Die Farbenblindheit

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Autor: S. Th. Stein
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Titel: Die Farbenblindheit, eine Gefahr für das öffentliche Leben
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 65–67
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die Farbenblindheit,


eine Gefahr für das öffentliche Leben.


Der leider der Wissenschaft und wir dürfen ohne Uebertreibung sagen der Menschheit so früh entrissene Sprachforscher und Philosoph, der große Denker Lazarus Geiger, bewies in der überwältigenden Rede, durch die er einige Jahre vor seinem Tode auf der Naturforscherversammlung zu Frankfurt am Main die gesammte Hörerschaft entzückte, daß die menschlichen Sinnesorgane vor Jahrtausenden noch nicht zu so exacten Sinneswahrnehmungen sich herangebildet hatten, wie solche die heutige Beobachtung[WS 1] erweist. Er nahm die Geschichte des Farbensinnes in Bezug auf die Gesammtentwickelung des Empfindens zum Thema seines Vortrags und wies aus den ältesten uns erhaltenen Geisteswerken der Urvölker nach, daß der Eindruck, den die Farbe auf die menschliche Gesellschaft der Vorzeit gemacht hat, auf eine merkwürdige Verschiedenheit von unseren heutigen Farbenempfindungen schließen läßt. Besonders auffallend ist, daß in den ältesten uns überkommenen Erzeugnissen der Literatur des Alterthums der blauen Farbe durchaus keine Erwähnung geschieht.

Weder die alten hochpoetischen indischen Offenbarungsbücher, die „Veda“, die in ihrer Gesammtheit mit Schilderungen des Himmels angefüllt sind, noch der „Zendavesta“, jene wunderbare Sammlung altpersischer Religionsschriften des Zoroaster, erwähnen die blaue Farbe des Himmels, den sie schwarz nennen. Auch Bibel und Koran finden keine Gelegenheit des blauen Himmels zu gedenken. Die Wörter, welche in den Sprachen des grauen Alterthums für blau gebraucht werden, bedeuten zum kleineren Theil ursprünglich grün; der größte Theil derselben hat in früherer Zeit schwarz bedeutet. Weder Homer noch das ganze classische Alterthum haben ein Wort für das reine Blau gekannt, indem das lateinische Wort „caeruleus“ in seiner Bedeutung eine zeitliche Entwickelung von schwarz über grau bis gegen blau hin durchläuft, und so kam es, daß die romanischen Sprachen in der That kein verwendbares Wort für blau in der römischen Grundsprache vorfanden und es zum Theil von den Deutschen geborgt haben (blau, bleu, blue).

Geiger weist weiter nach, daß die grüne Farbe um eine Stufe weiter als die blaue in das Alterthum zurückgeht, um dann ebenfalls abzubrechen, und schließlich tritt der Dualismus von schwarz und roth in sehr scharfen Zügen als eine erste und primitivste Epoche alles Farbensinnes hervor. Geiger stellt die Frage auf: „Besteht der Gegensatz gegen uns nur in der Benennung oder in der Perception?“ (Das heißt in dem Bewußtsein des Farbeneindruckes). Wir glauben an der Hand der neuesten wissenschaftlichen Forschungen die Frage Geiger’s in der Richtung beantworten zu können, daß wohl ein allgemeiner Mangel an Perception für gewisse Farben im Alterthum stattgefunden haben dürfte, indem die für alle Farben des Regenbogens herangebildete Empfindung der Netzhaut unseres Auges auf das Darwin’sche Gesetz der im Laufe der Jahrtausende entstandenen Verbesserung aller Wesen und alles Seins in kaum anzugreifender Weise sich zurückführen läßt. Ebenso wie im Thier- und Pflanzenreiche heute noch Abarten vorkommen, bei welchen in mangelhafter Weise gewisse Organe ausgebildet sind, welche im „Kampfe um’s Dasein“ der Weiterentwickelung getrotzt haben, ebenso finden sich heute noch Menschen, bei welchen der Farbensinn des Auges nur partiell entwickelt oder in seiner Totalität gar nicht vorhanden ist, ein Bildungsfehler, welcher in gewissen Familien durch Generationen als Familienerbstück nachgewiesen werden kann. Man nennt diese Zustände partielle und totale Farbenblindheit.

Es braucht wohl hier auf die Organisation des Auges nicht eingegangen zu werden, da die Leser der Gartenlaube mit derselben schon zu verschiedenen Malen bekannt gemacht wurden.

Alles was zu dem Sehorgane als licht- und bildempfindendem Apparate gehört, das Auffassen der Bilder und der Farben, wird durch seine feinen Gebilde percipirt, das heißt empfangen und durch die Sehnervenfasern, als die leitenden Apparate, dem Gehirne als Empfindung zugeführt.

Nun giebt es eine große Anzahl von Menschen, von welchen gewisse Farben nicht empfunden werden, oder mit anderen Worten, bei welchen die Endorgane der Sehnerven entweder nicht geeigenschaftet erscheinen, die Bewegung gewisser Lichtwellen zur Gehirnempfindung zu vermitteln, oder solche überhaupt mangelhaft ausgebildet, vielleicht gar nicht vorhanden sind.

Es entsteht aus diesem Mangel die sogenannte Farbenblindheit, ein vielfach angeborener, ja sogar meistentheils ererbter Bildungsfehler des menschlichen Auges. Es giebt unter den Farbenblinden solche, welche überhaupt keinen Begriff von Farbe haben und die ganze Welt wie eine Tuschzeichnung grau in grau schattirt sehen. Bei anderen ist die Auffassung der Farben getheilt – sie sind nur partiell farbenblind; das heißt für gewisse Farben ist ihre Netzhaut empfindlich, für andere nicht. Am verbreitetsten unter den Menschen ist die Rothblindheit, Anerythropsie oder Daltonismus, und kommt solche namentlich in England vor, woselbst das Uebel nach dem bekannten Physiker Dalton, welcher zu den Rothblinden gehörte und zuerst eine genauere Untersuchung dieses Zustandes bewirkte, seine Benennung erhalten hat.

Wer kein Roth sieht, dem fehlt auch der Eindruck der durch das Grün hervorgerufenen Lichtwellen, wie schon der große Philosoph Arthur Schopenhauer in seinem Werke über „das Sehen und die Farben“ ganz positiv und mit Recht behauptet hat – mithin ist jeder Rothblinde auch grünblind. Er sieht in Wirklichkeit Alles gelb und blau. Andererseits giebt es Menschen, welche das Blau nicht zu erkennen vermögen, welchen demnach diejenigen Nervenapparate im Auge fehlen, welche durch die blauen Lichtwellen erregt werden. Der Mangel der sicheren Auffassung des Blau wird Akyanoblepsie genannt, und ist solchen Menschen ebenfalls die Gabe, die sogenannte complementäre Farbe, den Gegensatz von Blau, das Gelb, unterscheiden zu können, entzogen.

Wenn es andererseits vorkommt, daß Manche verschiedene Farben miteinander verwechseln, z. B. nicht Blau und Roth oder Grün und Braun von einander sicher zu unterscheiden vermögen, Andere zwar Gelb, Roth und Blau zu erkennen im Stande sind, dagegen häufig in der Beurtheilung untergeordneter Nüancen oder Farbenmischungen irren, so ist immer anzunehmen, daß solche Menschen zwei Farben ganz sicher durchaus nicht erkennen, z. B. die Einen nicht Roth und nicht Grün, die Anderen nicht Blau und nicht Gelb, daß aber ihre Angaben bestimmter vermeintlicher Farben, die sie eigentlich gar nicht sehen, auf einer anerzogenen Bezeichnung beruhen; eine gewisse Schattirung, die das normale Auge z. B. blau sieht, hat der Blaublinde in bestimmter Lichtabstufung immer blau bezeichnen hören, die betreffende Lichtabstufung, von der er durchaus keinen Farbenbegriff nach der Auffassung eines Blausehenden hat, nennt er eben blau, weil er es so gelernt und sein ganzes Leben hindurch so gehört hat. – Anderen erscheint Roth und Grün als Gelb oder Blau, und sie werfen sämmtliche Ausdrücke für die Farben in bunter und regelloser Weise durcheinander; solche Menschen befinden sich in der peinlichen Lage, drei- bis viermal so viele Ausdrücke für nur zwei von einander verschiedene Empfindungen, in unserem Falle für Gelb und Blau zu besitzen, da ihnen dieselben von Kindheit an ebenso gut eingeprägt worden, wie solchen, welche mit den Farbenbenennungen auch die entsprechenden Vorstellungen zu verbinden im Stande sind.

Karl Vogt erzählt, daß ihm unter seinen Bekannten Landschaftsmaler begegnet seien, die den Unterschied zwischen Roth und Grün nicht empfanden, die Abstufungen dieser Farben nur nach den Nüancen des Grau beurtheilten, das sie wirklich sahen, und dennoch in ihren Bildern keine Verstöße gegen die Harmonie und Stimmung der Farbe machten. In Deutschland soll es einer sehr hohen Persönlichkeit begegnet sein, daß sie bei einer zu Ehren eines fremden Potentaten abgehaltenen großen Revue in Folge partieller Farbenblindheit statt in dunkelgrüner in grellrother Generalsuniform erschienen, und in England ist es hohen Officieren mehrfach vorgekommen, daß sie in grasgrünen Röcken statt in der bekannten rothen Bekleidung auf die Parade kamen.

Goethe schildert einen Zustand von Akyanoblepsie oder Blaublindheit, den er an zwei jungen Menschen beobachtete; [66] diesen Menschen erschien der Himmel stets rosenfarben und alles Uebrige grün in Tönen vom Gelben bis zum Braunrothen. „Wenn man,“ sagt Goethe, „die Unterhaltung mit ihnen dem Zufalle überläßt und sie blos über vorliegende Gegenstände befragt, so geräth man in die größte Verwirrung und fürchtet, wahnsinnig zu werden. Mit einiger Methode hingegen kommt man dem Gesetze dieser Gesetzwidrigkeit schon um Vieles näher.“

Die Untersuchungsmethoden, welche man bisher zur Erkennung der Farbenblindheit anwandte, waren zeitraubend und unsicher. Die gebräuchlichste Methode beruhte darauf, eine große Anzahl farbiger Muster sortiren zu lassen. Der Umstand, daß Farbenblinde durch große Uebung den Mangel an Farbenempfindung verdecken können, indem sie die Lichtabstufungen als Farben bezeichnen, läßt obige Methode als eine unsichere erscheinen. Ich kenne einen total Farbenblinden, einen sehr scharfen Beobachter, der mir erzählte, daß er zwar keinen Begriff davon habe, was wir unter Farben verständen, daß er aber „mit dem Verstande“ die Farbentöne, die er durchaus empfinde, dennoch erkennen könne.

Heutzutage haben wir ein ganz vorzügliches Mittel, die Verirrungen und Verwechselungen Farbenblinder auf ihren wahren Werth zurückzuführen. Es beruht in der Anwendung der Spectralanalyse zur Erkennung der Farbenblindheit. Bekanntlich zeichnet das Sonnenlicht, das man in Form eines Strahlenbündels durch eine runde kleine Oeffnung eines dunkeln Zimmers direct einfallen läßt, einen hellen Kreis auf die der Oeffnung gegenüberliegende dunkele Wand. Hat man dagegen ein Glasprisma zwischen die Wand und die Oeffnung gesetzt, so werden die Strahlen abgelenkt. Der helle Kreis ist elliptisch in die Länge gezogen und zeigt die ungleich lichtstarken Hauptfarben des Regenbogens, das sogenannte Spectrum, bestehend aus Roth, Orange, Gelb, Grün, Hellblau, Dunkelblau und Violett; wenn wir die zarten Uebergänge von einer Farbe in die andere außer Acht lassen, zeigen sich vier Hauptfarben, Roth, Gelb, Grün und Blau.

Es sind dies ganz dieselben Erscheinungen, welche uns in unserer Kindheit bei den Spielen mit geschliffenen Glasstücken oder herabgefallenen Kronleuchterprismen so sehr erfreut haben. Wer erinnert sich nicht gerne der frohen Jugendzeit, da wir im Lichte eines erhaschten Stückchens facettirten Krystallglases in dem prachtvollsten Regenbogenfarbenglanze unser Auge minutenlang schwelgen ließen!

Diese Regenbogenfarben werden, wenn das Licht durch einen recht engen Spalt in das Zimmer eingelassen wurde, von einer Anzahl feiner dunkler Parallellinien durchsetzt, die auf dem Längendurchmesser des Spectrum senkrecht stehen, und nach ihrem ersten Beobachter, dem berühmten Münchener Optiker, Frauenhofer’sche Linien genannt werden.

Die Bedeutung dieser Linien hatte man bis zum Jahre 1859 nicht gekannt. Nachdem der geniale Physiker Kirchhoff nachgewiesen hatte, daß jedes Metall im glühenden Zustande sein eigenes System von Streifen ausstrahle, das ebenso charakteristisch für dasselbe ist, wie alle seine anderen physikalischen und chemischen Eigenschaften, wurde plötzlich auch die in dem Sonnenspectrum sich findende dunkele Streifung erklärlich. Jede solche Linie bedeutet ein auf der Oberfläche der Sonne brennendes Metall. Professor Kirchhoff hat den Satz aufgestellt, daß ein Gas oder ein Dampf alle diejenigen farbigen Strahlen absorbirt, das heißt nicht durchpassiren läßt, die es selbst ausstrahlen kann. Die Körper, welche mit rother Farbe verbrennen, werden einen Dunstkreis um sich verbreiten, der kein rothes Licht durchläßt; die gelb verbrennenden Körper lassen kein gelbes, die grün verbrennenden kein grünes und die blau verbrennenden Körper kein blaues Licht passiren. Die dunkeln Linien im Sonnenspectrum, das heißt in der aus dem Sonnenlichte mittelst eines eigenthümlichen Apparates dargestellten regenbogenartigen Farbenscala, sind demnach ausgelöschte Lichtpartien, bedingt durch das Passiren der Lichtstrahlen durch die Sonnenumgebung, die sogenannte Photosphäre, welche aus glühenden Metallgasen besteht.

Läßt man nun einen theilweise Farbenblinden durch einen Spectralapparat die sich bildenden Regenbogenfarben des Spectrums, die dem normalen Auge in der oben bezeichneten Reihenfolge roth, gelb, grün, blau, violett erscheinen, betrachten, und ist er z. B. rothblind, so wird er das rothe Ende des regenbogenfarbigen Spectrums gar nicht sehen. Es existirt gar nicht für ihn, und es wird ihm die Breitenausdehnung des Spectrums oder eines Regenbogens um die Strecke, welche auf ein normales Auge den Eindruck von Roth macht, verkürzt erscheinen. Er sieht alsdann nur zwei Farbennüancen, Gelb und Blau, indem sein Regenbogeneindruck mit Gelb anfängt und dieses Gelb, mit Auslassung des Grün, allmählich in Blau übergeht. Ebenso erscheint dem Blaublinden auf der entgegengesetzten Seite im Apparate der künstlich erzeugte Regenbogen, das Spectrum, verkürzt, da ihm der Eindruck des anderen Endes, das Blau und Violett, fehlt; bei ihm geht Roth allmählich in Grün über, und mit Grün hören seine Farbeneindrücke auf, während die Totalfarbenblinden im Apparate gar keine Farben wahrnehmen, sondern nur eine Anzahl von in den einzelnen Partieen mäßig differenzirten Helligkeitsstreifen erblicken. Um bei der Erkennung der Farbenblindheit ganz sicher zu gehen, läßt man den Farbenblinden durch ein Spectroskop nach verschiedenen Flammen sehen, deren Licht durch brennende chemische Stoffe gefärbt wird. Im Momente, wo das brennende Metall, z. B. Natrium, in die Flamme gebracht wird, blitzt im Spectrum eine helle Linie auf, bei unserem Beispiele eine hellgelbe; sieht der Farbenblinde diese plötzliche Linie nicht gelb, so ist er gelbblind; verbrennt man etwas Kalium und Strontium in der betreffenden Flamme und sieht der Beschauer die verschiedenen plötzlich auftretenden rothen Linien nicht, so ist er rothblind, und ist auf diese Weise das sicherste Erkennungsmittel für dessen Farbenblindheit gegeben.

In jüngster Zeit hat der bekannte Augenarzt Dr. J. Stilling in Kassel eine vorzügliche Methode,[WS 2] die Farbenblindheit rasch zu erkennen, angegeben. Stellt man zwischen eine brennende Lampe und eine weiße Fläche eine rothe Glasplatte, so erscheint der Schatten eines Stiftes, den man zwischen die Glasplatte und die Fläche hält, jedesmal in der Complementärfarbe des Roth, als grüner Schattenstrich, und umgekehrt durch eine grüne Glasscheibe als rother Schattenstrich, durch eine blaue Scheibe als gelber Schattenstrich, durch eine gelbe Scheibe als blauer Schattenstrich. Ist nun Jemand farbenblind, so erkennt er die entsprechende Farbe des Schattens nicht und sieht ihn einfach grau oder dunkel.

Die Farbenblindheit, jene eigenthümliche Anomalie unseres Auges, welche eine Curiosität für den Laien ist und dem Naturforscher ein hochwissenschaftliches Interesse darzubieten scheint, greift – man sollte es kaum glauben – recht tief in das praktische Leben ein. Bei sehr vielen Eisenbahnunfällen, von denen wir in neuerer Zeit so erschreckend viel lesen und hören, kommt es nicht selten vor, daß bei Zeugenvernehmungen in Bezug auf die Angaben der beobachteten farbigen Lichter die größten Widersprüche zu Tage treten. Leicht kommen dadurch ganz unbescholtene, brave Menschen in den Verdacht eines falschen Eides; wie leicht wandert unter solchen Umständen ein bedauernswerther Locomotivführer oder Weichensteller, der in Folge von Farbenblindheit die Farbe einer Drehscheibe verkannte, unschuldig in das Gefängniß! Und was war denn der Grund jenes Unglückes? Kein falscher Eid, keine Fahrlässigkeit, sondern die Farbenblindheit, eine unter den Menschen so sehr verbreitete und Jahrhunderte hindurch ungeahnte Abart des Sehvermögens. Als man vor mehreren Jahrzehnten anfing, von dieser Anomalie des Auges zu sprechen, hielt man die ganze Sache einfach für lächerlich, und viele Leute, welchen der Mangel des Farbensinnes nachgewiesen wurde, wollten gar nicht glauben, daß ihnen der Farbensinn abgehe. Das schwache Bewußtsein der Schattirungsdifferenzen der Lichteindrücke war für sie der Begriff „Farbe“. Und doch ist das Uebel sehr verbreitet.

In England kommt, so viel bis jetzt bekannt, die in Rede stehende Anomalie am häufigsten vor, indem unter achtzehn Menschen schon Einer damit behaftet ist. Nach Mittheilungen in der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin haben verschiedene Eisenbahnärzte in Frankreich in jener Beziehung das Beamtenpersonal nur oberflächlich untersucht, und es fanden sich unter den Beamten acht Fälle von Farbenblindheit. Dr. Faure prüfte hierauf siebenhundertachtundzwanzig Eisenbahnbeamte im Alter von achtzehn bis sechszig Jahren sorgfältiger und fand zweiundvierzig an Farbenblindheit Leidende. Neun unter denselben konnten nur die rothe Farbe nicht unterscheiden. [67] Da durch deren ferneren Dienst Gefahren unvermeidlich waren, wurden dieselben pensionirt. Ein anderer Arzt fand unter zweihundert deutschen Eisenbahnbediensteten die Farbenblindheit sieben Mal. Professor Dor in Bern hat bei einer speciell auf Farbenblindheit gerichteten statistischen Untersuchung unter achthundert Personen gegen fünfzig Farbenblinde gefunden, wonach etwa der sechszehnte Mensch betroffen wäre.

Die heutige medicinische Wissenschaft steht auf dem einzig richtigen Standpunkte der Verhütung der Krankheiten. Die Aerzte halten sich zum größten Theile – so denken wir – nicht mehr für lebensrettende Götter, sondern sie sind auf Grund der großartigen Errungenschaften der Chemie und Physik zu vorsorglichen Hütern der Gesundheit ihrer Pflegebefohlenen geworden, und so wurde die öffentliche Gesundheitspflege geschaffen, eine Wissenschaft, die, obwohl noch in ihrer Kindheit, schon jetzt großen Segen über die Menschen gebracht hat. – Wenn Menschen durch irgend ein Leiden bei Ausübung ihres Berufes materielle Interessen des Publicums zu schädigen im Stande sind und die Gesundheit und das Leben der Staatsbürger zu gefährden oder gar zu vernichten Veranlassung geben können, so ist die öffentliche Gesundheitspflege verpflichtet, dieses wichtige Thema in den Kreis ihrer Behandlung zu ziehen.

Es hat zwar der preußische Handelsminister in einer Rede über eine Eisenbahnfrage die Behauptung ausgesprochen, daß die Zahl der Unglücksfälle auf den deutschen Bahnen sich vermindert habe, jedoch ist dies immer noch nicht in dem Grade der Fall, daß die Aufmerksamkeit der Behörde nicht unausgesetzt auf diesen Gegenstand gerichtet sein müßte. Der oben auseinandergesetzte Krankheitszustand des menschlichen Auges kann, wie geschildert, für Locomotivführer, Heizer, Weichensteller und Stationsvorsteher in Ausübung ihres Berufs sehr bedenklich werden. Solche Beamte müssen Signale, die sich durch verschiedenartige Farben kenntlich machen, genau unterscheiden können, und auf den meisten Bahnen sind die rothen Signalscheiben und rothen und grünen Lichter ganz besonders im Gebrauche. Wie leicht bei theilweiser Farbenblindheit eines solchen Beamten Unglücksfälle von weittragender Bedeutung sich ereignen können, ist begreiflich, und sind auch derartige Fälle leider schon vorgekommen. Ebenso wie das Eisenbahnpersonal müssen Seeleute, Schiffscapitaine und Lootsen, welchen Personen die gewissenhafte Unterscheidung farbiger Signale obliegt, auf die geschilderten Verhältnisse aufmerksam gemacht werden. In dem Gesundheitszeugnisse des Eisenbahn- und Schiffspersonals ist demnach ein Passus über die Güte des Gesichtssinnes in Bezug auf Farbenunterscheidung, durch speciellen Vermerk, nach sorgfältiger Prüfung mittelst des Spectroskops, unvermeidlich einzutragen. Jeder Eisenbahnarzt und jeder Schiffsarzt müssen verpflichtet werden, sich die optischen Kenntnisse, welche zu den bezüglichen Untersuchungen unumgänglich nothwendig sind, anzueignen. Eine Spirituslampe, einige Metallsalze und ein kleines Taschen-Spectroskop, wie solches für den billigen Preis von circa zehn Thalern zu haben ist, würde zur Untersuchung vollkommen genügen. Solche Instrumente liefert der berühmte Optiker Steg zu Homburg im Taunus in vorzüglicher Güte. Man nimmt diesen netten kleinen Apparat, der im Ganzen nur circa drei Zoll lang und etwa sieben Linien breit ist, wie ein Fernglas zur Hand; es bietet dessen Benutzung nicht nur für wissenschaftliche Untersuchungszwecke, sondern auch zur Selbstbelehrung eine willkommene Gelegenheit.

Durch eifriges Vorgehen der Staats- und Privatbahn-Directionen sollte nun recht bald dafür Sorge getragen werden, daß alle Personen, welche sich dem bezüglichen Dienste zu widmen beabsichtigen, sowie alle schon im Dienste stehenden auf die Farbenunterscheidung untersucht werden; solche Untersuchungen sind, da das Erkennen der Farbenunterschiede manchmal bei übermäßigem Spirituosengenuß, nach gewissen Krankheiten, und besonders nach heftigen Gehirnerschütterungen Einbuße erleidet, alljährlich zu wiederholen; nach Verletzungen ist, sofort nach der Reconvalescenz, der Betroffene auf Farbenempfindung zu prüfen. Bis jetzt ist in Deutschland unseres Wissens nur eine Eisenbahndirection, die der Bergisch-Märkischen Bahn, auf die Gemeingefährlichkeit möglicher Farbenblindheit unter ihren Beamten aufmerksam geworden und hat an die in ihrem Bezirke angestellten Bahnärzte das Ansuchen gestellt, sich über die in Rede stehenden Verhältnisse zu äußern und über die Methode sich auszusprechen, nach welcher am schnellsten und sichersten die Farbenblindheit beim Eisenbahnpersonal erkennbar sei; ein Congreß der Bergisch-Märkischen Eisenbahnärzte soll zu diesem Zwecke demnächst stattfinden.

Möge durch obige Auseinandersetzungen nach mancher Seite hin Anregung zur Erledigung dieser wichtigen, mit dem Wohl und Wehe der Menschheit so innig verknüpften Frage gegeben sein, damit durch die Lehren vom Lichte immer mehr und mehr Aufklärung und Erleuchtung in alle Verhältnisse des bürgerlichen und socialen Lebens eindringe! – Durch das Licht zur Wahrheit, durch die Wahrheit zur Erkenntniß, durch die Erkenntniß zu Gesundheit und Volkswohlfahrt!

Frankfurt a. M.

Dr. med. S. Th. Stein.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Beobachtumg
  2. Vorlage: Metthode