Die Astronomie als Entlastungszeugin

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Autor: Walther Kabel
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Titel: Die Astronomie als Entlastungszeugin
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aus: Das Buch für Alle, Illustrierte Familienzeitung, Jahrgang 1916, Vierzehntes Heft, Seite 330
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Erscheinungsdatum: 1916
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart
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Die Astronomie als Entlastungszeugin.

Stockton, eine kalifornische Industriestadt, war im Mai 1912 der Schauplatz wüster Arbeitertumulte. Während des Aufstandes kam es am 22. Mai in den Nursonschen Maschinenfabriken, die abseits der Stadt lagen, im Direktionsgebäude zu einer furchtbaren Explosion, die das Haus fast völlig zerstörte. Mehrere Personen, die sich gerade darin aufhielten, wurden schwer verletzt. Man schloß ohne weiteres auf ein von den Streikenden verübtes Dynamitattentat. Aber zunächst blieben alle Versuche, den oder die Täter zu entdecken, erfolglos. Nach Tagen meldeten sich bei dem Scheriff von Stockton zwei Schwestern Henderley, junge Mädchen im Alter von achtzehn und zwanzig Jahren, und sagten aus, sie hätten am Tage des Attentats gesehen, wie der ihnen bekannte Techniker Mac Austen kurz vor neun Uhr morgens eine kleine Handtasche vor der Haupttür des Nursonschen Direktionsgebäudes niedergesetzt habe und schnell davongeeilt sei. Unmittelbar danach sei die Explosion geschehen. Der Scheriff ließ den schwer beschuldigten Techniker verhaften. Im Verhör erklärte Austen die Aussage der Schwestern für Erfindung. Er gab an, daß er mit zwei Freunden von halb neun bis halb zehn Uhr morgens im Gespräch vor einer Wandermenagerie gestanden sei, die ihr Zelt auf einem vom Nursonschen Direktionsgebäude etwa achthundert Meter entfernten freien Platz bei anderen Schaubuden aufgeschlagen hatte. Da seine beiden Zeugen hierfür gleich ihm selbst zu den Streikführenden gehörten und seine einzigen Entlastungszeugen blieben, wurden ihre Aussagen gering bewertet. Selbst als Mac Austen durch einwandfreie Zeugen zu beweisen vermochte, daß die Schwestern Henderley ihm seit langem gehässig waren, entließ man ihn nicht aus der Haft.

Nach vier Wochen stand Mac Austen vor den Geschworenen. Die Verhandlung ging rasch vor sich. Als die Anklageschrift verlesen war, rief man die Geschwister Henderley auf, die trotz wiederholter Mahnung vor den Folgen eines Meineids bei ihrer Aussage blieben. Die beiden Entlastungszeugen wurden trotz scharfer Verwahrung des Verteidigers nicht vernommen, und auch keine jener anderen Personen, welche die feindliche Gesinnung der Schwestern bestätigen wollten. Die Geschworenen fanden das Zeugnis beider Mädchen genügend, um so mehr, als Austen zu Beginn des Streiks den Arbeitgebern mit Gewaltmitteln gedroht hatte. Mac Austen wurde zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt.

Zwei Monate vergingen. Die Freunde des Verurteilten hatten in dieser Zeit alles versucht, um die Wiederaufnahme des Rechtsverfahrens durchzusetzen. Der Arbeiterverband in Stockton hatte die Mittel für diesen Zweck bewilligt. Zwei der tüchtigsten Geheimpolizisten aus dem nahen San Franzisko waren nach mühsamer Arbeit imstande, dem Obersten Gericht in San Franzisko ihre belastenden Zeugnisse mit dem Antrag auf erneute Verhandlung vorzulegen. Das Schwesternpaar Henderley wurde als des Meineids verdächtig verhaftet, und Mac Austen aus dem Zuchthaus in das Untersuchungsgefängnis gebracht.

Worbler, einer der beiden Geheimpolizisten, trat als Hauptzeuge auf. Er war als Hilfschreiber in die Nursonsche Fabrik eingetreten, um unauffällig die Bekanntschaft der Schwestern Henderley zu suchen. Wochen vergingen, bis er vorwärts kam. Dann aber sah Worbler in der Wohnung der Schwestern eine photographische Aufnahme, die von größter Wichtigkeit für den ihm übertragenen Fall werden sollte. Das Bild zeigte die Geschwister auf der Treppe eines Wohnwagens, wie ihn Schausteller benutzen, zärtlich aneinandergeschmiegt sitzend. Über den Vordergrund der Photographie lief ein schmaler, scharfmarkierter dunkler Strich, der Schatten eines nahen, sehr hohen Fabrikschlotes. Die Rückseite des Bildes trug den Aufdruck eines Gummistempels: „A. Silkers Schnellphotographie. Zum Andenken an den 22. Mai 1912.“

Als Worbler die Schwestern beiläufig fragte, zu welcher Zeit die Aufnahme gemacht sei, wurde ihm mit auffälligem Eifer versichert, es wäre um die Mittagstunde gegen ein Uhr geschehen. Daß die Behauptung der Wahrheit widersprach, sah Worbler sofort; der Schatten des Schornsteins, der gegen Mittag, im höchsten Stand der Sonne, nur ganz kurz fallen konnte, reichte auf der Photographie über den ganzen Vordergrund. Das Bild konnte also nur zu einer bedeutend früheren oder späteren Stunde aufgenommen sein. Worbler war durch die offensichtlich falsche Zeitangabe stutzig geworden und brachte bei nächster Gelegenheit das Bild heimlich an sich. Dann fahndete er nach dem Schnellphotographen Silkers, der gleich nach dem Attentat aus Stockton abgereist war. Silkers besann sich sogar noch auf die beiden munteren jungen Mädchen, die er auf ihren Wunsch auf der Treppe seines Wohnwagens photographiert hätte. Das wichtigste der Unterredung war für Worbler, daß Silkers auf das bestimmteste versicherte, die Aufnahme sei am frühen Vormittag gemacht worden, und die Schwestern hätten bei ihm mindestens eine halbe Stunde verplaudert. Genau konnte der Photograph die Zeit nicht mehr angeben. Worbler genügte die Tatsache, daß ihn die Schwestern über den Zeitpunkt der Aufnahme hatten täuschen wollen. Er schickte das Bild an die Sternwarte in San Franzisko mit der Anfrage, ob es möglich wäre, aus der Lage des Schornsteinschattens auf der Photographie den Augenblick der Aufnahme genau zu bestimmen, und erhielt zur Antwort, daß dies sehr leicht, aber nur in Stockton selbst zu berechnen sei. Darauf wurde der Astronom Professor Kuttner von Worbler eingeweiht, kam nach Stockton und rechnete mit Hilfe seiner Instrumente aus, daß die Aufnahme fünf Minuten vor neun Uhr morgens gemacht worden sei. Zur Sicherheit prüfte der Gelehrte seine astronomischen Berechnungen noch einige Male nach; das Ergebnis änderte sich nicht. So war einwandfrei erwiesen, daß die Schwestern in der ersten Verhandlung einen Meineid schwuren, als sie aussagten, Mac Austen kurz vor neun Uhr mit der Handtasche vor dem Nursonschen Direktionsgebäude gesehen zu haben, da sie sich zur selben Zeit auf dem achthundert Meter entfernten Schaubudenplatz befanden.

Nach der Vernehmung Worblers wurden die Schwestern Henderley unter Bewachung in den Saal geführt und ihnen vom Vorsitzenden das Verbrechen des Meineids auf den Kopf zugesagt. Die Geschwister versuchten zu leugnen. Erst als Professor Kuttner an der Hand einfacher Zeichnungen seine Berechnungen in allgemeinverständlicher Weise erläuterte, brachen die Schwestern zusammen und legten ein umfassendes Geständnis ab. Sie hatten an jenem Morgen auf dem Wege zum Photographen den Techniker zwischen den Schaubuden umhergehen sehen. Ihn als Urheber des Attentats anzugeben, war von der Älteren ersonnen worden, die der Meinung war, daß es Mac Austen schwer fallen müsse, zu beweisen, wo er um die Stunde der Explosion gewesen sei. Die Schwestern büßten ihre Rachsucht durch langjährige Freiheitsstrafen.

Später gelang es beiden Geheimpolizisten noch, den wahren Urheber jenes Attentats zu entdecken. Es war ein Buchhalter, der kurz vorher entlassen worden war und in der ersten Erbitterung darüber den Anschlag ausgeführt hatte.

W. K.