Die Aschenurne

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Autor: Walther Kabel
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Titel: Die Aschenurne
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 8, S. 180–188
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Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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Die Aschenurne.
Von Walter Kabel.
(Nachdruck verboten.)

Ellinor Boege, die schöne Ellinor, war gestorben. Ganz plötzlich. An einer Lungenentzündung, vier Tage nach einer nächtlichen Autofahrt durch den Tiergarten, die leider ich selbst als Abschluß nach dem vergnügten Abend im „Rheingold“ vorgeschlagen hatte, ohne darauf zu achten, daß der Tülleinsatz von Ellinors Bluse so spinnwebdünn war und ihr Abendmantel so tiefen Ausschnitt hatte. Was half es da in der kalten Nacht, daß sie den Kragen hochschlug! Der scharfe Zugwind während der Fahrt ließ sie oft genug zusammenschauern, wie ich sehr gut bemerkte.

Aber auf meine besorgte Frage, ob der Chauffeur die Geschwindigkeit nicht mäßigen solle, lachte sie nur ihr silberhelles Lachen und stieß ihren Gatten übermütig in die Seite: „Du, Schnubbi, Karlchen hat schon wieder Angst um mich! – Aber ein lieber Mensch sind sie doch, Karlchen!“ Und dann streckte sie mir die Hand so harmlos kameradschaftlich hin und drückte meine Finger recht kräftig, damit ich ja auch fühle, ein wie „lieber Mensch“ ich sei.

Schnubbi – sie hatten die seltsamsten Kosenamen füreinander, die ich je gehört habe – antwortete gar nichts. Er starrte nur immer schräg nach oben zum Monde empor, der vor uns über der Charlottenburger Chaussee als gelbe Scheibe am Himmel stand. Seine [181] Dichterseele wandelte offenbar wieder phantastische Pfade, und in solchen Momenten hätte man getrost ein Geschütz neben ihm abfeuern können. Keine äußeren Eindrücke vermochten ihn dann auf diese prosaische Erde zurückzuführen. Erst wenn er seinen hohen Gedankenflug zu einem logischen Abschluß gebracht hatte, kehrte wieder der normale Erich Boege in den irdischen Leib zurück.

So war’s auch damals.

Gut zehn Minuten später fragte er plötzlich, den Kopf nach seiner Frau hindrehend: „Lusche, du hast mich vorhin angestoßen. Wünschtest du etwas?“

„Allerdings – einen Kuß!“

Da blinkte in Erichs Augen wieder dieser glückselige Schimmer auf, um den ich ihn stets beneidet habe. Um seinen Mund lag ein sonniges Lächeln, als er sein Weib jetzt an sich zog.

Ich hatte mich weggewandt. Die beiden Leutchen waren trotz ihrer dreijährigen Ehe noch immer wie die Kinder in einem selbstgeschaffenen Zaubergarten, über dem ständig strahlendster Sonnenschein lag und sich in goldenen Früchten, gegenseitigem Vertrauen und Rücksichtnehmen, widerspiegelte.

Und jetzt war Ellinor tot. Erst konnte ich’s gar nicht fassen, als ich die schwarzumränderte Anzeige las, unter die mein Freund in seiner flüchtigen Schrift nur die Worte gesetzt hatte: „Komm zu mir.“ Aber diese drei Worte waren wie ein erschütternder Weheschrei. Vier Tage hatte ich nichts von Boeges gehört, eben seit jener Autofahrt, und nun diese Nachricht, diese schreckliche Nachricht! –

Während mich die ratternde Ringbahn zwischen den Häuserkolossen hindurch in die entlegene Vorstadt brachte, war’s mir, als ob ich fortwährend aus dem [182] monotonen Geräusch der rollenden Räder eine weiche, übermütige Frauenstimme, fortwährend dieselben Verschen hörte, die die Tote so oft in strahlender Seligkeit wie eine Jubelhymne auf ihr Eheglück leise gesungen hatte:

Ich und du, wir sind so arm
Wie die Kirchenmäuschen,
Unser ist kein Eigentum
Als ein Knusperhäuschen.

Ich und du, wir sind so reich,
Das ist gar nicht schicklich,
Denn wir sind so unverschämt
übermenschlich glücklich …

Das war nun alles vorbei, alles!

Klopfenden Herzens, mit bangem Angstgefühl stieg ich die zwei Treppen zu meinem armen Freundes Wohnung empor. Das schrillen der Flurglocke ließ mich nervös zusammenzucken.

Das Mädchen öffnete. Es hatte verweinte Augen. Und bei meinem Anblick begann sie wieder leise zu schluchzen.

Wer hatte Ellinor wohl nicht geliebt!

Erich war gefaßter, als ich gedacht hatte. Nur in seinen Augen lag ein Ausdruck, daß sich mir die Kehle zusammenschnürte in wildem Weh. Dann sprach er von den letzten Tagen, dem furchtbaren Todeskampf. Sie hatte ja nicht sterben wollen, hatte sich an den alten Sanitätsrat angeklammert und keuchend immer wieder gefleht: „Retten Sie mich, retten Sie mich doch! Wir sind ja so glücklich!“

Und als Erich diese Worte mir kaum vernehmlich wiederholte, da habe ich mich in die Ecke des hohen Paneelsofas geworfen und geweint, herzzerbrechend geweint.

[183] Erich fand keine Träne. Er sprach nur immer vor sich hin: „Ja, das sagte sie – das sagte sie.“

***

Ellinor Boege wurde auf ihren Wunsch in Gotha verbrannt. Ich stand neben meinem Freunde, als der Sarg langsam in die feurige Gruft versank, hatte meinen Arm in den seinen gehängt und hoffte – hoffte auf das eine, daß sein starrer Schmerz sich endlich in Tränen auflösen würde. Mit weißem, unbeweglichem Gesicht, mit eingefallenen Wangen stierte er vor sich hin auf die polierten Bretter, die sein Liebstes umschlossen. Aber als dann die Platten sich wieder über der Öffnung zusammenfügten, da brach er ohnmächtig zusammen.

In den folgenden Tagen wich ich nicht von seiner Seite. Er hatte sich eine silberne Urne gekauft, und darin bewahrte er das Häuflein graue Asche auf – die Überreste seiner Ellinor. Die Urne stand in seinem Arbeitszimmer auf einer schwarzen Marmorkonsole, und darüber hing mit schwarzem Tüll verhüllt das Bild der Verstorbenen.

Vergebens suchte ich ihn zu bewegen, seine Gedanken durch Arbeit abzulenken. Wenn ich zu ihm kam, fand ich ihn stets in derselben Stellung. Er saß vor sich hin brütend in dem tiefen Klubsessel und starrte unverwandt nach der mattglänzenden Urne hin.

Sonderbar war es, daß er nie über die Tote sprach. Und da auch ich alles vermied, was ihn an den schmerzlichen Verlust erinnern konnte, wurde Ellinors Name zwischen uns nicht erwähnt. Und doch merkte ich an vielem, daß er immer nur an sie, nur an sie dachte. Wenn ich seine Briefe öffnete – er selbst erledigte nichts mehr –, ihm vorlas und, wo dies nötig, um seine Entscheidung bat, gab er ganz verkehrte Antworten.

[184] Und dann wieder unterbrach er mich einmal mitten in einem Satz und sagte ganz zusammenhanglos: „Ich werde ohne sie nicht weiterleben können – nein, nein … das geht über meine Kraft!“ –

Eine Woche war seit Ellinors Einäscherung vergangen. Erich wurde immer stiller, immer gleichgültiger gegen seine Umgebung. Er, der früher jede freie Minute am Schreibtisch gesessen hatte und den eine ihn selbst begeisternde neue Novelle bis zum Morgengrauen wachhalten konnte, rührte keine Feder mehr an. Meine energischsten Vorstellungen halfen nichts. Und bisweilen bemerkte ich jetzt in seinen Augen einen seltsam wirren, unsicheren und dabei beängstigend stumpfen Ausdruck.

Meine Sorge um ihn wuchs von Tag zu Tag. Am liebsten hätte ich ihn in irgend ein Sanatorium für Nervenkranke geschickt, zumal mir ein befreundeter Arzt, der ihn einmal auf der Straße getroffen und auch sehr verändert gefunden hatte, warnend sagte: „Er wäre ja nicht der erste, den die Liebe ins Irrenhaus gebracht hat.“

Dann besuchte er mich eines Nachmittags in meiner Wohnung. Es geschah zum ersten Male nach Ellinors Tod, und deshalb war ich sehr froh über sein Kommen. Ich merkte bald, daß er irgend etwas auf dem Herzen hatte.

Ruhelos wanderte er im Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb er vor mir stehen. „Glaubst du eigentlich an eine Fortexistenz der Seele nach dem Tode?“ meinte er ganz unvermittelt.

Als ich meiner Überzeugung gemäß die Frage bejahte, sagte er wie zu sich selber sprechend: „Es muß ja auch sein, es muß! Sonst wäre das ja nur eine Sinnestäuschung gewesen.“ Und nach einer kurzen [185] Weile fuhr er fort, immer in demselben müden Tone: „Gestern abend habe ich Ellinors Briefe aus unserer Brautzeit nochmals gelesen. Darüber war es spät geworden. Ich saß auf meinem alten Platz, in dem Klubsessel an dem kleinen Tischchen. Die Lampe hatte ich fast ganz verhüllt, so daß nur ein kleiner Lichtkreis die nächste Umgebung erhellte. Da schlug die Standuhr im Eßzimmer mit ihrem tiefen Gongton langsam zwölf. Zufällig blickte ich in demselben Augenblick nach der Urne hin, und da hob sich mit einem Male langsam der Deckel, ein tiefer Nebel quoll aus dem Innern hervor und sank träge wie dicker Rauch an der Wand auf den Fußboden herab. Immer mehr verdichtete sich diese Dunstmasse, ballte sich nach oben höher hinauf und – – nahm allmählich menschliche Formen an. Erst glaubte ich zu träumen, schaute hierhin und dorthin, um zu prüfen, ob ich tatsächlich wach war. Als meine Augen dann scheu zu der halbdunklen Stelle zurückkehrten, wo eben noch etwas wie ein unklares Nebelgebilde geschwebt hatte, da – da stand Ellinor dort, Ellinor mit einem wehmütigen Lächeln um die Lippen. Ich sah sie so deutlich, sah jeden Zug ihres lieben Gesichts. Nur ihr Gewand war wie ein langer, weiter Mantel und umfloß faltenreich ihre Gestalt … Als ich ihr so in das teure Antlitz blickte, da fühlte ich, daß in mein schmerzzerrissenes Herz milder Friede einzog. Eine linde, wohlige Wärme erfüllte mein Inneres, ein seit langem nicht mehr gekanntes Empfinden ergebungsvoller Ruhe. Leise, ganz leise wagte ich dann ihren Namen zu flüstern. Zart wie ein Hauch kam mein Name zurück, aber doch im zitternden Tone tiefster Zärtlichkeit. Und dies trieb mir die Tränen urplötzlich mit aller Macht in die Augen. Meine Blicke verdunkelten sich. Ich weinte, wie ich noch nie im Leben geweint [186] habe, und große Tropfen fielen auf die Briefe herab, die in meinem Schoße ruhten. – Als ich mich endlich gefaßt hatte, der Tränenstrom langsam versiegt war, war die Erscheinung verschwunden.“ Bang forschend schaute er mich an. „Meinst du, daß das vielleicht nur eine Sinnestäuschung gewesen ist? – Bitte, sag mir ehrlich deine Ansicht!“

Sollte ich ihm wirklich in diesem Falle die volle Wahrheit geben? Sollte ich ihm Hoffnungen zerstören, an die er sich schon so fest geklammert? Ich hatte es ja aus seiner Frage herausgehört, welche Antwort er erwartete.

„Du sagst selbst, daß du völlig wach und Herr deiner Sinne gewesen bist,“ entgegnete ich, eine direkte Erwiderung umgehend.

Glücklich lächelnd nickte er vor sich hin. Und während er verträumt auf die hellen Vierecke schaute, die die durch das Fenster fallenden Sonnenstrahlen auf die Wand zeichneten, meinte er nachdenklich: „Wenn sie doch öfters zu mir käme! Dann hätte ich sie doch nicht ganz verloren.“ –

Noch an demselben Abend ging ich zu meinem Freunde, dem Arzt, erzählte ihm Wort für Wort, was Erich mir über die angebliche Erscheinung gesagt hatte, und bat um seinen Rat.

„Abwarten!“ erwiderte er achselzuckend. „Sollten sich diese Sinnestäuschungen wiederholen, so halte ich allerdings Boeges Unterbringung in eine Heilanstalt für das beste. Ich fürchte, offen gestanden, wir haben es hier mit beginnendem Wahnsinn zu tun.“ –

Am nächsten Vormittag traf ich Erich zu meinem freudigen Erstaunen am Schreibtisch an. Er hatte soeben ein Antwortschreiben an einen Verlag wegen seines neuesten Novellenbandes beendet. Etwas mißtrauisch [187] las ich den Brief. Aber er war vollkommen sachgemäß abgefaßt.

Dann fragte ich vorsichtig nach dem Verlaufe der vorigen Nacht.

Und wieder lächelte mein Freund so glücklich, als er antwortete: „Ich habe bis zwölf auf Ellinor gewartet, und sie zeigte sich mir wie gestern in derselben Weise. Ich habe wieder angefangen zu weinen. Und nachher war sie fort.“

„Und gesprochen hat sie nichts?“

„Nein. – Vielleicht deswegen nicht, weil ich sie nicht anzureden wagte. Nur zugenickt hat sie mir. Aber ihr Lächeln war nicht mehr so weh.“ – –

Einige Tage nachher erzählte mir Erich, daß er mit dem Entwurf zu einem Roman begonnen habe. Ellinor war ihm inzwischen regelmäßig in jeder Nacht erschienen, wie er mir stets berichtet hatte. Wir sprachen dann miteinander über einzelne Details seiner neuen Arbeit. Er war lebhaft und schon wieder leicht nervös, und ich fühlte auch, daß seine Phantasie fast ganz von den Gestalten des Romans in Anspruch genommen wurde.

Natürlich erfreute mich diese Besserung außerordentlich. Und sie hielt auch an. Er arbeitete bald wieder regelmäßig wie früher.

Auffallenderweise erwähnte er jedoch die nächtlichen Erscheinungen nicht mehr, bis wir dann einen Monat später, als wir eines Abends in seinem Arbeitszimmer saßen und über einer anregenden Unterhaltung die Zeit völlig vergessen hatten, beim Schlagen der Uhr im Eßzimmer gleichzeitig unwillkürlich die tiefen Gongschläge mitzählten.

Es war zwölf.

Verstohlen schaute ich da, einem inneren Zwange folgend, nach der silbernen Urne hin.

[188] Erich mußte meinen Blicken gefolgt sein. Denn plötzlich sagte er zögernd mit leichter Verlegenheit: „Ich muß dir ein Geständnis machen. Jetzt weiß ich nämlich, daß meine Phantasie mir Ellinors Gestalt und Stimme nur vorgetäuscht hat. Denn seit ich mich ernstlich wieder in meine Arbeit vertieft habe, ist die Erscheinung ausgeblieben. Aber ebenso bestimmt weiß ich auch, daß ich mich tagelang am Rande des Wahnsinns befunden habe, und daß ich sicherlich in einer Minute völliger Verzweiflung Hand an mich gelegt hätte, wenn jenes liebe Trugbild mich damals nicht getröstet und mir über die schwerste Zeit nach Ellinors Tod hinweggeholfen haben würde.“

Ich begriff ihn. Herzlich schüttelte ich ihm die Hand. Er war genesen.