Die Flucht aus der Fremdenlegion

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Autor: Walther Kabel
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Titel: Die Flucht aus der Fremdenlegion
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aus: Das Buch für Alle, Illustrierte Familienzeitung, 49. Jahrgang 1914, Heft 15, S. 338–340
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart
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Die Flucht aus der Fremdenlegion.
Von W. Kabel.
(Nachdruck verboten.)

Im Februar des Jahres 1872 schickte die Londoner Juwelierfirma Thomas Shelling den ältesten Sohn des Geschäftsinhabers als Juweleneinkäufer nach Amsterdam. Der junge Artur Shelling hatte einen Kreditbrief über fünfzigtausend Pfund Sterling, auf ein Amsterdamer Bankhaus lautend, bei sich.

Bereits auf der Überfahrt von Dover nach Calais schlossen sich ihm zwei Herren an, angeblich Franzosen vornehmer Herkunft, mit denen er schnell bekannt wurde, und die ihn dann zu überreden wußten, mit ihnen noch vor der Erledigung seiner Einkäufe einen Abstecher nach Paris zu machen. Hier verschleppten die beiden Franzosen den jungen Mann in ein verrufenes Haus, brachten ihm im Wein ein starkes Betäubungsmittel bei, fuhren ihn als scheinbar schwer Trunkenen nach seinem Hotel und ließen ihn dort zurück, nachdem sie ihm seine sämtlichen Papiere abgenommen hatten.

Als der Engländer in seinem Zimmer nach zwölf Stunden immer noch kein Lebenszeichen von sich gab, wurde das Hotelpersonal argwöhnisch, erbrach die verschlossene Tür und fand den Gast bewußtlos in seinen Kleidern auf dem Bett liegen. Mit Hilfe eines Arztes wurde Shelling nach längeren Bemühungen ins Leben zurückgerufen, entdeckte nun sehr bald den an ihm verübten Diebstahl und benachrichtigte die Polizei, die aber nur feststellen konnte, daß einer der Gauner von der betreffenden Amsterdamer Bank fünfundvierzigtausend Pfund bereits abgehoben hatte, die ihm, da er sich genügend legitimieren konnte, anstandslos ausgezahlt worden waren.

Nach Verlauf einer Woche mußte der verzweifelte junge Mann einsehen, daß das Geld, mehr als eine Million, endgültig verloren war. Nach Hause zurückzukehren, wo ihn ein nunmehr vor dem Ruin stehender Vater und eine durch seinen Leichtsinn sicher ebenso bitter enttäuschte Braut erwarteten, dazu fehlte ihm der Mut. Er schrieb einen von bitteren Selbstanklagen erfüllten Abschiedsbrief an die Seinen, ließ sich in seiner Kopflosigkeit noch an demselben Tage unter falschem Namen für die französische Fremdenlegion anwerben und war bereits zwei Wochen später in Algerien, ohne daß seine Familie von seinem Verbleib etwas ahnte.

Das Schicksal wollte es, daß kurz darauf mit Hilfe der englischen Geheimpolizei die beiden Gauner, die Artur Shelling auf dem Gewissen hatten, in Nizza verhaftet und das Geld ihnen zum größten Teil wieder abgenommen werden konnten, wovon der unglückliche junge Mann jedoch auf seinem entlegenen Posten nichts erfuhr.

Ein halbes Jahr verging, bevor Artur Shelling es wagte, seiner Braut, die er aufrichtig geliebt hatte, ein Lebenszeichen zu geben. Er schrieb ihr einen ausführlichen Brief, in dem er nochmals ihre Verzeihung erflehte, sein jetziges beklagenswertes Los als Legionär als die gerechte Strafe für seinen Leichtsinn hinstellte und sie bat, ihn aus ihrer Erinnerung auszulöschen, ebenso wie er auch für seine Angehörigen fernerhin als verschollen gelten wolle.

Ellen Warner, das einzige Kind eines reichen Londoner Verlegers, hatte diesen Brief kaum er halten, als sie auch schon im geheimen die ersten Versuche zur Befreiung ihres Bräutigams vorbereitete. Im Besitz eines eigenen, von ihrer Mutter ererbten Vermögens warb die junge, energische Dame einen Privatdetektiv an, der sich in der Maske eines Vergnügungsreisenden nach Algerien begeben mußte, um dort womöglich persönlich mit Shelling einen Fluchtplan zu verabreden. Wie eine englische Wochenschrift, die die Leidensgeschichte des jungen Juweliers ihren Lesern unlängst aus Anlaß der jetzt in Deutschland so rührigen Bewegung gegen die Fremdenlegion mit allen Einzelheiten berichtete, zu erzählen weiß, wurden die Bemühungen des angeblichen Vergnügungsreisenden, der um jeden Preis mit Shelling in Verbindung treten wollte, jedoch sehr bald von den französischen Behörden mit argwöhnischen Augen überwacht und die beiden Engländer dann in demselben Augenblick festgenommen, als sie die zur Flucht bereitstehenden Pferde besteigen wollten.

Der Detektiv wanderte für ein Jahr ins Gefängnis, während das Kriegsgericht den Legionär „Charles Nemour“ zu drei Monaten strengen Arrests verurteilte.

Ellen Warner ließ sich durch diesen Mißerfolg, durch den die Familie Shelling aus Zeitungsnotizen endlich den Aufenthaltsort ihres verschwundenen Sohnes erfuhr, nicht abschrecken. Auf ihr Betreiben reiste Artur Shellings Bruder Alfred, reichlich mit Geldmitteln versehen, in Begleitung eines als Diener verkleideten Detektivs nach Algerien, um eine bessere Gelegenheit auszukundschaften, wie man „Charles Nemour“ befreien könne. Diese neuen Pläne machte jedoch die Verschickung von drei Bataillonen der Fremdenlegion nach Indochina zunichte, die für Anfang März 1873 befohlen wurde.

Als Alfred Shelling von diesem bevorstehenden Truppentransport, den auch sein Bruder als Zugehöriger eines der drei Bataillone mitmachen mußte, sichere Nachricht erhielt, kehrte er umgehend nach Marseille zurück und schickte von hier ein Chiffretelegramm nach London, in dem er um weitere Instruktionen bat. Nach eifrigem Depeschenwechsel begab er sich nach Paris, wo er der französischen [340] Kolonialbehörde durch Vermittlung des englischen Generalkonsuls für die Freilassung seines Bruders nicht weniger als hunderttausend Franken bot. Doch dieses Ansinnen wurde, obwohl Frankreich damals noch unter der Last der an Deutschland zu zahlenden Kriegsentschädigung schwer zu tragen hatte, rundweg abgelehnt.

Diese Verhandlungen zogen sich bis zum 4. März 1873 hin. Inzwischen hatte der französische Truppentransportdampfer „La Seine“ bereits die Ausreise von Algerien mit den drei Bataillonen an Bord, begleitet von dem Kreuzer „Termidor“, zunächst nach Port Said am Eingang des Suezkanals angetreten. Acht Tage vorher war aber auch eine kleine, unter englischer Flagge segelnde Dampfjacht „Ariadne“, die Ellen Warner, um gegen alle Eventualitäten gerüstet zu sein, gechartert hatte, von Dover aus in See gegangen und traf nun gleichzeitig, nachdem sie in Brindisi Alfred Shelling und den Detektiv an Bord genommen hatte, mit den beiden französischen Schiffen in Port Said ein, wo sie in möglichster Nähe des Transportdampfers vor Anker ging.

Damals war die Benützung des erst kurz zuvor eröffneten Suezkanals nur bei Tage gestattet, da die jetzt vorhandene elektrische Beleuchtung der ganzen Kanalstrecke und damit die Benützung auch bei Nacht erst 1882 eingerichtet wurde. Die in Port Said einlaufenden Schiffe mußten daher zumeist einen Tag warten, bevor die Reihe an sie kam. Hiermit hatten die, die Artur Shelling auf keinen Fall den Gefahren des Feldzuges und der Fieberluft in Indochina aussetzen wollten, gerechnet.

Wirklich gelang es denn auch, dem jungen Engländer mit Hilfe des als arabischer Gemüsehändler verkleideten Detektivs noch an demselben Tage eine kurze Notiz zuzustecken, worin er aufgefordert wurde, in der kommenden Nacht, koste es, was es wolle, nach der Jacht hinüberzuschwimmen.

Dies bot jedoch größere Schwierigkeiten, als die es ahnten, von denen der Vorschlag ausging. Gerade in Port Said, wo sich den Legionären die verschiedensten Möglichkeiten zum Entkommen boten, ließ man sie nicht einen Augenblick unbewacht. Von dem Kreuzer „Termidor“ befanden sich während der Nacht gegen hundert Matrosen an Bord des Transportdampfers und bildeten an der Reling eine förmliche Kette von mit schußfertigen Gewehren bewaffneten Posten. Die Aussicht auf ein glückliches Entweichen war mithin äußerst gering. Zudem hatte man Artur Shelling noch mit fünf anderen Legionären, denen man ebenfalls nicht traute, nach Dunkelwerden in einen Verschlag im Vorschiff eingesperrt und ihnen einen Unteroffizier als Wache vor die verschlossene Tür gestellt.

Trotz dieser wenig günstigen Umstände verlor der junge Engländer nicht den Mut. Nach langem Hin- und Herreden gelang es ihm, den Unteroffizier, einen geborenen Rheinländer, durch das Versprechen einer Belohnung von fünfhundert Pfund Sterling für seinen Plan zu gewinnen. Freilich war es hierbei nötig, daß er auch seine fünf Leidensgefährten, die ebenso heiß wie er ihre Befreiung aus den Diensten der Legion herbeisehnten, an seiner Flucht teilnehmen ließ.

Der Unteroffizier entfernte sich verabredungsgemäß gegen Mitternacht heimlich von seinem Posten und steckte die mittschiffs auf Deck verstauten Ausrüstungskisten der Legionäre in Brand, um die Aufmerksamkeit der Posten abzulenken. Die List hatte auch Erfolg. Auf den ersten Ruf: „Feuer an Bord!“ eilten auch die im Vorschiff an der Reling postierten Matrosen davon, so daß es den Legionären gelang, sich an Tauen ins Wasser hinabzulassen, nachdem das Schloß der Tür aufgebrochen war.

Erst als die Flüchtlinge eine beträchtliche Entfernung schwimmend zurückgelegt hatten, entdeckte man sie. Die Wachen begannen sofort ein heftiges Gewehrfeuer, das aber bei der herrschenden Dunkelheit niemand Schaden brachte. Ein bereitgehaltenes Boot der Jacht, das den Schwimmern entgegenkam, nahm sie ohnehin bald auf und brachte sie glücklich, an Bord der „Ariadne“, die dann augenblicklich die Anker lichtete und mit Volldampf dem Hafen von Alexandria zusteuerte, um sich dort unter den Schutz der ständig in Alexandria stationierten englischen Kreuzer zu stellen.

So leicht, wie die Retter sich diesen letzten Teil ihres Planes vorgestellt hatten, war er jedoch nicht auszuführen. Der französische Kreuzer „Termidor“ nahm die Verfolgung der „Ariadne“ mit allem Eifer auf, wobei ihm sehr zustatten kam, daß er der Jacht bedeutend an Schnelligkeit überlegen war. Anderseits war die Dunkelheit der Nacht der „Ariadne“ ein guter Bundesgenosse, und lediglich diesem Umstände hatte der kleine, mit abgeblendeten Lichtern fahrende Dampfer es zu verdanken, daß der Kreuzer ihm erst gegen Mittag des nächsten Tages so dicht auf den Leib rückte, daß er ihn durch einen scharfen Schuß zum Anhalten auffordern konnte.

Inzwischen waren die beiden Schiffe jedoch bereits in Sicht des Hafens von Alexandria angelangt, und die „Ariadne“ setzte daher im Vertrauen auf die Hilfe ihrer Landsleute ruhig ihre Fahrt fort.

Der „Termidor“ begann nun eine regelrechte, freilich zunächst vergebliche Kanonade auf die Jacht. Der in Alexandria deutlich vernehmbare Geschützdonner veranlaßte den englischen Kreuzer „Viktoria“, der eben von einer Gefechtsübung aus See zurückgekehrt war, zum Auslaufen, und der Zufall wollte es, daß der Engländer gerade noch zur rechten Zeit kam, um der durch einen Schuß in den Maschinenraum schwer beschädigten „Ariadne“ den französischen Kreuzer vom Leibe zu halten, der bereits Boote ausgesetzt hatte, die die Jacht entern sollten. Beinahe wäre bei dieser Gelegenheit mitten im Frieden ein Seegefecht zwischen den beiden Kriegschiffen entstanden, da der Kommandant des „Termidor“ darauf bestand, daß die Flüchtlinge ihm ausgeliefert werden sollten. Schließlich dampfte der Franzose jedoch unverrichteter Sache nach Port Said zurück.

Dieses Vorkommnis führte zu sehr ernsten diplomatischen Auseinandersetzen zwischen England und Frankreich, die schließlich damit endeten, daß letzteres für die Beschädigung englischen Eigentums, der Jacht „Ariadne“, ein recht anständiges Sümmchen zahlen und der Kommandant des „Termidor“ den Abschied nehmen mußte, da er seine Befugnisse überschritten hatte.

Artur Shelling und seine Gattin Ellen haben zwanzig Jahre in glücklichster Ehe gelebt. Beide kamen 1894 bei dem Eisenbahnunglück bei Tonberry auf der Strecke nach Liverpool gleichzeitig ums Leben.