Die Arbeiter-Sozialpolitik (1914)

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Autor: Franz Hitze
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Titel: Die Arbeiter-Sozialpolitik
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aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band, Sechstes Buch, S. 363–414
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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Die Arbeiter-Sozialpolitik
Von Prof. Dr. Hitze, Münster, Mitglied des Deutschen Reichstags


Wenn wir speziell von der „deutschen“ Arbeiter-Sozialpolitik sprechen, so denken wir zunächst und vor allem an die deutsche Arbeiterversicherungsgesetzgebung. Hier hat Deutschland zuerst sich neue Ziele gesetzt, neue Wege gebahnt und mit Einsetzung eines hohen Idealismus und in unermüdlicher Arbeitsanspannung ein großes nationales Werk geschaffen, das die gerechte Bewunderung der anderen Kulturstaaten erregt hat. Es ist uns Deutschen um so teurer, als es in seinem Ursprung mit den großen Erinnerungen an die Ehrfurcht gebietende Gestalt des hochseligen Kaisers Wilhelms I. und seines großen Kanzlers verknüpft ist. So möge denn die Darstellung und Würdigung der deutschen Sozialpolitik mit der Arbeiterversicherung beginnen.

Grundlegung der Arbeiterversicherung durch Kaiser Wilhelm I.

November-Botschaft.

Die Geburtsstunde der deutschen Arbeiterversicherung war gegeben mit der Botschaft Kaiser Wilhelms I. vom 17. November 1881. Sie bildete die „magna charta“ der deutschen Arbeiterversicherung. Die denkwürdige Botschaft lautet wie folgt:

„Wir halten es für Unsere kaiserliche Pflicht, dem Reichstag die Förderung des Wohles der Arbeiter von neuem ans Herz zu legen, und würden Wir mit um so größerer Befriedigung auf alle Erfolge, mit denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, wenn es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen. In Unseren darauf gerichteten Bestrebungen sind Wir der Zustimmung aller verbündeten Regierungen gewiß und vertrauen auf die Unterstützung des Reichstags ohne Unterschied der Parteistellungen. In diesem Sinne wird zunächst der Entwurf eines Gesetzes über die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle vorbereitet. Ergänzend wird ihm eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige Organisation des gewerblichen Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt. Aber auch diejenigen, welche durch Alter oder Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der [812] Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zuteil werden können. Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens steht. Der engere Anschluß an die realen Kräfte dieses Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutze und staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfang nicht gewachsen sein würde.“

Durchführung.

Die Novemberbotschaft war gleichsam das soziale Testament Kaiser Wilhelms I. Die Großtaten glorreicher Kriege und Siege nach außen, die machtvolle innere Einigung des Deutschen Reiches sollten durch dieses soziale Friedenswerk ihre Krönung finden. Und die hohe, ernste Auffassung des Kaisers fand die starke Hand zur Durchführung in dem Kanzler, der seine ganze Kraft für das bedeutungsvolle Werk einsetzte. Große Widerstände waren zu überwinden. Es mußte der Kampf aufgenommen werden gegen die herrschende liberale Staatsauffassung, gegen das Mißtrauen und die Zurückhaltung der Parteien. Dazu kamen die Schwierigkeiten in der praktischen Gestaltung, da alle Erfahrungen und Vorbilder fehlten. Nur ein Bismarck mit seiner überragenden Persönlichkeit, gestützt von dem Vertrauen des Kaisers, konnte diese Widerstände überwinden. Treueste Stütze fand er in dem durch seine liebenswürdigen Formen, seine hohe rhetorische Begabung und nie versagende Arbeitskraft ausgezeichneten Staatssekretär von Bötticher und seinen ebenso tüchtigen wie arbeitsfreudigen Mitarbeitern Lohmann, Bosse, Boediker, denen später von Woedtke, Caspar u. a. würdig folgten.

Während die erste Unfallvorlage (15. 2. 81) als Träger der Versicherung eine Reichsanstalt vorgesehen hatte, sollten nach der neuen Vorlage „korporative Genossenschaften unter staatlichem Schutze und staatlicher Förderung“ mit diesen Aufgaben betraut werden. Diese („Betriebs“-)Genossenschaften sollten nach Gefahrenklassen gebildet werden, so daß Betriebe verschiedenster Art, die sich innerlich ganz fernstanden, in einer Genossenschaft vereinigt wurden. Dem widerstrebten die maßgebenden Parteien des Reichstages. Außerdem ergab sich bei der parlamentarischen Beratung die Notwendigkeit, die Unfallversicherungsträger von der Masse der kleineren Unfälle möglichst zu entlasten, da sie bei ihrer weiten territorialen Ausdehnung diesen unmöglich die Sorgfalt und Aufsicht zuwenden konnten, wie sie geboten war. Deshalb wendete sich die Kommission des Reichstages zunächst der Beratung der Krankenversicherung zu, der dann die Versorgung der Unfälle für die ersten 13 Wochen überwiesen wurde. Unterm 15. Juni 1883 kam diese zur Verabschiedung. Inzwischen hatte die Regierung einen dritten Unfallversicherungsgesetzentwurf ausgearbeitet (eingebracht im Januar 1884), der auf dem Prinzip der „Berufs“-Genossenschaften aufgebaut war. Dieser wurde nach eingehenden Beratungen am 6. Juli 1884 glücklich unter Dach gebracht. Das Gesetz beschränkte sich zunächst auf die gewerblichen Betriebe, soweit diese Motoren verwendeten oder mindestens zehn Arbeiter beschäftigten. Durch eine Reihe von Novellen wurde dann die Unfallversicherung weiter ausgedehnt auf das Verkehrsgewerbe (28. 5. 85), auf Personen des Soldatenstandes (15. 3. 86), auf land- und forstwirtschaftliche Arbeiter (5. 5. 86), auf Regie-Bauarbeiter (11. 7. 87), auf Seeleute (13. 7. 87).

So kam die Kranken- und Unfallversicherung noch unter dem ersten deutschen Kaiser zu glücklichem Abschluß und zu praktischer Durchführung. Bezüglich des schwierigeren Teiles, der Alters- und Invalidenversicherung, wurden am 19. November 1887 [813] „Grundzüge“ veröffentlicht, die der öffentlichen Diskussion unterstellt wurden. Doch dann, im März 1888, wurde Kaiser Wilhelm I. zum ewigen Frieden abgerufen, tief betrauert von seinem treuen, dankbaren Volke. Sein Sohn Kaiser Friedrich III. folgte ihm nach heldenmütigem Leiden schon in wenigen Monaten in die Ewigkeit.

Kaiser Wilhelm II.

Am 15. Juni 1888 bestieg Kaiser Wilhelm II. den Thron. Unterm 18. Juni richtete er den ersten kaiserlichen Aufruf „An mein Volk“, in dem er – im Aufblick zum König aller Könige – feierlich gelobte, nach dem Beispiel seiner Väter seinem Volke „ein gerechter und milder Fürst zu sein, Frömmigkeit und Gottesfurcht zu pflegen, den Frieden zu schirmen, die Wohlfahrt des Landes zu fördern, den Armen und Bedrängten ein Helfer, dem Recht ein treuer Wächter zu sein“.

Die Weiterführung der Arbeiterversicherung unter Kaiser Wilhelm II.

Aneignung der November-Botschaft.

Schon bald, am 25. Juni 1888, bei der ersten feierlichen Eröffnung des Deutschen Reichstages, umgeben von den deutschen Bundesfürsten, nahm der junge Kaiser Gelegenheit, in der Thronrede dem Gelöbnis auch den konkreten Inhalt zu geben durch das feierliche Versprechen: das Werk der Reichsgesetzgebung in dem gleichen Sinne fortzuführen, wie sein hochseliger Herr Großvater es begonnen habe.

„Insbesondere“, so fuhr er fort, „eigne Ich Mir die von ihm am 17. November 1881 erlassene Botschaft ihrem vollen Umfange nach an und werde im Sinne derselben fortfahren, dahin zu wirken, daß die Reichsgesetzgebung für die arbeitende Bevölkerung auch ferner den Schutz erstrebe, den sie, im Anschluß an die Grundsätze der christlichen Sittenlehre, den Schwachen und Bedrängten im Kampfe ums Dasein gewähren kann. Ich hoffe, daß es gelingen werde, auf diesem Wege der Ausgleichung ungesunder gesellschaftlicher Gegensätze näher zu kommen, und hege die Zuversicht, daß Ich zur Pflege unserer inneren Wohlfahrt die einhellige Unterstützung aller treuen Anhänger des Reiches und der verbündeten Regierungen finden werde, ohne Trennung nach gesonderter Parteistellung.“

„Ebenso aber halte Ich für geboten,“ – so fügte er bedeutungsvoll bei – „unsere staatliche und gesellschaftliche Entwickelung in den Bahnen der Gesetzlichkeit zu erhalten und allen Bestrebungen, welche den Zweck und die Wirkung haben, die staatliche Ordnung zu untergraben, mit Festigkeit entgegenzutreten.“

In der nächsten Thronrede zur Eröffnung des Reichstages im November desselben Jahres bekannte sich der Kaiser erneut zur Fortführung der sozialpolitischen Gesetzgebung, die er „als teures Vermächtnis seines Großvaters“ übernommen, und kündigte [814] die Einbringung des Gesetzes zur Versicherung aller Arbeiter gegen die Gefahren des Alters und der Invalidität an.

Invalidenversicherung.

Trotzdem die Kranken- und Unfallversicherung in ihrer praktischen Durchführung sich durchaus bewährt und so dem Gedanken der Arbeiterversicherung neue Freunde gewonnen hatten, so begegnete die neue Vorlage in ihrer konkreten Gestaltung doch nicht minder mannigfachen Widerständen. Fürst Bismarck, der die Verhandlungen wesentlich Herrn Staatssekretär Boetticher überlassen hatte, sah sich genötigt, in der zweiten Lesung der Vorlage (am 29. März 1889) selbst nachdrücklichst einzugreifen, mit der Versicherung, daß er es als heilige Pflicht empfände gegenüber dem alten, hingeschiedenen Kaiser wie gegen seinen neuen Herrn, Kaiser Wilhelm II., der dieses von seinem Großvater so dringend gewünschte Werk durchaus vollenden wolle, seinen ganzen Einfluß für die glückliche Verabschiedung dieses Gesetzes einzusetzen. Er erreichte es denn auch, daß das Gesetz am 24. Mai 1889 mit der knappen Mehrheit von 20 (185 gegen 165) Stimmen angenommen wurde.

Zielbewußter Ausbau.

So hatte Kaiser Wilhelm II. das soziale Testament seines hochseligen Großvaters auch bezüglich der Invalidenversicherung durch dessen großen Kanzler zur glücklichen Durchführung gebracht. Aber auch nach dem Ausscheiden des Fürsten Bismarck hat der Kaiser das Werk mit gleicher Liebe und Treue geschützt und weitergeführt. Wenn auch Grundriß und Aufbau der verschiedenen Versicherungsgesetze im großen und ganzen die Probe des Lebens durchaus bestanden, so stellten sich doch in Einzelheiten bald mannigfache Unklarheiten und Lücken heraus. Namentlich aber – und das war die erfreulichste Wirkung – machten sich bald von allen Seiten Wünsche geltend auf Fortführung des Werkes: Erweiterung des Bereiches, Erhöhung der Leistungen usw. So folgte dann die Periode der Novellen, und zwar zur

Krankenversicherung vom 10. April 1892 und 25. Mai 1903,
Invalidenversicherung vom 13. Juli 1899,
Unfallversicherung vom 30. Juni 1900.

Sie stellten nicht bloß Verbesserungen, sondern den zielbewußten systematischen Ausbau der Grundgesetze dar. Neue Personenkreise wurden einbezogen, die Leistungen erheblich gesteigert, die finanziellen Grundlagen der Invalidenversicherung durch eine andere Verteilung der Lasten gefestigt, so daß namentlich die Novellen zur Invaliden- und Unfallversicherung in ihrer Bedeutung fast als ein neues großes Gesetzgebungswerk gelten können. Namentlich war es das Verdienst des Grafen Posadowsky und seiner Räte: von Woedke, Caspar, Kaufmann, Beckmann usw., daß sie so bald und glücklich unter Dach gebracht wurden. Sein gerechter Sinn, sein politischer Weitblick, seine Geduld und Ausdauer, verbunden mit einer hochgespannten Arbeitskraft, wußten alle Schwierigkeiten zu überwinden und hatten den Erfolg, daß diese umfassenden Gesetze fast einstimmige Annahme fanden, mit Einschluß der Sozialdemokratie. [815] Daß damit die versöhnliche Wirkung dieser Gesetze sich stetig erhöhen mußte, liegt auf der Hand.

Reichsversicherungs-Ordnung.

Die Beratung der Novellen brachte immer wieder die Zersplitterung der deutschen Arbeiterversicherung unangenehm zum Bewußtsein. Vereinheitlichung und Vereinigung drängte sich als Forderung auf. Dazu kam, daß noch immer die dringendste und naturnotwendige Ergänzung der Invalidenversicherung: die Witwen- und Waisenversicherung, fehlte. Sie war schon oft in Resolutionen des Reichstags gefordert worden. Auch in der Thronrede vom 28. November 1895 war die Fortbildung der sozialen Gesetze als „eine Hauptpflicht des Reiches“ von neuem anerkannt und „die Vereinheitlichung des gesamten Arbeiterversicherungsrechts mit der Ausgestaltung der Witwen- und Waisenfürsorge“ als Ziel der Gesetzgebung der nächsten Jahre in Erinnerung gebracht worden. Als Hauptschwierigkeit erschien die neue finanzielle Belastung, welche die Witwen- und Waisenversicherung bringen würden. Um hier die Wege zu ebnen, wurde bei Beratung des Schutzzolltarifs der Antrag (Trimborn und Genossen) gestellt: die Mehrerträge infolge der Erhöhung der Lebensmittelzölle zu einem Fonds für die Durchführung der Witwen- und Waisenversicherung anzusammeln. Dieser Antrag fand Annahme. Wenn auch die Erträge weit hinter den Erwartungen zurückblieben, so drängte sich doch die Pflicht auf, die geweckten Hoffnungen auch zu erfüllen. So kam denn endlich 1910 die „Reichsversicherungsordnung“ zugleich mit dem Ziele der Witwen- und Waisenversicherung zur Vorlage. Es war der umfassendste Gesetzesentwurf, welcher den Reichstag seit dem Bürgerlichen Gesetzbuche beschäftigt hat. Schon Graf Posadowsky und sein Nachfolger im Staatssekretariat, jetzt Reichskanzler Herr von Bethmann-Hollweg, hatten, wirksam unterstützt durch einen getreuen Stab von tüchtigen, für ihre Aufgabe begeisterten Mitarbeitern: Caspar, Spielhagen, Würmeling, Jaup, Beckmann, Wiedfeld, Laß, Siefart, die umfassenden Vorarbeiten wesentlich fertiggestellt. Die parlamentarische Vertretung fiel dem neuen Staatssekretär Dr. Delbrück zu, dessen außerordentliche rhetorische und parlamentarische Begabung denn auch die Vorlage durch alle Wogen und Brandungen des Reichstags glücklich hindurchführte, so daß ihr die bürgerlichen Parteien fast geschlossen zustimmten. Nur die Sozialdemokraten lehnten sie wegen der Neugestaltung der Verwaltung in den Krankenkassen, durch welche ihre Übermacht gebrochen werden sollte, ab.

Mit dem 1. August 1911 wurde die „Reichsversicherungsordnung“ Gesetz. Sie hat zwar keine „Zusammenlegung“ der Versicherungen, wie man in Verkennung der großen Schwierigkeiten oft verlangt hatte, wohl aber eine einheitliche Zusammenfassung der verschiedenen Gesetze in ein großes Rahmengesetz mit verschiedenen Unterabteilungen gebracht. Dabei sind die Begriffe und der Geltungsbereich mehr einheitlich und schärfer umgrenzt. Die Behörden-Organisation: Versicherungsamt, Oberversicherungsamt, Reichsversicherungsamt ist einheitlicher aufgebaut und damit auch die Verwaltung und Rechtsprechung systematischer gestaltet. Aber auch inhaltlich haben die verschiedenen Zweige der Versicherung wesentliche Verbesserungen erfahren. Bedeutungsvoll ist vor [816] allem die Ausdehnung der Krankenversicherung auf die Landarbeiter (3,8 Millionen Versicherte), Dienstboten (1,1 Mill.), unständige Arbeiter (356 000), im Wandergewerbe Beschäftigte (40 000), Hausgewerbetreibende (295 000) und auf die Betriebsbeamten und Angestellten bis zu 2500 M. Jahresarbeitsverdienst (gegen bisher 2000 M.). Die Invalidenversicherung hat eine erfreuliche Ergänzung erfahren durch die Kinderrente als Zuschuß zur Invalidenrente für den Fall, daß noch nicht erwerbsfähige Kinder zu versorgen sind (im Betrag von etwa 9 Mill. jährlich). Endlich finden die Wünsche für die Witwen, wenigstens insoweit als sie invalide sind, und für die Waisen bescheidene Erfüllung. Die gesamten Mehrleistungen der Reichsversicherungsordnung belaufen sich so auf etwa 200 Mill. jährlich.

Angestellten-Versicherung.

Die Invaliden- nebst Witwen- und Waisenversicherung erstreckt sich auf die gegen Lohn oder Gehalt beschäftigten Personen, soweit ihr Arbeitseinkommen zweitausend Mark nicht übersteigt. Mit 1150 M. (als höchster Lohnklasse) ist die Grenze für Beiträge wie Leistungen gezogen. Wer einmal versichert war, kann zwar auch bei Steigerung seines Arbeitseinkommens über 2000 M. hinaus sich die einmal erworbenen Ansprüche durch freiwillige Beitragszahlung erhalten, geht aber dann des gesetzlichen Zuschußbeitrages des Arbeitgebers verlustig. So war es verständlich, daß schon bald in den Kreisen der höher besoldeten Privatbeamten und Angestellten der Wunsch nach einer entsprechenden Ausgestaltung der Fürsorge für ihre Invaliden, Witwen und Waisen laut wurde und bald auch im Reichstage ein Echo fand. Die mächtig sich entwickelnden Verbände der Privatbeamten und Angestellten traten zur wirksamen Förderung ihrer Interessen zu einem „Hauptausschuß“ zusammen, der mehr als 700 000, d. h. ein Drittel aller Angestellten, umfaßte und durch Erhebungen die Unterlagen für zwei im Reichsamt des Innern ausgearbeitete Denkschriften bot und so die Ausarbeitung einer gesetzgeberischen Vorlage wirksam vorbereitete. Diese wurde dann auch unterm 20. März 1911 dem Reichstag vorgelegt, der sie nach eingehenden Beratungen in derselben Kommission, welche eben die Reichsversicherungsordnung erledigt hatte, unter der geschickten Führung des Herrn Staatssekretärs Delbrück und der Herren Geheimen Oberregierungsräte Koch und Beckmann noch vor Schluß der Legislaturperiode unter dem 5. Dezember 1911 einstimmig zur Verabschiedung brachte.

Die Angestelltenversicherung erstreckt sich auf mehr als 2 Millionen Beamte und Angestellte. Sie besteht selbständig neben der Invalidenversicherung, so daß solche Personen, welche 2000 M. und weniger beziehen, oder nach Erhöhung des Gehaltes ihre Versicherung bei der Invalidenversicherung freiwillig fortsetzen, in beide Versicherungen einzahlen, aus beiden aber auch unverkürzt ihre Unterstützungen beziehen. Der Beitrag stellt sich durchschnittlich auf 8% des Gehaltes und verteilt sich gleichmäßig auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Der Gesamtbetrag, der durch die Beiträge jährlich aufgebracht wird, ist auf 205 Mill. Mark veranschlagt. Auf jeden Versicherten macht das im Durchschnitt 113,60 M., wozu für drei Viertel der Versicherten noch etwa 20 M. für die Invalidenversicherung kommen. Das Gesetz ist am 1. Januar 1913 in Kraft getreten.

Über Charakter und Organisation der deutschen Arbeiterversicherung verweisen wir auf das Kapitel „Reichsversicherung“ in Band I (Zweites Buch). [817]

Arbeiterversicherung und Sozialistengesetz. – Der neue Kurs.

Politisches Ziel Bismarcks.

Die deutsche Arbeiterversicherung im Geiste Bismarcks hatte in erster Linie den Zweck, die arbeitenden Klassen für die bestehende Staatsordnung wieder zu gewinnen. Es sollten „die bedenklichen Erscheinungen, welche den Erlaß des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ notwendig gemacht hatten, „auch durch positive, auf die Verbesserung der Lage der Arbeiter abzielende Maßnahmen“ bekämpft werden (Begründung zum ersten Unfallversicherungsgesetz). Anstatt der materiellen Ziele: Hebung und Sicherung der Lage der arbeitenden Massen wurde der politische Zweck: die positive Bekämpfung der Sozialdemokratie in den Vordergrund gerückt. So erschien das ganze Versicherungswerk unter den Gesichtspunkt des Sozialistengesetzes gestellt – als „Zuckerbrot“ zur „Peitsche“ –, und es mußte so seine versöhnliche Wirkung vor Allem bei den Sozialdemokraten und ihren Gesinnungsverwandten vollständig verfehlen. Der Reichskanzler hat selbst später einmal im Reichstage am 26. Nov. 1884 bemerkt:

„Die Sozialdemokratie ist, so wie sie ist, doch immer ein erhebliches Zeichen, ein Menetekel für die besitzenden Klassen dafür, daß nicht alles so ist, wie es sein sollte, daß die Hand zum Bessern angelegt werden kann und insofern ist ja die Opposition ganz außerordentlich nützlich. Wenn es keine Sozialdemokraten gäbe und wenn nicht eine Menge Leute sich vor ihnen fürchteten, würden die mäßigen Fortschritte, die wir überhaupt in der Sozialreform bisher gemacht haben, auch noch nicht existieren und insofern ist die Furcht vor der Sozialdemokratie in bezug auf denjenigen, der sonst kein Herz für seine Mitbürger hat, ein ganz nützliches Element.“

Wenn dem Reichskanzler auch gewiß nicht „das gute Herz“ für seine Mitbürger abgesprochen werden soll, so war seine ganze Sozialpolitik doch allzusehr auf diesen Ton der Bekämpfung der Sozialdemokratie gestimmt.

In zweiter Linie anerkannte der Reichskanzler es allerdings auch als eine „Pflicht der Humanität und des Christentums, von welchen die staatlichen Einrichtungen durchdrungen sein sollen“, daß der Staat „sich in höherem Maße als bisher der hilfsbedürftigen Mitglieder annehme“ (Begründung zum ersten Unfallversicherungs-Entwurf), aber anstatt die beabsichtigten Maßnahmen unter die allgemeinen Gesichtspunkte der Staats- und Wirtschaftspolitik zu stellen, begründete er sie als eine „Weiterentwickelung der Idee, welche der staatlichen Armenpflege zugrunde liegt“, (l. c.) Er betonte es als eine Aufgabe staatserhaltender Politik, „in den besitzlosen Klassen der Bevölkerung, welche zugleich die zahlreichsten und am wenigsten unterrichteten sind, die Anschauung zu pflegen, daß der Staat nicht bloß eine notwendige, sondern auch eine wohltätige Einrichtung sei“. „Durch erkennbare direkte Vorteile, welche ihnen durch gesetzgeberische Maßregeln zuteil werden,“ sollten sie dahin geführt werden, „den Staat nicht als eine lediglich zum Schutze der besser situierten Klassen der Gesellschaft erfundene, sondern als eine auch ihren Bedürfnissen und Interessen dienende Institution aufzufassen.“

So stellte sich die ganze Arbeiterversicherung im Geiste Bismarcks nur als eine weitere gesetzliche Ausgestaltung der Armenpflege dar. Es sollte ein großzügig gedachtes [818] Geschenk an die arbeitenden Klassen sein. Die Kosten sollten durch Einführung des Tabakmonopols – als „Patrimonium der Enterbten“ – gedeckt werden. In der Thronrede von 1881 war das deutlich zum Ausdruck gekommen, allein im Reichstage wurde die Monopolvorlage mit erdrückender Mehrheit (276 gegen 43 Stimmen) abgelehnt. Trotzdem hielt Bismarck an seinem Gedanken fest, die Arbeiter möglichst von allen Beiträgen freizulassen.

Nur der entschiedene Wiederspruch des Reichstages bewirkte es, daß der Reichsbeitrag bei der Unfallversicherung aufgegeben und auch bei der Invalidenversicherung neben den gleichen Beiträgen der Arbeitgeber und Arbeiter nur ein einheitlicher Reichszuschuß von 50 M. zu jeder Alters- und Invalidenrente vorgesehen wurde.

Bismarck ging überhaupt in seiner ganzen Sozialpolitik von einer mehr patriarchalischen Auffassung aus. Er verkannte durchaus Charakter und Ziele der modernen Arbeiterbewegung. Die Arbeiter verlangten „Rechte“ und nicht „Almosen“. Vor allem beanspruchten sie Schutz gegen die wirtschaftliche Übermacht und die rücksichtslose Ausnutzung seitens der Arbeitgeber. Sie forderten Schutz der Kinder gegen die vorzeitige, Gesundheit, Erziehung und Sittlichkeit gefährdende Beschäftigung in Hausindustrie und Fabriken. Sie beklagten sich über die zunehmende Sonntagsarbeit in Fabriken, Wertstätten und Verkaufsstellen. Sie wiesen hin auf die schweren Schädigungen für Gesundheit, Sittlichkeit und Familienleben, welche mit der schrankenlosen Ausnutzung der Arbeiterinnen verknüpft waren und welche nicht bloß die Volkskraft der gegenwärtigen Generation, sondern auch die Zukunft unseres Volkes gefährden mußten. Sie berichteten über bittere Erfahrungen und Rücksichtslosigkeiten bei Gestaltung und Handhabung der Fabrikordnungen, der Strafen und Abzüge, der Kündigungsfristen und Zeugnisse usw. Es waren die Klagen und Anklagen nicht bloß sozialdemokratisch verhetzter Elemente, sondern auch derjenigen Arbeiterkreise, die treu zu Kaiser und Reich hielten und ehrlich auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung eine Besserung der Verhältnisse erstrebten und erhofften. Eingehende, auf Veranlassung des Reichstages (30. 4. 73) ins Werk gesetzte Erhebungen (1874 und 1875), deren Ergebnisse im Reichsamt des Innern zusammengestellt und veröffentlicht waren (Berlin, Heymann 1877), die alljährlichen Berichte der Fabrikinspektoren hatten die Berechtigung dieser Klagen durchaus bestätigt. Eine Fülle von Anträgen und Interpellationen im Reichstage (1877, 1878, 1882, 1884/85 und dann alljährlich) hatten immer wieder dringende Abhilfe verlangt. Ein vollständiger Gesetzentwurf betreffend die Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit (1887) und ein solcher zum Schutz der Sonntagsruhe (1888) waren auf Grund der Anträge des Zentrums nach vielfachen gründlichen Kommissionsberatungen mit erdrückender Mehrheit vom Reichstag angenommen und dann immer wieder als solche der Regierung mit steigenden Mehrheiten zur Annahme empfohlen worden. Von allen Seiten war anerkannt, daß auf diesem Gebiet des Arbeiterschutzes Deutschland gegenüber den anderen Staaten: England, Österreich, Schweiz im Rückstand geblieben sei. Immer wieder war geltend gemacht worden, daß die Verhütung von Krankheit, von Unfällen, von Invalidität – der Arbeiterschutz – noch wichtiger sei als die Entschädigung der wirtschaftlichen Folgen, daß auch die Arbeiter selbst auf die Erhaltung ihrer Gesundheit, die Sicherung eines geordneten Familienlebens und der persönlichen [819] Würde und Freiheit in ihrem Arbeitsverhältnis mehr Wert legten als auf die Wohltaten der Arbeiterversicherung. Aber all diese noch so berechtigten und wohlwollenden, stürmischen Wünsche und Vorstellungen fanden bei Bismarck kalte Ablehnung, bittere Kritik.

Schon im Jahre 1877 war, wohl auf Grund der Erhebungen über die Verhältnisse der Fabrikarbeiter (veröffentlicht 1877), im Preußischen Handelsministerium ein umfassender Arbeiterschutzgesetzentwurf ausgearbeitet worden, der dann aber vom Fürsten Bismarck aufs schärfste bekämpft und so in den entscheidenden Forderungen fallen gelassen wurde. Bismarck machte in seinem Schreiben an den damaligen Handelsminister Achenbach geltend: „Die Kämpfe der Arbeiter und Arbeitgeber drehen sich wesentlich um die Höhe des Anteils eines jeden am Gewinn und um die Höhe der Leistungen, welche vom Arbeiter verlangt werden darf, um Lohn und Arbeitszeit. Daß irgendwie die Punkte, welche der vorliegende Entwurf berührt, und namentlich die Sorge für die körperliche Sicherheit, für die Schonung der Jugend, für die Trennung der Geschlechter, für die Sonntagsheiligung – und wenn diese Fragen viel befriedigender gelöst würden, als im Entwurf beabsichtigt ist – daß die Steigerung der Macht der Staatsbeamten (gemeint sind die Fabrikinspektoren) den Frieden der Arbeiter und der Patrone herstellen würde, ist nicht anzunehmen. Im Gegenteil, jede weitere Hemmung und künstliche Beschränkung im Fabrikbetriebe vermindert die Fähigkeit des Arbeitgebers zur Lohnzahlung.“ (Poschinger, Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck, Berlin 1890, Aktenstück 142.)

Dieselben Gesichtspunkte kehrten in seinen leidenschaftlichen Reden 1882 (Interpellation von Hertling und Genossen), 1885 (Antrag des Zentrums und Beratung des Kommissionsantrages betreffend Sonntagsruhe) wieder. „Kann die Industrie solche Lasten tragen?“ „Wo liegt die Grenzlinie, bis zu welcher man die Industrie belasten kann, ohne dem Arbeiter die Henne zu schlachten, die ihm die Eier legt?“ „Wird diese bei einem Siebentel Abzug (in der Produktionsleistung infolge der Sonntagsruhe) exportfähig bleiben?“ – „Wer soll dem Arbeiter den Ausfall tragen“, wenn etwa der Arbeitstag um 20% gekürzt wird und damit auch die Leistung entsprechend zurückgeht? – „Ist der Arbeitgeber, ist der Arbeiter bereit, den Ausfall des siebenten Arbeitstages auf sich zu nehmen?“ – Das sind die Fragen und Einwände, die immer wiederkehren. Der mahnende Hinweis, „daß es sich um die höchsten Güter eines Volkes, seine geistige und körperliche Gesundheit handele“, wird abgewiesen mit der Bemerkung: „Ja, wenn aber dabei die Mittel zum Leben verloren gehen und geringer werden, und der Arbeitslohn ausfällt, was helfen dem Volke dann die höchsten Güter, wenn es Hunger leiden muß?“

Fürst Bismarck hatte in der Frage der Sonntagsruhe selbst eine Enquete angeregt und zur Durchführung gebracht: ob die Arbeiter und Arbeitgeber bereit seien, ihren Ausfall des Lohnes resp. der Produktion des siebenten Tages auf sich zu nehmen. Die Resultate der Enquete lagen vor und ergaben ein glänzendes Ergebnis zugunsten der Sonntagsruhe. Allein verbündete Regierungen und Reichskanzler hüllten sich in Schweigen, – von einer Vorlage war keine Rede. Bezüglich des Frauen- und Kinderschutzes war die Frage nicht minder geklärt. Alle Parteien des Reichstages vereinigten sich in dem dringendsten Wunsche einer gesetzlichen Regelung. So 1887, 1888, 1889. In diesem Jahre (1889) war auf besonderen Wunsch des Herrn Staatssekretär von Boetticher die Verhandlung aufgeschoben worden, in der Hoffnung, daß dieser durch persönlichen Vortrag beim Reichskanzler in Friedrichsruhe eine günstigere Stimmung erwirken würde. Aber wiederum scharfe Ablehnung, die Herr Boetticher trotz seiner Beredsamkeit und persönlichen Konnivenz in seiner Rede vom 23. Januar 1889 unverhüllt zum Ausdruck bringen mußte. Am 31. Januar erfolgte dieselbe Ablehnung bezüglich der Sonntagsruhe. Für die Freunde des Arbeiterschutzes wurde es immer klarer, daß alle noch so wohlbegründeten Beschlüsse des Parlaments immer wieder scheiterten an dem Widerspruch des Fürsten Bismarck. Alle Hoffnungen – so schien es – waren für absehbare Zeiten begraben.

[820]

Audienz der Bergarbeiter.

In dieser Stimmung erschien es plötzlich wie ein Aufleuchten einer neuen Zeit, als nach Ausbruch des großen Bergarbeiterstreiks im Ruhrrevier, an dem bald gegen 100 000 Bergleute in ganz Deutschland teilnahmen, am 14. Mai 1889 der junge Kaiser Wilhelm II. den drei Bergarbeiterführern Schroeder, Bunte und Siegel auf ihr Ersuchen eine Audienz zur Aussprache ihrer Wünsche gewährte. Während bisher jeder Streit fast als Auflehnung und Revolution behandelt worden war, mußte schon die Tatsache dieser Audienz überraschen und tief in der ganzen Bevölkerung nachwirken. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die objektive, gerechte Beurteilung und landesväterlich-wohlwollende Art, mit der sich der Kaiser als Vermittler zwischen die streitenden Parteien stellte.

Zuerst empfing der Kaiser die Deputation der Bergarbeiter, und dann, am 16. Mai, die Arbeitgeber-Deputation: Landtagsabgeordneten Dr. Hammacher, Geh. Kommerzienrat Haniel, Bergrat von Velsen und Bergassessor Krabbler. In der Ansprache an die Bergarbeiter wie Arbeitgeber nimmt er als Recht und Pflicht landesväterlicher Fürsorge für sich in Anspruch: „den Beteiligten, den Arbeitgebern sowohl wie den Arbeitern seine Unterstützung bei vorkommenden Meinungsverschiedenheiten zuzuwenden“, um der „weitgreifenden Schädigung der gesamten Bevölkerung“ durch den Streik ein Ende zu machen. Mit Ernst hält er den Arbeitern ihr Unrecht vor, dessen sie sich durch Kontraktbruch, in einzelnen Fällen auch durch Drohungen und Auflehnung schuldig gemacht hatten. Dabei aber verspricht er ihnen gerechte Prüfung ihrer Forderungen, deren Ergebnis ihnen mitgeteilt werden soll. Er unterscheidet scharf zwischen den berechtigten Bestrebungen der Arbeiter auf Verbesserung ihrer Lage, denen er sein Königliches Wohlwollen in Aussicht stellt, und den sozialdemokratischen Tendenzen, denen er „mit unnachsichtlicher Strenge“ entgegentreten will. Denn „jeder Sozialdemokrat ist ihm gleichbedeutend mit Reichs- und Vaterlandsfeind“. Er behält sich vor, „über die Ursache des Streiks und die Mittel der Beseitigung“ sich noch eingehende Berichte seiner Behörden erstatten zu lassen. Herrn Hammacher spricht er seine Anerkennung aus, daß dieser zusammen mit dem Abgeordneten Schmidt (Elberfeld) den Versuch unternommen hat, in Verhandlung mit der Arbeiterdeputation die Grundlage zu einer Verständigung zu gewinnen. Aber diesen vorliegenden Fall hinaus aber richtet sich seine Mahnung an die Bergwerks-Gesellschaften und ihre Organe, „sich in Zukunft stets in möglichst naher Fühlung mit den Arbeitern zu erhalten, damit ihnen solche Bewegungen nicht entgehen, denn ganz unvorbereitet – so fügt der Kaiser bedeutungsvoll bei – kann der Streik sich unmöglich entwickelt haben.“ Und nun folgt ein allgemeiner Satz sozialer Weisheit und Mahnung, der später in den Februar-Erlassen wiederkehrt: „dafür Sorge zu tragen, daß den Arbeitern Gelegenheit gegeben wird, ihre Wünsche zu formulieren“, zugleich mit dem Appell an das Verantwortlichkeitsgefühl der Gesellschaften und der Erinnerung an ihre Pflicht dem Staate und den beteiligten Gemeinden gegenüber, für das Wohl ihrer Arbeiter nach besten Kräften zu sorgen und vor allen Dingen dem vorzubeugen, daß die Bevölkerung einer ganzen Provinz wiederum in solche Schwierigkeiten verwickelt werde.“ Dabei wird es als „menschlich natürlich“ und damit auch als berechtigt hervorgehoben, „daß jedermann – also auch der Arbeiter – versucht, sich einen möglichst günstigen Lebensunterhalt zu erwerben“. Der Kaiser wird noch deutlicher, indem er fortfährt: „Die Arbeiter lesen Zeitungen und wissen, wie das Verhältnis des Lohnes zu dem Gewinne der Gesellschaften steht. Daß sie mehr oder weniger daran teilnehmen wollen, ist erklärlich. Deshalb möchte ich bitten, daß die Herren mit größtem Ernst die Sachlage jedesmal prüfen und womöglich für fernere Zeiten dergleichen Dingen vorzubeugen suchen.“

Noch nie war so scharf die Verantwortung der Arbeitgeber gegenüber dem Staat und den Gemeinden betont worden. Nie vorher war auch aus Königlichem Munde so oder auch nur ähnlich das Recht der Arbeiter auf einen entsprechenden steigenden Anteil an den Fortschritten der Produktion und der Gewinne und die Pflicht der Arbeitgeber, auch über diese Fragen in Fühlung und Verhandlung mit den Arbeitern zu treten, anerkannt worden wie hier.

Die Mahnung fiel auf guten Boden; die eingeleitete Verständigung führte zur Beilegung des Streiks. Die zugesagte Untersuchung fand statt durch einen besonders beauftragten Kommissar, Geheimrat Gamp. Geh. Oberregierungsrat Dr. Hinzpeter (Bielefeld), der frühere Erzieher des Kaisers, von diesem hochverehrt und durch besonderes Vertrauen ausgezeichnet, unterrichtete den Kaiser fortlaufend über die Verhältnisse, [821] die Stimmungen und Strömungen im Ruhrrevier. Das Ergebnis der Untersuchung wurde in einer besonderen „Denkschrift“ niedergelegt, die dann die Unterlage für eine besondere Berggesetz-Novelle (1892) bot.

Es waren die Grundlinien eines neuen sozialpolitischen Kursus, die hier zum Ausdruck kamen, und die von der Richtung der bisherigen Führung der Reichsangelegenheiten weit abwichen. Dieser Wendung der Dinge entsprach es, wenn bald Fürst Bismarck von der Stellung als preußischer Handelsminister zurücktrat und am 31. Januar 1890 der bisherige Regierungs-Präsident in Düsseldorf, Freiherr von Berlepsch, ihm folgte.

Februar-Erlasse Kaiser Wilhelms II.

Am 25. Januar 1890 war der bisherige Reichstag geschlossen worden. Sein letzter Akt war die Ablehnung des Sozialistengesetzes. Die Neuwahlen waren ausgeschrieben zum 20. Mai 1890. Da, mitten in den Aufregungen der Wahlkämpfe, erschienen zu allgemeinster Überraschung die Erlasse unseres Kaisers.

Der erste Erlaß vom 4. Februar 1890 war an den Reichskanzler gerichtet. Er lautet:

Ich bin entschlossen, zur Verbesserung der Lage der deutschen Arbeiter die Hand zu bieten, soweit die Grenzen es gestatten, welche Meiner Fürsorge durch die Notwendigkeit gezogen werden, die deutsche Industrie auf dem Weltmarkte konkurrenzfähig zu erhalten und dadurch ihre und der Arbeiter Existenz zu sichern. Der Rückgang der heimischen Betriebe durch Verlust ihres Absatzes im Auslande würde nicht nur die Unternehmer, sondern auch ihre Arbeiter brotlos machen. Die in der internationalen Konkurrenz begründeten Schwierigkeiten der Verbesserung der Lage unserer Arbeiter lassen sich nur durch internationale Verständigung der an der Beherrschung des Weltmarktes beteiligten Länder, wenn nicht überwinden, so doch abschwächen. In der Überzeugung, daß auch andere Regierungen von dem Wunsche beseelt sind, die Bestrebungen einer gemeinsamen Prüfung zu unterziehen, über welche die Arbeiter dieser Länder unter sich schon internationale Verhandlungen führen, will Ich, daß zunächst in Frankreich, England, Belgien und der Schweiz durch Meine dortigen Vertreter amtlich angefragt werde, ob die Regierungen geneigt sind, mit uns in Unterhandlungen zu treten behufs einer internationalen Verständigung über die Möglichkeit, denjenigen Bedürfnissen und Wünschen der Arbeiter entgegenzukommen, welche in den Ausständen der letzten Jahre und anderweit zutage getreten sind. Sobald die Zustimmung zu Meiner Anregung im Prinzip gewonnen sein wird, beauftrage Ich Sie, die Kabinette aller Regierungen, welche an der Arbeiterfrage den gleichen Anteil nehmen, zu einer Konferenz behufs Beratung über die einschlägigen Fragen einzuladen.

Der zweite Erlaß von demselben Tage wendet sich an den Minister für öffentliche Arbeiten und für Handel und Gewerbe: [822] Bei Meinem Regierungsantritt habe Ich Meinen Entschluß kundgegeben, die fernere Entwicklung unserer Gesetzgebung in der gleichen Richtung zu fördern, in welcher Mein in Gott ruhender Großvater Sich der Fürsorge für den wirtschaftlich schwächeren Teil des Volkes im Geiste christlicher Sittenlehre angenommen hat. So wertvoll und erfolgreich die durch die Gesetzgebung und Verwaltung zur Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes bisher getroffenen Maßnahmen sind, so erfüllen dieselben doch nicht die ganze Mir gestellte Aufgabe.

Neben dem weiteren Ausbau der Arbeiter-Versicherungsgesetzgebung sind die bestehenden Vorschriften der Gewerbeordnung über die Verhältnisse der Fabrikarbeiter einer Prüfung zu unterziehen, um den auf diesem Gebiete laut gewordenen Klagen und Wünschen, soweit sie begründet sind, gerecht zu werden.

Diese Prüfung hat davon auszugehen, daß es eine der Aufgaben der Staatsgewalt ist, die Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit so zu regeln, daß die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung gewahrt bleiben.

Für die Pflege des Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind gesetzliche Bestimmungen über die Formen in Aussicht zu nehmen, in denen die Arbeiter durch Vertreter, welche ihr Vertrauen besitzen, an der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten beteiligt und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhandlung mit den Arbeitgebern und mit den Organen Meiner Regierung befähigt werden. Durch eine solche Einrichtung ist den Arbeitern der freie und friedliche Ausdruck ihrer Wünsche und Beschwerden zu ermöglichen und den Staatsbehörden Gelegenheit zu geben, sich über die Verhältnisse der Arbeiter fortlaufend zu unterrichten und mit den letzteren Fühlung zu behalten.

Die staatlichen Bergwerke wünsche Ich bezüglich der Fürsorge für die Arbeiter zu Musteranstalten entwickelt zu sehen, und für den Privatbergbau erstrebe Ich die Herstellung eines organischen Verhältnisses Meiner Bergbeamten zu den Betrieben, behufs einer der Stellung der Fabrikinspektionen entsprechenden Aufsicht, wie sie bis zum Jahre 1865 bestanden hat.

Zur Vorberatung dieser Fragen will Ich, daß der Staatsrat unter Meinem Vorsitz und unter Zuziehung derjenigen sachkundigen Personen zusammentrete, welche Ich dazu berufen werde. Die Auswahl der letzteren behalte Ich Meiner Bestimmung vor.

Unter den Schwierigkeiten, welche der Ordnung der Arbeiterverhältnisse in dem von Mir beabsichtigten Sinne entgegenstehen, nehmen diejenigen, welche aus der Notwendigkeit der Schonung der heimischen Industrie in ihrem Wettbewerb mit dem Auslande sich ergeben, eine hervorragende Stelle ein. Ich habe daher den Reichskanzler angewiesen, bei den [823] Regierungen der Staaten, deren Industrie mit der unserigen den Weltmarkt beherrscht, den Zusammentritt einer Konferenz anzuregen, um die Herbeiführung gleichmäßiger internationaler Regelungen der Grenzen für die Anforderungen anzustreben, welche an die Tätigkeit der Arbeiter gestellt werden dürfen. Der Reichskanzler wird Ihnen Abschrift Meines an ihn gerichteten Erlasses mitteilen.

Ausbau des Arbeiterschutzes.

Eine neue Botschaft war es, die der Kaiser an sein Volk richtete. Nach erneuertem, feierlichem Bekenntnis zu der Novemberbotschaft Kaiser Wilhelms I. und zu der durch diese inaugurierten Arbeiterversicherungsgesetzgebung wird die Pflicht eines weiteren Ausbaues der Arbeiterschutzgesetzgebung als deren notwendige Ergänzung mit Nachdruck proklamiert. Insbesondere wird es als Aufgabe der Staatsgewalt anerkannt, „die Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit so zu regeln, daß die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung gewahrt bleiben“. In voller Wahrung und in Betätigung dieser gesetzlichen Gleichberechtigung sollen die Arbeiter „durch Vertreter, welche ihr Vertrauen besitzen, an der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten beteiligt und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhandlung mit den Arbeitgebern und mit den Organen der Regierung befähigt werden“. Diese Vertretung soll gesetzlich gesichert werden, um so „den Arbeitern den freien und friedlichen Ausdruck ihrer Wünsche und Beschwerden zu ermöglichen“ und andererseits auch „den Staatsbehörden Gelegenheit zu geben, sich über die Verhältnisse der Arbeiter fortwährend zu unterrichten und mit den letzteren Fühlung zu behalten“. Dabei sollen die staatlichen Bergwerke als „Musteranstalten“ den privaten Betrieben voranleuchten.

Der Kaiser ist sich der Schwierigkeiten der neu proklamierten Aufgabe wohl bewußt, aber auch ebenso ernstlich entschlossen, sie zu überwinden. Die Schwierigkeiten waren doppelter Art. Einmal lagen sie in der Bestimmung der Wege und des Maßes des Schutzes und in der zutreffenden gesetzgeberischen Formulierung. In dieser Beziehung wandte sich der Kaiser an den Staatsrat. Von Bismarck noch mehr in den Vordergrund geschoben wurden die Bedenken der Konkurrenzfähigkeit unserer nationalen Industrie auf dem Weltmarkt. Um diese wenigstens zu mindern, wendet er, „in der Überzeugung, daß auch andere Regierungen von dem Wunsche beseelt sind, die Bestrebungen einer gemeinsamen Prüfung zu unterziehen, über welche die Arbeiter dieser Länder unter sich schon internationale Verhandlungen führen,“ sich vertrauensvoll an diese Staaten, „um in Unterhandlung zu treten behufs einer internationalen Verständigung über eine Möglichkeit, denjenigen Bedürfnissen und Wünschen der Arbeiter entgegenzukommen, welche in den Ausständen der letzten Jahre und anderweit zutage getreten sind“. Es soll geprüft und klargestellt werden, wieweit diesen internationalen Bestrebungen und den Ausständen ein berechtigter Kern zugrunde liegt und dieser herausgehoben und durch gemeinsame Regelung beseitigt werden.

[824]

Persönliche Initiative.

Während die Novemberbotschaft (1881) vom Fürsten Bismarck als Reichskanzler gegengezeichnet war, fehlte diese Gegenzeichnung bei den Februar-Erlassen. Sie waren der großherzigen Initiative des Kaisers entsprungen, sie waren allein von seiner Autorität getragen. Es war kein Geheimnis, daß der Fürst Bismarck ihr schärfster Gegner war. Nur widerstrebend hatte er bei der Redaktion mitgewirkt und in der Absicht, sie wenigstens möglichst „unschädlich“ zu gestalten. In der gleichen Absicht hatte er die Berufung der internationalen Arbeiterschutzkonferenz und die Mitberatung im Staatsrat vorgeschlagen, in der Hoffnung, daß hier „das nötige Wasser in den Wein gegossen werde“.

Der Kaiser im Staatsrat.

Am 14. Februar 1890 trat der preußische Staatsrat zusammen. Kaiser Wilhelm II. eröffnete die Sitzung mit einer bedeutungsvollen Ansprache, in der die Februar-Erlasse ihre weitere Begründung und klarere Ausgestaltung fanden:

„Ernst und verantwortungsvoll ist die Aufgabe, zu deren Lösung Ich Sie hierher entboten habe. Der den Arbeitern zu gewährende Schutz gegen eine willkürliche und schrankenlose Ausbeutung der Arbeitskraft, der Umfang der mit Rücksicht auf die Gebote der Menschlichkeit und der natürlichen Entwicklungsgesetze einzuschränkenden Kinderarbeit, die Berücksichtigung der für das Familienleben in sittlicher und wirtschaftlicher Hinsicht wichtigen Stellung der Frauen im Haushalte der Arbeiter und andre damit zusammenhängende Verhältnisse des Arbeiterstandes sind einer verbesserten Regelung fähig. Dabei wird mit sachkundiger Besonnenheit erwogen werden müssen, bis zu welcher Grenze unsre Industrie eine durch strengere Vorschriften zugunsten der Arbeiter erhöhte Belastung der Produktionskosten ertragen kann, ohne durch den Wettbewerb auf dem Weltmarkte die lohnende Beschäftigung der Arbeiter beeinträchtigt zu sehen. Dadurch würde statt der von Mir erstrebten Förderung eine Schädigung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter herbeigeführt werden. Um diese Gefahr zu vermeiden, bedarf es eines hohen Maßes weiser Besonnenheit. Denn die glückliche Lösung dieser unsre Zeit beherrschenden Fragen ist um so wichtiger, als dieselbe mit der von Mir angeregten internationalen Verständigung über dieselben in ersichtlicher Wechselwirkung steht. – Nicht minder wichtig für die Sicherung eines friedlichen Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind die Formen, in welchen den Arbeitern die Gewähr dafür zu bieten ist, daß sie durch Vertreter, die ihr Vertrauen besitzen, an der Regelung ihrer gemeinsamen Tätigkeit beteiligt und zur Wahrnehmung ihrer Interessen in Verhandlung mit den Arbeitgebern befähigt werden. Es wird zu erstreben sein, die Vertretungen der Arbeiter mit den staatlichen Berg- und Aufsichtsbeamten in Verbindung zu setzen und auf diese Weise Formen und Ordnungen zu schaffen, durch welche den Arbeitern der freie und friedliche Ausdruck ihrer Wünsche und Interessen ermöglicht und den staatlichen Behörden Gelegenheit geboten wird, durch Anhörung der unmittelbar Beteiligten fortlaufend über die Verhältnisse der Arbeiter zuverlässig unterrichtet zu werden und mit den letzteren die wünschenswerte Fühlung

[825] zu behalten. Auch die weitere Entwicklung der staatlichen Betriebe zu mustergültigen Vorbildern einer wirksamen Arbeiterfürsorge bedarf der eingehendsten sachkundigen Erwägung. – Ich vertraue auf die bewährte, treue Hingebung des Staatsrats bei den Arbeiten, die ihm jetzt bevorstehen. Ich verkenne nicht, daß gerade auf diesem Gebiete nicht alle wünschenswerten Verbesserungen allein durch staatliche Maßnahmen zu erreichen sind. Der freien Liebestätigkeit, der Kirche und Schule verbleibt daneben ein weites Feld segensreicher Entfaltung, durch welche die gesetzlichen Anordnungen unterstützt und befruchtet werden müssen, um zur vollen Wirksamkeit zu gelangen. Aber wenn es mit Gottes Hilfe gelingt, die berechtigten Interessen des arbeitenden Volkes auf Grund der von Ihnen zu machenden Vorschläge zu befriedigen, so wird Ihre Arbeit Meines Königlichen Dankes und der Anerkennung der Nation gewiß sein dürfen.“

Mit der Beratung wurden dann die beiden Abteilungen des Staatsrates für Handel und Gewerbe und für innere Verwaltung betraut. Ministerialdirektor Bosse (der spätere Kultusminister) wurde zum Vorsitzenden bestimmt. Als „sachkundige Personen“ wurden berufen: drei Mitglieder des preußischen Volkswirtschaftsrates: Schlossermeister Deppe (Magdeburg), Werkmeister Spengler (Mettlach) und Bautischlermeister Vorderbrügge (Bielefeld), ferner Generalsekretär Hitze (M. Gladbach), Arbeiter Buchholz (nichtständiges Mitglied des Reichsversicherungsamtes, Berlin), Direktor Schlittgen (Marienhütte bei Kotzenau) und Fabrikbesitzer Freese (Berlin). Am 26. Februar begannen die Beratungen der Abteilungen, die drei Tage – mit je acht- bis neunstündiger Dauer – umfaßten. Der Kaiser selbst führte von der ersten bis zur letzten Stunde den Vorsitz. Sein lebhaftes Interesse, die hohe Huld gegen alle Teilnehmer, die ebenso liebenswürdige als energische, die Fragen voll beherrschende Führung der Verhandlungen erfüllte alle Teilnehmer mit aufrichtiger Bewunderung und begeisterter Liebe. – Fürst Bismarck wohnte bloß der ersten Morgensitzung bei. Er erklärte, daß die Vertreter der Regierung bloß zu ihrer Information teilnehmen und sich selbst nicht an der Diskussion beteiligen würden. – Als Referenten waren vom Kaiser selbst Herr Finanzrat Jenke (Essen) als Gegner und Oberbürgermeister Miquel (Frankfurt a. M.) als Verteidiger der Arbeiterschutzziele bestimmt worden, die in gleicher Weise ihre Aufgabe glänzend erledigten. Das Resultat der Beratungen war ein voller Erfolg des Kaiserlichen Programms.

Die internationale Arbeiterschutzkonferenz.

Die internationale Arbeiterschutzkonferenz trat am 15. März in Berlin zusammen. Der Einladung zur Teilnahme waren gefolgt: Belgien, Dänemark, England, Frankreich, Holland, Italien, Luxemburg, Österreich-Ungarn, Portugal, Schweden und Norwegen und die Schweiz. Der preußische Handelsminister, Freiherr von Berlepsch, eröffnete die Sitzung mit einer Ansprache, in der er zunächst im Namen des Kaisers „der hohen Befriedigung“ Ausdruck gab, „daß diese hervorragende Versammlung sich zur Beratung über die wichtigen, die europäischen Industriestaaten in diesem Augenblick beschäftigenden Fragen in der Residenz vereinigt habe“. Er dankte der Schweiz, daß sie im Interesse der deutschen Initiative zurückgetreten sei.

„Nach Ansicht der Kaisers“, so führte er weiter aus, „verlangt die Arbeiterfrage die Aufmerksamkeit aller zivilisierten Nationen, seitdem der Friede der verschiedenen Bevölkerungsklassen durch den Wettbewerb der Industrie bedroht erscheint. Nach einer Lösung dieser Fragen zu suchen, ist nunmehr nicht bloß eine Pflicht der Menschenliebe, sondern auch der staatserhaltenden Weisheit, welcher es obliegt, für das Wohl aller Bürger zu sorgen und gleichzeitig das unschätzbare Gut einer Jahrhunderte alten Zivilisation zu erhalten. Alle europäischen Staaten befinden sich angesichts dieser Aufgabe in derselben [826] oder in ähnlicher Lage; diese Gleichartigkeit allein rechtfertigt den Versuch, unter den Regierungen eine Verständigung herbeizuführen, um den gemeinsamen Gefahren durch vorbeugende Maßnahmen gemeinsam zu begegnen.“

Ungefähr 14 Tage nahmen die Beratungen in Anspruch. Sie wurden mit Ernst und Eifer geführt. Mit wenig Hoffnungen waren, wie der dänische Vertreter Tietgen am Schluß in seinen Dankesworten für den Vorsitzenden, Freiherrn von Berlepsch, bekannte, die fremden Delegierten hergekommen, aber sie hatten „den Glauben an das Wirken der Konferenz gefunden, sobald dieselbe begonnen hatte“. Insbesondere hätte „die glühende Hoffnung und Liebe des Vorsitzenden sich bald auf alle Teilnehmer übertragen“. Und wenn von Berlepsch in seiner Schlußrede vom 29. März die Frage: „Ob die angestrengte, gewissenhafte Arbeit“ der vierzehn Tage, „ob der Austausch der Meinungen, die freundschaftlichen Beziehungen“, die gewonnen seien, verloren seien oder ob sie dauernde Früchte tragen würden, nicht bestimmt zu bejahen wagte, da es sich nur um Gutachten und Wünsche handle, deren Erfüllung der Entscheidung der verschiedenen Regierungen obliege, so konstatierte er doch mit Recht, daß eine Grundlage gefunden sei, „auf welcher der Gedanke, der arbeitenden Klasse in den industriellen Staaten Europas einen erhöhten Schutz, eine größere Sicherheit ihrer materiellen, physischen, moralischen und intellektuellen Kräfte zu gewähren, fortleben und weiter ausgestaltet werden kann“. Besonders erfreulich und bedeutungsvoll war es, daß gerade der Vertreter Englands, das die Einladung nur unter Vorbehalt (daß „eine Politik der direkten gesetzgeberischen Beschränkung der Freiheit erwachsener Arbeiter, solange zuarbeiten, wie es ihnen behage“, nicht in Frage kommen dürfe) angenommen hatte, dem Kaiser für die Berufung der Konferenz besonders dankte, „deren Ergebnisse außerordentlich erfreuliche seien“. Die Konferenz, so schloß er, werde hoffentlich nicht die letzte sein, und wenn Millionen von Kindern dem Elend entzogen, und ebenso viele Frauen dem häuslichen Leben wiedergegeben sein würden, so werde man sich mit Dankbarkeit der Initiative des Kaisers erinnern.

Erfolge der Konferenz.

Die Berufung der internationalen Arbeiterschutzkonferenz war von glänzendem Erfolg gekrönt. Die hochideale großzügige Initiative des jungen Kaisers wurde von allen Edelgesinnten im In- und Auslande mit Jubel aufgenommen. Was der Schweiz versagt blieb: alle Regierungen Europas folgten vertrauensvoll dem Rufe des jungen Herrschers zur Beratung der ernsten Fragen und Sorgen, die die ganze Kulturwelt bewegten. Mit Begeisterung schauten die Deutschen auf ihren Kaiser, der im Rat der Völker auf diesem Gebiet so glanzvoll die Führung übernommen. Mit stolzer Freude horchten sie den Stimmen begeisterter Bewunderung und Sympathie, welche in den Reden und privaten Äußerungen der Konferenzteilnehmer, in der Presse des gesamten In- und Auslandes zum Ausdruck kamen. Besonders vermerkt wurden die geistreichen Artikel des französischen Delegierten Jules Simon in der französischen Presse, welche getragen waren von der größten Bewunderung für die Person des Kaisers und sein Werk. Es waren glanzvolle Tage für den Kaiser, für das ganze Land. Und was ihnen die besondere Bedeutung gab: Es galt den Ideen sozialer Gerechtigkeit und brüderlicher Liebe für die [827] Millionen derjenigen, die vor allem unter der drückenden Sorge und Härte des Lebens seufzen. Es galt der befreienden Erhebung des neu erstehenden und aufstrebenden Standes der Industriearbeiter zur gleichberechtigten und gleichwertigen Eingliederung in den gesellschaftlichen Organismus. Es war ein Werk des Friedens und der Ausgleichung in der Zusammenarbeit aller Kulturstaaten zu hohen gemeinsamen Zielen und zur Festigung der gesellschaftlichen Ordnung.

Das unmittelbar praktische Resultat war die gemeinsame Verständigung über eine Reihe von Grundsätzen und Zielen, die für die Ausgestaltung des Arbeiterschutzes als maßgebend anerkannt wurden.

Den Konferenzberatungen war von der deutschen Regierung ein ausgearbeitetes Programm zugrunde gelegt. Die Beschlüsse der Konferenz stellen sich dementsprechend als Antworten auf die Fragen des Programms dar. Sie kleideten sich in die Form von „Wünschen“, die die Delegierten ihren Regierungen zu unterbreiten sich anheischig machten. So wurde für die Arbeit in Bergwerken u. a. als „wünschenswert“ bezeichnet, daß Kinder unter 14 Jahren – in südlichen Ländern unter 12 Jahren – und Frauen überhaupt nicht unter Tage beschäftigt werden. Hinsichtlich der Sonntagsarbeit sprach man sich dahin aus, daß allen geschützten Personen und allen Industriearbeitern wöchentlich ein Ruhetag, vorbehaltlich gewisser Ausnahmen, und zwar möglichst der Sonntag, gewährt werde. Für die Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben wurde bestimmt, daß die Altersgrenze auf 12, in südlichen Ländern auf 10 Jahre festgesetzt werde, daß diese Grenze allgemein gelten solle; Kinder unter 14 Jahren dürften weder nachts noch Sonntags arbeiten, an den Wochentagen nicht länger als 6 Stunden täglich. Von ungesunden und gefährlichen Betrieben sollten sie ganz ausgeschlossen werden; auch sollten sie vor Eintritt in die gewerbliche Arbeit den Vorschriften über den Elementarunterricht genügt haben. Die jugendlichen Arbeiter beiderlei Geschlechts von 14–16 Jahren dürften weder nachts noch Sonntags arbeiten, ihre effektive Arbeit solle 10 Stunden nicht überschreiten. Den jungen männlichen Arbeitern von 16–18 Jahren müsse Schutz gewährt werden in Betreff eines Maximalarbeitstages, der Nachtarbeit, der Sonntagsarbeit in besonders ungesunden und gefährlichen Betrieben. Die Regelung der Frauenarbeit solle dahin gehen, daß die Nachtarbeit allgemein verboten und daß eine effektive Arbeitszeit von höchstens 11 Stunden eingeführt werde. (Vgl. Dr. Franke, Der internationale Arbeiterschutz, Dresden 1903.)

Mit dem glänzenden Verlauf der Konferenz waren mit einem Male die Bestrebungen des Arbeiterschutzes in allen Staaten Europas und darüber hinaus in den Vordergrund des öffentlichen Interesses gerückt. Sie hatten ihre öffentliche feierliche Sanktion erhalten. Keine Staatsregierung, keine Parteirichtung konnte sich der Pflicht entziehen, ihnen Teilnahme und praktische Unterstützung zu leihen. Tatsächlich begann denn auch in ganz Europa eine neue Periode produktiver legislatorischer Arbeit zur Durchführung der als berechtigt anerkannten Forderungen sozialer Gerechtigkeit. So z. B. in England das Gesetz von 1891, in Frankreich ein solches von 1892, in Holland von 1895, in Belgien eingehende Königliche Verordnungen (Arrêtés royaux) von 1892 usw. Wenn diese Gesetze und Verordnungen auch je nach dem Grade der industriellen Entwicklung, je nach dem Stande der Kultur und der politischen Ideale und Auffassungen naturgemäß sich sehr verschieden gestalten mußten, so bedeuteten sie doch alle einen bedeutsamen Schritt vorwärts zu dem Ziel, das in der Konferenz glänzend und leuchtend vor aller Welt aufgestellt war.

Weitere Wirkungen.

Die Initiative des jungen Kaisers wirkte aber über das engere Gebiet der Gesetzgebung weit hinaus. Er war tief davon durchdrungen und gab dem auch feierlich Ausdruck, daß die staatlichen Maßnahmen allein nicht genügten, daß vielmehr „der freien Liebestätigkeit, der Kirche und Schule ein weites Feld segensreicher [828] Entfaltung verbleibe, durch welche die gesetzlichen Anordnungen unterstützt und befruchtet werden müßten, um zur vollen Wirksamkeit zu gelangen.“ (Rede im Staatsrat.) Er appellierte an „die verständnisvolle und freudige Mitarbeit aller Kreise der Bevölkerung, insbesondere der Arbeiter, um deren Wohlfahrt es sich handle, und der Arbeitgeber, welche bereit sind, die für sie erwachsenden Opfer zu bringen“. (Rede bei der Ausstellung für Unfallverhütung in Berlin 1889.) Alle, welche ihm in seiner vornehmsten Sorge um das Wohl der arbeitenden Klasse behilflich sein wollen, sind „ihm von Herzen willkommen, wer sie auch seien“. (Beim Festmahl des Brandenburger Provinziallandtages 1890.) So wurden alle, die zu Kaiser und Reich hielten, zur sozialen Mitbetätigung in der Richtung der edlen Ziele der Februar-Erlasse aufgerufen. Der Kaiser wie die Kaiserin nahmen auch persönlich freudigen Anteil an allen Bestrebungen zur Hebung der arbeitenden Klassen: Unfallverhütung, Wohnungsfürsorge, Bekämpfung der Tuberkulose, der Säuglingssterblichkeit usw. Eine besondere Ordensauszeichnung, „Kaiser Wilhelm-Orden“, sollte der Anerkennung hervorragender sozialer Verdienste dienen. Alle, welche sich in den Dienst der sozialen Ideen stellten, durften wohlwollender Unterstützung sicher sein. Ein neuer sozialer Geist zog ein in die öffentlichen Verwaltungen. Die ganze öffentliche Meinung wurde mit sozialem Öl durchtränkt. Es ging ein Frühlingswehen durchs Land, und eine Fülle schöpferischer Anregungen, die der kalte Winter eines kurzsichtigen Egoismus und bureaukratischer Engherzigkeit im Banne gehalten hatte, sprießten empor und reiften zu reicher Frucht. Alle Faktoren des öffentlichen Lebens wurden mit fortgerissen von diesem neuen Geiste: Staat und Gemeinde, Schule und Kirche, Wissenschaft und Presse, Arbeitgeber und ihre Organisationen wie Arbeiter. So war es nicht Zufall, daß mit der Entwicklung der Gesetzgebung insbesondere auch die Bestrebungen der freien sozialen Wohlfahrtspflege und idealerer Auffassungen und neuer Gestaltung der Armenpflege gleichen Schritt hielt. (Vgl. Soziale Kultur und Volkswohlfahrt während der ersten 25 Regierungsjahre Kaiser Wilhelms II. Berlin, Stilke 1913.) Und nicht bloß in Deutschland, sondern weit über unsere deutsche Grenze hinaus, in der ganzen modernen Kulturwelt wurden die Ideen der Februar-Erlasse lebendig und fruchtbar.

Mit besonderem Dank wurde es von den deutschen Katholiken empfunden, daß der Kaiser sich in einem persönlichen Schreiben an den hl. Vater wandte und den Fürstbischof Dr. Kopp (Breslau) als Delegierten zur Teilnahme an den Beratungen bestimmte. Papst Leo XIII., der schon in einer Ansprache an einen Pilgerzug französischer Arbeiter am 20. Oktober 1889 sich warm für die Forderungen des Arbeiterschutzes ausgesprochen hatte, dankte in einem eingehenden Schreiben, worin er die freudige Unterstützung der Bestrebungen durch die moralische Einwirkung der katholischen Kirche und des Klerus in Aussicht stellte. In diesem Sinne richtete dann der hl. Vater unterm 20. April ein Schreiben an den Herrn Erzbischof Krementz (Köln) als Vorsitzenden der jährlichen Bischofskonferenz in Fulda. Die deutschen Bischöfe nahmen daraus Veranlassung, in einem besonderen ausführlichen Hirtenbrief vom 23. August ihre Auffassung und Stellung zur Arbeiterfrage darzulegen und Klerus und Volk zu nachdrücklicher Mitarbeit zu ermahnen. Im September 1890 tagte in Lüttich unter dem Vorsitz des Bischofs Doutreloux eine katholische internationale Arbeiterschutzkonferenz, an der zehn Bischöfe (darunter aus Deutschland Bischof Korum-Trier und Weihbischof Fischer-Köln) teilnahmen, deren Beschlüsse über die der Berliner Arbeiterschutzkonferenz weit hinausgingen. Am 15. Mai 1891 folgte dann die grundlegende Enzyklika Leos XIII. über die Arbeiterfrage, welche die letzten, speziell bei den Katholiken Frankreichs und Belgiens noch bestehenden Bedenken gegen eine staatliche Intervention beseitigte und damit der deutschen Auffassung wirkungsvoll die Wege geebnet hat.

[829] Die internationale Arbeiterschutzkonferenz hat zunächst eine Wiederholung in der damaligen Form – als offizielle Vertretung der verschiedenen Staaten – nicht gefunden. Sie hatte als solche zunächst auch ihren Zweck erfüllt. Dagegen fand sie ihre Fortsetzung in freien Konferenzen derjenigen Kreise, die sich für die Bestrebungen des Arbeiterschutzes besonders interessierten und sich bald zum Zwecke einer wirksameren Propaganda in den einzelnen Ländern zusammenschlossen. So tagte 1897 eine solche Konferenz in Zürich und in Brüssel. Auf letzterer wurde die Bildung einer dauernden „Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz“ in Aussicht genommen und ein provisorisches Komitee unter Vorsitz des früheren Handelsministers Freiherrn von Berlepsch gebildet. Auf der folgenden Konferenz in Paris (1900), unter dem Vorsitz des früheren französischen Ministers Millerand, trat dann diese Vereinigung ins Leben. Sie erhielt 1901 eine festere Gestaltung durch die Errichtung eines internationalen Arbeitsamtes (unter Leitung des Professor Dr. Bauer) in Basel, mit der Aufgabe, das Material betreffend die Arbeiterschutzgesetzgebung in den einzelnen Ländern zu sammeln und periodisch zu veröffentlichen und die regelmäßigen Kongresse vorzubereiten. In den einzelnen Ländern wurden Landessektionen gegründet, resp. bereits bestehende Vereine (z. B. die in Deutschland schon vom Freiherrn von Berlepsch gegründete „Gesellschaft für soziale Reform“) als solche errichtet. In erster Linie wurden Untersuchungen über „Gesundheitsgefährliche Industrien“, insbesondere die Zündhölzchenindustrie und die Erzeugung und Verwendung von Bleifarben, angestellt. (Herausgegeben vom Direktor Dr. Bauer, Basel 1903.) Dann folgten Berichte über die „gewerbliche Nachtarbeit der Frauen“ (1904); ferner „die Bekämpfung der Bleigefahr in der Industrie“ (von Gewerberat Dr. Leymann, 1908) und „Bekämpfung der Bleigefahr in Bleihütten“ (von Dr.-Ing. Rich. Müller, 1908). Im Jahre 1912 erschien: „Liste der gewerblichen Gifte und anderer gesundheitsschädlicher Stoffe, die in der Industrie Verwendung finden“ (von Professor Dr. Sommerfeld und Gewerberat Dr. R. Fischer). Außerdem sind die Arbeitsverhältnisse in der Großeisenindustrie eingehender Erörterung unterstellt. Das „Bulletin des internationalen Arbeitsamtes“ (bis heute 12 Bände, monatlich erscheinend) unterrichtet sorgsam und eingehend über die Fortschritte der Arbeiterschutzbestrebungen in allen Ländern. Im allgemeinen tagen die Konferenzen alle zwei Jahre: 1902 in Köln, 1904 in Basel, 1906 in Genf, 1908 in Luzern, 1912 in Lugano. Besonders erfreulich war, daß auch die Regierungen, in stetig steigendem Maße, Vertreter zur Teilnahme an den Beratungen entsendeten, die diese mit ihrem sachkundigen Rat wirksam förderten, wenn auch nur als private Teilnehmer. Noch erfreulicher war es, daß 1905 auf Einladung der Schweiz eine Reihe von Staaten offiziell in der Konferenz zu Bern sich zusammenfanden, deren Beratungen zu einem gemeinsamen Abkommen vom 26. September 1906 führten mit dem Ziele: 1. Verbot der Nachtarbeit weiblicher Personen in allen gewerblichen Betrieben mit 10 oder mehr Arbeitern und Bemessung dieser Ruhezeit auf mindestens 11 Stunden; 2. Verbot der Verwendung von weißem Phosphor in der Zündhölzchenindustrie (in Deutschland schon 1903 eingeführt). Der ersteren wichtigen Vereinbarung haben sich fast alle maßgebenden Staaten: Deutschland, Österreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, Spanien, Frankreich, England, Italien, Luxemburg, Holland, Portugal, Schweden und Norwegen und die Schweiz angeschlossen. Diese Vereinbarung beweist, daß bei gutem Willen auch direkte Verständigung und gegenseitige Verpflichtung auf bestimmte Minimalforderungen des Arbeiterschutzes recht wohl möglich sind. Auf Grund dieser günstigen Erfahrungen hat die Schweiz zum 15. September 1913 eine neue Konferenz berufen. Diese hat sich auf folgende Ziele geeinigt: 1. Verbot der Nachtarbeit für Kinder absolut, für junge Leute (bis zum 16. Lebensjahre) mit Ausnahmen; 2. Beschränkung der Arbeitszeit für junge Leute und für Arbeiterinnen (ohne Beschränkung des Lebensalters) auf höchstem zehn Stunden täglich resp. 60 Stunden wöchentlich. Die Nachtruhe soll mindestens elf Stunden betragen. Die Schweiz ist beauftragt, für 1914 die Konferenzstaaten zum Abschluß einer betreffenden Konvention zu berufen. – Außerdem hat die internationale Vereinigung für den gesetzlichen Arbeiterschutz die Einsetzung einer internationalen Kommission zur Beratung von Grundsätzen für eine periodische Berichterstattung über die Durchführung der Arbeiterschutzgesetze angeregt, die ebenfalls vom Schweizer Bundesrat für den 11. September nach Bern einberufen ist. – In der Linie internationaler Verständigung liegt auch die Arbeiterschutz-Konvention, welche zwischen Frankreich und Italien (d. d. 16.4.1904) abgeschlossen worden ist (Reichsarbeitsblatt 1904).

So hat sich der Gedanke internationaler Verständigung als lebensfähig und fruchtbar bewährt. Er hat seine Werbekraft auch auf das Gebiet der Arbeiterversicherung ausgedehnt. Der hochverdiente erste Präsident des Reichsversicherungsamtes, Dr. Boediker, kann mit Recht als der Schöpfer der internationalen Arbeiterversicherungskongresse bezeichnet werden, auf denen er mit großem Erfolg die Grundgedanken der deutschen Arbeiterversicherung zur Anerkennung gebracht hat. Der erste Kongreß fand 1889 in Paris statt, dem [830] dann ähnliche Kongresse in Bern (1891), Mailand (1894), Brüssel (1897), Paris (1900), Düsseldorf (1902), Rom (1908), Düsseldorf (1912) folgten. – Eine internationale Konferenz der Regierungen hat noch nicht stattgefunden, wohl aber haben einzelne Staaten Verträge geschlossen, um ihren Staatsangehörigen auch bei Aufenthalt in anderen Staaten die Vorteile der dortigen Arbeiterversicherung unter Verpflichtung der Gegenseitigkeit zu sichern. Solche Verträge bestehen zwischen Deutschland und Italien (3. 7. 12), Deutschland und Belgien, Deutschland und Österreich usw.

Die Arbeiterschutzvorlage von 1890 – Verzicht auf das Sozialistengesetz.

Thronrede 1890.

Die Beratungen im Staatsrat und in der internationalen Arbeiterschutzkonferenz fanden bald ihren Niederschlag in einem umfassenden Gesetzentwurf zur Abänderung und Ergänzung der Gewerbeordnung – Arbeiterschutznovelle – vom 6. Mai 1890 und in einem Entwurf, betreffend die Errichtung von Gewerbegerichten vom 9. Mai. Der Kaiser selbst gab ihnen in der Thronrede zur Eröffnung des Reichstages am 6. Mai 1890 sein besonderes Geleitwort. Einen Teil der bedeutsamen Fragen, die der neue Reichstag einer befriedigenden Lösung entgegenführen sollte, erklärte er als so dringlicher Natur, daß es nicht tunlich erschienen sei, die Einberufung des Reichstages länger hinauszuschieben. Dahin rechnete er vornehmlich den weiteren Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung. Die Thronrede fährt dann fort (S. 107–109):

„Die im Laufe des verflossenen Jahres in einigen Landesteilen vorgekommenen Ausstandsbewegungen haben Mir Anlaß gegeben, eine Prüfung der Frage herbeizuführen, ob unsere Gesetzgebung den innerhalb der staatlichen Ordnung berechtigten und erfüllbaren Wünschen der arbeitenden Bevölkerung in ausreichendem Maße Rechnung trägt. Es handelte sich dabei in erster Linie um die den Arbeitern zu gewährleistende Sonntagsruhe, sowie um die durch Rücksichten der Menschlichkeit und im Hinblick auf die natürlichen Entwicklungsgesetze gebotene Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit. Die verbündeten Regierungen haben sich überzeugt, daß die von dem letzten Reichstage in dieser Beziehung gemachten Vorschläge ihrem wesentlichen Inhalte nach ohne Nachteil für andere Interessen zu gesetzlicher Geltung gebracht werden können. Im Zusammenhange damit hat sich aber noch eine Reihe weiterer Bestimmungen als der Verbesserung bedürftig und fähig erwiesen. Hierhin gehören insbesondere die gesetzlichen Anordnungen zum Schutze der Arbeiter gegen Gefahren für Leben, Gesundheit und Sittlichkeit, sowie über den Erlaß von Arbeitsordnungen. Auch die Vorschriften über die Arbeitsbücher bedürfen einer Ergänzung zu dem Zwecke, um das elterliche Ansehen gegenüber der zunehmenden Zuchtlosigkeit jugendlicher Arbeiter zu stärken. Die hiernach erforderliche Umgestaltung und weitere Ausbildung der Gewerbeordnung findet ihren Ausdruck in einer Vorlage, welche Ihnen unverzüglich zugehen wird.
„Eine weitere Vorlage erstrebt die bessere Regelung der gewerblichen Schiedsgerichte und zugleich eine Organisation derselben, die es ermöglicht, diese Gerichte bei Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitern über die Bedingungen der Fortsetzung oder Wiederaufnahme des Arbeitsverhältnisses als Einigungsämter anzurufen.

[831]

„Ich vertraue auf Ihre bereitwillige Mitwirkung, um über die Ihnen vorgeschlagene Reform eine Übereinstimmung der gesetzgebenden Körperschaften und damit einen bedeutsamen Fortschritt in der friedlichen Entwicklung unserer Arbeiterverhältnisse herbeizuführen. Je mehr die arbeitende Bevölkerung den gewissenhaften Ernst erkennt, mit welchem das Reich ihre Lage befriedigend zu gestalten bestrebt ist, desto mehr wird sie sich der Gefahren bewußt werden, die ihr aus der Geltendmachung maßloser und unerfüllbarer Anforderungen erwachsen müssen. In der gerechten Fürsorge für die Arbeiter liegt die wirksamste Stärkung der Kräfte, welche wie Ich und Meine hohen Verbündeten berufen und willens sind, jedem Versuche, an der Rechtsordnung gewaltsam zu rütteln, mit unbeugsamer Entschlossenheit entgegenzutreten.
„Immerhin kann es sich bei dieser Reform nur um solche Maßnahmen handeln, welche ohne Gefährdung der vaterländischen Gewerbtätigkeit und damit der wichtigsten Lebensinteressen der Arbeiter selbst ausführbar sind. Unsere Industrie bildet nur ein Glied in der wirtschaftlichen Arbeit derjenigen Völker, welche an dem Wettbewerb auf dem Weltmarkte teilnehmen. Mit Rücksicht hierauf habe Ich es Mir angelegen sein lassen, unter den in gleichartiger Wirtschaftslage befindlichen Staaten Europas einen Austausch der Meinungen darüber herbeizuführen, bis zu welchem Maße sich eine gemeinsame Anerkennung der gesetzgeberischen Aufgaben bezüglich des Arbeiterschutzes feststellen und durchführen läßt. Es verpflichtet Mich zu dankbarer Anerkennung, daß diese Anregung bei allen beteiligten Staaten und besonders auch dort eine gute Stätte gefunden hat, wo der gleiche Gedanke bereits angeregt und seiner Ausführung nahe gebracht war. Der Verlauf der hier versammelt gewesenen internationalen Konferenz erfüllt Mich mit besonderer Befriedigung. Ihre Beschlüsse bilden den Ausdruck gemeinsamer Anschauungen über das wichtigste Gebiet der Kulturarbeit unserer Zeit. Die darin niedergelegten Grundsätze werden, wie Ich nicht zweifle, fortwirken als eine Aussaat, die mit Gottes Hilfe zum Segen der Arbeiter aller Länder aufgehen und auch für die Beziehungen aller Völker untereinander nicht ohne einigende Frucht bleiben wird."

Der Reichstag.

Die vieljährige mühsame Vorarbeit des Reichstages, die immer wieder den lebhaften Unmut und Widerspruch des Fürsten Bismarck erregt hatte, fand hiermit die ausdrückliche Anerkennung der Krone. Bezüglich der wichtigsten Teile: Schutz der Sonntagsruhe, Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit, deckten sich die Vorlagen wesentlich mit den Beschlüssen des Reichstages. Ebenso hatte ein Gesetzentwurf, betreffend die Gewerbegerichte, schon 1878 den Reichstag beschäftigt und war nur an der Frage der Bestätigung des Vorsitzenden gescheitert. Wiederholt aber hatte jener auf Wiedereinbringung der Vorlage gedrängt. Der diesbezügliche neue Gesetzentwurf wurde dann auch nach eingehender Kommissionsberatung (Vorsitzender: Oberbürgermeister Miquel, Berichterstatter: Rechtsanwalt Dr. Carl Bachem) bald – am 28. Juni – im Reichstag erledigt.

Der Arbeiterschutz-Gesetzentwurf erforderte naturgemäß ausgedehntere Beratungen im Plenum und in der Kommission. Die Kommissionsberatungen (Vorsitzender: [832] Graf Ballestrem, Berichterstatter: Generalsekretär Hitze) dehnten sich, durch die Herbstferien unterbrochen, bis in den folgenden Winter aus. Die 2. und 3. Lesung forderte noch 28 Sitzungen (bis zum 6. Mai). Am 1. Juni 1891 wurde das Gesetz publiziert.

Die Vertretung des Gesetzentwurfs fiel vor allem dem preußischen Handelsminister Freiherrn von Berlepsch zu, der sich dieser Aufgabe unter Einsetzung seiner ganzen Person mit einer großen Sachkunde und glänzender Beredsamkeit widmete, während Staatssekretär von Bötticher sich zurückhielt. Wirksamste Unterstützung fand von Berlepsch durch seine Räte: Ministerialdirektor Dr. Lohmann, der schon seit Jahrzehnten persönlich ein warmer Freund des Arbeiterschutzes war, Dr. Koenigs, der schon als Assessor und Regierungsrat in Düsseldorf seit einem Jahrzehnt mit großem Erfolg neue soziale Wege gebahnt hatte, Dr. Wilhelmi usw.

Politik des Vertrauens.

Der Gesetzentwurf war leider mit einer Reihe von Bestimmungen belastet worden, die nicht mit Unrecht als „Arbeitertrutz“-Bestimmungen charakterisiert wurden. Sie bezweckten die Verschärfung und Ausdehnung der Strafbestimmungen gegen den Mißbrauch des Koalitionsrechts (GO. §. 152), während des Schutzes des Koalitionsrechtes ganz vergessen war. Der Reichstag lehnte sie mit großer Mehrheit ab, und erfreulicherweise wurde der Entwurf auch ohne diese Bestimmungen von den verbündeten Regierungen glatt angenommen. Dieser Geist großzügiger vertrauender Politik kam noch mehr darin zum Ausdruck, daß von einer Erneuerung des Sozialistengesetzes – wenn auch in noch so abgeschwächter Form – ganz abgesehen wurde.

Der Unterdrückungspolitik stellte der Kaiser die Politik des Vertrauens und der Versöhnung gegenüber. Erst sollte der ernste Versuch gemacht werden, durch eine umfassende systematische Sozialreform die arbeitenden Klassen zu gewinnen und mit der bestehenden Gesellschaftsordnung auszusöhnen, um erst dann, wenn dieser Weg versage und trotz allem es zu Gewalttätigkeit und Aufstand komme, zum Schwert zu greifen. Darin lag der große, edle Zug der kaiserlichen Sozialpolitik. „Ob wir nun Dank oder Undank für unsere Bestrebungen für die Aufbesserung des Loses der arbeitenden Klassen ernten“ – so hatte er Herrn von Eynern gegenüber erklärt, – „in diesen Bestrebungen werden wir nicht erlahmen. Ich habe die Überzeugung, daß diese staatliche Fürsorge uns zu dem Ziele führen wird, die arbeitenden Klassen mit ihrer Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung zu versöhnen. Jedenfalls geben mir diese Bestrebungen für alles, was wir tun, ein ruhiges Gewissen.“ (Wippermann, Geschichtskalender 1890, II, S. 112.) Das waren Worte, eines Hohenzollern würdig! Erst der Appell an die Herzen, und wenn dieser versagt, der Appell an das Schwert!

Durchführung und weiterer Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung.

Durchführung des Arbeiterschutzes.

Die Durchführung der Arbeiterschutz-Novelle vollzog sich glatt. Die Befürchtungen bezüglich unserer industriellen Entwicklung haben sich absolut nicht erfüllt. Trotzdem die anderen Staaten erst später und durchaus nicht gleichmäßig uns folgten, hat Deutschland [833] sich in der Konkurrenz auf dem Weltmarkte glänzend behauptet. Die Arbeitgeber haben sich auch bald damit abgefunden. Nur im Handelsgewerbe machten sich wegen der Neuheit solcher Eingriffe lebhaftere Widerstände geltend. Die Arbeiter haben den Segen des Gesetzes dankbar empfunden.

So setzten sich auch hier bald die Bestrebungen auf Ausdehnung der gesetzlichen Bestimmungen, auf Verschärfung ihres Inhalts – ebenso wie auf dem Gebiet der Arbeiterversicherung – mit Erfolg durch. Im Jahre 1892 wurde die „Kommission für Arbeiterstatistik“ (seit 1902 als „Beirat für Arbeiterstatistik“ dem Kaiserlichen Statistischen Amt angegliedert), zusammengesetzt aus einer gleichen Anzahl von Vertretern des Bundesrates und des Reichstages, gebildet insbesondere auch zu dem Zweck, durch Erhebungen den Erlaß von Bundesratsverordnungen zur Regelung der Arbeitszeit („Sanitärer Maximal - Arbeitstag“) auf Grund des Arbeiterschutzgesetzes (§ 120 e) wirksam vorzubereiten.

Handlungsgehilfenschutz.

Für das Handelsgewerbe hatte die Arbeitsschutz-Novelle von 1891 nur die Sonntagsruhe geregelt. Eingehende Erhebungen der Kommission für Arbeiterstatistik hatten aber ergeben, daß namentlich in den offenen Verkaufsgeschäften in weitem Maße eine Überanspannung der Gehilfen und Lehrlinge herrschte.

Es stellte sich die Ladenzeit in mehr als 50% der Ladengeschäfte auf täglich 14 Stunden und mehr. Die Arbeitszeit deckte sich im Durchschnitt mit dieser Ladenzeit, dehnte sich aber namentlich für die Lehrlinge (durch Aufräumungsarbeiten usw.) oft weiter aus, so daß von diesen ca. 40% mehr als 15 Stunden arbeiten mußten. In Tabak- und Zigarrengeschäften, in den Nahrungsmittel-, Kolonial- und Materialwarengeschäften erhöhte sich die Ladenzeit in 64% auf mehr als 15 Stunden.

Diesen Mißständen wurde durch die Gewerbeordnungs-Novelle vom 30. Juni 1900 gesteuert.

Kinderschutzgesetz.

Eine prinzipiell wie praktisch gleich bedeutsamer Schritt war das Gesetz betreffend die Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben vom 30. März 1903. Die prinzipielle Bedeutung lag darin, daß die Gesetzgebung hier zum ersten Male die Schranke der Familie, die bisher immer sorgsam gewahrt worden war (GO. § 154), überschritt und auch der elterlichen Gewalt in Beschäftigung der Kinder Grenzen setzte. Die praktische Bedeutung findet ihre beste Beleuchtung in den erschreckenden Resultaten, welche die Erhebungen über die gewerbliche Kinderarbeit (außerhalb der Fabriken) ergeben hatten, (siehe Vierteljahrshefte zur Statistik des Reiches 1900, Heft 3.)

Wiewohl die Untersuchung nicht alle Gebiete des Reiches und nicht alle Zweige der gewerblichen Tätigkeit umfaßte, wurden doch 532 283 gewerblich beschäftigte Kinder in noch nicht oder noch schulpflichtigem Alter ermittelt; davon mehr als die Hälfte: 306 823 in der Industrie; nahezu ein Drittel: 171 739 als Austräger, Laufburschen usw., in Gast- und Schankwirtschaften 21 620; im Handelsgewerbe 17 623. Bezüglich der Dauer der Arbeitszeit ergab sich, daß in Preußen 110 682, d. i. mehr als 41% der sämtlichen Kinder, mehr als drei Stunden täglich beschäftigt wurden, davon 55 933 sechsmal, 7621 siebenmal in der Woche, also auch Sonntags. Dabei wurde vielfach von Arbeitszeiten bis zu zehn Stunden täglich berichtet. Neben den Kindern die in früher Morgenstunde und spät Abends mit Botengängen tätig sein mußten, wurden andere mit langdauernder Nachtarbeit getroffen.

[834] Von den 306 823 industriell beschäftigten Kindern waren fast 83% in solchen Gewerbszweigen tätig, in denen die Hausindustrie und damit die Beschäftigung eigner Kinder besonders stark vertreten ist. Alle Erfahrungen früherer und neuester Zeit bestätigen aber, daß hier gerade die Mißstände am schlimmsten sind.

Hausarbeiterschutz.

Der Weg, der im Kinderschutzgesetz begonnen wurde, fand seine Fortsetzung in dem Hausarbeiter - Schutzgesetz vom 20. Dezember 1911. Es war die Frucht der Heimarbeiter - Ausstellungen in den Jahren 1904 und 1906, zunächst in Berlin, dann in Frankfurt a. M. und anderen Städten. Sie enthüllten das ganze Elend in der Hausindustrie, insbesondere bezüglich Arbeitszeit und Löhne, und verfehlten nicht eines tiefen Eindruckes in weitesten Kreisen. Auch die deutsche Kaiserin zeichnete die Ausstellung durch ihren hohen Besuch aus und schenkte derselben ihre besondere huldvolle Teilnahme. Im Reichstage fanden sich alle großen bürgerlichen Parteien zu einem gemeinsamen Antrage an die verbündeten Regierungen zusammen, in dem die Grundlinien einer gesetzlichen Regelung niedergelegt waren. Es galt, die Schutzbestimmungen, welche für die Beschäftigung in Fabriken und Werkstätten erlassen waren, in entsprechender Weise auch auf die Personen auszudehnen, welche allein oder ausschließlich im Familienkreis (ohne daß ein Arbeitsvertrag vorliegt) für ein Geschäft arbeiten. So sehr das Bedürfnis schon immer anerkannt war, so groß erschienen die Schwierigkeiten. Neben den prinzipiellen Bedenken eines Eindringens in die Familienverhältnisse hatten vor allem die Schwierigkeiten einer wirksamen Kontrolle der Durchführung zurückgeschreckt. So beschränkt sich denn auch das Gesetz wesentlich darauf, den Behörden: Bundesrat, Landeszentralbehörden, Polizeibehörden, das Recht und die Pflicht zum Erlaß von Verordnungen zum Schutze der Gesundheit, der Sittlichkeit und einer gerechteren Gestaltung des Arbeitsvertrages (Sonntagsruhe, Beschränkung der Arbeitszeit, Verbot der Nachtarbeit, hygienische Einrichtung der Arbeitsstätte, Vorschriften bezüglich Aushang der Löhne, Lohnlisten, Abrechnung usw.) zuzuweisen, um so tunlichst eine Anpassung an die besonderen Verhältnisse und Bedürfnisse zu ermöglichen. Angesichts der kärglichen Löhne und des Mangels ausreichender gewerkschaftlicher Organisationen drängte sich vor allem eine Regelung der Lohnfrage – Festsetzung von Minimallöhnen – als dringlichstes Problem auf, aber in Hervorhebung der großen prinzipiellen Bedenken und praktischen Schwierigkeiten jeder staatlichen Lohnregulierung lehnten die verbündeten Regierungen jede Ermöglichung behördlicher rechtsverbindlicher Lohnfestsetzung ab. Nur insofern wurde den bezüglichen dringenden Wünschen entgegengekommen, daß die Bildung von „Fachausschüssen“ aus Arbeitgebern und Arbeitern unter einem obrigkeitlichen Vorsitzenden zur Förderung des Abschlusses von Lohntarifverträgen ermöglicht ist.

Erweiterung des Arbeiterschutzes 1908 u. 1911.

Der allgemeine Arbeiterschutz erfuhr eine erfreuliche Erweiterung durch die Gewerbeordnungs-Novelle vom 28. Dezember 1908. Zunächst wurde der Geltungsbereich der Bestimmungen zum Schutz der jugendlichen und weiblichen Arbeiter auf alle Betriebe mit zehn Arbeitern und mehr ausgedehnt. Dann wurde der Schutz der Arbeiterinnen durch Einführung des Zehnstundentages, [835] Ausdehnung des Wöchnerinnenschutzes (auf 8 Wochen) usw. wesentlich erweitert.

Eine weitere Novelle vom 27. Dezember 1911 regelte die Einführung von Lohnbüchern, erweiterte das Recht von Gemeinde und Staat auf Einführung der obligatorischen Fortbildungsschule (§ 120) und gab neben dem Bundesrat auch den Zentralbehörden und den zuständigen Polizeibehörden das Recht auf Durchführung des sanitären Maximalarbeitstages, sei es im Wege der Verordnung für eine Gruppe von Betrieben, sei es (seitens der Polizeibehörden auch) im Wege der Verfügung für einzelne Betriebe (§ 120 f).

Stand der deutschen Arbeiterschutzgesetzgebung 1888 und 1913.

Sonntagsruhe.

Vor Erlaß des Arbeiterschutzgesetzes von 1891 war reichsgesetzlich nur die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter (bis zum 16. Lebensjahre) an den Sonn- und den gesetzlichen Feiertagen verboten. Im übrigen bestimmte die Gewerbeordnung nur (§ 105), daß die Arbeitgeber die Arbeiter zur Arbeit an diesen Tagen nicht verpflichten könnten. Praktisch war diese Bestimmung ohne jede Bedeutung. Mehr Schutz boten die bestehenden Polizeiverordnungen und Landesgesetze zum Schutze der Sonntagsheiligung. Direkt bezweckten diese zwar nur den Schutz des öffentlichen Gottesdienstes gegen äußere Störungen, tatsächlich aber erstreckten sie sich in einer Reihe von Staaten auf den Schutz des ganzen Sonntags gegen Störung der Sonntagsfeier. Das Bild dieser landesgesetzlichen und -polizeilichen Verordnungen war aber ein sehr mannigfaltiges (s. Drucksachen des Reichstages 1885/86 Nr. 290) und meistens wenig ausreichend. Noch mannigfaltiger und ungenügender war die Durchführung in den verschiedenen Gebieten, namentlich in der Zulassung von Ausnahmen.

Nach den Erhebungen von 1885 kam, wie der „Generalbericht“ (Drucksache des Reichstages 1887) für eine Reihe von maßgebenden preußischen Regierungsbezirken feststellte, Sonntagsarbeit vor in:

Großindustrie in 49,4% der Betriebe für 29,8% der Arbeiter,
Handwerk in 47,1% der Betriebe für 41,8% der Arbeiter,
Handel und Verkehr in 77,6% der Betriebe für 57,8% der Arbeiter.

Es ergab sich so das überraschende Resultat, daß die Sonntagsarbeit im Handwerk noch mehr verbreitet war, soweit die Zahl der beschäftigten Personen in Betracht kommt, als in der Industrie.

Durch die Arbeiterschutz-Novelle von 1891 ist hier eine weitgehende Abhilfe geschaffen. Im Betriebe der Berg- und Hüttenwerke, Salinen, Aufbereitungsanstalten, Brüche und Gruben, der Fabriken, Werkstätten, Bauhöfen usw., Werfte, Ziegeleien sowie bei Bauten ist die Beschäftigung von Arbeitern an Sonn- und Festtagen verboten.

Die Dauer der Ruhe geht von Mitternacht zu Mitternacht und muß mindestens 24 Stunden (für 2 aufeinanderfolgende Sonn- und Festtage 36, für Weihnachts-, Oster- und Pfingstfest 48 Stunden) umfassen. In Betrieben mit Tag- und Nachtschicht kann die Ruhezeit frühestens um 6 Uhr abends des vorhergehenden Werktages, spätestens um 6 Uhr morgens des Sonn- und Festtages beginnen, jedoch muß für die auf den Beginn der Ruhezeit folgenden 24 Stunden der Betrieb (nicht bloß der einzelnen Arbeiter) ruhen (GO. § 105 b).

[836] Im Handelsgewerbe darf die Beschäftigung zusammen höchstens 5 Stunden betragen. Durch statutarische Bestimmung einer Gemeinde oder eines weiteren Kommunalverbandes kann diese Beschäftigung allgemein oder für bestimmte Gewerbezweige weiter beschränkt oder auch ganz untersagt werden.

Am ersten Weihnachts-, Oster- und Pfingsttage ruht die Beschäftigung ganz. Die Stunde der Ruhezeit bestimmt die Ortspolizeibehörde, wobei auf den Hauptgottesdienst Rücksicht zu nehmen ist.

Während im allgemeinen nur den Arbeitgebern untersagt ist, ihre Arbeiter, Gehilfen und Lehrlinge zu beschäftigen, ist im Handelsgewerbe dem Arbeitgeber auch die eigene Tätigkeit und der ganze Betrieb während der Ruhestunden der Gehilfen verboten (§ 41 a). Diese Beschränkung gebot sich aus Rücksichten der Konkurrenz, damit nicht die auf Gehilfen angewiesenen Geschäfte gegenüber den Geschäften, in welchen der Prinzipal mit seinen Familienangehörigen tätig ist, im Nachteil seien. – Auf Antrag von zwei Dritteln der beteiligten Arbeitgeber kann auch in solchen Gewerben, die der Befriedigung tagtäglicher Bedürfnisse dienen (z. B. Barbiere, Bäcker), die Ruhezeit für die Gehilfen auch auf die Arbeitgeber ausgedehnt werden (§ 41 b).

Die notwendigen Ausnahmen bezüglich der Sonntagsruhe sind genau umschrieben und so an Bedingungen geknüpft, daß auch da die Zwecke des Arbeiterschutzes noch tunlichst gesichert bleiben.

Arbeiten in Notfällen oder im öffentlichen Interesse, die unverzüglich vorgenommen werden müssen, die gesetzliche Inventur, die Bewachung der Betriebsanlage, Reinigungs- und Instandhaltungsarbeiten, soweit sie den regelmäßigen Fortgang oder die Wiederaufnahme des Betriebes am kommenden Werktag bedingen, Arbeiten zur Verhütung des Verderbens von Rohstoffen sind kraft Gesetzes ohne weiteres zulässig. Zur Kontrolle, daß nicht die Arbeiter mehr als notwendig in Anspruch genommen werden, ist ein Verzeichnis vorgeschrieben, in welches die Zahl der beschäftigten Arbeiter, die Dauer und Art der Beschäftigung eingetragen wird. Jedenfalls soll den Arbeitern, sobald die Arbeit 3 Stunden überschreitet, oder der Besuch des Gottesdienstes unmöglich gemacht wird, der zweite Sonntag (von morgens 6 Uhr bis abends 6 Uhr) oder der dritte Sonntag (mit 36 Stunden) freigegeben werden.

Für Betriebe, die ihrer Natur nach eine Unterbrechung nicht gestatten (Betriebe mit ununterbrochener Feuerung, z. B. Hochöfen) oder von chemischen Prozessen abhängen, sowie für Kampagne- und Saisonindustrien werden die notwendigen Ausnahmen durch den Bundesrat festgesetzt (§ 105 d). Diese Ausführungsverordnung ist sehr sorgfältig, umfaßt 8 Hauptgruppen mit ca. 80 Nummern und ist zugleich mit Erläuterungen versehen, um eine mißbräuchliche Ausdehnung abzuschneiden. Auch hier wird die Ruhe des zweiten oder dritten Sonntags gesichert.

Für Gewerbe, die der Befriedigung tagtäglicher oder zu Sonn- und Festtagen besonders hervortretender Bedürfnisse dienen (Bäcker, Barbiere, Metzger, Gasanstalten, Zeitungsdruckereien usw.), setzt die höhere Verwaltungsbehörde die Ausnahmen und die näheren Bedingungen fest (§ 105 e). In ähnlicher Weise sind Ausnahmen für die Betriebe getroffen, welche auf Benutzung von Wind und unregelmäßige Wasserkraft angewiesen sind (§ 105 e). Endlich kann in besonderen Fällen für einzelne Betriebe, wenn sich plötzlich Sonntagsarbeit zur Verhütung eines unverhältnismäßigen Schadens als notwendig erweist, die untere Verwaltungsbehörde solche erlauben. Diese Erlaubnis muß aber schriftlich gegeben und Abschrift in der Arbeitsstätte ausgehängt werden. Damit die untere Verwaltungsbehörde nicht zu leicht die Erlaubnis erteilt, wird sie verpflichtet, ein genaues Verzeichnis zu führen über Betriebe, Zahl der Arbeiter, Dauer, Gründe usw.

Auf Grund all dieser Kautelen darf heute die Sonntagsruhe als gesichertes Gut unserer deutschen Arbeiterschaft gelten.

Während vor 1892 gerade im Handelsgewerbe, besonders in offenen Verkaufsgeschäften, die Sonntagsarbeit in weitestem Maße Regel war und deshalb die Durchführung der Schutzbestimmungen am schwierigsten sich erwies, haben heute alle größeren Städte bereits von dem statutarischen Recht einer weiteren Herabsetzung der Verkaufszeit Gebrauch gemacht und ist auch bereits ein Gesetzentwurf zur weiteren Beschränkung der Arbeitszeit im Handelsgewerbe vorgelegt.

Schutz der Kinder und jungen Leute.

Kinder (unter 14 Jahren) durften nach der Gewerbeordnung von 1869 [837] vor dem vollendeten 12. Lebensjahre in Fabriken überhaupt nicht beschäftigt werden, nach dem 12. Lebensjahre nur dann, wenn ihnen, soweit schulpflichtig, mindestens ein regelmäßiger dreistündiger Schulunterricht gesichert war. Die Arbeitszeit war auf höchstens 6 Stunden täglich (mit einer halbstündigen Pause) beschränkt; die Nacht- (zwischen 8½ Uhr abends und 5½ Uhr morgens) und Sonntagsarbeit verboten. Außerdem mußte die Zeit zum Besuch des Beicht- und Kommunionsunterrichts resp. des Konfirmandenunterrichts freigegeben werden.

Dieselben Bestimmungen galten für „junge Leute“ (zwischen 14 und 16 Jahren), nur mit der Erweiterung, daß die Arbeitszeit für diese zehn Stunden täglich betragen durfte, mit einer mindestens einstündigen Mittagspause und je einer halbstündigen Pause am Vor- und Nachmittag.

Mit diesen Bestimmungen stand Deutschland in der ersten Linie der Kulturstaaten. Nur waren die Schweiz und Österreich insofern weiter gegangen, als hier die Fabrikbeschäftigung von Kindern (unter 14 Jahren) überhaupt verboten war. Die Zahl der in deutschen Fabriken beschäftigten Kinder betrug 1888: 22 913; davon kamen auf das Königreich Sachsen allein 11 474. Mit dem Arbeiterschutzgesetze von 1891 wurde nun der entscheidende Schritt getan, daß wenigstens die schulpflichtigen Kinder aus den Fabriken ausgeschlossen wurden. So sank die Zahl der beschäftigten Kinder von 27 455 im Jahre 1890 auf 4327 im Jahre 1893. Im Jahre 1911 betrug die Zahl der in Betrieben mit 10 oder mehr Arbeitern beschäftigten Kinder 13 404. Dabei muß aber betont werden, daß es sich hier um schulentlassene Kinder handelt und eine höchstens sechsstündige Beschäftigung jedenfalls das Maß der körperlichen Leistungsfähigkeit nicht übersteigt. Gewiß bleibt es ein erstrebenswertes Ziel, daß wenigstens die Mädchen im Interesse ihrer häuslichen Ausbildung und Erziehung der Fabrik noch länger ferngehalten werden.

Bezüglich der „jungen Leute“ (14–16 Jahre) sind die Schutzbestimmungen nur insofern erweitert, als nach der Novelle von 1908 die zulässige Tagesarbeit auf die Zeit von morgens 6 Uhr bis abends 8 Uhr beschränkt ist und eine ununterbrochene Nachtruhe von elf Stunden gewährt werden muß.

Der Bundesrat hat das Recht, Ausnahmen von obigen Vorschriften zu erlassen, soweit solche durch besondere Verhältnisse (z. B. bei Kampagne- und Saisonindustrien) gerechtfertigt erscheinen. Er hat aber nur sehr zurückhaltend und mit beschränkenden Bedingungen von diesen Vollmachten Gebrauch gemacht. – In Notfällen kann auch die untere Verwaltungsbehörde, die höhere Verwaltungsbehörde oder der Reichskanzler Ausnahmen bezüglich der Arbeitszeit oder der Pausen gestatten, wobei aber den Arbeitern resp. dem Arbeiterausschuß vorher Gelegenheit gegeben werden muß sich zu äußern. Ein Mißbrauch dieser Vollmachten ist kaum zutage getreten.

Bei der Beschäftigung jugendlicher Arbeiter unter 18 Jahren ist der Arbeitgeber verpflichtet, bei der Einrichtung der Betriebsstätte und des Betriebes auf Gesundheit und Sittlichkeit besondere Rücksicht zu nehmen (GO. § 120 c). Außerdem kann der Bundesrat die Verwendung von jugendlichen (wie weiblichen) Arbeitern für solche Fabrikationszweige, die mit besonderen Gefahren für Gesundheit und Sittlichkeit verbunden sind, verbieten oder von besonderen Bedingungen abhängig machen.

Solche Verordnungen sind erlassen für Glashütten, Herstellung von Zigarren, von Präservativs (aus sittlichen Rücksichten), für Zuckerfabriken, Walz- und Hammerwerke usw.

[838]

Schutz der Arbeiterinnen.

Von grundlegender Bedeutung wurde die Arbeiterschutz-Novelle von 1891 für die Beschäftigung von Arbeiterinnen. Außer dem Schutz der jugendlichen Arbeiterinnen war nur noch der Wöchnerinnenschutz (von drei Wochen) gesetzlich festgelegt. Im übrigen fand eine unbeschränkte Ausnützung der weiblichen Arbeitskräfte statt.

In den Fabriken, in denen vor allem weibliche und jugendliche Arbeiter beschäftigt werden: Textil- und Zigarrenfabriken, Konfektionswerkstätten usw. war eine Arbeitszeit von 12, öfter sogar (z. B. in Spinnereien) von 13 und 14 Stunden die Regel. Dazu kamen dann noch die Überstunden, namentlich an den Vorabenden der Sonn- und Festtage. (Vgl. die Berichte der Fabrikinspektoren von 1885 und 1886.) Die zunehmende Verwendung elektrischer Beleuchtung leistete der Einführung auch der Nachtarbeit (Doppelschicht) wirksam Vorschub. Eine solche alltägliche Inanspruchnahme der Arbeitskräfte, dazu der Aufenthalt in den Vielfach engen, oft überheizten, schlecht ventilierten, mit Staub und gesundheitsschädlichen Dünsten erfüllten Räumen, der oft weite Weg von und zu der Fabrik, die vielfach ungenügende Ernährung usw. mußten auf die Dauer dem weiblichen Organismus verderblich werden. Dem entsprachen denn auch die traurigen Ergebnisse der Krankenkassenstatistik, die erschreckenden Zahlen der Tuberkulosenstatistik in den entsprechenden Industriezentren. Doppelt verhängnisvoll wurden diese Verhältnisse, wo auch verheiratete Frauen in größerer Zahl beschäftigt wurden. Betrug doch die Zahl der in Fabriken beschäftigten verheirateten Frauen in Deutschland 1890: 130 079. Und es war nicht Zufall, daß gerade in den Zentren der Textil- und Zigarrenindustrie wegen der Konkurrenz der weiblichen und jugendlichen Arbeiter die Löhne der Männer am niedrigsten standen und so die Familien des Mitverdienstes der Frauen und Mütter am wenigsten entbehren konnten. So konzentrierten sich denn hier gerade die Übelstände der industriellen Entwicklung zu einer physischen und sittlichen Degeneration: hohe Kindersterblichkeit, Siechtum und früher Tod der Mütter, Vernachlässigung des Hauswesens und der Kinderpflege und -Erziehung, häuslicher Unfrieden und sittliche Verwahrlosung der Jugend usw., die mit ernster Sorge für die Zukunft erfüllen mußten.

Durch die Arbeiterschutz-Novelle von 1891 wurde nun zunächst die Arbeitszeit auf höchstens elf Stunden täglich beschränkt (§ 137). Seit 1908 ist sie auf zehn Stunden herabgesetzt. Die Nachtarbeit ist verboten. Als Nachtzeit galt zunächst die Zeit von 8½ Uhr abends bis 5½ Uhr morgens, seit 1908 die Zeit von 8 Uhr abends bis 6 Uhr morgens, mit der Maßgabe, daß eine ununterbrochene Nachtruhe von mindestens elf Stunden gegeben werden muß. An den Vorabenden der Sonn- und Festtage mußte die Arbeit spätestens 5½ Uhr schließen, um so noch freie Zeit für die häuslichen Arbeiten oder zum Besuch eines Haushaltungsunterrichtes usw. zu gewinnen. Seit 1908 darf die Arbeitszeit an diesen Tagen nur acht Stunden (statt bisher zehn Stunden) betragen und sie muß um 5 Uhr schließen. Mittags muß eine mindestens einstündige Pause gewährt werden. Für Arbeiterinnen, die ein Hauswesen zu besorgen haben, erhöht sich diese Pause auf Antrag auf mindestens 1½ Stunde. Unter Tag (im Bergbau) dürfen Arbeiterinnen nicht beschäftigt werden, und (seit 1908) ist auch die Beschäftigung über Tage beschränkt. Im Interesse von Mutter und Kind ist die freie Zeit für Wöchnerinnen von drei Wochen 1891 auf sechs Wochen, 1908 auf acht Wochen erhöht.

Ausnahmen bezüglich der Arbeitszeit sind nur in sehr beschränktem Maße und nur mit ausdrücklicher Erlaubnis, sei es durch die untere Verwaltungsbehörde (für einzelne Betriebe), sei es durch den Reichskanzler oder Bundesrat, zugelassen.

Für bestimmte Fabrikationszweige, welche mit besonderen Gefahren für Gesundheit und Sittlichkeit verbunden sind, kann durch den Bundesrat die Verwendung von Arbeiterinnen verboten oder von besonderen Bedingungen abhängig gemacht werden (§ 139 a). Bei dieser Vollmacht hat der Bundesrat im wesentlichen für dieselben Betriebe, in denen die Verwendung jugendlicher Arbeiter beschränkt ist, Gebrauch gemacht. [839]

Betriebsstättenschutz. Sanitärer Maximal-Arbeitstag.

Die Bedienung der Betriebs- und Arbeitsmaschinen, die Zusammendrängung vieler Menschen und Maschinen in einem Raume, die Anhäufung von Rohstoffen und Fabrikaten, die mit der Arbeit häufig verbundene Erzeugung von Staub, ungesunden Dämpfen, Nässe, Kälte oder Hitze, schroffer Wechsel der Temperatur, die stete einseitige Anstrengung bestimmter Muskeln usw. verursachen vielfache besondere Gefahren und Schäden für Gesundheit und Leben. Fast alle Berufe weisen so ihre besonderen Berufskrankheiten auf. Dazu kommen die plötzlichen Gefährdungen durch Verletzungen und schwerere oder leichtere Unfälle. In beiden Beziehungen hatte schon die Gewerbeordnung von 1869 allgemeine Vorschriften vorgesehen, die aber durch die Arbeiterschutz-Novelle eingehender spezialisiert sind. Nicht minder sind aber auch Vorschriften zum Schutz der Sittlichkeit gegen die Gefahren, wie sie sich aus dem Zusammenarbeiten der verschiedenen Lebensalter und Geschlechter ergeben, gesetzlich festgelegt.

Die Arbeitgeber sind verpflichtet, die Arbeitsräume, Betriebsvorrichtungen, Maschinen und Gerätschaften so einzurichten und zu unterhalten und den Betrieb so zu regeln, daß die Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Gesundheit soweit geschützt sind, wie es die Natur des Betriebs gestattet. Insbesondere ist für genügendes Licht, ausreichenden Luftraum und Luftwechsel, Beseitigung des bei dem Betrieb entstehenden Staubes, der dabei entwickelten Dünste und Gase sowie der dabei entstehenden Abfälle Sorge zu tragen. Ebenso sind diejenigen Vorrichtungen herzustellen, welche zum Schutze der Arbeiter gegen gefährliche Berührungen mit Maschinen oder Maschinenteilen oder gegen andere in der Natur der Betriebsstätte oder des Betriebs liegende Gefahren, namentlich auch gegen die Gefahren, welche aus Fabrikbränden erwachsen können, erforderlich sind. Endlich sind diejenigen Vorschriften über die Ordnung des Betriebs und das Verhalten der Arbeiter zu erlassen, welche zur Sicherung eines gefahrlosen Betriebs erforderlich sind.

Den Arbeitgebern liegt ferner die Verpflichtung ob, diejenigen Einrichtungen zu treffen und zu unterhalten und diejenigen Vorschriften über das Verhalten der Arbeiter im Betriebe zu erlassen, welche erforderlich sind, um die Aufrechterhaltung der guten Sitten und des Anstandes zu sichern. Insbesondere muß, soweit es die Natur des Betriebs zuläßt, bei der Arbeit die Trennung der Geschlechter durchgeführt werden, sofern nicht die Aufrechterhaltung der guten Sitten und des Anstandes durch die Einrichtung des Betriebs ohnehin gesichert ist.

In Anlagen, deren Betrieb es mit sich bringt, daß die Arbeiter sich umkleiden und nach der Arbeit sich reinigen, müssen ausreichende, nach Geschlechtern getrennte Ankleide- und Waschräume vorhanden sein. Die Bedürfnisanstalten müssen so eingerichtet sein, daß sie für die Zahl der Arbeiter ausreichen, daß den Anforderungen der Gesundheitspflege entsprochen wird und daß ihre Benutzung ohne Verletzung von Sitte und Anstand erfolgen kann.

Der Bundesrat (§ 120 e), die Landes-Zentralbehörden (§ 120 e) und die Polizeibehörden (§§ 120 d, 120 e) haben das Recht und die Pflicht, soweit notwendig, diese allgemeinen Vorschriften durch besondere Verordnungen oder im Wege polizeilicher Verfügung (für einzelne Betriebe) zu spezialisieren und so wirksamer zu gestalten.

Solche Verordnungen sind in großer Zahl sowohl seitens des Bundesrates (für Bleifarben- und Bleizuckerfabriken, Anfertigung von Zigarren, Akkumulatorenfabriken, Roßhaarspinnereien, Thomasschlackenmühlen, Zinkhütten, Buchdruckereien und Schriftgießereien, Steinbrüche und Steinhauereien usw.) als auch seitens der Landeszentralbehörden (z. B. für Spiegelbelaganstalten) und Polizeibehörden (z. B. für Bauten) erlassen.

Für die Unfallversicherung kommen außerdem noch die Berufsgenossenschaften der Unfallversicherung in Betracht (s. unten). Ferner die (mehr als 24) Dampfkesselrevisionsvereine und ihre Beamten, welche speziell die Verhütung von Dampfkesselexplosionen usw. zur Aufgabe haben und große Erfolge aufweisen. [840] Bei der weitgehenden Spezialisierung der Betriebseinrichtungen und Maschinen, dem raschen Wechsel und den gewaltigen Fortschritten der Technik und der Produktionsmethoden hat sich der Weg der Verordnungen und allgemeiner Vorschriften vielfach als zu schwerfällig und schablonenhaft erwiesen. Wirksamer und in zweckmäßigerer Anpassung kann die Gewerbeaufsicht eingreifen, und zwar in doppelter Weise. Einmal können die Gewerbeinspektionen in jedem Betriebe bestimmte Anordnungen oder Einrichtungen zum Schutz der Arbeiter in gesundheitlichem oder sittlichem Interesse vorschreiben (resp. bei der Oberpolizeibehörde beantragen); dann können sie insbesondere bei den Gewerbebetrieben, die einer besonderen Genehmigung bedürfen (§ 16), die Aufnahme entsprechender Anforderungen in die Genehmigungsbedingungen beantragen.

Die vereinigten systematischen Bemühungen der Konzessionsbehörden, der Gewerbeaufsichtsbeamten und der Unfallversicherungs-Berufsgenossenschaften und ihrer Beauftragten haben denn auch zu einer wesentlichen Verbesserung der Einrichtungen und der Betriebsverhältnisse der modernen Fabriken und Werkstätten geführt. Sie haben neuen Anschauungen Bahn gebrochen. Die Arbeitgeber haben sich immer mehr überzeugt, daß hohe, gut ventilierte, hygienisch wohl eingerichtete, möglichst staubfreie Arbeitsräume, sicher eingefriedigte, mit selbsttätig wirkenden Schutzeinrichtungen versehene Maschinen, sorgsame Ordnung und Reinlichkeit, gute Beleuchtung und Heizung usw. auch die Leistungsfähigkeit und -Freudigkeit der Arbeiter heben und damit auch der Unternehmung zugute kommen. So zeichnen sich die modernen Betriebe sehr vorteilhaft gegenüber solchen alter Zeit aus. Tüchtige und weitschauende Unternehmer ergänzen die behördlichen Anordnungen durch Einrichtungen und Anstalten freiwilliger Wohlfahrtspflege: Bade-, Wasch- und Umkleideeinrichtungen, Eß- und Aufenthaltsräume, Menagen und Wärmevorrichtungen, Verabreichung alkoholfreier Getränke (Kaffee usw.), Gartenanlagen Einrichtungen zur ersten Hilfeleistung, Kinderkrippen und Kinderbewahranstalten zur Entlastung der Mütter, Veranstaltungen zur Pflege der Erholung und Bildung: Spiel- und Turnplätze, Lesesäle, Bibliotheken usw.

Dieselben Behörden: der Bundesrat, die Landes-Zentralbehörden und die Polizeibehörden haben auch das Recht, für solche Gewerbe, in welchen durch übermäßige Dauer der täglichen Arbeitszeit die Gesundheit der Arbeiter gefährdet wird, Dauer, Beginn und Ende der zulässigen täglichen Arbeitszeit und der zu gewährenden Pausen zu regeln („sanitärer Maximalarbeitstag“).

Dem Bundesrat ist dieses Recht durch die Arbeiterschutz-Novelle von 1891 gewährt worden. Er hat auch für eine Reihe von Betrieben von diesem Recht Gebrauch gemacht, sei es in Form einer Minimalruhezeit (z. B. für Bäckereien, Getreidemühlen, Gast- und Schankwirtschaften), sei es durch Regelung der Arbeitszeit (z. B. für Steinbrüche und Steinhauereien, Herstellung von Akkumulatoren, Vulkanisierung von Gummiwaren). Durch die Novelle von 1911 ist dann dieses Recht auch den Landeszentral- und Polizeibehörden übertragen worden, soweit nicht der Bundesrat schon eine Regelung getroffen hat (§ 120 f). Damit soll den Mißbräuchen übermäßiger Arbeitszeiten, soweit sich solche in einzelnen Bezirken oder Betrieben herausstellen, gesteuert werden (z. B. in Fleischereien).

Ein allgemeiner gesetzlicher Maximalarbeitstag für erwachsene Männer, wie in der Schweiz und Österreich, besteht in Deutschland nicht. Die Beschränkung der Arbeitszeit für jugendliche und weibliche Arbeiter auf 10 Stunden ist jedoch indirekt auch den Männern zugute gekommen, indem gerade die Fabriken, welche jugendliche und weibliche Arbeiter in großer Zahl beschäftigen, wegen der verhältnismäßigen Leichtigkeit der Arbeiten die kürzeste Arbeitszeit aufweisen und eine Beschäftigung der Männer allein über die gesetzlichen 10 Stunden Zeit hinaus sich nicht lohnt. Dazu kommt, daß in den Industrien, die hauptsächlich Männer beschäftigen, durchschnittlich mit 10 Stunden die Grenze der Leistungsfähigkeit erreicht ist und die gewerkschaftlichen Organisationen der Männer heute auch so weit erstarkt sind, daß sie die Arbeitszeit mitbestimmen.

Ausdehnung der Schutzbestimmungen auf Werkstätten, Heimarbeiter und Handelsgewerbe.

Die Betriebsstätten-Schutzbestimmungen und der sanitäre Maximalarbeitstag finden ebenso wie die Vorschriften bezüglich der Sonntagsruhe auf alle gewerblichen Betriebe, ob groß oder klein, Anwendung. Dagegen galten die Vorschriften [841] zum Schutze der jugendlichen Arbeiter (Kinder und junge Leute) zunächst nur für Fabriken, Ziegeleien, Bergwerke und Werkstätten mit Dampfbetrieb. Durch die Novelle von 1891 wurde die Ausdehnung dieser Schutzbestimmungen auf alle Werkstätten mit elementarer Kraft (Dampf, Wind, Wasser, Gas, Luft, Elektrizität usw.) vorgesehen (§ 154). Diese Bestimmungen sind durch die Bundesratsverordnung vom 9. Juli 1900 in Kraft getreten. Durch Bundesratsbeschluß können nach derselben Novelle (1891) die Schutzbestimmungen auch „auf andere Werkstätten“ ausgedehnt werden. Von dieser Befugnis hat der Bundesrat für die Werkstätten der Kleider- und Wäschekonfektion (31. April 1897), die Maßgeschäfte und die Werkstätten, welche Damen- und Kinderhüte garnieren (1. 7. 1904) Gebrauch gemacht. – Seit 1908 gelten alle Betriebe mit 10 Arbeitern als Fabriken.

„Werkstätten, in welchen der Arbeitgeber ausschließlich zu seiner Familie gehörige Personen beschäftigt“, waren auch nach der Novelle von 1891 von den Vorschriften des Arbeiterschutzes ausgenommen. Ebenso entbehrten Arbeiter und Arbeiterinnen, welche allein in ihrem Heim ohne fremde Gehilfen für einen gewerblichen Unternehmer arbeiteten, jeden Schutzes. In ersterer Beziehung hat das Kinderschutzgesetz vom 30. März 1903 (s. oben S. 385) einen entscheidenden Fortschritt gebracht.

Zunächst ist die Beschäftigung fremder wie eigner Kinder in einer Reihe von Betrieben, die gesundheitlich und sittlich bedenklich sind (bei Bauten, in Ziegeleien, Brüchen und Gruben, in Werkstätten mit elementarer Kraft usw.) verboten. Durch Bundesratsverordnung ist diese Liste untersagter Beschäftigungen noch wesentlich erweitert. Fremde Kinder unter zwölf Jahren dürfen nicht beschäftigt werden, eigne Kinder nicht unter zehn Jahren. Die Beschäftigung fremder Kinder darf nicht in der Nachtzeit (8–8 Uhr) und nicht vor dem Vormittagsunterricht stattfinden. Sie darf nicht länger als drei Stunden (in den Ferien: vier Stunden) täglich dauern. Mittags muß eine zweistündige Pause gewährt werden, und nachmittags darf die Beschäftigung erst eine Stunde nach beendetem Unterricht beginnen. Diese Beschränkungen gelten auch für die eignen Kinder, nur fällt die Beschränkung der Arbeitszeit (auf drei Stunden) weg. In der Schulzeit wird sich aber diese Beschränkung durch die übrigen Bestimmungen schon von selbst ergeben. – Für das Austragen von Waren und sonstigen Botengängen gelten die Beschränkungen nur dann, wenn sie für Dritte geschehen. – Die Sonn- und Feiertagsbeschäftigung ist verboten. Nur für Austragen und für Botengänge können die Kinder bis zu zwei Stunden vor ein Uhr (aber nicht während des Hauptgottesdienstes und einer halben Stunde vorher) benützt werden. – Im Betriebe von Gast- und Schankwirtschaften dürfen fremde Mädchen zur Bedienung der Gäste nicht verwendet werden. (Durch die Gast- und Schankwirtsschafts-Verordnung ist bestimmt, daß auch Mädchen unter 18 Jahren nicht zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens Gäste bedienen dürfen.)

Durch das Hausarbeiter-Schutzgesetz von 1911 wurde der Schutz auch auf die Heimarbeiter und Familienbetriebe überhaupt ausgedehnt (s. oben S. 386).

Für das Handelsgewerbe wurde erst durch die Novelle von 1891 die Sonntagsruhe gesetzlich eingeführt und dann 1900 wenigstens für offene Verkaufsstellen eine umfassende Fürsorge bezüglich Arbeitszeit, Betriebsstättenschutz usw. gesichert.

In erster Linie ist die Arbeitszeit wenigstens in der Weise geregelt, daß den Arbeitern, Gehilfen und Lehrlingen für jeden Tag eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens zehn Stunden gegeben werden muß (§ 139 c). Für Geschäfte in Gemeinden mit mehr als 20 000 Einwohnern, die mindestens zwei Gehilfen und Lehrlinge beschäftigen, erhöht sich diese Ruhezeit auf elf Stunden.

Außerdem muß eine angemessene Mittagspause gegeben werden, die für solche Gehilfen und Lehrlinge, welche außerhalb ihres Geschäftes ihr Mittagsmahl einnehmen, mindestens 1½ Stunden betragen soll. Endlich ist der Ladenschluß auf spätestens 9 Uhr abends bis morgens 5 Uhr festgesetzt, mit der Maßgabe, daß auf Antrag von einem Drittel der beteiligten Geschäftsinhaber, falls mindestens zwei Drittel ihre Zustimmung [842] geben, durch Anordnung der höheren Verwaltungsbehörde der Schluß des Ladens schon auf abends 8 Uhr bis morgens 7 Uhr angesetzt werden kann. Tatsächlich ist heute in allen großen Städten der Achtuhrladenschluß Regel. Auf Grund der Befugnis der Behörden (§§ 139 g, 139 h), besondere Vorschriften zum Schutz der Gesundheit und Sittlichkeit zu erlassen, ist (28. 11. 00) vom Bundesrat vorgeschrieben, daß den Angestellten ausreichend Sitzgelegenheit geboten werden muß. Endlich sind die Bestimmungen betreffend den Erlaß einer Arbeitsordnung (bei mehr als 20 Gehilfen), betreffend Beschränkung der Lehrlingszüchterei (GO. § 128) und Fortbildungsschulzwang auch auf die Verkaufsstellen ausgedehnt.

Schutz der gerechten Durchführung des Arbeitsvertrages.

Durch die Arbeiterschutz-Novelle von 1891 sind eine Reihe von Bestimmungen in die Gewerbeordnung aufgenommen mit dem Zwecke, im Interesse der Arbeiter möglichst klare Arbeitsbedingungen zu sichern, der Willkür des Arbeitgebers in Festsetzung der Kündigungsfristen, der Strafen usw., der Beschränkung der persönlichen Freiheit (außerhalb des Betriebes) gewisse Schranken zu setzen und dem Arbeitgeber die Pflicht aufzulegen, die Wünsche der Arbeiter wenigstens zu hören.

Arbeitsordnung.

Für alle Betriebe mit mindestens 20 Arbeitern ist der Erlaß einer Arbeitsordnung vorgeschrieben, in welcher die wichtigsten Bedingungen des Arbeitsvertrages: Arbeitszeit und Pausen, Lohnzahlung, Kündigungsfristen, Art und Höhe der Strafen, Festsetzung, Einziehung, Verwendung usw. aufgenommen werden müssen (§ 134a ff.).

Vor Erlaß resp. Abänderung der Arbeitsordnung ist den großjährigen Arbeitern Gelegenheit zu geben, sich zu äußern. Wo ein ständiger, von den großjährigen Arbeitern und Arbeiterinnen in geheimer Wahl gewählter Arbeiterausschuß besteht, genügt die Anhörung dieses Ausschusses. Die Arbeitsordnung muß ausgehängt und in Abschrift der unteren Verwaltungsbehörde mit den schriftlich oder zu Protokoll geäußerten Bedenken übergeben werden. Die Kündigungsfristen müssen für beide Teile gleich sein (§ 122). Strafbestimmungen, welche das Ehrgefühl oder die guten Sitten verletzen, sind verboten. Geldstrafen dürfen die Hälfte des durchschnittlichen Tagesarbeitsverdienstes nicht übersteigen, nur in besonderen Fällen (Tätlichkeiten gegen Mitarbeiter, erhebliche Verstöße gegen die guten Sitten oder gegen die Ordnung im Betriebe) sind solche bis zum vollen Betrage zulässig. Die Strafgelder müssen zum Besten der Arbeiter verwendet werden. Name der Bestraften, Grund, Höhe und Tag der Bestrafung müssen in ein Verzeichnis eingetragen werden, das dem Gewerbeinspektor auf Verlangen vorzulegen ist. Vorschriften über das Verhalten großjähriger Arbeiter außerhalb des Betriebes dürfen in die Arbeitsordnung nicht aufgenommen werden; solche über das Verhalten minderjähriger nur mit Zustimmung des Arbeitsausschusses. Letztere Bedingung gilt auch für Aufnahme von Vorschriften für die Benutzung von Wohlfahrtseinrichtungen.

Arbeiter-Ausschüsse.

Eine wirksame „Anhörung“ der Arbeiter läßt sich nur in der Weise durchführen, daß ein von den Arbeitern in direkter und geheimer Wahl gewählter Ausschuß deren Anschauungen und Wünsche in geordneter Verhandlung mit dem Arbeitgeber vorbringt und nun beiderseitig eine Verständigung in gerechtem und billigem Ausgleiche der entgegenstehenden Interessen und Anschauungen mit Ernst und Wohlwollen erstrebt wird. Bei beiderseitig gutem Willen lassen sich so eine Summe von Streitigkeiten und Mißverständnissen begleichen. Tatsächlich ist das auch der einzige Weg, um den Arbeitgebern dauernd die Fühlung mit ihren Arbeitern zu sichern und sie vor peinlichen Überraschungen zu schützen. [843] Überall dort, wo Arbeiterausschüsse in diesem Sinne geschaffen und ausgebaut sind, haben sie sich auch durchaus bewährt. Durch die Bestimmungen bezüglich der Anhörung der Arbeiter bei Erlaß und Abänderung der Arbeitsordnung, der Mitwirkung bei der Verwaltung der Wohlfahrtseinrichtungen usw. hoffte man, die Einführung von Arbeiterausschüssen wirksam zu fördern. Leider hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt. Nur in verhältnismäßig wenig Fabriken bestehen solche Arbeiterausschüsse, und soweit solche bei Erlaß der Arbeitsordnung geschaffen worden sind, sind sie meistens nicht weiter gepflegt und entwickelt worden.

Die Arbeiterschutzkommission des Reichstags hat auf Grund dieser Erfahrungen bei Beratung der großen Arbeiterschutznovelle 1908 mit großer Mehrheit die obligatorische Einführung der Arbeiterausschüsse und Ausstattung mit weiterem Recht beschlossen; jedoch sind diese Beschlüsse nicht zu gesetzgeberischer Verabschiedung gekommen.

Was die Arbeiterausschüsse in dem einzelnen Betrieb bezwecken: „Die Fühlung zwischen Arbeitgebern und Arbeitern“ zu sichern und den Arbeitern „den freien und friedlichen Ausdruck ihrer Wünsche und Beschwerden“ zu ermöglichen, das sollte für die großen, gewerblichen Berufsgruppen durch die Errichtung von „Arbeitskammern“ erreicht werden. Insbesondere sollten so die Arbeiter „zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhandlung“ nicht bloß mit den Arbeitgebern, sondern auch „mit den Organen der Regierungen“ befähigt und diesen so zugleich Gelegenheit gegeben werden, „sich über die Verhältnisse der Arbeiter fortlaufend zu unterrichten und mit diesen Fühlung zu behalten“ (Februar-Erlaß). Leider ist der entsprechende Gesetzentwurf 1908 in der zweiten Lesung im Plenum des Reichstages stecken geblieben, da der Beschluß der Kommission, daß auch Gewerkschaftssekretäre als Vertreter der Arbeiter (bis zu höchstens einem Viertel) wählbar sein sollten, von den verbündeten Regierungen als unannehmbar erklärt wurde.

Regelung der Lohnzahlung. Lohnbücher und Lohnzettel.

Baldige und klare Festsetzung der Arbeitsbedingungen: Art, Umfang der übertragenen Arbeit, Bedingungen für die Lieferung von Werkzeugen und Stoffen, Lohnsätze, Tag der Lohnzahlung usw., Zeitpunkt der Ablieferung hat sich vor allem in der Hausindustrie als dringendstes Bedürfnis erwiesen. Deshalb ist durch die Novelle von 1900 resp. (neu gefaßt) 1911 dem Bundesrat das Recht gegeben worden, für bestimmte Gewerbe Lohnbücher oder Lohnzettel vorzuschreiben (§ 114 a). Für die Kleider- und Wäschekonfektion ist von dieser Vollmacht Gebrauch gemacht.

Weiterhin haben die Vorschriften bezüglich der Lohnzahlung (Verbot des Trucks usw.) durch die Novelle von 1891 mehrfache Erweiterung erfahren.

Die Arbeitslöhne sind in Reichswährung zu berechnen und bar auszuzahlen (§ 115). Die Arbeitgeber dürfen keine Waren kreditieren. Lebensmittel dürfen nur mit den Anschaffungskosten, Wohnung und Landnutzung nur mit den ortsüblichen Miet- und Pachtpreisen, regelmäßige Beköstigung, Feuerung usw., Werkzeuge und Stoffe zu den übertragenen Arbeiten nur mit den durchschnittlichen Selbstkosten in Anrechnung gebracht werden. Die Auslöhnung in Schankwirtschaften und Verkaufsstellen ist verboten; ebenso die Auszahlung des Lohnes an Dritte auf Zession hin (§ 115 a). Lohneinbehaltungen zur Schadloshaltung im Falle des Kontraktbruches sind dahin beschränkt, daß die Einbehaltung für die einzelne Lohnzahlung höchstens ein Viertel betragen und im ganzen höchstens einen Wochenverdienst erreichen darf. Für Betriebe mit mindestens 20 Arbeitern ist durch die Novelle von 1911 vorgeschrieben, daß bei der regelmäßigen Lohnzahlung ein schriftlicher Beleg (Lohnzettel, Lohntüte, Lohnbuch usw.) über den Betrag des verdienten Lohnes und die Arten der Abzüge ausgehändigt wird.

Endlich kann durch statutarische Bestimmungen einer Gemeinde oder eines weiteren Kommunalverbandes bestimmt werden, daß die Lohnzahlung in bestimmten Fristen erfolgen muß, daß für Minderjährige [844] der Lohn an die Eltern oder Vormünder oder nur mit Zustimmung dieser oder nach deren Bescheinigung über den Empfang der letzten Lohnzahlung unmittelbar an die Minderjährigen gezahlt wird, oder daß den Eltern oder Vormündern regelmäßig Mitteilung über die an die Minderjährigen bezahlten Lohnbeträge gemacht wird. Leider ist von diesen Vollmachten bisher wenig Gebrauch gemacht worden.

Gewerbegerichte.−Einigungsämter.

Durch das Gewerbegerichtsgesetz von 1891 ist den Arbeitern eine gerechte, billige und schnelle Rechtsprechung bei allen Streitigkeiten auf Grund des Arbeitsvertrages: Antritt und Kündigung des Arbeitsverhältnisses, Lohn, Arbeitsbuch, Berechnung der Versicherungsbeiträge usw. gesichert. In gleichem Maße wie die Arbeitgeber nehmen sie durch in geheimer und direkter Wahl gewählte Vertreter als Beisitzer unter einem neutralen richterlichen Vorsitzenden an der Rechtsprechung teil, so daß volle Würdigung der berechtigten Ansprüche der Arbeiter gesichert ist. Als besonderen Ruhm können die Gewerbegerichte für sich in Anspruch nehmen, daß etwa die Hälfte aller Streitigkeiten durch freiwilligen Vergleich erledigt werden.

Die Gewerbegerichte können auch als Einigungsämter auf Anrufung der Parteien oder auch aus eigner Entschließung in Streitigkeiten über den noch abzuschließenden Arbeitsvertrag eingreifen, vermitteln und zum Frieden wirken. Endlich können sie als begutachtendes Organ von Gemeinde, Staat und Korporationen usw. in Anspruch genommen werden.

Die Gewerbegerichte haben zum allgemeinen Verständnis und zu einem zweckmäßigen Ausbau des Arbeitsvertrages-Rechts wesentlich beigetragen. Sie haben das Rechtsgefühl gestärkt und erfreuen sich insbesondere auch des vollen Vertrauens der Arbeiter. Auch als Einigungsämter haben sie sich dort bewährt, wo tüchtige Vorsitzende sich dieser Aufgabe mit Verständnis, Klugheit und Nachdruck annahmen.

Da die Gewerbegerichte meistens für den Bereich einer Gemeinde errichtet sind, so können sie im allgemeinen nur in lokalen Streitigkeiten als Einigungsamt eingreifen. Mit der wachsenden Bedeutung der großen zentralen gewerkschaftlichen Organisationen gewinnen naturgemäß auch die Lohnkämpfe weitere, den Bereich der Gewerbegerichte überschreitende Ausdehnung. So drängt das Bedürfnis auf Errichtung eines Reichs-Einigungsamtes, wie es in Anträgen des Reichstages schon mehrfach gefordert ist.

Die gute Wirkung der Gewerbegerichte weckte bei dem Handelsgewerbe den Wunsch nach einer gleichen Einrichtung. So sind durch Gesetz vom 16. Juli 1904 Kaufmannsgerichte eingeführt worden.

Im Jahre 1912 bestanden in Deutschland 948 Gewerbe- und Innungsschiedsgerichte. Von den 120 380 anhängigen Streitigkeiten wurden 48 000 durch Vergleich erledigt. In 309 Fällen wurden sie als Einigungsamt angerufen. Gutachten wurden 18 abgegeben. Bei den 291 Kaufmannsgerichten wurden 25 493 Streitigkeiten ausgetragen, von denen 10 340 durch Vergleich erledigt wurden, 1025 durch Endurteil (Reichsarbeitsblatt 1913, Nr. 8).

Gewerbeaufsicht.

Für die Aufsicht und Durchführung der Arbeiterschutzgesetzgebung war schon durch die Gewerbeordnungs-Novelle von 1878 die Anstellung besonderer Beamter vorgesehen (§ 139 b). Fürst Bismarck war ein scharfer Gegner dieser besonderen Fabrikinspektion, und so war es begreiflich, daß die Anträge auf Vermehrung dieser Beamten im Reichs- und Landtage immer wieder schroffe Ablehnung erfuhren. Erst nach den Februar-Erlassen wurde eine systematische Neuordnung und Verstärkung der Gewerbeaufsicht in die Wege geleitet.

[845] Während 1888 die Zahl der Aufsichtsbeamten für ganz Deutschland 48 nebst 29 Hilfsbeamten betrug, von denen bloß 18 resp. 9 auf Preußen kamen, zählten wir 1911 in Deutschland 533 im Gewerbeaufsichtsdienste beschäftigte Beamte, darunter 18 weibliche Assistenten und sechs Gehilfen aus dem Arbeiterstande. Dazu kamen noch 122 Bergaufsichtsbeamte. Für die Unfallverhütung wirken außerdem noch die 399 technischen Aufsichtsbeamten der Berufsgenossenschaften und die Beamten der Dampfkesselüberwachungsvereine. Im Bergbau sind auch die Arbeiter durch gewählte Vertreter – „Sicherheitsmänner“ – bei der Kontrolle beteiligt.

Die Gewerbeaufsichtsbeamten erfreuen sich bei Arbeitgebern wie Arbeitern des vollen Vertrauens. Sie haben nicht bloß für eine gleichmäßige gerechte Durchführung der gesetzlichen Bestimmungen gesorgt, sondern auch durch umsichtige Beratung und praktische Anregungen auf Verbesserung der Betriebseinrichtungen, auf Einführung von Wohlfahrtseinrichtungen in den Betrieben wie seitens der Gemeinden und freier Vereine mit großem Erfolg hingewirkt. Die umfassenden jährlichen Berichte bringen eine Fülle von sozialer Aufklärung und Belehrung im Sinne weiterer Fortschritte.

Die deutsche Arbeiterversicherung 1888–1913.

Die Grundlagen der deutschen Arbeiterversicherung sind unter Kaiser Wilhelm I. gelegt. Die Krankenversicherung trat Ende 1884 in Wirksamkeit, die gewerbliche Unfallversicherung am 1. Oktober 1885. Nur die Invalidenversicherung trat 1891 in Kraft und gehört somit in ihrer Entstehung wie in ihrer Wirksamkeit ganz der Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. an. Aber auch die Kranken- und Unfallversicherung konnte erst allmählich ihren vollen Segen entfalten, so daß die Erkenntnis ihrer vollen Bedeutung erst in den letzten Jahrzehnten sich durchsetzte. Und wenn sie unserem Kaiser als bedeutungsvolles soziales Erbe für seine Regierung zufielen, so hat er dieses Erbe doch pietätvoll gepflegt und es durch die Novellen (von 1892, 1900, 1903) und zuletzt durch die Reichsversicherungsordnung „neu zu erwerben“ und reichlich zu mehren gewußt.

Welche Bedeutung die Arbeiterversicherung unter Kaiser Wilhelm II. gewonnen hat, darüber einige Zahlen:

Die deutsche Krankenversicherung umfaßte 1888: 5,8 Mill. Mitglieder, 1911: 14,5 Mill.
Die Zahl der Kassen betrug 1888: 19 451, 1911: 23 000 Kassen.
Die gesamten Entschädigungsleistungen betrugen 1888: 68,5 Mill. Mark, 1911: 397 Mill. Mark.
Die gesamten Entschädigungsleistungen betrugen für die Zeit von 1885–1888 zusammen 244,8 Mill. Mark, für 1885–1911: 4749 Mill. Mark.
Die Unfallversicherung zahlte 1888: 10,35 Mill. Versicherte, 1911: 28,1 (abzüglich der Doppelzählungen 24,6) Mill.
Die Zahl der angemeldeten Unfälle betrug 1888: 41 792, 1911: 716 584.
Die Zahl der erstmalig festgestellten entschädigungspflichtigen Unfälle betrug 1888: 21 236, 1911: 132 114.
Die Summe der Entschädigungen betrug 1888: 9,69 Mill. Mark, 1911: 165 Mill. Mark, für die Zeit von 1885–1888: 17,56 Mill. Mark, von 1885–1911: 2139 Mill. Mark.

Welch ein Strom des Segens aus der deutschen Arbeiterversicherung unserem deutschen Volke zugeflossen ist und wie mannigfach ihre Wirkungen sich gestaltet haben, [846] das sei in einigen Zahlen dargelegt. Dabei möge im Interesse der Einheitlichkeit und Klarheit des Bildes von einer Unterscheidung der Leistungen für die Zeit vor 1888 und nach 1888 abgesehen werden.

Leistungen der deutschen Arbeiterversicherung 1885–1911[1].

Krankenversicherung.

Die deutsche Krankenversicherung umfaßte im Jahre 1911: 14,5 Mill. Mitglieder, die sich auf ca. 23 000 Kassen verteilten.

Die Krankenversicherung gewährt zunächst freie ärztliche Behandlung und Arznei und sonstige Heilmittel für mindestens 26 Wochen. Durch die Satzung der Kasse kann diese Frist bis zu einem Jahre ausgedehnt werden.

Es betrugen die Kosten

für das Jahr
1911
für die Zeit
von 1885−1911
für ärztliche Behandlung 88 Mill. Mark 1014 Mill. Mark
für Arznei und Heilmittel 57 Mill. Mark 724 Mill. Mark

Soweit die Art der Behandlung oder der Mangel häuslicher Pflege es fordert, wird freie Pflege in einem Krankenhaus oder in sonstigen Heilanstalten, Genesungsheimen usw. gewährt. Die Familienangehörigen erhalten dann aber mindestens die Hälfte des Krankengeldes. Durch die Kassensatzung kann auch sonst bis zu einem Viertel des Krankengeldes gegeben und das Familiengeld erhöht werden.

Es stellten sich die Kosten

1911 1885−1911
für Krankenhauspflege auf 59 Mill. Mark 623 Mill. Mark

Im Falle der Erwerbsunfähigkeit erhalten die Mitglieder vom 3. Tage ab bis zu mindestens (13, seit 1903) 26 Wochen ein Krankengeld im Betrage von mindestens der Hälfte des täglichen Arbeitsverdienstes, soweit dieser 5 M. nicht übersteigt. Durch Satzung kann bestimmt werden, daß auch an den ersten drei Tagen, sowie an Sonn- und Festtagen Krankengeld gezahlt wird und daß dieses bis zu drei Vierteln des Arbeitsverdienstes erhöht und bis zu einem Jahre gewährt wird.

Es wurden ausgezahlt für Mitglieder und Angehörige

1911 1885−1911
an Krankengeld 169 Mill. Mark 2097 Mill. Mark

Ferner beziehen Wöchnerinnen für 6 Wochen (in Zukunft bis zu 8 Wochen) eine Unterstützung im Betrage des Krankengeldes. Ebenso kann durch Satzung Schwangeren Unterstützung zugesprochen werden.

1911 1885−1911
Die Wöchnerinnen- und Schwangerenunterstützungen beliefen sich auf 6,8 Mill. Mark 77 Mill. Mark

Beim Todesfalle erhalten die Mitglieder mindestens den zwanzigfachen Betrag des Arbeitsverdienstes, der durch die Satzung bis zum vierzigfachen erhöht werden kann.

1911 1885−1911
An Sterbegeld wurde ausgezahlt 9,3 Mill. Mark 140 Mill. Mark

[847] Den Kassen ist die Möglichkeit gegeben, durch die Satzung auch noch weitere Leistungen vorzusehen: :a) Für die Familienangehörigen der Kassenmitglieder freie ärztliche Behandlung, freie Arznei und sonstige Heilmittel, Schwangerenunterstützung, Sterbegeld (für Ehefrau und Kinder), sei es allgemein, sei es auf besonderen Antrag gegen besonderen Zuschußbeitrag;

b) Rekonvaleszentenfürsorge bis zur Dauer eines Jahres;

Bisher ist von diesen Vollmachten noch wenig Gebrauch gemacht. Immerhin erhöhen sich die obigen gesetzlichen Leistungen um den Betrag

1911 1885−1911
für sonstige Leistungen 7,8 Mill. Mark 74 Mill. Mark

So stellten sich die gesamten Entschädigungsleistungen der Krankenversicherung

für das Jahr 1911 auf 397 Mill. Mark,
für die Jahre 1885−1911 auf 4749 Mill. Mark.

Die Kosten der Krankenversicherung werden zu zwei Dritteln von den Versicherten, zu einem Drittel von den Arbeitgebern aufgebracht.

1911 1885−1911
Die Beiträge der Arbeitgeber betrugen 139 Mill. Mark 2885 Mill. Mark
Die Beiträge der Versicherten 288 Mill. Mark 3555 Mill. Mark

Unfallversicherung.

Im Jahre 1911 waren durchschnittlich gegen Unfall versichert

in 64 gewerblichen Berufsgenossenschaften 9,4 Mill. Personen,
in 48 land- und forstwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften 17,2 Mill. Personen,
in sonstigen Versicherungsanstalten (Bau- und See-Unfallversicherung, Staats- und Gemeindebetrieben usw.) 1,5 Mill. Personen,
zusammen also 28,1 Mill. Personen,

abzüglich der Doppelzählungen infolge wechselnder Beschäftigung etwa 24,6 Mill. Personen.

Die Unfallversicherung gewährt:

a) im Falle der Versetzung von der 13. Woche ab:
1. freie ärztliche Behandlung und Arznei usw.;
2. eine Rente bis zu Zweidrittel des bisherigen Arbeitsverdienstes;
b) im Falle des Todes:
1. als Sterbegeld den fünfzehnten Teil des Jahresarbeitsverdienstes, jedoch mindestens 50 M.;
2. als Rente für die Witwe: 20 Prozent; für die Kinder bis zum 15. Lebensjahre: 20 Prozent; für Aszendenten usw. 20 Prozent des Jahresarbeitsverdienstes.

Für die ersten 26 Wochen tritt die Krankenkasse für den Verletzten ein. Von der fünften Woche ab erhöht sich das Krankengeld (durch Zuschuß des Arbeitgebers) auf Zweidrittel. Wird der Verletzte von der Berufsgenossenschaft in ein Krankenhaus untergebracht, so erhalten die Angehörigen dieselbe Unterstützung wie im Todesfalle.

Die Zahl der 1911 zur Anmeldung gelangten Unfälle betrug 716 584. Entschädigungspflichtige Unfälle (d. h. solche, deren Wirkungen über 13 Wochen hinausgehen) wurden 1911 132 114 erstmalig festgestellt (davon 9443, die den Tod zur Folge hatten). Dabei waren 19 617 Hinterbliebene Getöteter beteiligt. Die Gesamtzahl der Verletzten, welche 1911 Entschädigungen bezogen, stellte sich auf mehr als eine Million. Für die Zeit von 1885 bis 1911 betrug diese Zahl: 2 405 244.

[848] Es wurden verwendet:

1911 1885−1911
auf Krankenfürsorge 11,5 Mill. Mark 164 Mill. Mark
auf Verletztenrente 118 Mill. Mark 1540 Mill. Mark
auf Hinterbliebenenrente 32,6 Mill. Mark 388,3 Mill. Mark

Die Summe der Entschädigungen betrug:

1911   1885–1911
167 Mill. Mark 2139 Mill. Mark

Die Kosten der Unfallversicherung werden allein von den Arbeitgebern getragen. Sie betrugen:

1911   1885–1911
197 Mill. Mark 2592 Mill. Mark

Wichtiger als die Unfallversicherung ist die Unfallverhütung. Fast alle Berufsgenossenschaften haben sehr eingehende Unfallverhütungsvorschriften erlassen, deren Durchführung durch besondere (mehr als 400) Aufsichtsbeamte überwacht wird.

Invalidenversicherung.

Der Invalidenversicherung unterstehen 15,8 Millionen Versicherte in 31 Versicherungsanstalten und 10 zugelassenen Kasseneinrichtungen („Sonderkassen“.)

Die Invalidenversicherung sieht vor:

1. Invalidenrente für den Fall dauernder Erwerbsunfähigkeit. Letztere wird dann angenommen, wenn der Versicherte nicht mehr ein Drittel dessen verdienen kann, was körperlich und geistig gesunde Personen derselben Art normalerweise verdienen.
2. Krankenrente im Falle einer mehr als 26 Wochen dauernden, mit Erwerbsunfähigkeit verbundenen Krankheit;
3. Altersrente nach Erreichung des 70. Lebensjahrs, auch dann, wenn keine Invalidität vorliegt;
4. Erstattung der Beiträge im Falle der Heirat an weibliche Versicherte (auf Antrag), im Falle des Todes an die Hinterbliebenen, wenn keine Invalidenrente bezahlt ist, endlich bei solchen Unfällen, welche die dauernde Gewährung der vollen Unfallrente zur Folge haben.
5. Gewährung einer umfassenden Heilbehandlung in Bädern, Lungenheilstätten usw., wenn diese zur Verhütung der Invalidität zweckmäßig und erforderlich erscheint.

Es wurden gewährt:

1911 1891−1911
Invalidenrenten 1 036 893 1 980 948
(davon 1911 erstmalig bewilligt 118 150)
Krankenrenten (seit 1900) 28 747 127 234
Altersrenten 109 924 504 582
(davon 1911 erstmalig bewilligt 11 588)
Beitragserstattungen bei Heirat 154 901 2 264 533
bei Unfall 446 6 965
bei Tod 38 297 511 199

Die Entschädigungen stellten sich wie folgt:

1911 1891−1911
Invalidenrenten 151,3 Mill. Mark 1482,9 Mill. Mark
Krankenrenten 3,2 Mill. Mark 32,4 Mill. Mark
Altersrenten 14,5 Mill. Mark 453,0 Mill. Mark
Krankenfürsorge 23,6 Mill. Mark 184,4 Mill. Mark
Invalidenhauspflege 0,9 Mill. Mark 4,6 Mill. Mark
Erstattungen bei Heirat 6,2 Mill. Mark 79,0 Mill. Mark
Erstattungen bei Unfall 0,05 Mill. Mark 0,5 Mill. Mark
Erstattungen bei Tod 4,0 Mill. Mark 36,0 Mill. Mark

[849] Die Gesamtentschädigungen betrugen

1911   1885–1911
204 Mill. Mark 2272 Mill. Mark

Die Kosten werden aufgebracht durch die Versicherungsbeiträge, die von den Arbeitgebern und Arbeitern je zur Hälfte getragen werden, und durch Reichszuschüsse.

1911 1885−1911
Es kamen auf die Arbeitgeber 105 Mill. Mark 1475 Mill. Mark
Es kamen auf die Arbeiter 105 Mill. Mark 1475 Mill. Mark
Es kamen auf das Reich 53 Mill. Mark 693 Mill. Mark
zusammen 263 Mill. Mark 3643 Mill. Mark

Gesamtentschädigungen.

Die Gesamtentschädigungsleistungen der Arbeiterversicherung stellen sich demnach wie folgt:

1911 1885−1911
Krankenversicherung (seit 1885) 397 Mill. Mark 4749 Mill. Mark
Unfallversicherung (seit 1885) 167 Mill. Mark 2139 Mill. Mark
Invalidenversicherung (seit 1891) 204 Mill. Mark 2272 Mill. Mark

Insgesamt betrugen sie

1911   1885–1911
768 Mill. Mark 9160 Mill. Mark[2]

Dazu kommen die für die Zukunft unserer Arbeiter eingelegten Reservefonds nebst sonstigem Vermögen; diese betrugen Ende 1911 für die

Krankenversicherung   335 Mill. Mark
Unfallversicherung 565 Mill. Mark
Invalidenversicherung 1759 Mill. Mark
zusammen 2660 Mill. Mark

Dem deutschen Arbeiterstande waren also bis Ende 1911 zugute gekommen und für die Sicherung seiner Zukunft hinterlegt zusammen beinahe zwölf Milliarden Mark.

Im Jahre 1911 kamen auf die

Einnahmen Verwaltungskosten
Krankenversicherung 447 Mill. Mark 24 Mill. Mark
Unfallversicherung 228 Mill. Mark 30 Mill. Mark
Invalidenversicherung 323 Mill. Mark 22 Mill. Mark

[850] Zu den Kosten der Arbeiterversicherung haben beigetragen die

1911 1885−1911
Arbeitgeber 442 Mill. Mark 5688 Mill. Mark
Versicherten 393 Mill. Mark 5030 Mill. Mark
das Reich 53 Mill. Mark 693 Mill. Mark

Während die deutschen Arbeiter also bis 1911 stark fünf Milliarden an Beiträgen aufgebracht haben, haben sie bis dahin bezogen weit über neun Milliarden Mark, und sind noch für sie reserviert beinahe 2,7 Milliarden Mark. – Die jährlichen Leistungen der Arbeiterversicherung haben heute bereits die Summe von einer Milliarde Mark überschritten.

Mehr als zehn Milliarden Mark sind bis Ende 1912 unserm Arbeiterstande zugeflossen. Diese Summe muß Eindruck machen. Ihren vollen Segen würden wir aber erst dann ermessen können, wenn wir den Weg jeder einzelnen Mark in die Hunderttausende und Millionen von Familien und Haushalten verfolgen könnten: wieviel Not und Elend gestillt, wieviel Verzweiflung und Bitterkeit gemildert, wieviel Mut und Vertrauen neu belebt und geweckt wird. Sie kommen dem Arbeiter gerade dann zugute, wenn die eigne Kraft versagt, wenn die Not am dringendsten ist, in den Tagen der Krankheit, der Invalidität, des Alters.

Bedeutung für die Gesundheitspflege.

Diese Summen dienten aber nicht bloß zur Steuerung der Not, sondern vermittelten dem Arbeiter oft wieder Gesundheit, Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, neue Lebenskraft und Lebenshoffnung. Die Krankenversicherung allein verwandte 1885–1911 für Heilbehandlung (freie ärztliche Behandlung, Arznei und Anstaltspflege) nicht weniger als 2361 Millionen Mark. Auch der ärmste Arbeiter erfreut sich heute sofortiger ärztlicher Hilfe; er braucht sich keine Sorge um die Bezahlung von Arzt und Apotheke zu machen. Die sorgsamste Heilbehandlung durch Spezialärzte, in Spezialanstalten, Bädern, Lungenheilanstalten, Rekonvaleszentenanstalten, Walderholungsheimen usw. ist kein Privileg der Besitzenden mehr.

Soweit diese Leistungen die Mittel der Krankenkassen übersteigen, greifen die Unfallversicherung und die Invalidenversicherung vielfach ergänzend ein. So hat die Unfallversicherung für Heilverfahren und Heilanstaltsfürsorge verwendet 1911: 8,8 Mill. Mark; 1885–1911: 129,6 Mill. Mark (ungerechnet die Angehörigenunterstützung). Immer mehr legt sie Wert darauf, möglichst frühzeitig selbst die Heilbehandlung zu übernehmen und keine Kosten sorgfältigster Behandlung zu scheuen, um die Erwerbsfähigkeit möglichst wiederherzustellen. Nicht minder haben die Invalidenanstalten das Heilverfahren in stetig steigendem Maße gepflegt. So wurde 1911 47 579 an Lungentuberkulose erkrankten Personen und 39 668 sonstigen Kranken ein ständiges Heilverfahren in Lungenheilstätten, Bädern usw. gewährt und dafür 23,6 Millionen Mark verausgabt. In den Jahren 1897 bis 1911 sind etwa 857 000 Versicherte mit einem Aufwand von über 205 Millionen Mark behandelt worden, davon 371 000 mit einem Aufwand von mehr als 135 Millionen Mark wegen Lungentuberkulose, Kehlkopftuberkulose und Lupus. Auch der Kampf gegen die Trunksucht und die Geschlechtskrankheiten wurde mit Erfolg aufgenommen.

[851] Die Kranken- und Unfallversicherung haben für Anstaltspflege von 1885 bis 1911 nicht weniger als 700 Millionen Mark ausgegeben. Dazu kommen 175 Millionen, welche die Invalidenversicherung für Heilbehandlung verwendet hat, wohl auch fast ausschließlich in Heilanstalten. Damit haben naturgemäß diese Anstalten und Einrichtungen eine mächtige Förderung erfahren.

So gab es in Deutschland allgemeine Krankenhäuser:[3] 1877 1905 1906 1907
1822 3726 3801 3862
Die Zahl der verpflegten Kranken betrug 1 580 792 1 626 216 1 727 838

Die Lungenheilstätten haben erst durch die Arbeiterversicherung ihre Bedeutung gewonnen. Während 1877 erst 4 Lungenheilstätten bestanden, stieg ihre Zahl:

1888 1900 1905 1911 1912
auf 7 58 113 135 139

Es betrug die Zahl der Ärzte und Zahnärzte 1892: 20 500, 1912 dagegen 35 998; die der Apotheken 1892: 4964, 1912: 6474.

Die Versicherung hat unserer medizinischen Wissenschaft und unserer öffentlichen Gesundheitspflege neue Impulse und vor allem die Mittel für neue Erfahrungen, Einrichtungen und Methoden gegeben. Die modernen Heilanstalten erfreuen sich einer Ausrüstung, wie sie vor Jahrzehnten unmöglich erschien. Und nicht bloß die Anstaltsbehandlung hat Fortschritte gemacht, sondern auch die freien Fürsorgebestrebungen. So haben speziell die Invalidenanstalten durch ihre reichlichen Unterstützungen erst die schnelle und weite Verbreitung von Walderholungsstätten, von Fürsorge- und Auskunftsstellen für Lungentuberkulose, Alkoholbekämpfung usw., die Errichtung von Krankenpflegestationen in den Landgemeinden usw. ermöglicht. Die Aufwendungen für derartige Zwecke betrugen z. B. 1911 über 1 Million Mark.

Die Auskunfts- und Fürsorgestellen und Polikliniken für Lungenkranke sind überhaupt erst seit 1900 ins Leben getreten. Ihre Zahl beträgt heute 756; dazu kommen dann noch etwa 590 Tuberkuloseausschüsse in Baden. Daß die systematische Bekämpfung dieser verheerenden Volkskrankheit nicht ohne Erfolg geblieben ist, beweisen folgende Zahlen:

Auf je 10 000 Einwohner kamen Tuberkulose-Sterbefälle:

1888 1890 1900 1905 1910 1912
in Deutschland 34,58 29,82 22,26 21,6 17,80 noch nicht
bekannt
in Preußen 32−33 28,35 21,13 19,13 15,29 15,17

Die Fortschritte der Heilbehandlung, die zahlreichen Heilanstalten und Fürsorgeorganisationen kommen auch den übrigen Volkskreisen zugute. Die Bestrebungen wachsen, ihnen die Benutzung durch Organisationen der Beteiligten (z. B. der Kaufleute) und gemeinnützige Vereine in weiterem Maße zu ermöglichen. Auch die individuelle Gesundheits- und Krankenpflege hat große Fortschritte gemacht. Jeder Arbeiter, der die gesundheitliche Schulung einer Heilanstalt durchgemacht hat, wird damit zum [852] Erzieher für seine Familie und seine ganze Umgebung. Krankenkassen und Invalidenanstalten erkennen immer mehr, ein wie großes Interesse sie daran haben, durch Vorträge und billige Schriften, Merkblätter usw. Aufklärung und praktische Anweisungen für eine gesunde Lebensweise und die rechtzeitige und sorgfältige Krankheitsbehandlung in immer weitere Kreise zu tragen.

Die Versicherungsanstalten haben besonders für die Wohnungsfürsorge der unbemittelten Volksklassen Pionierarbeit geleistet. In Anlehnung an sie und durch ihre finanzielle Unterstützung wurden die provinziellen Wohnungsvereinigungen und Baugenossenschaften in Rheinland, Hannover, Westfalen, Hessen-Nassau, den Freien Städten usw. in den Stand gesetzt, erfolgreich zu schaffen. Nicht weniger wie 418 Mill. Mark sind seitens der Anstalten bis 1912 an Darlehen an Baugenossenschaften usw. wie Einzeldarlehen gegeben worden.

Gemeinnützige Kapitalanlagen.

Überhaupt haben sich die angesammelten Fonds der Versicherungsanstalt als ein fruchtbarer Segensborn erwiesen. Von den angelegten Kapitalien kamen bis zum Jahre 1912 auf gemeinnützige Zwecke 1117,6 Mill. Mark.

Es waren angelegt:

zum Bau von Arbeiterwohnungen, Ledigenheimen (Hospizen, Herbergen, Gesellenhäusern usw.) 418,2 Mill. Mark
zur Befriedigung des landwirtschaftlichen Kreditbedürfnisses (für Bodenverbesserung, Kleinbahnen, Hebung der Viehzucht, Linderung der Futternot usw.) 113,8 Mill. Mark
für den Bau von Krankenhäusern und für Krankenpflege überhaupt, Gesundheitspflege, Erziehung und Unterricht, Volksbildung und sonstige Wohlfahrtszwecke 517,3 Mill. Mark
für eigne Veranstaltungen, Krankenhäuser, Heilanstalten, Lungenheilstätten, Genesungsheime, Invalidenhäuser usw. 68,3 Mill. Mark
Im ganzen 1117,6 Mill. Mark

Schon die nüchterne Zusammenstellung der Zahlen ergibt ein so glänzendes Bild der deutschen Arbeiterversicherung, daß sich niemand dem Eindruck verschließen kann. Das hat sich auch auf den nationalen und internationalen Ausstellungen augenfällig erwiesen. Alle Kulturstaaten beeifern sich, uns, wenn auch in weitem Abstande, zu folgen.

Nach einer Übersicht im „Reichsarbeitsblatt“ (1912) gibt es zurzeit Zwangskrankenversicherungen in Österreich, Ungarn, Frankreich, Großbritannien, Norwegen, Luxemburg, Serbien, Rumänien und Rußland. Eine Zwangsunfallversicherung haben außer Deutschland Österreich, Ungarn, Italien, Frankreich, Norwegen, Dänemark, Finnland, Niederlande, Luxemburg, Schweiz, Serbien, Griechenland, Rumänien und Rußland. Invaliden- und Alterszwangsversicherungen bestehen außer in Deutschland in Österreich, Ungarn, Frankreich, Belgien, Großbritannien, Luxemburg, Griechenland und Rumänien. Daneben haben Deutschland, Osterreich, Ungarn, Frankreich und Griechenland auch eine Hinterbliebenenversicherung. Die freiwillige Versicherung ist in den meisten Staaten neben der Zwangsversicherung für bestimmte nicht versicherungspflichtige Berufsklassen eingeführt. Eine ausschließlich freiwillige Krankenversicherung besteht in Belgien, Schweden, Finnland, Spanien, [853] in den Niederlanden und der Schweiz, eine ausschließlich freiwillige Unfallversicherung in Belgien, Großbritannien, Schweden und Spanien; eine ausschließlich freiwillige Invaliden- und Altersversicherung in Italien, Finnland, Spanien und Serbien, das ebenfalls eine freiwillige Hinterbliebenenversicherung hat. Norwegen, Schweden, Dänemark, Niederlande, Schweiz und Rußland haben zurzeit noch keine allgemeine Invaliden-, Alters- oder Hinterbliebenenversicherung; hier sind aber vielfach Reformbestrebungen auf Einführung der Zwangsversicherung im Gange. Eine besondere Angestelltenversicherung haben außer Deutschland noch Österreich und Serbien aufzuweisen. (Vgl. auch Zacher, Die Arbeiterversicherung im Auslande, 5 Hefte.)

Gesundheitliche und kulturelle Hebung unseres Volkes.

Es waren erschütternde Bilder des Raubbaues und rücksichtsloser Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft, welche uns Engels (Die Lage der arbeitenden Klassen in England) und Marx (Das Kapital) auf Grund der Enqueten in England aus der Zeit der entstehenden Industrie vor die Seele führten. Wenn auch in Deutschland dank der allgemeinen Schulpflicht und einer mehr sozialen Staatsauffassung schon früh den schlimmsten Mißbräuchen der wirtschaftlichen Macht Schranken gesetzt wurden, so drohte doch auch bei uns die steigende industrielle Entwickelung, verbunden mit der raschen Konzentration der Bevölkerung in den Städten und Industrieorten, eine physische und sittliche Degenerierung unseres Volkes herbeizuführen. Dank unserer zielbewußten systematischen Arbeiterversicherungs- und Arbeiterschutzpolitik ist dem wirksam Halt geboten.

Rückgang der Sterblichkeit.

Schon das äußere Bild der Bevölkerung in unsern Industriezentren, ihre physische und materielle Lebenshaltung unterscheidet sich sehr vorteilhaft von dem vor 30 bis 40 Jahren. Dieser Eindruck findet Bestätigung in den Sterblichkeitsziffern. Wenn auch die Fortschritte der öffentlichen Gesundheitspflege (Kanalisation, Wasserleitung usw.) und der steigende wirtschaftliche Wohlstand gewiß bedeutend mitgewirkt haben, so würden deren Wirkungen doch infolge der wachsenden Industrialisierung, der zunehmenden Wohnungsnot usw. wieder wesentlich herabgedrückt sein, wenn nicht die Sozialgesetzgebung den Hebel zum Fortschritt so mächtig verstärkt hätte. So erfreuen wir uns einer steigenden Abnahme der Sterblichkeit.

Auf 1000 Einwohner kamen Gestorbene im Durchschnitt[4]:

1851/60 1861/70 1871/80 1881/90 1891/1900 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912
27,8 28,4 28,8 26,5 23,5 19,2 19,0 19,0 18,1 17,1 18,2 16,4

Diese gewaltige Steigerung der physischen Lebenskraft und Lebensdauer ist aber nicht bloß ein Gewinn im Sinne eines Fortschritts der ethischen Kultur und Humanität, sondern bedeutet zugleich eine hochbedeutsame Erstarkung unserer wirtschaftlichen Stellung im Wettbewerb der Völker. Mit Recht hebt der Ministerialrat Dr. Zahn in seinem [854] Vortrag auf dem Internationalen Hygienisch-demographischen Kongreß in Washington 1912 hervor:

„Das Volk, die Volkskraft ist das kostbarste Gut der Nation. Es ist nicht bloße Masse, nicht „quantité négligeable“, sondern organisches Nationalkapital, das in weitem Umfange den Mutterboden der Kultur und der wirtschaftlichen Produktivität darstellt. Dies gilt sowohl für die alten Kulturstaaten, wie für die Staaten der Neuen Welt mit starker Zuwanderung. Dies gilt noch mehr als früher in der Gegenwart, wo im Zeichen der fortschreitenden Industrialisierung und Verstadtlichung der Bevölkerung der Mensch selber immer mehr zur Produktionsquelle, zur Mehrwertsquelle wird, wo er infolgedessen immer höhere Einschätzung erfordert. Der Reichtum des einzelnen Landes bemißt sich daher in der Gegenwart ganz wesentlich nach der quantitativen Größe und auch nach der qualitativen Reife der Bevölkerung. Verwertung und Entwickelung unserer Volkskraft darf demgemäß nicht Raubbau sein, sie muß organisches Kapitalisieren sein. Die neuen Entwickelungswerte müssen als Zinsen und Zinseszinsen aus dem Volkskapital ohne Beeinträchtigung des innern Wertes des Volkskapitals herausgewirtschaftet werden. So erscheint es denn selbstverständlich, daß alle moderne weitblickende Staatspolitik nicht so sehr auf mehr Geldreserven als auf mehr Kraftreserven gerichtet ist. Sie erstrebt größte Reserven von körperlicher und geistiger Kraft, von physischer und sittlicher Gesundheit der Nation.“

Diese hohe Einschätzung der physischen Volkskraft ist um so mehr gegeben, als mit der steigenden industriellen Entwickelung die Volksvermehrung in Deutschland nicht bloß nicht gleichen Schritt hält, sondern in bedenklicher Weise abnimmt.

Trotz des steigenden Wohlstandes ist die Zahl der Eheschließungen von 8,2 auf je 1000 Einwohner in den Jahren 1891 bis 1900 auf 7,9 1912 zurückgegangen. Noch bedenklicher aber ist der Rückgang der Geburten: von 38,2 im Durchschnitt der Jahre 1881 bis 1890 auf 29,1 im Jahre 1912. In Preußen sank die Geburtsziffer von 36,7 im Jahre 1892 auf 29,7 im Jahre 1912. Das ist eine dringende Gefahr für unsere nationale Wehrkraft wie für unsere wirtschaftliche Weltstellung. So haben wir doppelt Grund, unsere Volkskräfte zu schonen und zu stärken und auf eine möglichst lange Erhaltung des Lebens hinzuwirken. Die so verwendeten Kosten sind, selbst rein geschäftlich betrachtet, nicht minder gewinnbringend, wie etwa die Auslagen für den Schutz und eine schonende Behandlung und rechtzeitige und sorgfältige Reparatur kostbarer Maschinen.

Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik.

So stehen Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik in innigem gegenseitigen Verhältnisse. Die Opfer, welche der nationalen Produktion im Interesse der arbeitenden Klasse aufgelegt sind, haben sich als fruchtbare, reichlich sich verzinsende Anlage erwiesen. Nur eine wirtschaftlich und physisch vollkräftige Arbeiterschaft kann auch den weiteren Aufstieg unserer Industrie sichern. Das ist unser Stolz, das aber auch unsere Bürgschaft für die Zukunft, daß die erfreuliche Entwickelung unserer Industrie begleitet war von einer nicht minder erfreulichen wirtschaftlichen, physischen und geistigen Hebung des Arbeiterstandes, wie umgekehrt unsere Sozialpolitik sich stets der Grenzen bewußt geblieben ist, [855] die ihr durch die Leistungsfähigkeit der Industrie gesteckt sind. Tatsächlich hat die Industrie die Lasten und Opfer der Sozialpolitik nicht bloß zu tragen vermocht, sondern darüber hinaus noch eine erhebliche Steigerung der Löhne und der gesamten Lebenshaltung auf sich genommen. Neben den gesetzlichen Leistungen und in freier Ergänzung derselben haben die großen Arbeitgeber, wie die Jubiläumsschrift des Hansabundes mit berechtigter Genugtuung hervorheben darf, von 1883 bis 1912 mehr als 1654 Mill. (1912 allein 165 Mill.) Mark für Stiftungen und größere Gaben (im Betrage von 10000 M. und mehr) zum Besten ihrer Arbeiter aufgebracht.

Fortschritte der nationalen Produktion und des Wohlstandes.

Dabei hat die industrielle Entwickelung nicht bloß keine Hemmungen erfahren, sondern solche Fortschritte zu verzeichnen, daß sie die Bewunderung und den Neid anderer Nationen erweckt.

Zur Beleuchtung dieser Entwicklung einige Zahlen:

In Industrie und Handel wurden 1882 20,5 Mill. Menschen beschäftigt, 1907 aber 34,6 Mill. Auf Betriebe mit mehr als 50 Arbeitern kamen 1882 1,6 Mill., 1907 5,3 Mill. Die Zahl der Aktiengesellschaften stieg seit 1886/87 von 2143 aus 5422, das in ihnen investierte Kapital von 4,8 aus 17,1 Milliarden Mark (1912). Im Jahre 1885 produzierten wir 3,6, 1912 dagegen 17,8 Mill. Tonnen Roheisen. Die Steinkohlenförderung in Preußen betrug 1880 42, 1912 167 Mill. Tonnen; die Zahl der Baumwollspindeln in Deutschland 1892 6 Mill., 1912 10,6 Mill. Die Zementfabrikation stellte sich 1897 auf 2,4, 1912 auf 6 Milliarden Kilogramm. Die Automobilindustrie vermehrte den Wert ihrer Produktion von 1901 bis 1910 von 5,7 auf 109,5 Mill. Mark. Der Verbrauch an elektrischer Kraft in Deutschland beläuft sich heute auf 27 Mill. Kilowatt, gegen 36 000 1895 (Vgl. B. Harms, Kaiser Wilhelm II. und die Triebkräfte des neudeutschen Sozial- und Wirtschaftslebens. Jena 1913, S. 24f.)

Unsere Ausfuhr (Spezialhandel) ist stetig gewachsen. Ihr Wert betrug in Millionen Mark:

1872 1875 1880 1890 1895 1900 1905 1907 1909 1910 1911 1912
2492 2561 2977 3410 3424 4611 5731 6846 6594 7474 8106 8956

Diese glänzende Entwickelung der Industrie war begleitet von einem ähnlichen Fortschritt der landwirtschaftlichen Produktion. (Vgl. Die deutsche Landwirtschaft unter Wilhelm II. Zum 25. Regierungsjubiläum. Halle 1913.)

Infolge des Wachstums von Handel und Industrie ist die Auswanderung von 220 902 im Jahre 1881 auf 18 545 im Jahre 1912 gefallen. Umgekehrt ziehen heute Landwirtschaft und Industrie eine große Zahl von Einwanderern an. Während 1880 die Zahl der Ausländer in Deutschland rund 300 000 betrug, stieg sie auf 1 260 000 im Jahre 1910. In Preußen allein vermehrte sich die Beschäftigung ausländischer Arbeiter von 454 348 im Jahre 1905 auf 820 831 im Jahre 1911 („Statist. Korresp.“ 1913, Nr. 5).

Die steigende Organisationskraft in Gewerbe und Landwirtschaft ergibt die Genossenschaftsstatistik. Im Jahre 1889 zählten wir erst 6700 Genossenschaften mit etwa 1 Mill. Mitgliedern und etwa 1–1¼ Milliarde Aktien und einem Umsatz von etwa 5 Milliarden Mark; 1912 aber gab es ca. 32 000 Genossenschaften mit 5 Mill. Mitgliedern; die Aktiven stellten sich auf ca. 6 Milliarden und der Umsatz auf 27 Milliarden.

Das deutsche Nationalvermögen hat sich in den letzten 30 Jahren mindestens verdoppelt. („Kölnische Volkszeitung" 1. Januar 1910.) Es stieg von 150 auf mindestens 300 Milliarden. (So hoch veranschlagt es auch Bankdirektor Gwinner, während Arnold Steinmann-Bucher es auf 350 Milliarden schätzt.) Dagegen wird dasjenige Großbritanniens auf 260 bis 300, das Frankreichs auf 170 und das der Vereinigten Staaten auf 450 Milliarden Mark veranschlagt (vgl. Die wirtschaftlichen Kräfte Deutschlands. Berlin 1913, Dresdener Bank).

Das beste Bild der Entwicklung bietet die preußische Einkommensteuerstatistik. Die Einkommensteuer beginnt bei einem Einkommen von 900 M. Das gesamte versteuerte Einkommen stieg von 5961 Millionen im Jahre 1892, wo die Steuerreform eingeführt wurde, auf 15 240 Millionen im Jahre 1912. [856] Während 1896 die Zahl der physischen Zensiten mit ihren Angehörigen noch nicht drei Zehntel (29,3%) der Gesamtbevölkerung betrug, ist sie 1912 aus die Hälfte (51,4%) gestiegen. Bringt man auch die aus besonderen Gründen (wegen Kinderzahl usw.) Befreiten hinzu, so haben 1912 drei Fünftel der Gesamtbevölkerung ein Einkommen von mehr als 900 M.

Diese außerordentliche Steigerung der versteuerten Einkommen ist gewiß zu einem Teil auch auf die schärfere Einschätzung (namentlich seit 1907) zurückzuführen, aber dadurch wird das Bild doch nicht wesentlich geändert.

Der wachsende Volkswohlstand findet seinen Ausdruck in dem gesteigerten Konsum. Der Jahreskonsum pro Kopf der Bevölkerung Deutschlands hat sich in dem Zeitraum von 1879 bis 1910 vermehrt: bei Brotgetreide um 23,9, Kartoffeln 80, Fleisch (in Sachsen) 46,9, Zucker 185,5, Kaffee, Kakao, Tee um 44, Südfrüchte um 300, Salz um 66%. Noch mehr als bei diesen Nahrungsmitteln ist der Jahresverbrauch von Industriestoffen in die Höhe gegangen. Die Zunahme betrug bei Steinkohlen 120,5, Braunkohlen 227,7, Roheisen 203,8, Zink, Blei, Kupfer 225,9, Rohbaumwolle 100, Petroleum 71,8% („Westf. Bauer“ 1913.)

Der Arbeiterstand hat an dieser Steigerung des Wohlstandes kräftig teilgenommen. Leider fehlt uns eine irgendwie zuverlässige Lohnstatistik. Nur im Bergbau besteht eine solche. Da betrug der Jahresdurchschnittslohn unterirdisch beschäftigter Bergarbeiter (Hauer) nach Abzug aller Gefälle, Versicherungsbeiträge usw. im Steinkohlenbergbau des

Oberbergamts 1886 1907 1910 1911 1912
Dortmund 846 M. 1871 M. 1589 M. 1666 M. 1858 M.
Oberschlesien 536 M. 1130 M. 1068 M. 1094 M. 1196 M.
Saarbezirk 836 M. 1330 M. 1248 M. 1298 M. 1399 M.

Gewiß sind auch die Kosten der Lebenshaltung erheblich gestiegen, aber jedenfalls bleibt ein starker Überschuß. (Vgl. Zusammenstellung der Verkaufspreise der wichtigsten Lebensmittel bei der Kruppschen Konsumanstalt und der Arbeitslöhne der Kruppschen Gußstahlfabrik in Essen von 1872–1910 in der Denkschrift des Deutschen Landwirtschaftsrates über die Lebensmittelteuerung 1911.)

Trotz aller Lasten der Arbeiterversicherung, trotz der „bureaukratischen“ Schranken des Arbeiterschutzes[5] ist die freudige Initiative und Unternehmungslust unserer Arbeitgeber nicht erlahmt, sondern hat Wunder der Entwicklung vollbracht. Das gilt für die Industrie wie für die Landwirtschaft. Aber auch alle pessimistischen Ausblicke bezüglich der lähmenden Einwirkung der Sozialgesetzgebung auf den Sparsinn, die eigne Vorsorge und die Schaffenskraft der Arbeiter haben sich als falsch erwiesen.

Sparkassenstatistik.

Umgekehrt, die Sparkassenstatistik erweist, wie jetzt, nachdem der Arbeiter sich vor den schlimmsten Schicksalsschlägen geschützt weiß und nicht mehr auf die entehrende Armenpflege angewiesen ist, er einen Spargroschen um so mehr zu schätzen weiß, der ihm nun auch wirklich als Zuschuß in den Tagen der Not und des Alters zugute kommt, während er früher trotz aller Sparsamkeit nie sicher war, daß er nicht doch der Armenpflege anheimfiele und dann oft genug seine Ersparnisse nur der Armenkasse zugute kamen. In zehn Jahren, von 1900 bis 1910, ist die Zahl der Sparkassenbücher von 14,8 Millionen auf 21,5 Millionen und die Summe der Einlagen von 8838 auf 16 780 Millionen gestiegen.

[857]

Werbekraft des Versicherungsgedankens.

Der Versicherungsgedanke hat immer mehr im Volke Boden gewonnen. Die Versicherten machen in weiterm Maße von der freiwilligen Weiter- und Höherversicherung Gebrauch. So kommen die Wohltaten der Versicherung auch dem Mittelstande in steigendem Maße zugute. Die freien Zuschußkassen wachsen an Mitgliederzahl und Leistungen. Erstere stieg z. B. von 1907 bis 1911 von 396 602 auf 589 348, die Einnahmen von 10,3 Mill. Mark auf 15,6 Mill. Mark. Und wie die gesetzliche Versicherung erziehlich gewirkt hat, wird am besten durch die beispiellose Verbreitung der Volksversicherung erwiesen. Die Zahl der Versicherungsscheine betrug 1888: 308 415, 1911 dagegen 8 431 950, während die Versicherungssumme dieser Zeit sogar von 62,5 Mill. auf 1749 Mill. stieg.

Gewerkschaftliche Organisationen.

Das sind Beträge, die groschenweise zusammengebracht, vom Munde abgespart werden müssen. Wieviel Selbstbeherrschung und Opfersinn bekunden sie nicht! Und wie die wirtschaftliche Kraft und Energie in unserem Arbeiterstand gewachsen ist, beweist vor allem die Entwickelung unserer Gewerkschaftsorganisationen.

Die freien Gewerkschaften zählten 1912 2 530 390 Mitglieder und hatten eine Jahreseinnahme von 80 Mill. Mark, einen Vermögensstand von 80 Mill. Mark. Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine hatten bei einem Mitgliederbestande von 109 225 eine Gesamtjahreseinnahme von 2,7 Mill. Mark und ein Gesamtvermögen von 4,5 Mill. Mark. Den christlichen Gewerkschaften gehörten 344 687 Mitglieder an; ihre Einnahmen stellten sich auf 6,6 Mill. Mark, ihr Kassenbestand auf 8,6 Mill. Mark. Außerdem gab es noch 33 „unabhängige Vereine“, die 815 416 Mitglieder, 1,8 Mill. Mark Jahreseinnahme und 2,3 Mill. Mark Vermögen aufwiesen.

Dank dieser starken gewerkschaftlichen Organisationen hat sich unser Arbeiterstand auch die tatsächliche Gleichberechtigung bei Abschluß des Arbeitsvertrages mit den Arbeitgebern mit steigendem Erfolg erkämpft. An Stelle der individuellen Festsetzung der Arbeitszeit, der Löhne und der sonstigen Arbeitsbedingungen treten immer mehr Tarifverträge zwischen den beiderseitigen Organisationen unter Begleichung der Streitigkeiten durch gemeinsam errichtete Schiedsinstanzen.

Die Zahl dieser Tarife stieg von 1907 bis 1911 von 5324 auf 10 520; die Zahl der einbezogenen Betriebe von 111 050 auf 183 232, und die der Arbeiter von 974 564 auf 552 827.

Gleichberechtigung des Arbeiterstandes.

Unser Arbeiterstand hat mit vollem Erfolg den Kampf für die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung mit den andern Kreisen aufgenommen und zum guten Teil durchgeführt. Die umfassende verantwortliche Mitverwaltung in der Arbeiterversicherung, in den selbstgeschaffenen Gewerkschaften und Genossenschaften, die richterliche Tätigkeit in den Schiedsgerichten der Arbeiterversicherung und in den Gewerbegerichten haben das Interesse und die Befähigung für die Mitbetätigung auch im Gemeinde- und Staatsleben wirksam gefördert. So rückt der Arbeiterstand auch in den gesetzgebenden Körperschaften, in den Gemeindeverwaltungen, in den politischen Organisationen den übrigen Ständen gleichberechtigt und gleichwertig an die Seite. Aus dem gedrückten, verachteten oder bemitleideten „Proletarier“ ist der wirtschaftlich [858] gehobene, selbstbewußte, emporstrebende, für ideale Ziele begeisterte Vollbürger geworden. Kein Stand betätigt mehr Opfersinn und Selbstbeherrschung im Interesse der Solidarität, kein Stand bekundet mehr Eifer und Hingabe für die eigne Fortbildung und Schulung als der Arbeiterstand. Dank unserer Sozialpolitik ist so eine Fülle von geistigen und moralischen Kräften in unserm Arbeiterstande geweckt und gestärkt worden. Und das ist nicht bloß ein Gewinn der Kultur und unseres Gesellschafts- und Staatslebens, sondern liegt vor allem auch im Interesse der nationalen Produktion. Denn bei dem gewaltigen Fortschritt der Technik in Landwirtschaft und Industrie, der steigenden Kompliziertheit der Maschinen und der hohen Verantwortung ihrer Bedienung gewinnt die Initiative, Intelligenz und Tüchtigkeit des einzelnen Mannes immer mehr an Bedeutung, und es wird auch im Wettkampf der Völker auf dem Weltmarkt dasjenige Volk den Sieg erringen, das über den bestgeschulten, gewecktesten und strebsamsten Arbeiterstand verfügt.

Hoffnungen.

Es ist ein Bild zukunftsfroher Entwickelung, das unser Volk bietet. Unter der von hohen Zielen getragenen Führung unseres Kaisers sind wir auch wirtschaftlich gewachsen und stark geworden. Im Wettkampf der Völker haben wir uns siegreich behauptet, neue Gebiete erobert. Aber auch im Innern hat sich unsere wirtschaftliche Kraft gesteigert und gefestigt. Das Bewußtsein der Solidarität, der Zusammenhalt der verschiedenen Bevölkerungsschichten ist gewachsen. Der gerechte Ausgleich der Interessen wird immer mehr als das Ziel der nationalen Politik erkannt und erstrebt.

Das gilt vor allem auch von unserem Arbeiterstande. Hier hatte die soziale Unzufriedenheit und Verhetzung am tiefsten eingesetzt; hier war die soziale Fürsorge am dringendsten; hier ist in den letzten 30 Jahren auch Großes und Nachhaltiges geschaffen worden. „Ob wir nun Dank oder Undank für unsere Bestrebungen zur Aufbesserung des Loses der arbeitenden Klassen ernten, in diesen Bestrebungen werden wir nicht erlahmen“, so hat unser Kaiser vor 25 Jahren es versprochen, so hat er es getreu gehalten. „Ich habe die Überzeugung, daß diese staatliche Fürsorge uns zu dem Ziele führen wird, die arbeitenden Klassen mit ihrer Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung zu versöhnen“: dieser hoffenden, vertrauenden Politik ist er treu geblieben, und auch „der andauernde Widerstand gerade von der Seite, welche glaubt, die Vertretung der Arbeiterinteressen vorzugsweise für sich in Anspruch nehmen zu können“, hat ihn nicht erschüttert in der Zuversicht „auf den endlichen Sieg gerechter Erkenntnis des Geleisteten und auf wachsendes Verständnis des wirtschaftlich Möglichen in allen Kreisen des deutschen Volkes“. (Erlaß vom 17. November 1906, zum Gedenktag der Novemberbotschaft.) Das sind wahrhaft königliche Worte, die getragen sind von dem hohen Pflichtgefühl: „in Erfüllung der vornehmsten Christenpflicht auf den Schutz und das Wohl der Schwachen und Bedürftigen fortgesetzt bedacht zu sein“.

Wo so viel edler Wille, so hohe Auffassungen, solch unerschütterliches Vertrauen so Großes geschaffen haben für unsern deutschen Arbeiterstand, sollte dieser sich trotzig und blind dem allem dauernd verschließen? Sollte der deutsche Idealismus, die deutsche [859] Treue, alle die idealen Anlagen, die auch im deutschen Arbeiterstande lebendig sind und in ihrer Weise – nach den gegebenen Auffassungen und Strebungen, auch in den Verirrungen – unsere aufrichtige Bewunderung verdienen, für dauernd versagen? – Das kann nicht sein, trotz aller trüben Bilder, die sich heute noch bieten.

Wachsen der Sozialdemokratie.

Gewiß, die deutsche Sozialdemokratie ist stetig gewachsen – trotz aller Sozialpolitik. Mit Hohn hat man darauf hingewiesen, daß gerade nach den Februar-Erlassen die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen von 763 000 (1887) auf 1 427 000 (1890) emporschnellte. Vielfach ist diese Tatsache sogar als Erweis der Zweckmäßigkeit des Sozialistengesetzes geltend gemacht worden. Allein diese gewaltige Steigerung der sozialdemokratischen Stimmen bewies doch nur, daß das Sozialistengesetz wohl die äußere Betätigung gehemmt, aber nicht die inneren Überzeugungen geändert hatte. Umgekehrt, die Februar-Erlasse wurden von der Sozialdemokratie als die Anerkennung des „Unrechts“, wie es im Sozialistengesetz ausgeübt sei, hingestellt und so erst recht wahlagitatorisch ausgenützt, – der beste Beweis, wie die erziehliche Wirkung des Sozialistengesetzes versagt hatte. Nicht die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen bestimmt den Grad ihrer Gefahr für unsere Staats- und Gesellschaftsordnung, sondern die innere Gesinnung und die Bereitwilligkeit zur revolutionären Tat. Solange die Massen noch an die Macht des Stimmzettels glauben und diesen Glauben freudig betätigen, ist die Gefahr der Revolution noch nicht akut. Es ist das Ventil, durch das die innere Unzufriedenheit zur Auswirkung kommt, und es wäre eine falsche Politik, die gewaltsame Explosion damit verhüten zu wollen, daß das Ventil verschlossen wird.

Die Sozialdemokratie ist eine Bewegung von weltgeschichtlicher Bedeutung, die sich nicht in einigen wohlgemeinten Maßnahmen der Sozialpolitik erschöpft. Sie stellt eine neue Weltanschauung dar, die zwar vor allem durch die sozialen Mißstände ihre umfassende Bedeutung gewonnen hat, die aber nicht durch Milderung dieser Mißstände nun ebenso schnell wieder beseitigt wird. Sie greift die tiefsten Fundamente der bestehenden Gesellschaftsordnung an. Sie hat die Massen mit dem Fanatismus einer neuen Religion erfüllt.

Die innere Versöhnung und Wiedergewinnung der so verhetzten Massen kann nur das Werk vieler Jahrzehnte allseitiger, systematischer pflichttreuer und opferwilliger Arbeit in Schule, Kirche, Gesellschaft und Staat sein, kann vor allem nur durch die vereinigten Bemühungen von sozialem Pflichtgefühl durchdrungener Arbeitgeber und der ruhigern, gerecht und vernünftig denkenden Arbeiter und ihrer Organisationen gesichert werden. Was in Jahrzehnten versäumt worden ist, kann nicht in Jahrfünften wieder gutgemacht werden. Umgekehrt erfordert es die Arbeit von Generationen, die Einbußen in unfern sittlichen Volkskräften wieder auszugleichen, unser Volk wieder mit dem freudigen Glauben und Vertrauen in den Bestand unserer Gesellschaftsordnung und den gerechten Sinn der dirigierenden Klassen zu erfüllen, das Gefühl der christlichen Solidarität, der Liebe zu Vaterland und Kirche neu zu beleben [860] und zum Gemeingut der ganzen Nation zu machen. Das ist eine Erziehungsaufgabe, die Generationen umfassen und vor allem bei der Jugend einsetzen muß. Die Reform muß vor allem von den lebendigen Kräften des Christentums getragen und gestützt sein.

Wirkungen der Sozialreform.

Was man von der Sozialreform vernünftigerweise erwarten durfte, hat sich zum guten Teil erfüllt. Die wirtschaftliche, gesundheitliche und soziale Lebenshaltung unseres Arbeiterstandes hat sich mächtig gehoben. Die berechtigten stürmischen Anklagen haben sich gemildert; ihnen sind die Unterlagen zum guten Teil entzogen. Die Stimmen dumpfer Verzweiflung und roher Gewalt sind verstummt. Das Vertrauen in die Entwickelung der Dinge ist gewachsen. Revisionismus und selbstvertrauende Gewerkschaftsarbeit gewinnen an Boden. Die Sozialdemokratie hat zwar an Zahl zugenommen, aber zu wesentlichem Teil nur, weil man in ihr die treibende Kraft zum Fortschritt erblickte. Die wissenschaftlichen Unterlagen des Sozialismus: die Verelendungstheorie und die Katastrophentheorie mit der Vorstellung einer plötzlichen, gewalttätigen Umwandlung aller Verhältnisse, die Konzentrationstheorie mit dem Ausblick auf die „naturnotwendige“ Überführung aller privaten Produktionsmittel in das Eigentum der Gesellschaft, der Glaube an die „eine reaktionäre Masse“ der bürgerlichen Parteien usw. sind erschüttert. Ihr Erfurter Programm ist durch die Kritik aus den eigenen Reihen vollends unterhöhlt, und Anläufe zur Aufstellung eines neuen Programms sind aufgegeben. Der Glaube an eine neue gesellschaftliche Ordnung voll Harmonie, Glück und Frieden – den Zukunftsstaat – wird in den eigenen Reihen nicht mehr ernst genommen. Statt solchen Zukunftsphantasien nachzujagen, rechnet man mit der bestehenden Gesellschaftsordnung und sucht hier Einfluß zu gewinnen. Während die sozialdemokratische Partei im Reichstage noch alle grundlegenden Gesetze der Arbeiterversicherung und des Arbeiterschutzes ablehnte, hat sie den Novellen ihre Zustimmung gegeben. Statt des bloßen bittern Hohnes auf die „Bettelpfennige“ der Arbeiterversicherung möchte sie heute für sich das Verdienst ihrer Einführung in Anspruch nehmen. Die „Sozialistischen Monatshefte“, das „Korrespondenzblatt“ der Generalkommission der sozialdemokratischen Gewerkschaften Deutschlands usw. vertreten mit Nachdruck den Glauben an den Fortschritt der arbeitenden Massen. Im Wetteifer mit dem „Vorwärts“ verteidigen sie unsere Sozialreform gegen die Angriffe des Professor Bernhard („Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik“, Berlin 1912) und verlangen ihren weiteren Ausbau[6]. Statt des bloßen Räsonierens arbeiten die sozialdemokratischen Arbeiter in den sozialpolitischen Organisationen: Krankenversicherung, Unfallversicherung, Invalidenversicherung, Gewerbegerichten usw. eifrig mit. Wenn auch die parteipolitische Ausnutzung mitspricht, jedenfalls sind sie gezwungen, auch mit den Schwächen, Unehrlichkeiten und Leidenschaften der „Genossen“ den Kampf aufzunehmen [861] und sich der harten Grenzen, die dem stolzen Flug der Weltverbesserer gesetzt sind, bewußt zu werden. Statt phantastischer Zukunftspläne pflegen sie nüchterne Gegenwartsarbeit in kraftvollen Gewerkschaften und Genossenschaften. Ja selbst eine Volksversicherung wollen sie in großem Stile einrichten, um sich für Leben und Sterben im Gegenwartsstaat vorzusehen. So suchen sie sich in dem nationalen Vaterhause immer fester und wohnlicher einzurichten. Wer aber so eifrig mitbaut und bessert, denkt jedenfalls noch nicht an – Brandstiftung.

Die Sozialdemokratie ist immer mehr zu einer radikalen politischen Partei geworden, der alle politisch Unzufriedenen zuströmen. Die sozialen Forderungen und Klagen treten mehr und mehr gegenüber den politischen und „Kultur“-Fragen – d.h. den Bestrebungen einer antichristlichen Kultur – zurück. Alle ihre Reden und Flugblätter, ihre Anträge in den Parlamenten, die sie zur Verhandlung bringt, haben fast ausschließlich politischen Charakter. Allgemeines Wahlrecht in Preußen, Beseitigung der Zölle und indirekten Steuern, Bekämpfung von Militär und Marine, Bekämpfung der christlichen Schule usw. sind die Fragen, mit denen sie die Massen aufzupeitschen sucht. Von den sozialen Fragen sind es wesentlich nur noch die Wohnungsfrage, das Elend der Hausindustrie und bei absteigender Konjunktur die Frage der Arbeitslosigkeit, die berechtigten Stoff für die Aufhetzung bieten. Im übrigen handelt es sich um Aufgaben, die gewiß auch berechtigt und dringend sind, die sich aber meistens im Rahmen und auf Grund der bereits geschaffenen Gesetze im Wege der Verordnung und privater Fürsorge erfüllen lassen.

Man hat mit Recht auf die überraschende Tatsache hingewiesen, daß, während bei der letzten Reichstagswahl (1912) 4½ Millionen, also mehr als ein Drittel aller abgegebenen Stimmen auf die sozialdemokratische Partei gefallen sind, die Zahl der eingeschriebenen männlichen Mitglieder der Partei nur 841 735 beträgt. Dieser gewaltige Zahlenunterschied beweist gewiß, daß die Masse der sozialistischen Wähler nicht als zielbewußte überzeugte Sozialdemokraten anzusprechen sind. Die Zahl der eingeschriebenen Sozialdemokraten hätte an und für sich noch nichts Erschreckendes, wenn nicht die Masse der Mitläufer aus den bürgerlichen Kreisen ihren Einfluß verstärkte. Dessen ist sich die Sozialdemokratie auch sehr wohl bewußt. Deshalb die kluge Taktik der Mäßigung und Friedfertigkeit, wie sie z. B. der Jenaer Parteitag zur Schau trug, während der innere Charakter der Partei, ihr Haß gegen Religion und Monarchie, die skrupellose Verhetzung der arbeitenden Klassen gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, die rücksichtslose Verfolgung ihrer letzten Ziele gegebenenfalls auch durch Massenstreik und Gewalttat unverändert geblieben sind und die Verschleierung dieser Ziele ihre Gefahr und Werbekraft nur erhöht. In der Stunde der Entscheidung sind es immer die wenigen Zielbewußten, welche die Masse mit sich fortreißen.

Christlich-nationale Arbeiterbewegung.

Als wichtigsten positiven Erfolg der Sozialreform dürfen wir die Bildung und Erstarkung einer christlich-nationalen Arbeiterbewegung betrachten, die sich in freier Selbstbestimmung, in klarer Erfassung der berechtigten Ziele einer modernen Arbeiterbewegung mit Stolz und Begeisterung zu den Grundsätzen des Christentums und der monarchischen Staatsanschauung bekennt und mit freudigem Vertrauen auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung, im Rahmen und im Verein mit den bürgerlichen Parteien für die berechtigten Forderungen ihres Standes kämpft und arbeitet. Sie bildet die kraftvollste Gegenwehr gegen die Sozialdemokratie und den Kristallisationspunkt für alle die Elemente des Arbeiterstandes, die auf friedlichem Wege, im Rahmen [862] von Gesetz und Ordnung sich den gerechten Anteil am wirtschaftlichen Fortschritt und der steigenden Kultur des 20. Jahrhunderts zu erringen streben.

Zur christlich-nationalen Arbeiterbewegung sind insbesondere zu rechnen die katholischen Arbeitervereine (545 574 Mitglieder, die evangelischen Arbeitervereine (180 000 Mitglieder), die christlichen Gewerkschaften (360 000 Mitglieder). Dem Verbande der letzteren sind angeschlossen oder stehen nahe verschiedene Staatsarbeiter- und Angestelltenverbände (120 000 Mitglieder) und der Deutsch-nationale Handlungsgehilfenverband (125 000 Mitglieder). Die Rekruten für die Zukunft stellen die Jugendvereine dar, und zwar katholische (256 655 Mitglieder) und evangelische (142 826 Mitglieder), sowie katholischen (66 742) und evangelischen (2000) Gesellenvereine.

So haben wir keinen Grund zur Verzweiflung. Wer tiefer schaut, kann sich den Zeichen einer inneren Umwandlung und Fortbildung unseres neuen, vierten Standes nicht verschließen. Seine Eingliederung in den Gesamtorganismus vollzieht sich langsam, aber stetig und sicher. Es gilt nur, daß alle in Treue folgen dem stolzen, hoffnungsfreudigen Banner, das unser Kaiser in den Februar-Erlassen entrollt hat und mit ungebrochenem Mut und jugendlichem Idealismus voranträgt. Auch auf sozialem Gebiet gibt es keinen Stillstand, sondern auch hier heißt es: Vorwärts, mit Gott, für König und Vaterland!


  1. Die Zahlen sind meistens dem „Leitfaden der Arbeiterversicherung“, herausgegeben von Mitgliedern des Reichsversicherungsamtes (1913), entnommen. Soweit die gesetzlichen Leistungen aufgeführt werden, ist der Stand der Gesetzgebung von 1911 zugrunde gelegt.
  2. Nicht eingerechnet sind die landesgesetzlichen Leistungen der deutschen Knappschaftskassen und sonstiger Pensionskassen (Eisenbahnen usw.). Für die deutschen Knappschaften allein (ohne die Krankenkassenleistungen, die oben schon verrechnet sind) stellen sich diese Leistungen (für 1911 nach den Vorjahren geschätzt) wie folgt:
    im Jahre
    1911
    in den Jahren
    1885−1911
    Pensionen 28,2 Mill. Mark 399 Mill. Mark
    Witwenunterstützungen 10,5 Mill. Mark 176 Mill. Mark
    Waisenunterstützungen 2,3 Mill. Mark 67 Mill. Mark
    zusammen 41,0 Mill. Mark 642 Mill. Mark
  3. Das Deutsche Reich in gesundheitlicher und demographischer Beziehung. 1907, S. 399. Medizinalstatistische Mitteilungen des Reichsgesundheitsamts 1912, S. 74 ff.
  4. Das ungünstige Ergebnis für 1911 hat seine Ursache in der großen Säuglingssterblichkeit infolge der langandauernden Sommerhitze.
  5. Vgl. Hitze, Zur Würdigung der deutschen Arbeiter-Sozialpolitik. Kritik der Bernhardschen Schrift: „Unerwünschte Folgen der Sozialpolitik.“ M. Gladbach, Volksvereinsverlag 1913.
  6. Vgl. „Sozialistische Monatshefte“ 1912 S. 1496ff., 1913 S. 3ff., 110ff.; „Korrespondenzblatt“ 1913, Nr. 4–8. P. Kampffmeyer, Vom Kathedersozialismus zum Kathederkapitalismus. Ludwigshafen 1913.