Die Hörhaare (Trichobothrien) und das System der Spinnentiere

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Autor: Friedrich Dahl
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Titel: Die Hörhaare (Trichobothrien) und das System der Spinnentiere
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aus: Zoologischer Anzeiger, 37. Band, S. 522–532
Herausgeber: Eugen Korschelt
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Entstehungsdatum: 1911
Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Wilhelm Engelmann
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Princeton-USA*, Commons
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[522]
3. Die Hörhaare (Trichobothrien) und das System der Spinnentiere.
Von Prof. Dr. Fr. Dahl, Steglitz-Berlin.
eingeg. 7. März 1911.     

Über das System der Spinnentiere gehen zurzeit die Ansichten noch recht weit auseinander. Der Grund ist darin zu suchen, daß von den [523] verschiedenen Autoren der Wert der einzelnen Organsysteme für die systematische Anordnung recht verschieden eingeschätzt wird. Unter den Organsystemen sind bisher besonders in Betracht gezogen: 1) Die Gliederung des Körpers. 2) Die Teilnahme der Extremitätengrundglieder an der Bildung der Mundwerkzeuge. 3) Die Lage und die Ausbildung der Atmungsorgane. 4) Die Gliederung und überhaupt der Bau der Extremitäten. – Da ich in der Ordnung der echten Spinnen feststellen konnte, daß die Hörhaare in ganzen Unterordnungen und Familien äußerst konstant in ihrer Anordnung auftreten und deshalb bei Aufstellung des Systems von hohem Werte sind[1], lag die Frage nahe, ob sie nicht auch bei Aufstellung eines Systems der Spinnentiere im allgemeinen als Hilfsmittel herangezogen werden können. Eine Untersuchung in dieser Richtung hat, wie ich im nachfolgenden zeigen werde, eine bejahende Antwort ergeben.

Bevor ich auf die systematische Bedeutung der Hörhaare (Trichobothrien) eingehe, muß ich zunächst einige anatomisch-physiologische Bemerkungen vorausschicken.

Im Jahre 1883 wies ich in einem Aufsatz[2] darauf hin, daß feine, eigenartig eingelenkte, äußerst bewegliche Haare in der Klasse der Spinnentiere weit verbreitet und sehr konstant angeordnet auftreten. Ich schloß aus Bau und Konstanz, daß diese Gebilde wahrscheinlich eine höhere physiologische Bedeutung hätten, zumal da man sie von Haargebilden, die ihrer Stellung und ihrem Bau nach sicher Tasthaare sind, scharf unterscheiden könne. Es zeigte sich, daß man das Ende der längeren dieser zarten Haare bei Anstreichen eines tieferen Tones auf der Geige unter etwa 600-facher Vergrößerung (Seibert 3, V) deutlich in Schwingungen geraten, d. h. unscharf werden sieht, und aus dieser Tatsache folgerte ich, daß es Hörhaare seien.

Meine Deutung ist von zahlreichen Autoren kritisiert worden, und dabei sind z. T. die wunderbarsten Ansichten zutage getreten[3]. Der erste Autor, der den Gegenstand eingehender behandelte, war W. Wagner[4]. Wagner unterschied, wie ich, die fraglichen Sinneshaare scharf von den Tasthaaren, meinte aber, daß sie nicht zum Hören, sondern zur Wahrnehmung der Windrichtung und des bevorstehenden Wetters dienen. Er stützt sich, meiner Deutung gegenüber, auf seine negativ ausgefallene Beobachtung hinsichtlich der durch Töne erzeugten [524] Schwingungen. Um eine ebenso starke Vergrößerung, wie ich sie angewendet hatte, zur Beobachtung dieser Schwingungen zu erzielen, projizierte er das mit schwachem Objektiv gewonnene Bild sehr stark vergrößert auf einen Schirm und sah natürlich, wie er sich eigentlich schon im voraus hätte sagen können, keine Schwingungen[5]. – Daß eine nachträgliche Vergrößerung des Bildes ein stärkeres Objektiv nicht ersetzt, weiß jeder Mikroskopiker, und deshalb hätte man eine Widerlegung seiner Schrift kaum für nötig halten sollen, zumal da jeder, der sich im Besitze eines guten Mikroskopes befindet, meinen Versuch äußerst leicht wiederholen kann[6]. Allein Wagners Arbeit hat mehr Anklang gefunden als meine. Namentlich war es der dänische Zoologe H. J. Hansen, der Wagners Arbeit nennt, meine aber ignoriert[7]. – Auch in anatomischer Beziehung glaubte Wagner in meiner Arbeit einige Fehler entdeckt zu haben. – Ich hatte meine Zeichnungen, wie ich ausdrücklich hervorhob, nach Schnitten entworfen, die durch das Bein von Pachygnatha listeri geführt waren. Ich wählte gerade diese Gattung, weil bei ihr die Becher, in denen die Hörhaare stehen, besonders schön entwickelt sind. – Die Zeichnungen, welche Wagner von der Einlenkung verschiedener Hörhaare gibt, weichen nun tatsächlich stark von meiner Zeichnung ab, aber ebenso stark von meinem Präparat, wie ich mich nachträglich überzeugen konnte. Woher nun der Unterschied? Hatte Wagner vielleicht ein andres Tier vor sich? Darüber erfahren wir leider von ihm gar nichts, und deshalb ist auch eine Kritik seiner Arbeit nicht möglich. Nur indirekt können wir ein Urteil über den Grad der Zuverlässigkeit seiner Arbeit gewinnen. Einen Namen nennt er, nämlich Lycosa saccata. Er gibt an, daß diese Art im reifen Zustand auf dem Tarsus der Beine vier der fraglichen Sinneshaare besitze. Das ist unzutreffend. Nicht vier, sondern 10 bis [525] 14 Hörhaare sind bei dieser Art vorhanden. Auf dem Tarsus der verschiedenen Beinpaare ist nämlich die Zahl etwas verschieden. Mir ist überhaupt keine Lycoside bekannt, die auf dem Tarsus nur 4 Hörhaare hätte. Eine Verwechslung kann also auch nicht vorliegen, sondern nur eine ungenaue Beobachtung. Wenn die andern Beobachtungen Wagners ebenso unzutreffend sind wie diese – und das dürfen wir annehmen, bis er uns die Art nennt, welche er untersuchte –, so erklärt sich die Differenz zwischen seinen und meinen Beobachtungen sehr einfach. – Wagner unterscheidet übrigens verschiedene Formen der fraglichen Sinneshaare. So stellt er auch eine kolbige Form dar. – H. J. Hansen glaubt diese Form auf dem ersten, als Tastorgan dienenden, Beinpaar der Tarantuliden entdeckt zu haben. Hätte Hansen die betreffenden Kölbchen etwas stärker vergrößert angesehen, so hätte er sich leicht überzeugen können, daß sie nicht in der so charakteristischen Weise in kleinen Bechern stehen. An den Tastbeinen der Tarantuliden kommen, wie man sich leicht überzeugen kann, überhaupt keine der beweglich eingelenkten Sinneshaare vor, sondern nur an den drei hinteren Beinpaaren dieser Tiere. Wären diese Haare wirklich Tasthaare, wie Hansen sie nennt, so wäre doch äußerst sonderbar, daß sie gerade an den Tastbeinen der Tarantuliden fehlen. – Wer bei einem einheimischen Tiere die kolbigen Hörhaare kennen lernen will, den verweise ich auf die Oribatiden[8]. Es können in dieser Gruppe z. T. die Arten nach der Form des Kölbchens unterschieden werden. – Wagner schließt aus dem verschiedenen Bau der beweglich eingelenkten Sinneshaare, daß ihre Funktion eine verschiedene sein müsse. Er hätte sich leicht an den Saiten einer Geige überzeugen können, daß auch verschieden gebaute Organe demselben Zweck dienen können. Nur die bewegliche Einlenkung ist für die Funktion als Gehörorgan unbedingt erforderlich. Im übrigen können wir für verschiedene Töne gewisse Unterschiede erwarten. Bei manchen Spinnen, z. B. bei der Winkelspinne (Tegenaria), zeigt sich in der Tat eine äußerst regelmäßige Abstufung in der Länge[9]. Manche Autoren haben nach ihren Beobachtungen an Spinnen bezweifelt, ob diese Tiere überhaupt hören können. Geeignete Versuche aber haben dies sichergestellt. So teilt Henking [526] ein leicht zu wiederholendes Experiment mit[10]: Man sperre Wolfspinnen in einen Kasten ein, der an einer Seite eine dichte Gazewand besitzt und gewöhne sie zunächst in diesem Kasten daran, Futter zu nehmen. Alsdann lasse man hinter der Gazewand eine Fliege brummen. Sofort werden die in der Nähe befindlichen Wolfspinnen in der Richtung auf die Fliege vorstürzen, vorausgesetzt natürlich, daß sie einen hinreichenden Hunger haben. Auch Wagner teilt ein ähnliches Experiment mit. Er sagt, daß man Spinnen leicht aus ihrem Versteck hervorlocken könne, wenn man in der Nähe eine Fliege brummen lasse[11]. Solchen sichern Beweisen gegenüber sind spätere, ungeschickt angestellte Versuche von Annie H. Pritchett[12] bedeutungslos.

Man hat geglaubt annehmen zu müssen, daß die Wahrnehmung von Tönen mittels der Hörhaare höchstens ein Fühlen der Töne sein könne, wie wir die Schwingungen einer Saite mit unserm Finger fühlen. Für freistehende Haare, die jedem Windhauch ausgesetzt sind, meinte man, könnten Töne unmöglich der adäquate Reiz sein. – Dagegen ist einzuwenden, daß auch unsre höheren Sinnesorgane Tastreizen keineswegs ganz entzogen sind und daß wir doch beispielsweise eine durch Stoß in unserm Auge erzeugte Lichtwahrnehmung sehr wohl von einer wirklichen Sehwahrnehmung zu unterscheiden wissen. Wenn die Spinne den Brummton einer Fliege als solchen erkennt, so ist das jedenfalls kein Tasten, sondern ein wirkliches Hören.

Sechs Punkte sind es also nach der hier gegebenen Auseinandersetzung, welche uns nötigen, die genannten Sinneshaare als Gehörorgane anzusprechen: 1) Die Tatsache, daß die Haare sehr beweglich eingelenkt sind, auf Nervenendigungen stehen und durch Töne in Schwingungen geraten. 2) Die Tatsache, daß Spinnen das Brummen einer Fliege andern Tönen und Geräuschen gegenüber erkennen und daß andre Organe, die man als Gehörorgane deuten könnte, nicht bekannt sind. 3) Die Tatsache, daß die genannten Sinneshaare besonders bei freilebenden Spinnen vorkommen. 4) Die Tatsache, daß sich die Haare meist in sehr regelmäßiger Größenabstufung zeigen. 5) Die Tatsache, daß sie auf den als Tastorgane ausgebildeten Vorderfüßen der Tarantuliden fehlen, während sie auf den andern Beinpaaren vorkommen. 6) Die Tatsache, daß sich die genannten Sinneshaare scharf von unzweifelhaften Tasthaaren unterscheiden lassen.

Was die Verteilung der Hörhaare auf den Körper anbetrifft, so kommen sie bei den Skorpionen und den Pseudoskorpionen nur auf den scherenförmigen Endgliedern der Palpen, bei den echten Spinnen auf [527] den Palpen und den Beinen, bei den Pedipalpen nur auf den Beinen und bei den Milben nur auf dem Vorderteil des Rumpfes vor. Bei den Solifugen, Phalangiden und den kleineren Milben fehlen sie ganz. Eine tiefergehende Differenz innerhalb einer Ordnung kommt also nur bei den Acariden vor. Doch handelt es sich auch hier nur um ein Vorhandensein oder Fehlen, um einen Unterschied also, der sich leicht aus der Lebensweise der Tiere ergeben kann.

Unter den verschiedenen Organsystemen haben bisher besonders die Atmungsorgane bei Aufstellung eines Systems weitgehende Beachtung gefunden und wahrscheinlich mit vollem Rechte. Freilich haben sich gerade auf diesem Gebiete der Forschung große Schwierigkeiten in den Weg gestellt.

Schon bei Beantwortung der Frage nach der Verwandtschaft der Spinnentiere als Tierklasse spielten seit langem die Atmungsorgane eine Hauptrolle. Man glaubt nämlich die Fächertracheen oder Lungen der Spinnentiere direkt von der Kieme Limulus-artiger Wassertiere herleiten zu sollen, weil man sie sich bei manchen Spinnentieren sehr ähnlich wie die Kiemen von Limulus entwickeln sah. Wie bei der Limulus-Kieme sah man die Fächertrachee zuerst als äußere Faltung entstehen und sich dann erst einsenken. Stände diese Tatsache bei allen Spinnentieren fest, so würde dadurch allerdings die Limulus-Theorie recht fest begründet sein. Die Autoren weichen aber gerade in dem wichtigsten Punkte in ihren Angaben weit voneinander ab. So entstehen nach Brauer bei Euscorpius und nach Schimkewitsch bei Thelyphonus die Falten erst nach der Einsenkung[13], während Sophie Pereyaslawzewa bei Androctonus eine äußere, sich später einsenkende Faltenbildung beobachtete. Ebenso hält Montgomery bei Theridium die äußere Faltenbildung für unabhängig von der Bildung der Lunge, während Purcell und Kautzsch bei andern Spinnenarten einen genetischen Zusammenhang beobachteten[14].

Wer hier aus der Literatur ein unparteiisches Urteil gewinnen will, muß notwendig zu dem Schluß gelangen, daß in der Bildung der Lungen bei den verschiedenen Arachniden bedeutende Differenzen vorkommen. Damit sinkt aber die Beweiskraft der embryologischen Tatsachen auf ein Minimum herab. Es kommt hinzu, daß nach der Beobachtung auch der neueren Autoren die Tracheen der echten Spinnen sich in völlig andrer Weise entwickeln als die Lungen, obgleich die Homologie der 4 Atmungsorgane bei den Tetrapneumones, Dysdera und [528] Caponia unmöglich in Abrede gestellt werden kann. Man sieht also, daß die Entwicklungsgeschichte hier auf einen toten Punkt gelangt ist, so daß die obige Frage nur durch andre Forschungen der Lösung näher geführt werden kann. Ich stimme Kautzsch bei, daß hier die biologische Betrachtungsweise in ausgedehnterem Maße eintreten muß, mit andern Worten, daß die biocentrische Forschung hier am Platze ist. Eine ausgedehnte physiologisch-ethologische Untersuchung kann ergeben, wie weit unter dem Einfluß der Lebensbedingungen die Selection den Bau eines Tieres zu ändern vermag und wo ein Rest bleibt, der phylogenetisch erklärt werden muß. Eine solche Betrachtungsweise habe ich in einigen Arbeiten über den Bau der Spinnen im allgemeinen eingeleitet[WS 1][15]. Ich bin überzeugt, daß dieselbe unter besonderer Berücksichtigung speziell der Atmungsorgane bei einem möglichst umfangreichen Vergleichsmaterial zu wichtigen Ergebnissen führen würde. Freilich erfordert eine solche Untersuchung die sorgfältige vergleichende Beobachtung der Lebensweise zahlreicher Formen, die bei uns in Deutschland nicht vorkommen. Nach dem, was wir zurzeit über die Lebensweise der Tiere wissen, ergibt sich, unter Berücksichtigung aller bisher vorliegenden Tatsachen, auch der embryologischen, meiner Ansicht nach folgender Schluß: Atmungsorgane sehr einfacher Art befanden sich ursprünglich bei den Spinnentieren an mehreren Segmenten des Vorder- und Hinterkörpers. Einige von diesen segmental angeordneten Organe schwanden, während die andern sich vervollkommneten. Der Schwund trat bei starker Reduktion des Hinterkörpers an diesem, im andern Falle am Vorderkörper ein. Die Vervollkommnung der Atmungsorgane bestand bei lebhaften Tieren in der Entwicklung eines reichen Röhrentracheensystems. Bei trägen Tieren wandelten sich die primären Atmungsorgane in Fächertracheen um. – Es ist dies im wesentlichen die früher allgemein und auch jetzt noch von zahlreichen Zoologen vertretene Ansicht. Nur die Homologie der Atmungsorgane [529] bei den Arachniden einerseits und bei den Insekten usw. anderseits scheint mir, trotz einer wahrscheinlich ursprünglich auf beiden Seiten segmentalen Anordnung, keineswegs erwiesen. Ich möchte mit Heymons[16] die Vorfahren der Arachniden für Uferbewohner halten. Wir können uns dann die Atmungsorgane sehr wohl so primitiv vorstellen, daß sich aus ihnen Limulus-Kiemen, Fächertracheen und Röhrentracheen entwickeln konnten. Freilich müssen wir uns darüber klar sein, daß unsre Theorie dann etwas ganz andres geworden ist als die Limulus-Theorie in ihrer ursprünglichen Form.

Wollte man mit Börner[17] alle Atmungsorgane von abdominalen Lungen herleiten, so würde man, wie Reuter[18] hervorhebt, die Annahme machen müssen, daß in manchen Fällen die Geschlechtsöffnung nach vorn, die Atmungsöffnungen nach hinten, beide aneinander vorübergerückt seien. Zudem spricht, wie Heymons[19] gezeigt hat, die Entwicklung des vorderen Stigmenpaares bei den Solifugen gegen eine Verlagerung nach vorn.

Wollte man mit Reuter alle Tracheen der Milben für sekundäre Bildungen halten[20], so würde man zu dem Schluß gelangen, daß die Natur die Atmungsorgane bei den Milben zuerst ganz aufgegeben, sie nachträglich aber doch als unentbehrlich wieder eingeführt hätte.

Der einzige Ausweg aus dem Dilemma scheint mir die obige Annahme einer ursprünglich segmentalen Anordnung primitiver Atmungsorgane zu sein.

Die starke Reduktion der Körpersegmente, besonders der Abdominalsegmente, die schon bei den Phalangiden einsetzt und bei den Acariden zum fast vollkommenen Schwunde führt, ist vom biocentrischen Standpunkt aus leicht zu verstehen. Bei den langbeinigen Phalangiden, denen alle Beine zugleich Tastorgane und als solche wichtige Schutzorgane vor Feinden sind, liegt der Vorteil, den die Konzentration des Körpers gewährt, auf der Hand und nicht weniger bei den Milben, die – entsprechend den Kleinformen in vielen andern Tiergruppen – unter den Spinnentieren diejenigen sind, die ihren Vorteil im Kampf ums Dasein in ihrer geringen Körpergröße besitzen.

Wenn trotz der Konzentration des Körpers die Vierzahl der Beinpaare bei fast allen Spinnentieren beibehalten ist, wo doch, wie uns die Insekten lehren, eine Dreizahl zur raschen Fortbewegung der Gliedertiere ausreicht, so erkennen wir daraus, eine wie wichtige Rolle die Tastorgane [530] für die Erhaltung eines Tieres spielen. Da die Fühler bei den Spinnentieren fehlen, sind sie alle, auch die Kleinformen, in hohem Maße auf die Tastfunktion der Beine angewiesen. Meist ist die Tastfunktion besonders an ein einzelnes Beinpaar gebunden, entweder an das 1. Paar (Solifugen, Pedipalpen, Araneen). Dann wird das Bein zum Gehen oft völlig untauglich[21]. Übernimmt das 2. Paar die Tastfunktion (Phalangiden) so bleibt die Fußform stets erhalten[22].

Der Zahl der vom Cephalothorax getrennten Thoracalsegmente, der Gliederzahl der Cheliceren und der Verwendung der Extremitätengrundglieder als Mundwerkzeuge möchte ich, andern Merkmalen gegenüber keine zu hohe Bedeutung zuschreiben und Börner recht geben, wenn er die Palpigraden (Koenenia) den Pedipalpen angliedert[23]. – Mit demselben Recht aber müssen wir die Pseudoskorpione trotz der abweichenden Mundwerkzeuge usw. den Skorpionen an die Seite stellen, weil die mit Hörhaaren besetzten echten Scheren eine engere Verwandtschaft andeuten.

Am schwierigsten ist die Abgrenzung der Acariden von den Phalangiden. – Da es offenbar Übergangsformen zwischen den beiden Gruppen gibt, behält die Scheidung stets etwas Künstliches, welche Merkmale man dieser Scheidung auch zugrunde legen möge. Nach vielen Erwägungen glaube ich, daß die natürlichste Scheidung zustande kommt, wenn man die Tastfunktion der Beinpaare und die Stellung der Augen in den Vordergrund stellt. Man wird dann mit With[24] die Notostigmata, trotz mancher abweichenden Charaktere, als Unterordnung der Milben betrachten können, aber auch die Cyphophthalmi[25] von den Phalangiden trennen müssen.

Manches Eigenartige zeigen die Cryptostemmen, und man kann zweifelhaft sein, ob für sie nicht eine besondere Ordnung erforderlich wird. Es handelt sich dabei nicht etwa um die Frage, ob Abweichungen von den andern Ordnungen vorhanden sind – das ist namentlich durch die schon genannte neuere Arbeit von Hansen und Sørensen zur Genüge erwiesen – sondern darum, wie hoch man die Abweichungen einschätzt. – Nach meinem Ermessen schließen sich die Cryptostemmen [531] trotz der Abweichungen den Phalangiden so eng an, daß mir eine Scheidung nicht angebracht erscheint.

Durch folgende Übersicht der Ordnungen mag bekräftigt werden, was hier auseinandergesetzt wurde:

I. Die Palpen sind echte, mit Hörhaaren versehene Scheren; Hörhaare finden sich nur an diesen Scheren.
A. An den Mundwerkzeugen beteiligen sich die Grundglieder der Palpen und der beiden vorderen Beinpaare; der Hinterleib zerfällt in ein breites Abdomen und ein schmales, am Ende mit einem Giftstachel versehenes Postabdomen; am 2. Abdominalsegment befinden sich zwei kammförmige Organe.
Ordn. Scorpionida.
B. An den Mundwerkzeugen beteiligen sich nur die Grundglieder der Palpen; der Hinterleib zerfällt nicht in 2 Teile und trägt keinen Giftstachel und keine Kämme.
Ordn. Pseudoscorpionida.
II. Die Palpen sind keine echten, mit Hörhaaren besetzten Scheren.
A. Atmungsorgane sind sowohl am Vorder- als auch am Hinterkörper vorhanden: der Cephalothorax trägt nur die Mundwerkzeuge und das 1. Beinpaar; die Palpen und das 1. Beinpaar sind Tastorgane; die Mandibeln (Cheliceren) sind mächtig entwickelte Scheren; Hörhaare fehlen.
Ordn. Solifuga.
B. Atmungsorgane befinden sich entweder nur am Vorder- oder nur am Hinterkörper, oder sie fehlen ganz; zwischen dem 1. und 2. Beinpaar ist der Körper nicht deutlich gegliedert; die Mandibularscheren sind weniger entwickelt.
a. Hörhaare befinden sich an den Beinen oder doch an einem der Beinpaare; der Vorder- und Hinterkörper sind deutlich voneinander abgesetzt.
α. Hörhaare sind auch an den Palpen vorhanden; der Hinterleib ist durch einen sehr dünnen Stiel mit dem Vorderkörper verbunden, meist ungegliedert und stets mit Spinnwarzen versehen.
Ordn. Araneida.
β. Hörhaare befinden sich nur an den Beinen; der gegliederte Hinterleib sitzt dem Vorderkörper breit an und trägt keine Spinnwarzen.
Ordn. Pedipalpa.
b. Hörhaare fehlen entweder ganz oder sie befinden sich am Rumpfe; der Vorder- und Hinterkörper sind hinter dem letzten Beinpaar nicht oder wenig voneinander abgesetzt.
α. Die Beine des 2. Paares sind als Tastorgane verlängert; die beiden Augen stehen zu den Seiten eines Hügels oder einer Kapuze; der Körper ist stets deutlich gegliedert.
Ordn. Phalangida.
[532] β. Die Beine des 2. Paares sind nicht auffallend von denen der benachbarten Paare verschieden; die Augen stehen, wenn vorhanden, an dem Seitenrande des Vorderkörpers; der Körper ist undeutlich gegliedert.
Ordn. Acarida.
(Die Tardigrada und Linguatulina haben keine gegliederten Beine.)

  1. Zool. Anz. Bd. 29. 1905. S. 614ff. und Nova Acta, Abh. Deutsch. Akad. Naturf. Bd. 88. Nr. 3. 1908. S. 192.
  2. Zool. Anz. Bd. 6. 1883. S. 267ff. und Arch. f. mikr. Anat. Bd. 24. 1884. S. 1ff.
  3. So wird in C. Vogt und E. Yung, Lehrbuch der praktischen vergl. Anatomie Bd. 2, Braunschw. 1889–94, S. 205 behauptet, diese Haare, die so konstant auftreten, daß Systematiker an ihrer Anordnung Gattungen und Familien unterscheiden, seien »regenerierte Haare« (!).
  4. Bull. Soc. Impér. Naturalistes Moscou, 1888. S. 3ff.
  5. Wagner gibt zwar seine Vergrößerung nicht an; da er aber eine ganze Serie von Haaren gleichzeitig auf den Schirm projizierte, kann seine Vergrößerung nur eine sehr geringe gewesen sein.
  6. Man braucht, nur eine der im Vorsommer überall bei Sonnenschein zahlreich umherlaufenden Wolfspinnen zu fangen, diese in einer Schachtel nach Hause zu nehmen, ihr dann ein Bein abzureißen, dieses frei auf einen Objekträger zu legen, bei hellem Tageslicht in einem ruhigen Zimmer unter 600facher Vergrößerung die Spitze eines der längeren, freibeweglichen Haare genau von der Seite zu beobachten und nun in nächster Nähe einen einfachen Ton, z. B. auf der g-Saite einer Mandoline hervorzubringen. Das Haar gerät in Schwingungen und hört sofort auf, wenn man den Ton abdämpft. – Eine kleine Schwierigkeit besteht nur darin, daß das Ende des beweglichen Haares bei der starken Vergrößerung leicht aus dem Focus entweicht. Man muß den Atem anhalten und tut am besten, den Ton in rascher Folge anzuschlagen und abzudämpfen. Da das Haar nicht nachschwingt, tritt namentlich beim Abdämpfen der Unterschied des Bildes klar hervor. – Nachdem das Blut geronnen ist – in einem Zimmer mit trockener Luft schon nach wenigen Minuten –, hört die Beweglichkeit des Haares auf.
  7. Entom. Meddel. Vol. 4. 1893. p. 137ff.
  8. Man vgl. die Tafeln in: A. D. Michael, British Oribatidae. London, 1884 bis 1888. – Michael und Sig Thor [Ann. Sc. nat. Zool. (8) T. 19 1904 p. 134] halten die Haare bei den Milben, wie ich, für Hörhaare. Schon die Stellung spricht hier gegen die Tastfunktion. Am meisten Tastreizen ausgesetzt sind sie bei den Pseudoskorpionen, zumal, da die Scheren, auf denen sie stehen, zum Tasten dienen. Doch unterscheidet man außer ihnen, namentlich an den Füßen, Haare, die alle Autoren für Tasthaare halten. Bei den Skorpionen stehen die Hörhaare zwischen den längeren Tasthaaren.
  9. Vgl. Zool. Anz. Bd. 6. 1883. S. 269.
  10. Zool. Jahrbücher, Abt. Syst. Bd. 5. 1891. S. 206.
  11. A. a. O. S. 16.
  12. American Naturalist. Vol. 38. 1904. p. 859ff.
  13. Man vgl. die Figuren in: Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 59. 1895. S. 413.
  14. Weiteres über die betreffende Literatur findet man in einer Arbeit von E. Reuter in: Acta Soc. Sci. Fennicae T. 36 No. 4. Helsingfors 1909 und von G. Kautzsch in: Zool. Jahrbücher, Abt. Anat. Bd. 30. 1910. S. 535ff.
  15. Zool. Jahrbücher, Abt. Syst. Bd. 25. 1907. S. 339ff. und Nova Acta. Abh. Akad. d. Naturf. Bd. 88. Heft 3. Halle, 1908. S. 218ff. – Einen Angriff den meine Behandlungsweise in einer Lehrerzeitschrift (Monatshefte f. d. naturw. Unterr. Bd. 2. 1909. S. 451ff.) erfuhr, mußte ich, da mein Gegner zweimal meine Ausführungen sinnentstellt wiedergab (das zweitemal, nachdem ich ihn auf die erste Entstellung ausdrücklich hingewiesen hatte), als unwissenschaftlich zurückweisen (ebenda Bd. 3. 1910. S. 74ff und 180). Da die Redaktion der genannten Zeitschrift für den Gegner Partei nimmt, kann ich auch die Zeitschrift selbst als wissenschaftlich nicht anerkennen. – Die weitaus meisten wissenschaftlichen Zoologen stehen, wie ich, auf dem Standpunkt, daß sich aus den Tatsachen der Vererbung, der Veränderlichkeit und der Überproduktion an Keimen die natürliche Zuchtwahl als logisches Postulat ergibt. Die Selectionstheorie aber verlangt eine physiologische Betrachtungsweise. Daß diese mit der Teleologie des Mittelalters nicht das Geringste zu tun hat, ist schon des öftern nachgewiesen worden, und es bedarf deshalb in einer wissenschaftlichen Zeitschrift keiner weiteren Worte.
  16. Comptes rendus du 6me Congrès intern. de Zool. Berne, 1904. p. 434f.
  17. Zool. Anz. Bd. 25. 1902. S. 433ff.
  18. A. a. O. S. 71f.
  19. A. a. O. S. 433.
  20. Auch Heymons hält die vorderen Stigmen, wenigstens bei den Solifugen, für eine »sekundäre Erwerbung« (a. a. O. S. 436).
  21. Nur bei den echten Spinnen bleibt die Gehfunktion neben der Tastfunktion erhalten, weil bei ihnen die Beine noch eine 3. Funktion, eine Hilfeleistung beim Spinnen und Weben übernehmen müssen.
  22. Bei den wehrhaftesten Spinnentieren, den Skorpionen, tritt die Tastfunktion der Beine stark zurück. Wegen ihres gestreckten Körpers können aber auch sie das 4. Beinpaar nicht entbehren.
  23. Zoologica Heft 42. Stuttgart 1904. (Beitrag zur Kenntnis der Pedipalpen). p. 148.
  24. Vidensk. Medd. Foren. Kjøbenhavn, 1904. p. 137ff.
  25. Man vgl. die Monographie von H. J. Hansen und W. Sørensen, On two Orders of Arachnida. Cambridge, 1904.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eineingeleitet