Die Beredsamkeit auf den Pariser Straßen

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Ludwig Kalisch
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Beredsamkeit auf den Pariser Straßen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 543
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[543] Die Beredsamkeit auf den Pariser Straßen. In einer Weltstadt wie Paris ist es viel leichter, irgend ein Talent zu besitzen, als es geltend zu machen. Niemand wird hier aufgesucht; Jeder muß sich hier mehr oder minder aufdrängen und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken suchen. Wer das nicht kann, erreicht sehr selten sein Ziel. Man sieht das so recht an den Leuten, die auf den Pariser Straßen ihre Waaren feil bieten. Wer von ihnen dieselben am geschicktesten anzupreisen versteht, wird sie auch am geschwindesten los. Ohne ein gewisses Talent der Beredsamkeit kann aber Niemand seine Waare los werden. Die Pariser Straßenberedsamkeit hat manchen Demosthenes, manchen Cicero aufzuweisen. Bleiben wir einen Augenblick vor einem jungen Manne stehen, der verstohlen einige Worte mit einem andern jungen Manne wechselt. Jener hat einen schwarzen Rock an und trägt einen Cylinder auf dem Kopfe; dieser trägt eine Blouse und eine lebensmüde Mütze, die auf Krakehl sitzt. Nach dem geheimnißvollen Wortwechsel entfernt sich der Blousenmann, während der Andere ein Stück schwarzer Kreide aus der Tasche zieht, und auf dem Asphalt des Trottoirs eine Gruppe phantastischer Fische mit vieler Fertigkeit zeichnet. „Meine Herren und Damen, oder vielmehr meine Damen und Herren,“ beginnt er, „dem menschlichen Geiste bleibt nichts verborgen. Die Fische, die ich die Ehre habe, naturgetreu vor Ihnen zu zeichnen, hatten sich alle Mühe gegeben, vor den menschlichen Augen sich zu verstecken, wahrscheinlich weil sie wußten, daß sie höchst interessant und sehr schmackhaft sind, und nicht in irgend einem Aquarium, oder auf den Speisekarten im Café Anglais figuriren wollten. Darin hatten sie so unrecht nicht; denn Niemand liebt es, die Freiheit zu verlieren, oder gar gegessen zu werden. Allein was half es ihnen? Sie wurden endlich doch in den Gewässern von Siam entdeckt. Wer aber war der Entdecker? Ein Franzose, meine Herren und Damen! Gloire à la France! Ich bin stolz darauf, daß es einer meiner Landsleute war, der die wunderbare Entdeckung gemacht hat. Ja, ich bin stolz darauf, denn unter dieser schlechten Weste (mit einer theatralischen Geberde) schlägt ein, patriotisches Herz.“

Indessen haben sich etwa fünfzig Personen um ihn versammelt, und er beginnt wieder, indem er einige kleine Paketchen aus der Tasche zieht und sie der Gruppe vorzeigt. „Was enthalten diese Paketchen? Diese Frage lese ich in Ihren Zügen und sie ist natürlich. Nun, ich will sie beantworten. Schenken Sie mir Ihr wohlwollendes Gehör. Ich bilde mir nicht ein, ein großes Genie zu sein. Ich bin weder ein großer Poet, noch ein großer Maler; ich bin auch kein großer Feldherr und am allerwenigsten ein großer Finanzmann. Ach, nicht Jedermann kann ein Victor Hugo oder Horace Vernet, ein Napoleon oder ein Herr von Rothschild sein. Ich bin auch, wie Sie sich in diesem Augenblick überzeugen, kein großer Redner, und es fällt mir auch nicht ein, mich mit Herrn Jules Favre, oder gar mit Herrn Berryer messen zu wollen. Aber ich kenne meinen Werth, und das ist kein Verbrechen. Nun, vor etwa vierzehn Tagen, als ich hier auf derselben Stelle stehe, umgeben von einem zahlreichen Publicum und hochgebildet wie dasjenige, das mich in diesem Augenblick durch die gespannteste Aufmerksamkeit ehrt, sehe ich einen hagern, blassen, schwarz gekleideten Mann, dessen Blicke jeder meiner Bewegungen folgen, dessen Ohr an meinem Munde hängt. Ich bot damals – beiläufig gesagt – dem Publicum die von mir erfundenen Gesundheitsuhrketten an. Die Waare ist, wie es sich von selbst versteht, schnell verkauft. Ich entferne mich; das Publicum zerstreut sich. Ich eile von dannen; der geheimnißvolle Mann eilt mir nach. Endlich erreicht er mich in der Rue Valois vor dem Restaurant Richard, legt mir freundlich die Hand auf die Schulter und sagt: ‚Junger Mann, Sie haben Talent! Sie wissen die Menge anzuziehen und zu fesseln. Ich habe Sie daher vor vielen Andern ausgewählt. Nehmen Sie dies (auf die blauen Paketchen zeigend). Betrachten Sie es genau. Ihr Glück ist gemacht!‘ Er verschwand. Wer war der Mann? Das ist mein Geheimniß, und man wird mir’s nicht verargen, wenn ich in dieser Beziehung ein tiefes Schweigen beobachte. Dringen Sie nicht in mich, ich kann und darf ihn nicht nennen. Aber diese Pakete, was enthalten sie? Diese Frage will ich gern beantworten. Nun, meine Herren und Damen, oder vielmehr meine Herren – denn an diese wende ich mich jetzt ausschließlich – meine Herren, Sie verstehen mich; Sie haben Scharfsinn genug mich zu errathen. Treten Sie näher, kaufen Sie und – ich sehe einen Polizeidiener. Greifen Sie rasch zu, denn meines Bleibens ist nicht länger.“

Einige Männer nähern sich, kaufen verstohlen die Pakete und – sind angeführt. Sie glaubten nämlich, Karten gekauft zu haben, die, gegen das Licht gehalten, zweideutige Bilder zeigen. Sie haben aber nur ganz gewöhnliche Karten gekauft.

Die Leute, die mit einem höheren oder geringeren Grade von Beredsamkeit auf den Trottoirs ihre Waare feil bieten, nennt man „Camelots“, die Waare selbst wird „Camelotte“ genannt, ein Wort, das sich am besten mit Schund übersetzen läßt. Ein Camelot ist niemals allein, sondern stets von einem Genossen begleitet, der in einiger Entfernung Wache steht und, wenn sich ein Polizeidiener blicken läßt, sogleich das Signal zum Aufbrechen giebt. Es ist nämlich verboten, auf den Trottoirs Waaren auszukramen, oder Leute um sich zu versammeln, da dies die Circulation hemmt. Die Polizei sieht übrigens den Camelots ziemlich durch die Finger. Der scharfsinnige Leser wird nicht erst fragen, warum der Camelot, von dem eben die Rede war, die Fische auf den Asphalt gezeichnet. Er wollte durch seine Fertigkeit im Zeichnen ein Publicum herbeilocken. Die marktschreierischen Reden, durch welche die Camelots oder sonst Leute, die aus öffentlicher Straße ihren Trödel anbieten oder Kunststückchen zeigen, die Vorübergehenden anzuziehen suchen, werden „Boniment“ genannt. Dieses Wort hat zwar keine Aufnahme in’s Dictionnaire der französischen Akademie gefunden, es wird aber darum nicht minder von allen Schichten der Gesellschaft und sogar von den Akademikern in der täglichen Unterhaltung gebraucht.

Kalisch.