Die Frau Majorin

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Anna von Peternell
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Frau Majorin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50–52, S. 841–846, 861–866, 878–879
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[841]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Die Frau Majorin.
Von A. Oltroff.

Auf dem Leipziger Bahnhofe in Dresden wogte ein buntes Treiben hin und her, da im Laufe der nächsten Stunde verschiedene Züge nach Leipzig, Meißen und der Lößnitz abgehen sollten.

Droschken und Equipagen fuhren vor und entluden sich ihres Inhalts; Damen in eleganten Reisetoiletten, welchen die geplagten Diener mit einer Last von Regenmänteln, Plaids, Kistchen, Hutschachteln, Kissen und Rollen folgten, Offiziere in Uniform und in Civil, Handelsleute und Marktfrauen, alle drängten sich hastig durcheinander die Stufen hinauf dem Eingang zu, wo der Portier in unerschütterlicher Würde und Ruhe seines Amtes waltete.

Zur linken Seite des Treppenaufganges umbrandete der Strom eine standhafte Apfelsinenfrau, deren kleiner Kram von Pfefferkuchenmännern, Spielzeug, Brezeln und Zuckerdüten nur dem jüngeren Theil der Reisegesellschaft einen Blick des Verlangens abnöthigte. Dienstmänner eilten geschäftig mit Handgepäck hin und her oder schleppten metallbeschlagene schwere Koffer nach den Gepäckbureaus. Ueberall standen kleinere und größere Menschengruppen, ein dichtes Gedränge umgab die geöffneten Billetschalter und steigerte sich von Minute zu Minute.

Durch das Gewühl sich durchwindend, waren zwei Damen glücklich auf den Perron gelangt und näherten sich langsam, Arm in Arm dahin schlendernd, dem Zuge, welcher eine derselben nach Leipzig entführen sollte. Die eine der beiden jungen Freundinnen war groß und schlank und hatte eines jener frischen Gesichter, welche nur angenehm, nicht auffallend wirken; man ging an ihr vorüber, ohne sie zu beachten, während auf der anderen zierlicheren Gestalt die Blicke unwillkürlich haften blieben.

Aus einem pikanten Gesichte schauten zwei dunkelbraune Augen blitzend in die Welt; der brünette Teint zeigte keinen Hauch von Farbe, dagegen leuchteten die Lippen im frischesten Roth und ließen zwei Reihen prachtvoller Zähne sehen. Der Mund war vielleicht etwas zu groß, die Nase nicht fein genug geformt und dennoch war es ein anziehendes Gesicht, das man, [842] einmal gesehen, in Erinnerung behielt. Die Stirn, in welche die krausen, natürlichen Löckchen graziös hereinfielen, war von vollendeter Schönheit und üppig schwarzes Haar quoll in schweren Flechten unter dem Reisehütchen hervor.

„Eigentlich, liebe Helene,“ wendete sich die größere der Damen an ihre Begleiterin, „beneide ich Dich nicht um Deine heutige Reise; Du wirst bei dieser Hitze in dem vollgepfropften Damencoupé Qualen ausstehen und mit Wehmuth an unser schattiges Gärtchen und seine kühle Veranda zurückdenken.“

„Alles zu seiner Zeit, liebste Emma,“ erwiderte Helene lebhaft, „das lange Schattensitzen weckt einem die Lust, auch einmal in der Hitze spazieren zu fahren; ich fürchte mich gar nicht davor und bin sicher, frisch und vollkommen lebendig in Leipzig einzutreffen.“

„Diese Auffassung scheinen andere Leute auch zu theilen, es wimmelt ja von Menschen auf dem Bahnhofe; allein ich bleibe dabei, daß die tolle Idee zu dieser Reise eben nur in Deinem Kopfe entspringen konnte; Du denkst Dir besonders gern solche extravagante Geschichten aus.“

„Emma, Emma, Dir geht es wie dem Fuchs mit den Trauben; könntest Du mit mir reisen, dann wäre alles gut; toll ist meine Idee gar nicht, wohl aber halte ich dieselbe für äußerst gelungen. Es ist doch prachtvoll, daß ich heute abend bei Hansens so ganz unvorbereitet eintreffe. Bei ihrem jedenfalls brillanten Gartenfeste mit den gewünschten Verkleidungen tauche ich plötzlich als Zigeunerin auf und lasse nicht ab, zu intriguiren und die Leute zu mystifiziren. Niemand kann sich denken, wer es ist, der ihnen solche Wahrheiten sagt, ihnen die Vergangenheit aufdeckt und kühn die Zukunft prophezeit. Ehe man zu entdecken vermag, daß ich es bin, der alljährlich wiederkehrende Zugvogel, verschwinde ich und morgen abend kehre ich hierher zurück. Auch das finde ich herrlich, daß niemand außer Dir und zufällig Deinem Onkel etwas von meiner Reise weiß, daß Dein Papa gerade abwesend ist und ich so auf eigene Faust, ohne Wissen meiner Eltern diesen Ausflug unternehme, um einmal für zwei Tage völlig verloren zu gehen. Es liegt darin wenigstens der Schein eines Abenteuers und Du weißt, was ich darum gäbe, einmal, nur ein einziges Mal ein solches zu erleben.“

„Nun, Du kleine Phantastin,“ meinte Emma lachend, „an Abenteuern wird es ja bei diesem Gartenfeste nicht fehlen, Herzen kannst Du auch erobern, denn Dein südlicher Teint und Deine feurigen Augen müssen ja im Zigeunerkostüm doppelt wirken … Aber ich glaube wahrhaftig, der Zug wird nächstens abgehen, komm, wir wollen ein Coupé suchen.“

Rascher weitergehend, spähten die beiden Freundinnen aufmerksam in die Wagen hinein und blieben einen Augenblick vor dem fast vollständig besetzten Damencoupé stehen.

„Wie ist es, Helene,“ frug Emma lächelnd, „willst Du nicht diese Schönheitsgalerie vollzählig machen?“

„Um Gotteswillen!“ fuhr Helene voll Entsetzen auf, „nur nicht da hinein, es wäre das reinste Dampfbad, dann könntest Du schließlich mit Deinen bösen Prophezeiungen recht behalten; nein, lasse uns lieber auf ein Coupé für Nichtraucher fahnden, es müssen doch ein paar im Zuge sein.“

„Jenes dort,“ entgegnete Emma, „ist ebenfalls schon ziemlich besetzt, allein etwas weiter vorn sah ich vorhin noch eines, siehst Du, eben steigt ein Herr hinein.“

Helene eilte der offenen Thür zu, wandte sich jedoch schnell um und zu ihrer Gefährtin zurück. „Aber Emma,“ flüsterte sie, „es sitzt nur dieser eine Herr darin, und mit diesem kann ich doch nicht mutterseelenallein davonfahren!“

„Ah, also so sieht es mit Deiner Lust nach Abenteuern?“ spottete Emma. „Sobald sich nur eines von ferne zeigt, ergreifst Du das Hasenpanier. Uebrigens,“ fuhr sie nach einem weiteren Blick in den Wagen fort, „sieht dieser Herr sehr anständig und zuverlässig aus; ich glaube, Du kannst ruhig einsteigen und das fürchterliche Unternehmen wagen.“

„Ja, Du hast gut spotten, allein gerade weil ich diese Reise so auf eigene Faust ausführe, möchte ich nichts thun, was mir Unannehmlichkeiten bereiten könnte.“

„Halt, setzt hab’ ich’s,“ rief Emma triumphirend aus, „steige nur ruhig ein, mir ist ein köstlicher Einfall gekommen, der Dich schützen und Dir vielleicht noch einen besonderen Spaß bereiten wird, nur rasch ins Coupé, es ist keine Zeit mehr zu verlieren.“

„Einsteigen! einsteigen!“ ertönten die Stimmen der Schaffner, und nun entstand der letzte gewöhnliche Trubel, das eilige Hin- und Herrennen, die zu wechselnden Küsse, Umarmungen und Händedrücke; die Coupéthüren wurden zugeschlagen, aus den Fenstern ertönten noch Abschiedsrufe und Mahnungen zu den Zurückbleibenden heraus.

Auch Helene lehnte sich erwartungsvoll aus dem Fenster, den versprochenen guten Einfall ihrer Freundin zu vernehmen; von dem fremden Herrn, welcher sich bei ihrem Einsteigen höflich verneigte, hatte sie keine Notiz genommen und nicht bemerkt, daß er aufgestanden war und über ihre zierliche Gestalt hinweg auf den Perron schaute. Emma dagegen sah ihn; flüchtig streiften ihre Blicke das ausdrucksvolle Männerantlitz, dann rief sie, heiter lachend, ihrer Freundin zu:

„Adieu, liebe Helene, grüße Deinen Gatten, den gestrengen Herrn Major, vielmals von mir und er soll Dich bald wieder zu uns schicken; adieu Schatz, leb’ wohl und glückliche Reise!“

Ein schriller Pfiff ertönte, langsam setzte sich der Zug in Bewegung, lebhaft winkte Helene mit dem Taschentuche zum Fenster hinaus, und erst als sie die Freundin nicht mehr zu erblicken vermochte, ließ sie sich, mit aller Anstrengung das laute Lachen zurückhaltend, auf ihren Sitz nieder. Welch ein toller Einfall von Emma − wie kann man nur auf einen solchen Unsinn gerathen! Aber köstlich war es doch und vor allen Dingen sehr praktisch, denn die unverhoffte neue Würde mußte sie vor jeder unberufenen Annäherung schützen; ja selbst wenn der fremde Herr eine Unterhaltung beginnen sollte, konnte sie getrost darauf eingehen, galt sie doch in seinen Augen für eine verheiratete Frau.

Helene mußte wieder krampfhaft das Lachen verbeißen; sie sah schnell zum Fenster hinaus und ahnte nicht, daß ihr Reisegefährte sie lächelnd betrachtete und sich im Stillen frug, was wohl die außerordentliche Heiterkeit der jungen Dame veranlaßt haben könnte.

Endlich schaute Helene sich um, und als sie den forschenden Blicken des Fremden begegnete, sprang sie verlegen auf und versuchte das andere, noch geschlossene Fenster zu öffnen, was ihr, trotz aller Bemühungen, nicht gelingen wollte.

„Darf ich mir erlauben, gnädige Frau?“ ertönte hinter ihr eine tiefe, angenehme Stimme.

Wirklich: „gnädige Frau“ hatte er sie genannt, die List war also geglückt. Einen Augenblick noch zögerte Helene, dann drehte sie sich würdig und ernsthaft, wie es der Gattin eines Majors zukommt, nach ihm um; allein das Vergnügen, nun endlich ein ordentliches, kleines Abenteuer zu erleben, strahlte unverkennbar aus ihren Augen, als sie die gemessenen Worte sprach:

„Wenn Sie so gut sein wollen, mein Herr, es ist erstickend heiß hier drinnen.“

Der Fremde, eine kräftige, hohe Männergestalt, trug einen üppigen Vollbart; dieser und ein phänomenaler Haarwuchs, der jeder Dressur zu spotten schien, umgaben ein Gesicht, dessen Züge auf besondere Schönheit keinen Anspruch machen konnten. Aber die feste Stirn, der Ausdruck der durchdringenden, dunkelblauen Augen verriethen eine lebhafte Intelligenz, man hatte diesem Manne gegenüber den Eindruck einer sicheren und bedeutenden Persönlichkeit.

Im Bahncoupé kommt es nur auf die Einleitung zum Gespräch an. Das geöffnete Fenster und der Dank dafür wurden zum Ausgangspunkt einer Unterhaltung, die sehr bald Helenens lebhaftestes Interesse erregte. Sie hatte sich über die „tropische Hitze“ beklagt; der Fremde gab ihr zum Trost eine kleine Schilderung der Leiden einer afrikanischen Mittagsstunde mit ihrer vernichtenden Gluth, ja selbst schon des indischen Hochsommers, der die Europäer in die waldkühlen Himalayaschluchten treibt, wenn sie nicht in der Hitze halb oder ganz zu Grunde gehen wollen. Alles, was dieser Mann sagte, klang so anschaulich, als spreche er aus eigener Erfahrung; Helene lauschte gespannt, versäumte dabei aber nicht, die weibliche Kunst der geschickten Fragen zu üben, und lockte ihn so weiter und weiter. Er ließ vor ihren Augen die Städte des Ostens erstehen, Delhi und Singapore, das vielsprachige Shanghai, das kaiserliche Peking, die endlosen gelben Sumpfniederungen des Flachlandes, die chinesischen Bergketten mit den unaussprechlichen Namen, zuletzt sprach er von der zauberhaften Schönheit einer Morgenfrühe auf dem weiten Indischen Ocean.

[843] „Sie haben das alles selbst gesehen?“ fragte Helene gespannt.

„Ich war einige Jahre in Ostasien.“

„Zu Ihrem Vergnügen?“ Sie bereute sofort die indiskrete Frage. Aber sie hätte doch gar zu gern gewußt, wer er eigentlich sei. Nach einem Kaufmann sah er nicht aus.

„Unmittelbar wohl nicht,“ erwiderte er lachend. „Ein Vergnügen kann man vieles nicht nennen, was dort vom Reisen unzertrennlich ist. Und andererseits geht der ungeheure Lebensreichthum, den man in solchen Jahren erwirbt, weit über das Wort Vergnügen hinaus. – Ich war dort, um geologische Aufnahmen zu machen,“ setzte er kurz hinzu, als ihr Blick fragend auf ihn gerichtet blieb.

Also ein Gelehrter. Helene fand das ungemein interessant, sie hätte schon lange gern einen berühmten Professor kennenlernen mögen. Vielleicht war das einer? Nur sah er dazu eigentlich nicht alt und würdig genug aus. Und seine Augen ruhten mit einem so merkwürdigen Ausdruck auf ihrer kleinen Person – es waren schöne, tiefe Augen; auch die Stimme hatte einen sonoren Klang, der die musikalische Helene angenehm durchbebte.

„Wie haben die Männer es doch gut in der Welt!“ sagte das junge Mädchen, indem sie träumerisch auf die vorbeifliegende Landschaft sah. „Sie können reisen und alles Wirkliche des Lebens sich zu eigen machen, während wir ein bißchen in Kunst und dergleichen herumpfuschen – und Indien zum Beispiel nur kennen lernen, wenn wir in ‚Paradies und die Peri‘ mitsingen,“ setzte sie schon wieder lachend hinzu.

„O, schelten Sie das Frauenlos nicht,“ erwiderte er eifrig. „Niemand fühlt tiefer als ein Fachgelehrter, wie einseitig unsere Bildung ist. Glauben Sie mir, ich habe schon oft eine wahre Sehnsucht empfunden nach den Gebieten, die wir vernachlässigen müssen und die mir so recht als Domäne für begabte, feinfühlige Frauen vorkommen. Gestern noch in Ihrer herrlichen Galerie fühlte ich mich als armen Fremdling unter diesen Wundern der Kunst!“

Nun war Helene ist ihrem Fahrwasser. Kunst, Musik, Litteratur – alles was ihr junges Herz ausfüllte und begeisterte, kam jetzt eins ums andere während der nächsten Stunden an die Reihe; sie sah reizend aus in ihrer lebhaften und selbstvergessenen Sprechweise, und ihr Gegenüber gerieth immer tiefer ist die bewundernde Betrachtung ihrer großen strahlenden braunen Augen hinein. Plötzlich aber kam ihm die Erinnerung, daß es die Frau eines andern war, mit der er hier reiste, er schwieg eine Zeitlang, fuhr nachdenklich mit der Hand über die Stirn und sagte dann:

„Gnädige Frau, nach einer so interessanten Unterhaltung, wie ich das Glück hatte, sie hier bei Ihnen zu finden, ist der Wunsch begreiflich, nicht als absolut Fremder scheiden zu wollen. Gestatten Sie mir, mich Ihnen vorzustellen. Professor Roditz aus Halle.“

„Professor Roditz!“ rief Helene jubelnd aus. In ihrer Herzensfreude ergriff sie ohne weitere Ueberlegung seine Hand mit lebhaftem Druck. „O, wie mich das beglückt! Wie oft wünschte ich sehnlich, Sie einmal zu sehen – las ich doch immer mit so großer Begeisterung Ihre wundervollen Reisebriefe!“

Der Professor verneigte sich lächelnd. „Damit faßt man einen Autor an der schwachen Seite. Es ist ein sehr angenehmes Gefühl, in der Ferne verstandest und günstig beurtheilt zu werden. Sie lasen meine Berichte wohl gemeinsam mit Ihrem Herrn Gemahl?“

Helene überhörte das leise Weh in dem Ton der Frage, weil diese selbst wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf sie hereinfiel. Das hatte sie ja in der Lebhaftigkeit der Unterhaltung ganz vergessen. Die dumme unnöthige Lüge! Und was setzt sagen, wenn er auch ihren Namen wissen wollte? Etwa bekennen: „Ich fürchtete mich, allein mit Ihnen zu fahren, deshalb gab meine Freundin mich für eine verheiratete Frau aus!“ Oder: „Entschuldigen Sie, wir haben uns nur einen kleinen Scherz erlaubt.“ Nein – nein, das war unmöglich, wozu auch? sie würde ihn ja wohl niemals wiedersehen. Aber antworten, wenn er fragte, mußte sie ohne Zögern. Sie mußte sich einen komischen, unglaublich klingenden Namen ausdenken, den es in Wirklichkeit sicher nicht gab. Eigentlich wurde das Abenteuer ja immer lustiger. Wären nur nicht jene Augen und das eigenthümliche Gefühl in ihrer Brust gewesen! Viel, viel lieber hätte sie ihrem Reisegefährten die Hand gereicht und ihm gesagt: „Ich heiße Helene Elden und hoffe auf ein Wiedersehen.“ Wie kindisch, wie albern müßte dieses Bekenntniß sie vor dem ernsten Manne erscheinen lassen! – –

Alle diese Gedanken und Erwägungen kreuzten sich mit Blitzesschnelle ist Helenens Kopfe; allein während der Pause, die seiner Vorstellung folgte, dachte auch der Professor nach und beobachtete.

Das kurze Ja! gefolgt von einem plötzlichen verlegenen Nachsinnen der noch eben so heiteren Frau Majorin, fiel ihm auf. Was mochte wohl der Grund davon sein und weshalb fehlte an der Hand der verheirateten Frau der glatte, bedeutungsvolle Reif?

Helene hatte nämlich im Eifer der Unterhaltung die Handschuhe abgestreift, und mit Entzücken betrachtete der Professor ihre schlanken weißen Hände, die ohne jeden Schmuck nachlässig in ihrem Schoß ruhten.

Weshalb fehlte der Ring? Weshalb nannte sie ihren Namen nicht? Er war sich bewußt, eigentlich nicht danach forschen zu dürfen, da sie offenbar absichtlich ihm denselben verschweigen wollte, und im Grunde genommen hatte er nichts davon, wenn er wußte, wie diejenige hieß, die er nie wiedersehen würde. Woher kam nur das lebhafte Bedauern, welches ihn bei dieser Vorstellung durchzuckte? Es erschien ihm unmöglich, sich für immer von ihr zu trennen; es war ihm, als müsse er später einmal diese wundervollen braunen Augen, diese zierliche, ebenmäßige Gestalt wiedersehen, als müsse er einmal, einmal nur diese kleine Hand küssen, die eben in dem schwarzen, krausen Haar lag und sich blendend davon abhob. Allein er suchte die Empfindung rasch abzuschütteln, sie lief seinem strengen Ehrgefühl entgegen. Freilich konnte er nicht umhin, ganz im allgemeinen ein paar Augenblicke darüber nachzudenken, welche Seligkeit es doch sein müsse, ein solches Weib sein zu nennen – die Gefährtin des Geistes zugleich mit der Geliebten des Herzens. Wie anders würden die vier Wände seiner Gelehrtenstube sich ausnehmen, wenn eine solche kleine Fee darin waltete! Es wurde ihm schwül, er erhob sich und sah aus dem Fenster, dann wendete er sich wieder Helene zu, die, in ihre eigenen Gedanken vertieft und bang die möglichen Fragen des Herrn Professors fürchtend, die Unterbrechung des Gesprächs nicht auffällig gefunden hatte.

In ihrem Gesicht zeigten sich widerstreitende Empfindungen; offenbar war es ihr gelungen, einen Namen herauszufinden, dessen Absonderlichkeit ihre Mundwinkel voll Schelmerei zucken machte; es sprach sich darin sowie in dem Blitzen ihrer Augen noch immer etwas von stiller Befriedigung an ihrem Abenteuer aus; allein die Heiterkeit gelangte dieses Mal nicht zum Durchbruch, denn als sie endlich aufschaute und die Blicke des Professors fest auf sich gerichtet sah, durchschauerte sie abermals das seltsame Gefühl und eine glühende Röthe bedeckte ihre Wangen.

Jedoch Roditz nahm entschlossen das Gespräch wieder auf.

„Das Endziel Ihrer Reise ist Leipzig, gnädige Frau; ich selbst werde mich dieses Mal dort nicht aufhalten, sondern gleich weiter fahren nach Halle und,“ setzte er aufseufzend hinzu, „später wohl wieder eine weite Reise antreten. Wenn ich dann auf dem Schiffsverdeck oder in den kleinasiatischen Bergschluchten an die deutsche Heimath denke, dann werde ich mich auch Ihrer erinnern sowie dieser gemeinsamen, unvergeßlichen Fahrt, und so möchte ich denn wissen, an wen ich denken darf; wollen Sie es nicht für unbescheiden halten, wenn ich bitte, mir auch Ihren Namen zu nennen?“

„Helene,“ flüsterte das junge Mädchen so leise, daß er Mühe hatte, sie zu verstehen.

„Helene!“ wiederholte er mit dem tiefen Tonfall seiner Stimme. „Der Name ist mir teuer. Es ist der meiner Mutter.“

Sie sah ihn teilnahmsvoll an:

„Und Ihre Frau Mutter lebt mit Ihnen zusammen?“

„Nein, sie ist todt, ich stehe allein auf der Welt und wahrscheinlich für immer,“ erwiderte der Professor ernst. „Man hat ja ist der Jugend auch seine Träume gehabt von einer späteren lichten Zukunft, von einem Heim. voll Liebe, Treue und Sonnenschein, allein solche Träume erfüllen sich nicht immer – oder können sich auch nicht erfüllen,“ setzte er mit einer seltsamen Betonung hinzu.

Helene stockte in der Erwiderung, denn sie begann den Sinn seiner Rede zu ahnen. Ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen, hätte sie doch nie dieses thörichte Spiel getrieben, wäre Emma nie auf diese Idee gekommen!

Der Professor bemerkte ihre Verwirrung, und von seinem vorigen Verlangen beherrscht, benutzte er die abermalige Pause zu einer weiteren Frage.

[846] „Sie nannten mir Ihren Vornamen, der mir über alles teuer ist; allein Ihren anderen Namen, denjenigen Ihres Gatten möchte ich noch wissen, ich möchte, selbst wenn ich Sie nie wiedersehen sollte, wenigstens Ihren Lebensweg aus der Ferne verfolgen!“

Helene schrak zusammen, nun war er da, der gefürchtete Moment, und die Augen des Professors sahen bittend, mit beredtem Ausdruck zu ihr herüber; sollte sie die Lüge wirklich aussprechen, das Zutrauen dieses Mannes täuschen? Und dennoch – sie konnte sich zu dem in mehr als einer Hinsicht schwierigen Geständniß nicht entschließen, sie mußte ihre Rolle festhalten und den Namen nennen, den sie sich ausgedacht. Was schadete es übrigens? Etwas wie Trotz wollte sich in ihr regen gegen das seltsame Gefühl, das sie zu umstricken drohte. Sie sah ja den Professor doch nie wieder, was kam’s denn darauf an, ob er unter diesem oder jenem Familiennamen ihrer gedachte?

„Nie wieder“ – es war ihr, als vermöge sie diesen Gedanken nicht zu ertragen, ein solches Weh schnürte ihr plötzlich die Brust zusammen. Doch was sollte Professor Roditz von ihr denken? Sie mußte antworten, koste es was es wolle. Hätte sie nur ihre alte Heiterkeit hervorrufen können, ihren sonst nie versagenden Uebermuth; aber dieser war untergegangen in den noch unverstandenen Empfindungen, die ihr Herz bewegten.

Sie raffte sich auf, und wie mit Purpur übergossen, die langen Wimpern tief gesenkt, flüsterte sie: „Schnitzel, Major von Schnitzel.“

Der Professor verbeugte sich artig. „Ich danke Ihnen, gnädige Frau! Und wohnen Sie schon lange in Leipzig? Leben Sie sehr gesellig dort?“

„Gottlob,“ athmete Helene innerlich auf, diese letzte Frage ließ sich wenigstens im allgemeinen beantworten: „Nein, wir sind erst seit kurzem dahin übergesiedelt und eigentlich gesellig, im Sinne der großen Welt, leben wir nicht,“ erwiderte sie, dabei an ihr väterliches Haus, ihre Eltern, ihre fünf jüngeren Geschwister denkend. „Wir haben einen sehr netten, kleinen Kreis,“ fuhr sie fort, „in welchem wir unter einander einen äußerst angenehmen Verkehr pflegen; wir lesen, musiciren, veranstalten kleine Aufführungen, tanzen und unternehmen Ausflüge, allein all dies geschieht nicht in übertriebener Weise, nur um das alltägliche Leben zu würzen, um ab und zu geistige, sowie erheiternde Anregung zu empfangen. Sonst widme ich mich meinen Büchern, meinen Arbeiten, meinen Musikstudien und hauptsächlich meinen häuslichen Pflichten, welche mir das höchste Vergnügen gewähren“ – und wieder dachte Helene nur an die Geschwister, wie sie an ihr hingen, wie sie mit ihnen lernte und spielte, sie behütete und umsorgte, wie sie ihre Mutter unterstützte, so viel sie nur konnte.

„Ich vermag Sie mir so gut vorzustellen, schaltend und waltend in Ihrer Häuslichkeit,“ bemerkte der Professor, „Glück spendend und Glück empfangend, alles verklärend mit Ihrem harmonischen Wesen, Ihrem gebildeten Geiste, Ihrem reichen Gemüthe; Sie besitzen doch sicher Kinder?“

„Kinder!“ – Helene war wie vom Schlage gerührt und starrte ihm entsetzt ins Gesicht, diese Frage hatte sie für unmöglich gehalten, gar nicht an dieselbe gedacht. „Kinder!“ – sie, die nicht einmal verheirathet war! O diese fürchterliche Frage – allein ihr geschah schon recht, weshalb hatte sie sich von ihrer Abenteuerlust hinreißen lassen zu dieser Komödie!

Jetzt hatte sie ein Abenteuer in aller Form, wie sie es sich schon unzählige Male gewünscht, aber freilich was für eins!

Kinder! Sie und Kinder!

„Ja, nein, das heißt, o mein Gott!“ stammelte sie und brach, das Gesicht mit den Händen bedeckend, in Thränen aus.

Der Professor war sichtlich bestürzt: „Es betrübt mich ernstlich und tief, wie es scheint, schmerzliche Verhältnisse berührt zu haben, gnädige Frau, bitte, verzeihen Sie mir!“

Rasch gaben Helenens Hände ihr Gesicht frei, und ihre Thränen niederkämpfend, sah sie auf. Schmerzliche Verhältnisse – wie sollte sie diese neue Wendung auffassen, was meinte der Professor damit? hielt er sie für unglücklich verheiratet? Es war zum Verzweifeln; o diese Emma! – Sie wollte sich nie wieder ein Abenteuer wünschen, nein, niemals mehr – allein wie sollte sie sich aus dem jetzigen herausfinden?

„Herr Professor,“ begann sie stockend – da ertönte ein Krach, begleitet von einem heftigen Stoße, der Wagen schwankte, Helenens Sinne schwanden, sie fühlte noch einen jähen Schmerz und dann war sie bewußtlos.

[861] An der Promenade in Leipzig steht ein stattliches Haus, dessen weitgeöffnete Fenster an jenem Morgen den Geruch der in den nahen Anlagen blühenden Jasminsträucher voll einströmen ließen. In einem einfach möblirten Zimmer des Erdgeschosses, dessen Wände mit Waffen und Landkarten bedeckt waren, lag der Inwohner in einem amerikanischen Stuhle ausgestreckt am Fenster, sah in das Grün der Bäume empor und ließ das feine Aroma einer echten Havannazigarre sich mit dem hereindringenden Blüthendufte vermischen. Es war eine kräftige Männergestalt, wohl näher den Vierzigen als den Dreißigen, mit einem frischen und gutmüthigen Gesicht. Er genoß den schönen Morgen und befand sich augenscheinlich in der behaglichsten Stimmung.

[862] Da wurde plötzlich die Thüre aufgerissen und eine vierschrötige Gestalt stolperte herein: „Herr Major, Herr Major, schon wieder eine Depesche!“

An der Wiege dieses Männerkolosses hatten die Grazien sicher nicht gestanden: ein Paar wasserblauer Kugelaugen starrte glotzend aus seinem breiten Gesicht und brandrothes Bürstenhaar strebte nach allen Seiten seines unförmlichen Schädels wie Igelstacheln hervor.

Aber ein sehr guter Kerl war Christian, der treue Diener seines Herrn, der geschworene Freund aller Kinder und Hunde der Nachbarschaft. Seine Dummheit war mit einer guten Portion Pfiffigkeit durchsetzt, seine Treue und Ehrlichkeit über jeden Verdacht erhaben, somit erfreute sich Christian einer wohlverdienten Beliebtheit in hohen und niederen Kreisen trotz seiner wenig einladenden Außenseite.

Als der Major das gänzlich verstörte Gesicht seines Dieners sah, sagte er, indem er ihm die Depesche abnahm, mit wohlwollendem Ernste: „Du bleibst doch immer der gleiche Esel, Christian. Sollte man nicht meinen, das Ding verbrenne Dir die Finger? Gieb her!“

Christian riß seine Augen aus. „Ach, wenn die Depesche nur kein Unglück bedeutet, denn mir hat heute nacht von der seligen Frau Mutter geträumt und: ‚Spinne am Morgen, Kummer und Sorgen‘; der Herr Major wissen ja –“ er hielt inne aus Bestürzung über den Anblick seines Herrn, der mittlerweile die Depesche entfaltet hatte.

Der Major stand, das Papier in der Hand, pfeilgerade aufgerichtet und starrte, wie geistesabwesend, hinan.

„Zum Henker,“ rief er jetzt aus, „das ist doch der heilloseste Unsinn, der mir je vor Augen kam. Schon wieder die ‚Frau Gemahlin‘! Es ist ja rein zum Tollwerden. Christian, komm her, steh mich an und sage mir – bin ich verheiratet?“

Die Augen des Majors funkelten so bedrohlich, daß Christian Zeit brauchte, sich zu fassen.

„Eigentlich nicht Herr Major,“ stammelte der gute Bursche dann in rathloser Verlegenheit.

„Uneigentlich auch nicht, Du Schafskopf!“ schleuderte ihm der Major wütend ins Gesicht und begann dann, im Sturmschritt das Zimmer auf und abzulaufen. Plötzlich innehaltend, faßte er wieder nach der Depesche. „Es könnte doch eine Verwechslung sein! – Aber nein, da steht mein Name groß und deutlich: Major von Schnitzel; ich bin ja der einzige Mensch in der ganzen Stadt, der so heißt – es ist eine boshafte Mystifikation,“ schrie er wieder, „ein infamer Bubenstreich. Aber ich werde die Urheber finden ich werde –“

Und sein dichtes Haar mit der einen Hand zerwühlend, in der andern das Unglücksblatt, raste er von neuem in dem Zimmer hin und her, dicht auf seinen Fersen der gänzlich verblüffte Christian, der, in der Unmöglichkeit, eine so unerklärliche Situation zu verstehen, sich nur bemühte, das Rauchtischchen den Vogelkäfig, alles, was nicht niet- und nagelfest war, vor den Gewaltbewegungen seines Herrn zu schützen.

Mitten in dieser seltsamen und für einen Unbeteiligten gewiß höchst belustigenden Jagd öffnete sich die Thür und ein Offizier trat ein, der nach ein paar Sekunden grenzenlosen Erstaunens sich in den nächsten Sessel warf und lachte, so unaufhaltsam und unbändig lachte, daß der Major endlich seinen Schnelllauf unterbrach und stirnrunzelnd vor ihn hintrat.

„Bist Du jetzt bald fertig mit Deinem geistreichen Gelächter?“ fragte er bitterböse, als Christian sich auf seinen Wink entfernt hatte. „Ich bin nicht in der Stimmung für Späße, das sage ich Dir gleich!“

„Na aber, erlaube mir,“ erwiderte zu sich kommend sein Freund, Hauptmann Richter, „das geht so doch über die Möglichkeit. Ich komme her, Dich zu einem Spazierritt abzuholen wie gestern ausgemacht, und Du rasest mit Tigersätzen in Deiner Stube herum, hinter Dir das arme Schaf, der Christian, mit Zittern und Händeringen und kaum wirst Du meines Anblickes teilhaftig, so wirfst Du mir Redensarten ins Gesicht, die ich blutig ahnden müßte, wenn wir nicht so gute Freunde wären.“

„Eigentlich hast Du so recht!“ seufzte plötzlich ganz herabgestimmt der Major. „Du mußt entschuldigen … aber wenn es einem geht wie mir heute, kann der Sanftmütigste aus dem Häuschen kommen. Da! lies diesen unerhörten Unsinn –“ er schob ihm zwei Papiere hin – „dies zuerst – lies laut, damit ich es noch einmal höre, und dann sage mir, ob ich verrückt bin, oder was es sonst ist!“

Er warf sich resignirt in einen Sessel. Hauptmann Richter entfaltete das erste der Blätter und las mit einer Stimme, die grenzenloses Erstaunen ausdrücktet

„Major von Schnitzel, Leipzig. Eisenbahnunglück, Ihre Frau Gemahlin verletzt, kommen Sie sofort. Professor Roditz.“

Hauptmann Richter ließ das Blatt sinken.

„Nun, da hast Du natürlich zurücktelegraphirt, daß an Irrthum vorwalten müsse –“

„Gewiß, ich telegraphirte: ‚Nachricht von Verletzung scheint irrtümlich an meine Adresse gesandt.‘ Darauf erhielt ich aber vorhin dieses zweite Telegramm.“ Er reichte dem Hauptmann die jüngste Depesche, welche lautetet „Irrthum ausgeschlossen, da Frau Gemahlin selbst Ihre Adresse angegeben.“

„Das ist allerdings stark,“ stieß jetzt der Hauptmann hervor.

„Siehst Du,“ fuhr der Major auf, „es ergeht Dir genau wie mir; es ist zum Tollwerden! Wer giebt sich für meine Frau aus? wer ist dieser Professor Roditz? Ich kenne ihn nicht; das heißt, so ganz dunkel schwebt es mir vor, als hätte ich seinen Namen schon in der Zeitung gelesen. Wie in aller Welt gelangt der Mann aber zu der Annahme, ich sei verheiratet? Wie kommt er dazu, mit solcher Hartnäckigkeit von mir zu verlangen, ich solle zu meiner angeblich verwundeten Frau eilen? Es ist doch die verrückteste Geschichte, die mir je vorgekommen!“

„Ja, unbegreiflich ist sie allerdings – sage mir offen und ehrlich, Hans, spielt nicht da etwas aus früherer Zeit? ist es nicht möglich, daß irgend eine Dame, die einmal zu Dir in Beziehungen gestanden hat, Deinen Namen mißbraucht, sei es aus Rache oder in irgend einem Falle der Noth?“

„Nein, das kann es nicht sein; Du weißt, ich verheimliche Dir nichts; ich habe wohl da und dort einmal gehuldigt und mir auch einst eine Abweisung geholt, an welcher ich lange und schwer getragen, aber ein leichtfertiges Verhältniß habe ich niemals gehabt.“

„So telegraphire einfach an diesen Professor zurück: ich bin unverheiratet und komme nicht.“

„Daran dachte ich zuerst auch, allein bei genauer Ueberlegung geht dies nicht. Ich muß selbst hin; Du hörst, daß eine bei dem Eisenbahnunglück verwundete, vielleicht mit dem Tode ringende Dame meine Adresse angegeben, daß ein Professor Roditz sie für meine Frau hält und bei dieser Meinung trotz meines Telegramms, daß ein Irrthum vorwalten müsse, beharrt. Eine Mystifikation scheint mir denn doch ausgeschlossen, was bedeutet also diese rätselhafte Geschichte? Wer giebt sich für meine Frau aus? Wie kommt dieser Professor dazu, mir im Namen der Verwundeten zu telegraphiren? Dem Rätsel muß ich auf den Grund kommen und zwar möglichst rasch, an Ort und Stelle.“

„Du hast recht,“ meinte Hauptmann Richter nachdenklich; „vielleicht findest Du eine Unglückliche, die, von einem schweren Geschick betroffen, Grund hat, ihren Namen zu verheimlichen, Dich von früher her kennt und sich in ihrer Lage nicht anders zu helfen weiß.“

„Möglich, obgleich es doch ein starkes Stück wäre,“ versetzte gereizt der Major. „Um die Folgen, die das für mich haben kann, kümmert sich das Frauenzimmer natürlich nicht – ich bin Offizier, bin unverheirathet und werde da so ohne weiteres zum Ehemann befördert, vielleicht handelt es sich gar um einen meinen Namen kompromittirenden Schwindel – das wäre dann eine niederträchtige Komödie, der schleunigst ein Ende gemacht werden müßte. Es ist klar, ich muß hin. Wenn ich nur den nötigen Urlaub rasch genug bekomme!“

„Nun, gerade da ich Dich aufsuchen wollte, sah ich den Obersten in die Kaserne gehen, Du kannst also dort vorfahren und Deine Urlaubsangelegenheit erledigen; in einer Stunde geht der Zug ab und in dreiviertel Stunden bist Du an Ort und Stelle, also: Glück auf!“

Christian, welchen sein Herr nunmehr mit einer wahren Donnerstimme hereinrief, um ihm die nötigen Instruktionen zu erteilen, erkannte aus wohlbekannten Zeichen, daß hier keine weitere Frage am Platze sei. Freilich konnte er nur unter starkem Kopfschütteln nach dem befohlenen Wagen laufen, denn was sollte daraus werden, wenn der Major anfing, mir nichts, dir nichts, ohne Christian in die Welt zu fahren? Aber zehn Minuten später fand dies wirklich statt – und Christian hatte nicht einmal erfahren wohin die Reise ging! …



[863] Der unweit einer kleinen Station stattgehabte Eisenbahnunfall hatte glücklicherweise keine große Ausdehnung angenommen; es war kein Menschenleben zu beklagen; jedoch hatten mehrere der Passagiere Verletzungen davongetragen. Die beiden Aerzte des Städtchens waren gleich zur Stelle und während der jüngere, unverheirathete derselben sich in dem unmittelbar am Bahnhof gelegenen Gasthofe den meist leichter Verwundeten widmete, ließ der ältere, Doktor Belden, Helene, die bewußtlos dalag und ernstlich verletzt schien, in seine Wohnung schaffen.

In einem kleinen Kabinett, unmittelbar an den Raum anstoßend, in den man Helene gebracht hatte, ging Professor Roditz in der heftigsten Erregung auf und nieder. Er achtete nicht der eigenen Schmerzen, der geschundenen Glieder, der Kontusionen, die er davongetragen, er sah nur das leichenblasse Frauenantlitz vor sich, die leblose Gestalt, wie sie nach der Katastrophe, ehe die Hilfe kam, in seinen Armen geruht hatte.

Was würde die nächste Stunde bringen? Hatte Helene – er war bereits so weit, sie nur noch Helene zu nennen – eine ernste Verletzung davongetragen, oder würde sie gerettet werden gerettet für Wen? Für einen rohen, widerwärtigen Menschen ohne Zweifel der das süße Geschöpf mit Eifersucht oder sonstwie quälte – der Professor versank immer tiefer in die unerfreulichsten Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, so daß er nicht beachtete, wie sich die Thür öffnete. Erst als eine Hand auf seinen Arm gelegt wurde, fuhr er auf.

„Ah, Sie sind es, Herr Doktor; wie steht es mit unserer Kranken?“ Es lag eine so angstvolle Spannung in seinem Gesicht, daß der Doktor voll Theilnahme ihm die Hand drückte und ermunternd sagte:

„Nur Muth, mein Herr; es ist nicht nur von keiner Gefahr die Rede, sondern auch nicht einmal eine bedenkliche Verletzung zu finden. Die tiefe Ohnmacht rührte offenbar von dem plötzlichen Schrecken und der Blutung her. Die junge Dame erwachte unter meinen Bemühungen, allein ich ließ sie nicht sprechen, sondern flößte ihr sofort einen beruhigenden Trank ein, dessen Wirkung sich in einem wohltätigen Schlafe zeigt, aus welchem sie kaum vor ein bis zwei Stunden erwachen wird. Die Wunde am Kopfe ist mit einem nassen Umschlage versehen, den meine Frau von Zeit zu Zeit vorsichtig erneuern wird, und so bin ich überzeuge daß Ihr Schützling schon morgen die Weiterreise unternehmen kann.“

„Gott sei Dank, Dank aus tiefster Seele für diesen Ausspruch, Herr Doktor,“ rief Professor Roditz lebhaft aus, und eine solch überwältigende Freude verklärte sein Gesicht, daß der Doktor überrascht erwiderte:

„Ah, also so steht es, Herr Professor? Das junge Mädchen ist wohl Ihre Braut? Na, gratulire, gratulire von Herzen, haben sich eine allerliebste Zukünftige erwählt.“

„Sie irren sich, Herr Doktor, ich stehe zu dieser Dame in keinerlei Beziehungen, ich sah dieselbe heute zum ersten Male, lernte sie erst im Coupé kennen; allerdings erschien sie mir besonders liebenswürdig und anmuthig, dies ist aber auch alles. Sie ist verheirathet, hat Kinder und während ihres Transportes hierher telegraphirte ich nach Leipzig an ihren Mann, einen Major von Schnitzel, den wir mit dem nächsten Zuge, etwa in zwei Stunden, erwarten können“

„Schnitzel, ein drolliger Name,“ lachte der Doktor; „hätte übrigens nicht geglaubt, daß ein so alter Praktikus wie ich sich so irren könnte; ich hätte darauf geschworen, ein junges Mädchen vor mir zu haben. Bis zur Ankunft des Herrn Majors bin ich wieder zurück, jetzt muß ich nach meinem Kollegen und den anderen Verwundeten sehen.“

„Herr Doktor, noch eins: Sie sagten, die gnädige Frau schlafe fest; hätten Sie ein Bedenken dagegen, mir für wenige Augenblicke den Eintritt zu gestatten? Ich möchte nach dieser schweren Stunde sie nur einen Moment sehen mit der Ueberzeugung, sie dem Leben erhalten zu wissen.“

„Treten Sie ruhig ein, aber verhalten Sie sich still und bleiben Sie nur kurze Zeit drinnen, aufwachen darf sie nicht. Adieu!“

Der Doktor nahm seinen Hut und brummte im Fortgehen vor sich hin. „Keinerlei Beziehungen – ausgezeichnet! Am Ende erleben wir noch die schönste Eifersuchtscene mit dem Herrn Gemahle das kann nett werden! Denn daß dieser da gehörig verliebt in das schöne Frauchen ist, das sieht doch ein Blinder!“

Professor Roditz aber trat leise in das neben dem kleinen Kabinett befindliche Zimmer ein, wo Helene auf einem Sofa sorgfältig hingebettet lag. Mit andächtiger Scheu richteten sich seine Augen auf die Schlummernde, deren feines blasses Profil sich von dem dunklen Hintergrund der Sofalehne abhob; leise ging der Athem über die bereits wieder rothen Lippen aus und ein, das reiche dunkle Haar floß gelöst über die Kissen herab, sie schien tief und süß zu schlafen. Ueber der Stirn lag eine nasse Kompresse gebreitet und deckte die Augen.

Roditz stand lange in den Anblick versunken; er sägte sich innerlich wieder und wieder, daß sie das Weib eines andern sei, daß er nicht an sie denken dürfe. Und eine innere Stimme antwortete: Mit dieser würdest Du glücklich werden!

Endlich that er einen Schritt vorwärts, drückte einen leisen Kuß auf ihre Hand und riß sich gewaltsam los, um die Zeit bis zur Ankunft des Leipziger Zugs mit einem Gang ins Freie auszufüllen.

Als er nach zwei Standen zurückkehrte, ließ eben Doktor Belden einen Offizier voraus in das Zimmer eintreten, und sofort wußte er, dies müsse der Major sein. Jetzt galt es, sich zusammen zu nehmen und scharf zu beobachten. Sich frostig verbeugend, ging der Professor auf den Fremden zu: „Ich habe wohl die Ehre, Herrn Major von Schnitzel vor mir zu sehen?“

Seinerseits betrachtete der Major sich den Mann, welcher ihn hierher gesprengt hatte, mit keinen freundlicheren Gefühlen. Ein ironisches Lächeln umspielte seinen Mund, als er leichthin erwidertet „Ganz richtig, und in Ihnen lerne ich wohl Herrn Professor Roditz kennen, der mir telegraphirte?“

„Ja, ich erlaubte mir dies, da ich nicht wissen konnte, wie der Ausspruch des Arztes lauten würde; Gefahr ist, Gott sei Dank, keine vorhanden; allein es ist Ihnen, Herr Major, gewiß sehr erwünscht, Ihre Frau Gemahlin nach diesem Unfalle selbst nach Leipzig geleiten zu können.“

Ohne dem Professor zu antworten, wendete sich Major von Schnitzel ruhig an den Arzt mit der kurzen, bündigen, weder Freude nach die geringste Erregung verrathenden Frage: „Also Gefahr ist keine vorhanden? Sie ist nicht bewußtlos aber durch den Schreck – geistig gestört?“

„Nein, Herr Major,“ entgegnete, unwillig über solche Herzenshärte, Doktor Belden; „Ihre Frau Gemahlin trug eine Kopfwunde davon, die zwar stark blutete, aber ganz ungefährlich ist und rasch heilen wird; sie liegt schlafend hier nebenan, kann indessen jeden Augenblick erwachen, und dann steht Ihrer gegenseitigen Begrüßung nichts im Wege, nur möchte ich Aufregungen, beunruhigende häusliche Mittheilungen vermieden wissen.“

„Inwiefern mein Erscheinen die Kranke aufregen wird, vermag ich nicht zu beurtheilen, aber beunruhigende häusliche Mittheilungen wird die gnädige Frau durch mich sicher nicht erhalten Herr Doktor.“

„Nun,“ erwiderte der Doktor gereizt, „wenn man Kinder hat, sind derartige Berichte nicht ausgeschlossen, kenne das genugsam aus eigener Erfahrung.“

Der Major blieb einen Augenblick sprachlos vor Staunen. „Kinder,“ hatte der Doktor gesagt, – die Sache wurden immer besser. Erschien es denkbar, daß die Fremde selbst dies bestätigt hatte, oder spielten hier die unglaublichsten Zufälle? Vorderhand mußte er sich jedenfalls möglichst passiv verhalten; einmal mußte die Wahrheit an den Tag kommen, und sehen wollte er sie wenigstens – die Frau Majorin!

„Und sind Sie“ – wandte sich der Major wieder an die beiden Herren – „dessen vollkommen sicher, daß jene Dame die Frau Majorin von Schnitzel ist? Hat sie selbst sich diesen Namen beigelegt und von ihren Kindern erzählt?“

„Gewiß,“ erwiderte der Professor, ärgerlich über den ironischen Ton des Majors, der sich abermals eines Lächelns nicht erwehren konnte und sich jetzt artig verbeugte mit den Worten: „Ich streiche die Segel; da die Dame selbst sich als Frau von Schnitzel präsentirt hat, so muß es wohl wahr sein; jedenfalls,“ fügte er heiter hinzu, „wünsche ich sie jetzt endlich einmal zu sehen.“

„Bitte“ – des Doktors Antwort klang schroff, während er in das Nebenzimmer voranschritt.

Soeben war Helene von ihrem Schlafe erwacht, und rasch näherte sich ihr Doktor Belden: „Hier, gnädige Frau, bringe ich Ihren Herrn Gemahl, welcher auf unsere Depesche hin sogleich herbeieilte.“


[866] Bis jetzt hatte Helene nur zu Doktor Belden aufgesehen, der sich zu ihr niedergebeugt.

„Mein Mann – o Gott“ – flüsterte sie zitternd, der Doktor mit der Hand einladend zurückwinkte, wo des Majors behäbiges Gesicht unter der Thür erschien. In demselben Augenblick stieß Helene einen furchtbarer Schrei aus, sie streckte, wie sinnlos vor Angst, abwehrend die Hände aus und stöhnte in fast unartikulirten Lauten: „Fort, fort, um Gotteswillen, nur fort!“

Bestürzt wich der Major zurück, nicht ohne einen Blick wärmster Theilnahme auf das blasse, interessante jugendliche Gesicht geworfen zu haben, seltsam, es zog wie ein warmer Hauch durch sein Herz – ein solches Weibchen hätte er sich schon gefallen lassen können!

Zu einer weiteren Ueberlegung gelangte er nicht, denn schon fühlte er sich rauh am Arme zurückgerissen in das kleine Kabinett, und während blitzenden Auges stand ihm Professor Roditz gegenüber, während der Doktor bei Helene zurückblieb und alles aufbot, um sie zu beruhigen.

„Gnädige Frau, Sie dürfen sich nicht so aufregen, denken Sie wenigstens an Ihre Kinder; der Herr Major kann sofort wieder abreisen, wenn seine Anwesenheit Sie ängstigt; außerdem wache ich über Sie und lasse Ihnen nichts geschehen.“

Seine tröstlichen Worte machten indessen keinen beruhigenden Eindruck – Helenens Aufregung steigerte sich dadurch nur noch mehr, sie schluchzte, als wolle ihr das Herz brechen, so daß Doktor Belden endlich rathlos schwieg.

[878] Während Doktor Belden beruhigend auf die immer heftiger weinende Kranke einsprach, öffnete sich die Thür, und mit dem Ausrufe: „Meine Helene, meine arme Helene!“ eilte eine schlanke Gestalt dem Ruhebette zu, kniete neben demselben nieder und umfaßte die Weinende.

„Emma, meine Emma, o, nun wird alles gut!“ mit diesen Worten schlang Helene den Arm um den Hals ihrer Freundin, als wolle sie sie nie mehr von sich lassen.

„Arme Helene!“ rief diese mittlerweile, ihr die blassen Wangen streichelnd, „wer hätte gedacht, daß diese Vergnügensfahrt so tragisch enden würde! Ich erfahr das Unglück durch meinen Onkel, den Polizeipräsidenten, dem das Geschehene telegraphisch gemeldet wurde und welcher uns das Telegramm sogleich zuschickte, da er Dich in diesem Zuge wußte. Mit dem zunächst abgehenden fuhr ich hierher, hörte an der Bahn, Du seist nur ohnmächtig geworden und bei Doktor Belden in bester Pflege. Und nun finde ich Dich in solcher Erschütterung! Um Gotteswillen, was ist Dir? Bist Du doch schwerer verletzt, leidest Du Schmerzen?“ Sie sah nach dem Arzt empor: „Ich heiße Emma Wahren, bin Helenens vertrauteste Freundin und ersuche Sie, mir sofort die ganze Wahrheit zu sagen.“

„Die ist sehr einfach, mein Fräulein,“ erwiderte der Doktor, „das Befinden der gnädigen Frau läßt nichts zu wünschen übrig, und nun, da die Freundin eingetroffen ist, legt sich hoffentlich die furchtbare, unerklärliche Aufregung, in welche die Frau Majorin bei dem Anblicke ihres Mannes gerieth, den wir selbstverständlich sofort von Leipzig kommen ließen.“

Jetzt war die Reihe des Entsetzens an Emma, sie glaubte, nicht recht gehört zu haben, und hastig, in höchster Ueberraschung stieß sie die Worte heraus:

„Was sagen Sie da? Frau Majorin? – Der Mann meiner Freundin – und Sie behaupten, er wäre hier?“

„Freilich behaupte ich’s; aber jetzt wird mir’s zu bunt.“ polterte Doktor Belden heraus, dem endlich die Geduld riß. „Finden Sie es denn unnatürlich, wenn man dem Manne einer verunglückten Frau telegraphirt und wenn dieser dem Rufe Folge leistet? Professor Roditz übernahm es, den Herrn Major von Schnitzel in Leipzig zu benachrichtigen; derselbe eilte, wie wir es nicht anders erwarteten, sogleich herbei; weshalb versetzt Sie diese natürliche Thatsache in solch merkwürdiges Erstaunen, mein Fräulein?“

Ohne auf diese Bemerkung einzugehen, frug Emma lebhaft: „Woher wußten Sie diesen Namen? hat meine Freundin sich selbst so genannt?“

„Natürlich, dem Herrn Professor, der mit ihr reiste,“ erwiderte Doktor Belden ungeduldig. „Uebrigens muß ich Ihnen sagen, mein gnädiges Fräulein, daß mir dieser ganze Handel mehr als seltsam vorkommt. Ein solches Wiedersehen von Ehegatten, wenn eins davon knapp dem Tode vorbeikam, dieses beiderseitige Entsetzen beim Erwähnen ihrer Kinder – das geht nicht mit rechten Dingen zu! Uebrigens geht es mich nichts an, natürlich,“ setzte er ärgerlich hinzu und machte eine halbe Wendung zum Hinausgehen.

Emma und Helene sahen sich an paar Augenblicke unverwandt in die Augen, dann verneigte sich die erstere, schon wieder mit einem kleinen Schalk um die Mundwinkel vor dem Arzt und sagte: „Darf ich Sie bitten, mich mit meiner Freundin nur kurze Zeit allein zu lassen? Alle Achtung vor Ihrer Kunst, Herr Doktor, jedoch in diesem Falle glaube ich ihr bester Arzt sein zu können, Sie werden Wunder erleben.“ Sie sah ihn, während sie das sagte, so schelmisch an, daß er ihr schmunzelnd die Hand reichtet „Nun gut, einer so hübschen Kollegin räume ich gern das Feld, also machen Sie Ihre Sache brav!“

„Noch eines, Herr Doktor, gehen Sie draußen ja nicht zu strenge ins Gericht mit dem armen Herrn Major, Sie dürften es später bereuen und möglicherweise große Abbitte leisten müssen,“ drohte Emma lächelnd mit aufgehobenem Finger; „ich komme bald nach, bis dahin ersuche ich Sie nur, von meinem Hiersein nichts zu erwähnen.“

Kaum hatte sich die Thür hinter Doktor Belden geschlossen, so fielen sich die Freundinnen in die Arme, und unter Lachen und Weinen berichtete Helene alles, was sich seit heute morgen zugetragen, die Fahrt, die herrliche Unterhaltung, ach – und die schmachvolle Lüge mit ihren schrecklichen Folgen.

„Rette mich, Emma!“ schloß sie endlich die lange Beichte. „Du hast das ganze Unheil angestiftet nun sieh, wie Du den Major wieder fortbringst, und vor allen Dingen, erkläre Herrn Professor Roditz …“ sie wandte sich verwirrt zur Seite, „erkläre ihm alles, denn, offen gestanden – es wäre mir unerträglich, von diesem Manne verkannt zu werden.“

„Du, Du!“ drohte Emma, „das letztere scheint Dir ja ganz ungeheuer am Herzen zu liegen! Sei getrost, ich werde diesem Manne den Sachverhalt aufklären und mich zum Sühnopfer anbieten, denn das scheint mir doch ausgemacht, daß Du jetzt den braven Major zum Lohn für sein ritterliches Schweigen auch thatsächlich mit Deiner Hand zu beglücken hast!“

Jetzt lachte Helene zum ersten Male wieder laut und herzhaft auf: „Warum nicht gar! Von mir wird er vollständig genug haben; aber wie wäre es, wenn Du dieses Amt übernähmst, weise Emma, was meinst Du?“ Sie sah der Freundin muthwillig in die Augen, diese gab ihr einen Schlag auf die Hand:

„Ich meine, daß Du nun wieder meine alte Helene bist, Gott so Dank dafür! Aber ums Himmelswillen,“ fuhr sie auf, „ich vergesse über unserer Plauderei völlig, in welch schrecklicher Lage ich den armen Major lasse; wie wird dem der Professor mitspielen und schließlich noch der Doktor, und ich gewissenloses Geschöpf versprach, gleich zu kommen!“

Noch einen Kuß und draußen war sie; Helene athmete tief auf und legte sich in das Sofa zurück; ihre Blicke versenkten sich träumerisch in das grüne Blättergewirr vor dem Fenster, während ein seliges Lächeln ihren Mund umspielte.




Während der Unterredung der beiden Freundinnen hatte sich ein erbitterter Wortwechsel zwischen Professor Roditz und Major von Schnitzel entsponnen, der eben nahe daran war, in einer Forderung zu gipfeln.

In den heftigsten Ausdrücken hatte der Professor den vermeintlichen Ehemann zur Rede gestellt wegen seiner Lieblosigkeit, seiner herzlosen Gleichgültigkeit gegen seine Frau.

Das ging dem Major, wenn schon er den Irrthum des Herrn bedachte, denn doch allmählich zu weit. Auch er begann heftig zu werden, indem er sich sagte, daß ja ebenso gut alles wahr sein könnte, was jener annahm, und wieso dann ein wildfremder Professor sich um seine, des Majors, eheliche Differenzen zu kümmern habe?

Seine ziemlich grobe Entgegnung. „Das geht Sie alles gar nichts an!“ versetzte den Gelehrten aber nur in größere Aufregung, die Reden flogen immer gereizter zwischen ihnen her und hin, und der Major stand eben im Begriff, sehr unangenehm zu werden, als die Thür sich öffnete und der Doktor mit Emma eintrat.

Roditz stürzte auf sie zu und ergriff ihre rechte Hand. „Gott sei Dank, daß Sie da sind, nun reden Sie dem Gatten Ihrer armen Freundin ins Gewissen.“

„Freundin?“ rief der Major und erhaschte ihre Linke. „Jetzt Aufklärung um jeden Preis, oder ich werde verrückt bei dem fürchterlichen Unsinn.“

Emma brach in an fröhliches Lachen aus und sah voll Schelmerei von einem zum andern.

„Herr Professor, Herr Major,“ begann sie dann mit zwei zierlichen Verbeugungen, „erlauben Sie vor allen Dingen dem Rettungsengel, sich vorzustellen als Emma Wahren, intimste Freundin der schönen Unglücklichen, um welche hier, wie es scheint, sehr anzügliche Reden getauscht werden.“

„Verzeihen Sie!“ unterbrach sie hastig der Professor, – „in der furchtbaren Aufregung“ – „vergaßen wir uns vorzustellen,“ vollendete der Major.

„Ist nicht nöthig, da ich soeben von Helene komme; die Namen der Herren sind mir demnach bekannt. Der Ihrige,“ wendete sie sich mit schalkhafter Gravität an den Professor, „natürlich schon längst; selbst ein so ungelehrtes, prosaisches Naturkind [879] wie ich weiß von dem berühmten Weltumsegler; der Ihrige jedoch,“ fuhr sie, den Major neckisch anlachend, fort, „tönt mit seinem wunderbar poetischen Klange heute zum ersten Mal an mein Ohr.“

„Zum ersten Male?“ fiel der Professor, immer noch heftig erregt ein: „um Gotteswillen, Fräulein, treiben Sie keinen grausamen Scherz mit mir!“

„Grausamen Scherz,“ versetzte Emma, „ich denke ja nicht daran. Denn wenn auch Helene meine Freundin ist, so folgt daraus noch lange nicht, daß sie die Gattin dieses armen vielgeplagten Mannes sei, der heute so schwere Proben überstanden hat.“

Sie lachte fröhlich dem Major in das aufgeheiterte Gesicht; er beugte sich auf ihre Hand und drückte einen enthusiastischen Kuß darauf.

„Ich verstehe kein Wort,“ unterbrach Robitz die Plaudernden unmuthig, "die Herrschaften scherzen hier harmlos, während ich –“

„Während Sie diesen guten Herrn Major für einen barbarischen Wütherich hielten und mich ohne Zweifel für eine vollkommene Närrin ansahen. Aber Sie sollen uns Abbitte thun, mein Herr Professor, feierliche Abbitte, denn erfahren Sie –“ hier richtete sie sich hoch auf. „Helene Elden, meine Freundin ist – – unverheirathet!“

„Unverheirathet!“ – rief der Professor aus, während sein Gesicht sich verklärte und ein Strahl unsäglichen Glückes aus seinen Augen brach, „unverheirathet!“

Er vermochte vor Ergriffenheit nichts hinzuzusetzen und stand ein paar Augenblicke in glückseligem, staunendem Schweigen da.

„Aber,“ brach es endlich von seinen Lippen, „wie vermochte es Fräulein Elden, mich so zu täuschst?“

„Still, still, Herr Professor,“ beschwichtigte Emma, „nur nicht wieder voreilig ins Gericht gehen wie mit dem armen Herrn Major; Helene ist unschuldig und hat schwer genug unter meinem unbedachten Scherze gelitten; ich werde als alleinige Sünderin nachher volle Beichte ablegen, doch vorerst versöhnen Sie hier Ihr bemitleidenswertes Opfer.“

Mit dem liebenswürdigsten Entgegenkommen eilte der Professor auf den Major zu, dessen Hände mit der dringenden Bitte ergreifend: „Können und wollen Sie mir verzeihen, was ich Ihnen angethan um dieses unglücklichen Mißverständisses willen?“

„Bitte, bitte!“ wehrte dieser lachend ab, „da ist nichts zu verzeihen; aber wissen möchte ich jetzt doch endlich einmal –“

„Ich auch,“ platzte der Doktor aus vollem Herzen los. „Da ich aber jetzt augenblicklich noch einmal auf den Bahnhof muß, so schlage ich vor, die Herrschaften bringen sämmtlich den heutigen Abend bei uns zu; ich erlaube sogar Fräulein Eldens Anwesenheit, natürlich sprechen darf sie nicht viel. Dann muß uns sowohl Fräulein Wahren als der Herr Major ausführlich erzählen, und so werden wir endlich alles erfahren.“

Der Vorschlag des Doktors wurde angenommene während dieser nun enteilte und Emma mit dem Major ein lebhaftes und lustiges Wortgefecht begann, welches diesen höchlich zu entzücken schien, war Professor Roditz still ins Nebenzimmer eingetreten, wo Helene im Lehnstuhl am offenen Fenster saß.

Sie ruhte, den feinen Kopf seitwärts geneigt, an ein purpurrothes Kissen gelehnt, von welchem sich der zarte Kopfumriß reizend abhob. Ihr jetzt vollständig aufgelöstes, schwarzes, gelocktes Haar fiel über Schultern und Brust herab, und die weißen Hände hielten einen Strauß duftender Rosen fest, den ihr Frau Doktor Belden gebracht hatte. Die langen, seidenen Wimpern lagen nicht mehr herabgesenkt auf ihren Wangen, sondern entschleierten die braunen Augen in ihrer wunderbaren Schönheit, die, voll aufgeschlagen, in die grünen Bäume des Gartens hinausschauten, durch welche soeben die letzten Sonnenstrahlen hereinfielen und die ruhende Mädchengestalt wie mit einem Glorienschimmer umwoben.

Ein leichtes Geräusch ließ Helene aufsehen mit einem leisen Freudenschrei wollte sie sich erheben, allein schon kniete der Professor neben ihr, sie sanft in den Sessel niederdrückend.

„Helene, Helene“ – das war alles, was die zitternden Lippen des sonst so starken Mannes hervorzubringen vermochten. Einen Augenblick später lag sie an seiner Brust und wieder und wieder küßte der glückselige Mann Augen, Stirn und Mund seiner holden Braut, während draußen die Abenddämmerung sich leise über die Wipfel niedersenkte.




Am Abend dieses ereignisreichen Tages saß ein Kreis froher Menschen bei der trefflichen Erdbeerbowle, welche die kleine Frau Doktorin bereitet hatte, bis spät beisammen.

Als die Hauptsünderin war Emma verurtheilt worden, von Anfang an zu erzählen, und sie that es mit solcher Lebhaftigkeit und solch drolligem Muthwillen, der Major ergänzte in so komischer Weise, daß die Zuhörer nicht aus dem Lachen herauskamen.

„Ich konnte natürlich nicht ahnen,“ schloß Emma ihren Bericht, „daß mein Scherz so folgenschwer sein würde, und dennoch sollte ich eigentlich nichts bereuen, denn“ – und ohne zu vollenden, schaute sie mit vielsagenden Blicken nach Helene, deren Augen unbekümmert um die Anwesenden an denjenigen des neben ihr sitzenden Professors hingen, der ebenso unbekümmert ihre Hand fest in der seinigen hielt.

„Das ist wieder einmal Frauenlogik: es ist gut abgelaufen, folglich bildet man sich noch etwas darauf ein,“ meinte scherzend Doktor Belden. „Sie sind übrigens am meisten zu beklagen, Herr Major, Ihnen ist übel mitgespielt worden und an Ihrer Stelle –“ er warf einen Blick über den Tisch, „ließe ich mir den Besitz einer so liebenswürdigen, mir gewissermaßen zu eigen gewesenen Frau nicht entgehen.“

„Wer weiß, was geschehen wäre,“ gab der Major zurück, „wenn nicht“ – er wurde sehr roth und räusperte sich mit einem Blick auf Emma, der an Ausdrucksfähigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Ebenfalls sehr erröthend, wandte sich diese zur Seite, der Doktor aber rief fröhlich aus:

„Ah, also so steht’s hier! Na, ich gratulire, gratulire allerseits, das ist ein prächtiger Abschluß dieser merkwürdigen Geschichte.“

Ehe sich an diesem Abend die Gesellschaft trennte, benützte der Major einen günstigen Moment , um sich Emma zu nähern welche, am offenen Fenster stehend, die balsamische Nachtluft einathmete, und ihr leise zuzuflüstern: „Fräulein Emma, ich sage auf Wiedersehen, allein ich kann es nicht ertragen, bis dahin nichts von Ihnen zu hören – darf ich Ihnen zuweilen schreiben, wollen Sie mir antworten?“

„Ja,“ flüsterte Emma, nun auch ihrerseits tief bewegt und entzog ihre Hand seinen glühenden Küssen nicht.



Sechs Wochen später veröffentlichten die Zeitungen zwei Verlobungen: diejenige Helene Eldens mit Professor Roditz und Emma Wahrens mit Major von Schnitzel; und ebenso viele Monate später fand in dem Hause von Helenens Eltern die Doppelhochzeit statt und die Hände der jungen Paare fügten sich nicht nur zusammen zu dem Bunde zweier unendlich glücklicher Ehen, sondern auch zu einem treuen unauflöslichen Freundschaftsbunde fürs Leben.