Die Furcht vor Mäusen und Ratten

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Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Die Furcht vor Mäusen und Ratten
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 1, S. 218–222
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Erscheinungsdatum: 1912
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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[218] Die Furcht vor Mäusen und Ratten. – In Rouen gab vor kurzem der große Wanderzirkus Timbelli seine Vorstellungen. Das Auftreten der Löwenbändigerin Tossa Veera füllte allabendlich den Zirkus bis auf den letzten Platz. Die Löwen, sechs wunderschöne, kräftige Tiere, wurden in den mächtigen Käfig getrieben, und gleich darauf erschien Miß Veera in der Manege, vom Publikum stürmisch begrüßt. Doch merkwürdigerweise vergeht Minute um Minute, ohne daß die Bändigerin den Käfig betritt. Bald merken die Zuschauer, daß da irgend etwas nicht in Ordnung ist. Denn auch einige Zirkusbediente drängen sich jetzt um das Eisengitter und starren wie ratlos in den Käfig hinein. Ebenso zeigen die Löwen eine seltsame, ganz unerklärliche Unruhe. Unter dumpfem Knurren haben sie sich sämtlich in einem Winkel zusammengedrängt, [219] die mächtigen Köpfe nach der Mitte des Podiums hin richtend. Da – mit einem Male erschallt aus dem Publikum eine vorwitzige Stimme. „Eine Maus sitzt im Käfig!“ Alle Hälse recken sich länger, und die Damen, besonders die in den vordersten Sitzreihen, werden nervös. Und wirklich – da mitten im Käfig hockt unbeweglich ein kleines graues Etwas, und nunmehr weiß man auch, wonach Miß Veera, die Zirkusdiener und auch die Wüstenkönige so scharf hingeschaut haben: eben nach dem frechen Mäuschen, das – woher es gekommen, weiß niemand – in den großen Käfig geraten ist.

Endlich rückt einer der Manegebediensteten der Maus mit einer Eisenstange zu Leibe. Ein entsetzter Schrei aus einigen Dutzend Damenkehlen, ein Rauschen von Röcken, ein Klettern von Damenstiefeletten auf Polstersitze und Stühle, dazu Gelächter und spöttische Bemerkungen bei dem männlichen Teile des Publikums … Und der Grund für diesen Aufruhr? – Das Mäuschen hat sich mit einigen flinken Sätzen in Sicherheit gebracht und ist unter den amphitheatralischen Aufbau des Zuschauerraumes geflüchtet!

Wenn man den Zeitungen aus Rouen glauben darf, so dauerte es eine ganze Viertelstunde, bis der Lärm sich gelegt hatte und die kühne Bändigerin, die ebenso „mäusescheu“ wie ihre Löwen war, mit ihrer Dressur beginnen konnte. –

Vor mehreren Jahren bot sich der Verwaltung der Arena in Sevilla ein junger Argentinier an, der behauptete, er könne jeden noch so sehr gereizten Stier durch die Macht seines Blickes bändigen, was er gern durch eine Probe vor dem Abschluß des Engagements beweisen würde. Die Herren von der Direktion schüttelten ungläubig die Köpfe. Aber wenn der Mann durchaus seine Haut zu Markte tragen wollte – warum nicht! So wurde denn eine nichtöffentliche Vorstellung vor geladenem Publikum angesetzt.

Inzwischen hatte Juan Massacero, wie der Südamerikaner sich nannte, mit Hilfe eines Freundes, der mit ihm von Argentinien nach Europa herübergekommen war, seine Vorbereitungen für sein erstes Auftreten beendet. An dem betreffenden [220] Vormittag waren die Logen des großen Stierkampfgebäudes mit einem aus den höchsten Würdenträgern Sevillas und den Vertretern der Presse bestehenden Publikum angefüllt. Nachdem dann der Stier, ein junges, feuriges Exemplar seiner Art, von den Pikadores und Banderillos mit ihren Lanzen und spitzen Fähnchen bis zur äußersten Wut gereizt war, wurde auf ein gegebenes Zeichen von der Decke der Arena ein an Drahtseilen hängendes, niedriges Podium herabgelassen, auf dem Juan Massacero, gekleidet in einen leuchtend roten Mantel, stand. Als das Podium den sandbestreuten Boden berührte, zogen sich die bisher in Tätigkeit gewesenen Banderillos und Pikadores zurück und überließen den kühnen Argentinier allein seinem Schicksal.

Juan Massacero stand unbeweglich da. Nur seine dunklen Augen verfolgten unablässig jede Bewegung des Stieres. Endlich senkte dieser, da in der Arena niemand weiter vorhanden war, an dem er seine Wut auslassen konnte, die spitzen Hörner zum Angriff und stürmte mit heiserem Gebrüll auf die rote Erscheinung zu. Der Argentinier rührte kein Glied. Er schien verloren, allein er verharrte, die Augen fest auf den Angreifer gerichtet, regungslos. Und wirklich – ein Ruf des Erstaunens durchlief die Reihen der Zuschauer – wenige Meter vor Juan Massacero verlangsamte der Stier plötzlich sein Tempo, um dann dicht vor dem unerschrockenen Amerikaner, die Vorderbeine in den Erdboden stemmend, halt zu machen. Einige Sekunden später trollte er sich anscheinend äußerst mißmutig in eine entfernte Ecke, wo er unbeweglich stehen blieb und nur hin und wieder den mächtigen Kopf scheu nach seinem geheimnisvollen Bezwinger hindrehte. Kein Wunder, daß nun ein nicht endenwollender Beifallssturm den Zirkus durchbrauste, kein Wunder, daß man den Argentinier als allerneueste Attraktion sofort gegen ein hohes Gehalt engagierte und daß die Arena fortan stets bis auf den letzten Platz gefüllt war.

Sechs Wochen lang zerbrachen sich die Spanier vergeblich darüber die Köpfe, welcher Art wohl die unheimliche Macht sein könne, mit der der Mann die wütendsten Stiere immer wieder [221] im letzten Augenblick zur Umkehr zwang. Niemand vermochte das Rätsel zu lösen.

Da wurde eines schönen Tages das Geheimnis von einer Seite gelüftet, von der man es am wenigsten erwartet hatte. Auf der Redaktion der verbreitetsten Zeitung Sevillas meldete sich der Vertraute des Argentiniers, ein Mann namens Benavo, und erbot sich, gegen eine entsprechende Belohnung die Lösung des Rätsels mitzuteilen. Massacero habe ihm nämlich den versprochenen Anteil an der Gage bisher vorenthalten, sei überhaupt ein ganz gemeiner Charakter und verdiene nichts Besseres. So kam die Sache heraus.

Massacero war, bevor er nach Spanien kam, in Argentinien jahrelang Rinderhirte gewesen und hatte so Gelegenheit gehabt, die Eigentümlichkeiten seiner gehörnten Schützlinge genau zu studieren. Hierbei war es ihm denn auch nicht entgangen, daß die Rinder einen nicht zu überwindenden Widerwillen gegen den scharfen Geruch der Moschusratte hatten. Aus Übermut hatte er des öfteren gerade die wütendsten Stiere der Herde dadurch in die Flucht geschlagen, daß er ihnen eine an einer Stange befestigte tote Moschusratte hinhielt. Vor dem durchdringenden Geruch nahmen die Tiere, mochten sie noch so sehr gereizt sein, immer wieder Reißaus. Diese vielfach erprobte Eigenart suchte Massacero dann zum Geldverdienen zu verwerten. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß auch die in Spanien besonders für die Stierkämpfe gezüchteten Rinder prompt auf den Moschusgeruch reagierten, begann er mit seinem öffentlichen Auftreten. Ohne daß die Angestellten der Arena etwas davon ahnten, sperrte er in dem mit Löchern versehenen Podium eine große Anzahl von Moschusratten ein, die er von Südamerika mitgebracht hatte. Mit Hilfe seines Vertrauten Benavo gelang es ihm dann auch fernerhin, die berüchtigten Nagetiere vor aller Augen zu verbergen. Es war also nicht Juan Massaceros dunkles Auge, das die Stiere in die Flucht trieb, sondern lediglich der den gehörnten Wiederkäuern so widerwärtige Geruch der in dem Podium eingeschlossenen Ratten.

Mit dem Verrat Benavos hatte die des geheimnisvollen [222] Schimmers entkleidete Darbietung selbstverständlich den größten Teil ihrer bisherigen Anziehungskraft verloren. Trotzdem soll Massacero auch später noch in kleineren spanischen Städten aufgetreten und schließlich als begüterter Mann in seine argentinische Heimat zurückgekehrt sein.

W. K.