etwa anderhalb Meter im Quadrat …

Die untere Bretterlage der Decke war entfernt worden. Man sah die Leisten, auf die die Dielenstücke genagelt [77] waren, sah auch die drei Eisengelenke … – Der Graubart hatte auch „unsere“ Falltür sofort wieder hochgeklappt und irgendwie festgeriegelt.

Harald trat auf Benno zu …

„Sie sind der Längste … Ich werde Ihnen auf die Schultern klettern … Dann reiche ich bis nach oben.“

„Bitte – nur zu, Herr Harst …“

Harald versuchte die eine Falltür zu öffnen …

Es gelang nicht …

Versuchte es bei der anderen …

Auch ohne Erfolg …

Inzwischen waren die Geräusche oben im Hause verstummt …

„Dann mit Gewalt!“ – und Harst ließ sich von mir einen Ziegelstein reichen, der in einer Ecke lag …

Doch auch dieses Mittel half nichts. Der Ziegelstein ging in Stücke, und eine der Klamotten fiel Benno auf den Schädel …

„Mahlzeit!“ sagte er nur …

Und Harald von oben:

„Ich weiß jetzt wenigstens, wo die Riegel sich befinden. – Achtung – ich schieße …!“

Und viermal knallte seine Clement …

Dann ein Knirschen und Knarren …

Die Falltür klappte hinab, Harst bückte sich, richtete sich wieder auf und schwang sich nach oben, kam auf die Füße und rief:

[78] „Ich hole einen Strick!“ – Verschwand …

Der lange Benno grinste …

„Herr Schraut, die Erinnerung von heite laß ick mir in Jold einrahmen … Unsereener kennt doch ooch so allerlei … Aber so wat …, – hätt ick nich für meeglich jehalten: Falltüren – janz wie in ’n neuen Roman: „Herz und Dolch“ oder „Minna, die Massenmörderin“ … Übrijens een sehr scheenet Buch … Pro Band fufzehn Goldpfennije … Und weichet Papier dazu – zum … Stulleneenwickeln …“

Harst erschien oben …

Warf ein Ende einer Wäscheleine hinab …

„Der Herr ist weg … Die Vordertür steht offen!“

Wir turnten nach oben …

Besichtigten die drei kleinen Zimmer … Billige Fichtenholzmöbel, ganz neu … Ein Tisch mit Glanzleinwandbezug als Schreibtisch hergerichtet …

Wir suchten … Wir fanden nichts, was uns über den Bewohner Aufschluß gegeben hätte … –

Mittlerweile wurde es Tag …

Wir standen in dem Arbeitszimmer des Fremden, das nach dem Hofe hinaus lag – vor dem offenen Fichtenschrank mit den Radioapparaten …

Harald nahm den Dreiröhrenempfänger heraus …

„Dasselbe Modell wie Luitpoldstraße neun …“ meinte er.

[79] Und dann – schoß er wie ein Geier wieder auf den Schrank zu. Da hing an der Innenseite der Tür ein Heft an einem Bindfaden …

Harst blätterte darin, schüttelte den Kopf …

„Merkwürdig! – Hier steht als erste Eintragung:

2. Februar. Lautstärke mäßig. Schlechte Aussteuerung. Die Röhren tönen.

Dann:

3. Februar. Lautstärke tadellos. Sprache klar. Röhren tönen wenig.

Und so geht’s weiter – für jeden Tag eine Notiz … Nur die von dieser Nacht fehlt … Merkwürdig …! Im übrigen ist alles englisch geschrieben …“

Nochmals blätterte er in dem Heft…

„Ah – hier doch noch etwas … Und zwar:

Für meinen Sohn Tom! Sollte mir etwas zustoßen, so bitte ich dieses Heft als eingeschriebenen Brief Herrn Ingenieur Thomas Eriksen zuzusenden, da es für ihn wertvoll ist. – Die Pacht für das Grundstück habe ich bis zum April vorausbezahlt.

Gunnar Eriksen.

So, nun kennen wir ihn,“ fügte Harst zufrieden hinzu. „Also Herr Gunnar Eriken …! Und sein Sohn ist fraglos Radioingenieur, Erfinder, hat nur eine Erfindung ausprobiert, freilich unter besonderen Umständen …“

[80] Freund Benno stand mit ziemlich geistlosem Gesicht dabei …

„Det sind also jar keene Verbrecher,“ meinte er arg enttäuscht.

„Anscheinend nicht … – So, nun wollen auch wir – türmen … Das Heft nehme ich mit …“

Da der Schlüssel in der Haustür steckte, schlossen wir ab und legten den Schlüssel unter die Treppe.

Auf dem Wege zum Bahnhof Zehlendorf zeigte sich Freund Benno äußerst neugierig. Es wollte ihm gar nicht recht in den Sinn, daß der Mord an der Unbekannten, die da in der leeren Wohnung gefunden worden war, mit den Eriksens nichts zu tun haben sollte. Er fragte Harald immer wieder aus, und Harst antwortete auch stets, und zwar ohne Verdrehung der Tatsachen.

So kam denn eigentlich durch Benno jetzt heraus, daß Harald nunmehr der Überzeugung war, die Unbekannte habe sich selbst auf dem Dache erschossen und sei dann erst durch „Leute“ in die leere Wohnung geschafft worden, damit niemand ahnen sollte, wo sie den Tod gesucht hatte.

Daß ich bei dieser neuen Lesart der Geschehnisse meinerseits manches zweifelnde „Hm, hm!“ hören ließ, lag doch sehr nahe.

Auch der lange Benno schien von dieser Lösung wenig befriedigt.

Auf dem Bahnhof trennten wir uns, nachdem Benno [81] nochmals fünfzig Mark erhalten hatte. Er versprach, abends mal in der Blücherstraße nachzufragen, ob es noch Arbeit für ihn gäbe.

Der erste Vorortzug brachte uns nach Berlin zurück. Um sieben Uhr waren wir daheim – hundemüde …

Mathilde, die Köchin, war schon auf. Harald instruierte sie: bis zwölf Uhr würden wir schlafen und seien für niemand zu sprechen.

Ich schlief denn auch ungewiegt …

Erwachte, weil mich jemand stark rüttelte …

Harald stand an meinem Bett …

„Aufstehen!! – Du wirst gleich munter werden, mein Alter: Sieglinde von Lauken ist vor einer halben Stunde mit einem Herrn hier bei uns gewesen … Der Herr war … – rate mal!“

„Der lange Benno …!“

Harald lachte …

„Nein, Freund Schraut: Thomas Eriksen!“

„Alle Wetter …! – Und da hat Deine Mutter Dich nicht geweckt?“

„Nein … Sie wußte nicht, ob es mir recht sei … Sie tat so, als wüßte sie nicht, wo wir stecken …“

„Und Eriksen?“

„Wollte mich – konsultieren … Jedenfalls scheint Fräulein Sigi sein Herz gleichfalls im Sturm erobert zu haben, denn Mama meinte, die beiden seien verlobungsreif … [82] Und meine Mutter hat einen Blick dafür …“

Ich fuhr in die Kleider …

Rasierte mich …

Harst plauderte, rauchte, saß am Fenster …

„Wir könnten jetzt zu Laukens und Sigi vornehmen,“ meinte er … „Das hat jedoch noch Zeit … Zuerst werden wir Waitzstraße 27 besuchen – Du weißt: der Briefumschlag:

Anna-Grete Meierwe Worge …“
Anna-Gretbei Witwe Worge …“




[83]
7. Kapitel.


Abenteuerliche Erlebnisse.


Die Geschichte der Antenne im fünften Stock war uns in vielen Punkten doch noch ein dunkles Rätsel.

Gewiß: es war nicht ausgeschlossen, daß Harald mit seiner Vermutung recht hatte und daß die Unbekannte sich selbst erschossen haben mochte, daß dann erst Eriksen die Tote vom Dache weggeschafft hatte.

Weshalb aber dieser Selbstmord?!

Und um diese Frage rankten sich unzählige andere.

Weshalb hatte Frau Lizzia Douglas sich als Mann verkleidet?! Weshalb all dies Geheimnisvolle, mit dem diese Leute sich umgaben?!

Kurz – als wir gegen halb ein Uhr mittags im Auto gen Charlottenburg rollten, ging mir so mancherlei durch den Kopf … –

Die Waitzstraße schlenderten wir zu Fuß hinab …

Und dann läuteten wir bei der Witwe Worge – Gartenhaus rechts, zwei Treppen links …

[84] Schlurfende Schritte …

Die Tür öffnet sich handbreit … Die Sperrkette rasselt, spannt sich …

Ein abgrundtiefer Weiberbaß fragt:

„Na – Sie wünschen?“

„Wir möchten Fräulein Anna-Grete Meier sprechen,“ erklärt Harald sehr höflich …

„Wie – sind Sie etwa auch Verwandte von ihr?“ platzt die Dicke heraus, von der man nur einen Längsstreifen des Vollmondgesichts sieht[3]

Harst ist wie stets Herr der Situation … Er hört auch hier das Gras wachsen …

„Die Verwandten waren also schon hier?“ meint er fabelhaft liebenswürdig.

„Sind noch hier, der Herr und die Dame …“

„So … so – Herr Thomas Eriksen, nicht wahr?“

„So ähnlich war’s wohl …“

„Dann bitten Sie die Begleiterin Herrn Eriksens mal heraus … Sie kennt uns …“

Die Tür schlug zu, der Schlüssel wurde umgedreht …

„Sieglinde!“ flüstert Harst.

Doch – das war ein Irrtum …

Frau Worge erscheint wieder – nur im Streifen …

„Die Dame, die Schwester von mein’ Fräulein, will nischt mit Ihnen zu tun haben …“

„Frau Douglas?“

[85] „Ja – Frau Douglas. – Wer sind Sie eigentlich?“

„Verzeihung, Frau Worge … Halten Sie eine Zeitung …“

„Was geht Sie das an?! – Nee, ich halte keine …“

„Und hier Ihre Hausgenossen haben Ihnen keine Neuigkeit aus der Zeitung erzählt?“

„Hausgenossen?! Noch schöner! Ich verkehre mit niemandem … – Wer sind Sie?“

„Ein Detektiv, Frau Worge … – Hier haben Sie fünf Mark … Nur ein paar Fragen … Fräulein Meier trug doch einen Zobelpelz und einen Hut mit Reiherstutz?“

„Gewiß …“

„Und sie ging gestern abend aus und ist noch nicht heimgekehrt?“

„Nee – bis jetzt nicht …“

„War sie beruflich tätig?“

„Schriftstellerin war sie … Aber sie hat mehr Zigaretten geraucht als geschrieben …“

„Heißt sie denn wirklich Meier?“

„Nee – Douglas heißt sie … Das andere war ein – ein …“

„Pseudonym …“

„Ja – Pseudonym … Mary Douglas ist der echte Name …“

„Vielen Dank … Nun gehen Sie nochmals und bestellen [86] Sie Frau Lizzia Douglas, daß Harald Harst sie sprechen möchte …“

Frau Worge kreischte leise …

„Herr – Herr Harst?! Nicht möglich!! Ich gehe schon …“

Diesmal schlug sie die Tür nicht zu …

Wir hörten sie klopfen, sehr erregt etwas hervorkollern …

Dann schienen die da drinnen zu beraten …

Bis – Frau Douglas persönlich uns einließ …

Sie war recht verstört … Aber Thomas Eriksen desto ruhiger. In Marys möbliertem Zimmer standen wir uns gegenüber …

Eriksen stellte uns seine Schwägerin vor, sagte dann:

„Ich war heute bei Ihnen, Herr Harst …“

„Ich weiß … Nehmen wir Platz …“

Und nun hoffte ich auf eine endgültige Lösung des Rätsels … Thomas Eriksen begann ohne Scheu zu erzählen …

Ich will seine Angaben hier in gedrängtester Kürze wiedergeben – ohne Harsts Zwischenfragen. –

Eriksen hatte als Student einem politischen Geheimklub in Neuyork angehört, war dann aber ausgetreten, als die Ziele des Geheimbundes immer anarchistischer wurden. Zehn Jahre lang hörte er nichts von diesen Leuten. Dann erhielt er plötzlich im November des [87] Vorjahres genau so wie sein Bruder Gustav einen Drohbrief, der das Geheimzeichen des Klubs trug und ihn mit dem Tode bedrohte, falls er Amerika nicht schleunigst verlassen würde. Die beiden Briefe waren inhaltlich fast gleich. Gustav Eriksen hatte den Klub jedoch nur einmal besucht gehabt, ohne Mitglied zu werden. Die Brüder beachteten die Drohung nicht. Sie glaubten an irgendeinen schlechten Scherz, zumal die Forderung, Amerika zu verlassen, doch recht merkwürdig war. – Aber drei Tage darauf wurde Gustav Eriksen in einem Vorort aus dem Hinterhalt angeschossen und schwer verwundet in ein Krankenhaus gebracht. Seine Gattin Lizzia, die ihn über alles liebte, drang nach seiner Genesung darauf, daß man sofort nach Europa reise, denn inzwischen waren wieder zwei Drohbriefe eingetroffen. Thomas Eriksen weigerte sich, da er gerade an einer Erfindung, einem neuen Telephoniesender, arbeitete. Doch am ersten Tage, als sein Bruder sich als Genesener ins Freie wagte, wurde er im Garten einer bekannten Familie durch ein Geschoß aus einem Luftgewehr wieder verwundet, zum Glück nur ganz leicht. – Jetzt wünschte auch der Vater der Brüder Eriksen, der mit Thomas zusammenwohnte, daß man das Schicksal nicht herausfordern solle. Jedenfalls: man reiste ab, und zwar getrennt und unter allerlei Vorsichtsmaßregeln, um die von dem Geheimbund gedungenen Mörder loszuwerden. Thomas und sein Vater sowie Mary Douglas, die im [88] Hause ihrer Schwester als Waise ein Heim gefunden, benutzten einen Dampfer von Halifax aus, während das Ehepaar Douglas von New Orleans abfuhr. Doch – kurz bevor die Dampfer in See gingen, erhielten die Brüder den dritten Drohbrief: ein jeder sollte sich in Europa anderswo niederlassen, und nie mehr sollten sie persönlich zusammenkommen … –

Jetzt wurde Thomas Eriksen ebenfalls nervös. Man hatte den Mordbuben entgehen wollen, und nun hatte man in diesen Briefen den Beweis, daß diese unheimlichen Gegner abermals in der Nähe waren.

Nach der Landung in Europa wandten die beiden Reisegesellschaften, die sich durch Telegramme untereinander verständigt hatten, noch weitgehendere Maßregeln an, jede Spur hinter sich zu verwischen. In Berlin wollte man dann wieder zusammentreffen.

Ende Dezember mietete Thomas in Berlin die aufgestockte, beschlagnahmefreie Wohnung, während sein Vater das Häuschen in der neuen Eigenheimkolonie pachtete, um den Sohn bei seinen Sendeversuchen zu unterstützen. Gustav Eriksen aber, Lizzias Gatte, nahm auf deren Bitten unter anderem Namen in Hamburg eine Stellung an, da seine Frau derart ängstlich geworden war, daß sie ihn in Berlin nicht sicher genug glaubte. Sie tat noch ein übriges und benutzte ihre Geschicklichkeit als frühere Schauspielerin dazu, in Berlin gelegentlich ihren Gatten zu spielen.

[89] Zunächst ereignete sich dann für die Flüchtlinge nichts Besonderes. Mary hatte bei Frau Worge Unterkunft gefunden und traf fast täglich mit den Verwandten in einem Restaurant abends zusammen, wo sie dann für Frau Lizzia gehalten wurde – – von mir, Max Schraut! Wie sollte ich auch die Wahrheit ahnen?! – Der alte Herr Eriksen wieder kam nur sehr selten von dem Vorort nach Berlin, weil er sich dort in der Einsamkeit sehr wohl fühlte.

Die Verfolger schienen die Spur der Flüchtlinge nun endgültig verloren zu haben …

Da aber kam jener gestrige Abend, an dem die Geschichte der Antenne im fünften Stock für den Leser beginnt. Und da besuchte Mary abends neun Uhr ihre Schwester. Hierbei entdeckte Frau Lizzia, als sie Mary einließ, daß draußen im Briefkasten noch ein Brief lag.

Es war – – ein neuer Drohbrief!

Er enthielt nochmals den Befehl, daß Frau Lizzia sofort nach Hamburg zu ihrem Gatten reisen solle und daß die Brüder Eriksen jeden Verkehr miteinander einstellen sollten.

Thomas, der durch die Attentate auf seinen Bruder und durch all diese dunklen unerklärlichen Machenschaften jeden Frohsinn bereits eingebüßt hatte, schlug nun seiner Schwägerin vor, man solle endlich die Scheu vor der Zuziehung eines Detektivs aufgeben und sich [90] nicht länger durch diese Meuchelmörder schrecken lassen, die allerdings jede Anzeige an die Polizei oder sonst jemand mit sofortigem Tode ahnden wollten. –

Zum Schluß will ich nun Thomas Eriksen mit eigenen Worten sprechen lassen …

„Merkwürdigerweise widersprach Mary diesem Vorschlag am allerlebhaftesten, Herr Harst. Ich hatte Ihren Namen genannt. Ich wollte mich mit Ihnen in Verbindung setzen, um diesen Dingen so oder so ein Ende zu bereiten. Mary, stets etwas übernervös, konnte sich gar nicht darüber beruhigen, daß ich derart mit meinem Leben und dem meines Bruders spielen wollte. Als ich dann spät nachts die Sendeversuche mit meinem Vater wieder aufgenommen hatte, kam es derselben Sache wegen zwischen Lizzia und Mary zum Streit. Ich mischte mich ein. Ich dachte zunächst gar nicht daran, daß der Sender eingeschaltet war und daß jedes Wort in den Äther übertragen werden mußte. Plötzlich stürzte Mary in mein Zimmer und begann auch mit mir in leidenschaftlichster Weise zu zanken. Dabei rief sie denn auch jene Sätze, die so leicht mißdeutet werden konnten: „Wenn Du das tust, hast Du die längste Zeit gelebt!“ – Ich schaltete den Sender aus und erklärte Mary sehr aufgebracht, sie scheine wohl für ihr eigenes Leben zu fürchten und sie sollte sich doch gefälligst beherrschen, da sie so direkt abstoßend wirke in ihrer furienhaften Erregung. – [91] Kaum hatte ich dies, tatsächlich von Widerwillen erfüllt, hervorgestoßen, als Mary hastig in den Flur stürmte und die Wohnung verließ. Nach ein paar Minuten fiel mir ein, daß sie keinen Hausschlüssel hätte und daß ich sie hinauslassen müßte. Ich folgte ihr, sah nun aber, daß die kleine Tür, die von der aufgestockten Etage auf das Dach führt, weit offen stand. Ich ahnte, daß Mary diesen Weg gewählt, trat auf das Dach hinaus und hörte plötzlich aus der Richtung der Parallelstraße, der Winterfeldtstraße, einen Schuß, erkannte auch dort drüben auf einem der Dächer eine zusammensinkende Gestalt, lief hin und – fand Mary bereits tot. In meiner ungeheuren Verwirrung malte ich mir die Folgen dieser Selbstmordes für mich selbst in schwärzesten Farben aus. Ich dachte an meinen geheimen Sender, meine Erfindung, auch an die Verfolgung durch die Meuchelmörder, sah uns schon als Mittelpunkt einer Untersuchung und – – wollte deshalb Mary vom Dache wegschaffen, damit niemand ahnte, daß sie von unserer Wohnung gekommen. So trug ich sie denn in die leere Wohnung jenes Hauses hinab. Ich kannte diese Wohnung, denn ich hatte sie gegen die meine tauschen wollen. Ich nahm Mary auch alles ab, was zu ihrer Feststellung hätte dienen können. Wie gesagt, ich handelte in einer unglaublichen Verwirrung. – Als ich dann Lizzia das Geschehene mitteilte, fiel sie in Ohnmacht. Erst nach Stunden war sie wieder so weit Herrin ihrer Sinne, daß [92] sie das Geschehene voll begriff. Sie drängte jetzt zur Flucht. Ich gab nach, nur um sie zu beruhigen. Wir lösten Fahrkarten bis Amsterdam, stiegen aber schon in Potsdam aus, da Lizzia zu schwach war, kehrten nach Berlin zurück und mieteten uns in einer Pension ein.“

Was Thomas noch weiter berichtete, ist bereits bekannt.




[93]
8. Kapitel.


Unerwiderte Liebe.


Harst hatte nur hin und wieder eine Frage eingestreut.

Jetzt nahm er sein Zigarettenetui hervor …

„Sie gestatten wohl, daß ich rauche … Ich will nachdenken …“

Und rauchend ging er im Zimmer auf und ab. Da stand auch eine Schreibmaschine. Sie gehörte Mary Douglas.

Harald stellte sie auf den Sofatisch und spannte ein Blatt Papier ein, schrieb einige Zeilen …

Und – entnahm seiner Brieftasche jenes anonyme Schreiben, das uns auf die Antenne im fünften Stock aufmerksam gemacht hatte.

Sagte dann: „Dieser Brief stammt von Mary, wie die kleinen Fehler dieser Maschine verraten … Lesen Sie!“

Er gab Thomas und Lizzia den Brief.

Bestürztere Gesichter als die der beiden Menschen da auf dem Sofa habe ich selten gesehen …

Dann fragte Harald Frau Eriksen:

[94] „Hat Ihre Schwester Ihnen gegenüber nie geäußert daß sie Ihren Schwager Thomas liebe?“

Frau Lizzia wurde sehr verlegen.

„Ja – allerdings …“

„Und ist es zwischen Ihnen und Mary nicht zu Szenen gekommen, weil Mary annahm, Thomas habe mit Ihnen eine – Liebelei?“

„Ja – – leider …“

„Herr Gott, davon weiß ich ja gar nichts,“ rief Eriksen entsetzt … „Mary – hat mich geliebt?! Diese exaltierte Mary?!“

Frau Lizzia nickte traurig …

„Sie muß Dich sogar bis zum Wahnsinn geliebt haben, Tom …“

Harst fragte aufs neue:

„Wußte Mary mit Schußwaffen umzugehen?“

„Tadellos, Herr Harst …“

„Besaß sie eine Luftbüchse?“

„Ja – allerdings …“

„Und haben Sie vielleicht den letzten Drohbrief, den von gestern, bei sich?“

„Bitte!“

„Ah – auch Schreibmaschinenschrift – genau dieselbe Schrift wie der Brief an mich … – Herr Eriksen, Sie ahnen nun wohl schon die Zusammenhänge. Der Geheimbund war – Mary. Mary wollte Sie von Ihrem Bruder und Ihrer Schwägerin für immer trennen, [95] weil sie hoffte, daß sie dann Ihre Liebe erringen könnte. Deshalb die Forderung in den Drohbriefen, die Brüder sollten sich nie mehr sehen …“

„Entsetzlich!“ stöhnte Frau Lizzia. „Aber: – ich traue Mary derartiges schon zu … Wie – wie eine Furie ist sie einmal in Neuyork auf mich zugesprungen und hat mir ins Gesicht geschrien, ich hätte ein Verhältnis mit Tom …“ – Sie begann zu schluchzen.

Harst beruhigte sie.

„Ich werde mit der Polizei nun alles in Ordnung bringen, Herr Eriksen,“ wandte er sich dann an den Ingenieur. „Die Sache wird für Sie kein Nachspiel haben. Die Herren der Kriminalpolizei tun mir gern einen Gefallen.“ –

Wir verließen dann gemeinsam das Haus in der Waitzstraße und begaben uns auf Haralds Vorschlag hin zu Laukens …

Harst meinte, Fräulein Sieglinde habe es wohl verdient, recht bald in alles eingeweiht zu werden.

So lernte auch ich Sigi Lauken kennen …

Freilich – viel gesprochen habe ich damals mit Sigi nicht … Denn Thomas Eriksen nahm die Gelegenheit sofort wahr und – verlobte sich mit der kleinen Radiospionin …

Wie gesagt: Sigi hatte für uns andere wenig Zeit! –

Später haben wir dann in dem Häuschen draußen in der Eigenheimkolonie manch behagliche Stunde bei dem [96] alten Herrn Eriksen gemeinsam mit dem jungen Paare verlebt und oft herzlich gelacht, wenn die Rede auf die Falltüren kam, die der alte Herr zu seiner Sicherheit und zum Schutz gegen die Geheimbündler hergestellt hatte … –

Ich glaube kaum, daß einer der Leser zu Anfang dieser Geschichte auch nur im entferntesten ahnte, wie die „Antenne“ zum Schluß ausklingen würde …

Wir, Harst und ich, ahnten es ja selbst nicht …




Der folgende Band dieser Sammlung:


Das Gespenst von Kap Tschi-Lao


spielt in den chinesischen Gewässern und behandelt Leben und – Untaten einer geheimnisvollen Persönlichkeit, der erst ein Harald Harst die Maske vom grausamen Asiatengesicht reißen konnte.


Korrigierte Druckfehler der Vorlage (Wikisource)

  1. Vorlage: Scan teilweise unleserlich
  2. Vorlage: rech mäßigen
  3. Vorlage: siebt