Die Hansebrüder

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Autor: Ernst Muellenbach
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Titel: Die Hansebrüder
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1–9, S. 8–147
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[8]
Die Hansebrüder.
Roman von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach).


1.

Ehemalige Studierende unserer berühmten Landesuniversität aus den ersten Jahren nach dem großen Krieg erinnern sich wohl noch des seltsamen Dreigespanns von jungen Philologen, welches damals unter dem Namen der „Hansebrüder“ zu den ständigen Erscheinungen der Stadt zählte. Sie hörten alle drei auf den Vornamen Hans, und das mochte hinreichen, den Spitznamen zu erklären wahrscheinlich aber war er von ihnen selber ausgegangen, als eine Aeußerung jener harmlosen Selbstironie, die es liebt, im eigenen kleinen Schicksal irgend ein großes geschichtliches Beispiel parodiert zu sehen. Denn sie waren die letzten Drei von einer kurzlebigen studentischen Verbindung, die nach einer flüchtigen Blütezeit wieder auseinander gefallen war, ohne auch nur in dem Schattenbilde eines sogenannten Altherrenverbandes fortzuleben, sie allein hatten die alte Bundesfreundschaft bewahrt und sogar, nachdem sie der Zufall wieder in derselben Stadt zusammengeführt, auf eine fast vollständige Gemeinschaft des Lebens ausgedehnt. Insofern erreichten, ja übertrafen sie ihr großes Vorbild, die drei letzten Hansestädte, noch um ein Bedeutendes. In ihrer leiblichen Erscheinung aber glichen sie einander so wenig, daß der Anblick dieses Dreibundes allerdings etwas Auffallendes und für oberflächliche oder rohe Beschauer geradezu Lächerliches bot, zumal sie fast immer in derselben Anordnung neben- oder hintereinander herschritten.

Doktor Hans Bardolf, der rechte Flügelmann, der „beinahe definitiv“ am Gymnasium der Musenstadt angestellt war, erinnerte an die stattlichsten Idealbilder deutscher Vergangenheit, mit seiner hohen, breitschulterigen Gestalt, den ungezwungen kraftvollen Bewegungen und dem mächtigen Haupte, blondbärtig und blondlockig, paßte er vollkommen in die Vorstellungswelt von großen Männersiegen und neuerstandener Herrlichkeit, die er selber auf manchem Schlachtfelde mit erstritten hatte.

Fast schmerzlich mußte auf ein ästhetisch geschultes Auge der Absturz von diesem Hünen zu dem Töchterschullehrer Doktor Hans Mohr wirken, der das Centrum der dreiköpfigen Männerreihe bildete. Gleich vielen andern Männern von besonders geringer Länge des Körpers bekundete er in seinem Aeußern ein widerspruchsvolles Streben, recht fein und zugleich recht männlich zu erscheinen er trug mit Vorliebe helle Kleider von modischem Schnitt und deckte das Haupt, welches nicht bis zur Militärhöhe reichte, mit einem hohen Cylinderhut, vor seinem blühenden, pausbäckigen Antlitz aber starrte beiderseits ein gewaltiger, sorgfältig gezwirbelter Schnurrbart von fuchsroter Farbe drohend in die Welt hinaus.

Den Abschluß bildete Doktor Hans Ritter, eine schmächtige mittelgroße Gestalt, meist in dunklen Kleidern, die sehr reinlich gebürstet waren, aber immer aussahen, als hätte ihr Besitzer das Maß dazu von einem andern als von sich abnehmen lassen. Sein schwächlicher Körper war durch eine angeborene Mißbildung entstellt. Der Hals saß etwas schief nach links, und da der Doktor Hans Ritter zu jenen Leuten gehörte, die unter allen Umständen neben jedem Menschen für sich die bescheidenere Seite wählen, so sah es von fern aus, als ob er den Begleiter mit einer neugierigen und wohl gar spöttischen Kopfwendung, wie ein lauschender Dachshund, betrachte. Wenn man ihm näher in das von spärlichem dunklen Bart umrahmte Gesicht sah, mußte man freilich jeden Verdacht des Spottes aufgeben, denn aus diesem blassen, frühgefurchten Gesicht und zumal aus den großen grauen Augen sprach neben nachdenklicher Klugheit nur die aufmerksamste, freundlichste Teilnahme. Er war wie seine beiden Freunde von Haus aus Philologe, hatte aber niemals ein Staatsexamen oder gar ein Probejahr abgelegt, es hieß, daß er sich auf die akademische Laufbahn vorbereite und an einem großen philosophischen Werke arbeite. Einstweilen bekleidete er einen kleinen Posten an der Universitätsbibliothek.

In dieser Anordnung sah man die Drei jeden Mittag aus dem Speisehaus treten, in welchem sie gemeinsam ein ihren bescheidenen Einkünften entsprechendes Mahl genommen hatten. Man sah sie nebeneinander, in eifrigem Gespräch, durch Stadtpark und Alleen spazieren oder auch an schulfreien Sommernachmittagen mit Stock und Ranzen irgend einem möglichst abseits vom Verkehr gelegenen schönen und billigen Plätzchen der weiteren Umgebung zustreben. Am genußvollsten aber erschien ihr Anblick für humoristisch veranlagte Beschauer, wenn sie am Abend vom Spaziergang heimkehrten, mit allerlei Eß- und Trinkbarem beladen, das sie sich unterwegs in der Stadt für ihr gemeinsames [10] Abendbrot eingekauft hatten. Auch hierbei zeigte sich eine merkwürdige Verschiedenheit in der Art, wie sich der Einzelne mit den neugierigen oder lachenden Gesichtern der Vorübergehenden abfand. Doktor Bardolf ließ die mit Bierflaschen gefüllten Seitentaschen seines Rockes mit einer gewissen herausfordernden burschikosen Fröhlichkeit hin und her baumeln; Hans Mohr zeigte eine große Geschicklichkeit darin, selbst umfangreichere Wurstpakete unter dem Rock zu verbergen, und Doktor Hans Ritter trug ein oberflächlich in Packpapier gewickeltes Graubrot mit derselben gelassenen Ruhe unter dem Arme, wie er an manchem Nachmittag einen Pack dickleibiger Bücher für seine philosophischen Studien von der Bibliothek quer durch die Stadt schleppte. Auch schien es unter den Freunden längst eine selbstverständliche Sache, daß er allemal das schwierigste und sozusagen genierlichste Paket auf sich nahm.

Das Haus, in welchem die drei Hansebrüder wohnten, lag und liegt noch weit draußen am äußersten Nordende der Stadt, zwischen dem Armenviertel und den weitläufigen Anlagen der Universitätskliniken und Krankenhäuser. Es war wohl eigentlich nur aus Versehen stehen geblieben, als man die übrigen seinesgleichen da draußen ankaufte und wegräumte, um Platz für die Krankenhäuser zu schaffen. Das Anwesen gehörte damals einer frommen Stiftung; von dieser hatte es die Witwe eines städtischen Beamten gemietet, deren Pension nur um ein paar hundert Mark den mäßigen Pachtpreis überstieg. Es war eine ältliche, zuweilen etwas schwerhörige Dame, sehr lang, sehr hager und immer schwarz gekleidet, mit Namen Margarete Klämmerlein. Ohne fremde Beihilfe pflegte sie den Garten, den sie im altmodisch kleinbürgerlichen Geschmack bestellt hatte, zur Hälfte mit Salat, Petersilie, Zwiebeln und Lauch, zur anderen Hälfte mit Gras zur Bleiche, eingefaßt von Veilchen, Levkojen, Feuernelken, Heliotrop und anderen bewährten Blumen von starkem Duft; auch einige Dutzend Himbeersträucher waren da, und ein paar alte Kirschbäume mit spätreifenden glashellen Früchten von würzig sauerem Geschmack. Ringsum längs der Gartenmauer aber züchtete sie alljährlich einen dichten Wall von Kapuzinerkresse, mit runden, fast tellergroßen Blättern und unzähligen Blüten in den wunderbarsten Farben, gesprenkelt und einfarbig, vom lichtesten Hellgelb bis zum purpurschimmernden Lila und sammetweichen Karmin. Auf diese Pfleglinge schien sie besonders stolz, man sah sie stundenlang in stiller Andacht an ihnen entlang wandeln. Da man jene hübsche und blütenreiche Schlingpflanze in der dortigen Gegend auch Klämmerchen nennt, so lag für unbeschäftigte Geister die Beziehung auf den Namen der Pflegerin verführerisch nahe und zeitigte eine Menge von Rätseln, die meist mit den Worten anfingen „Was ist für ein Unterschied –,“ und um deren Vermehrung sich besonders die jungen Assistenzärzte aus dem benachbarten Krankenhaus mit betrübendem Fleiße bemühten.

Noch sorgsamer als ihre Blumen pflegte Frau Klämmerlein alle Andenken an ihre eigene Blütezeit; die Stuben ihrer Mietsherren und besonders ihre eigene Wohnstube waren mit unzähligen Etageren, Glasrähmchen und Wandbrettchen geschmückt, welche Schattenrisse, Daguerreotypien und verblichene Photographien auf geschnitzten Ständern, Porzellanfigürchen, Väschen und Trinkbecher mit Landschaftsbilderchen trugen. An jede dieser Kleinigkeiten knüpfte sich die Erinnerung an irgend ein Ereignis aus der Verwandtschaft, der Mädchenzeit und besonders der zwölfwöchigen Brautzeit der Besitzerin, und es war sehr gefährlich, eine davon zu beschädigen oder aber zu bewundern; denn alsdann begann sich das Rad ihres Gedächtnisses zu drehen und hörte nicht auf, bis es in endloser Rede, unter vielen Seufzern den ganzen Katalog ihrer Erinnerungen abgehaspelt hatte.

Nur an einer Stelle schien eine Störung im Uhrwerk zu bestehen, und zwar merkwürdigerweise da, wo das Gedächtnis einer Mutter sonst am sorgfältigsten arbeitet. Frau Klämmerlein hatte eine Tochter gehabt – nach Aussage älterer Mitbürger sogar eine sehr ansehnliche und liebenswürdige Tochter; aber unter den Photographien und Schattenrissen fehlte das Bild dieser Tochter, in den Erinnerungsreden huschte es kaum einmal verstohlen vorüber, und nur vermutungsweise ließ sich erkennen, daß hier eine jener trübseligen Familientragödien vorlag, die mit einer von der Mutter nicht gebilligten Heirat anfangen, um dann nach einem jahrelangen Wechselspiel von Sturm und mattem Sonnenschein in den graugrämlichen Landregen beiderseitiger Resignation zu zerfließen. Die Tochter war dem Mann ihrer Wahl in eine weit entlegene Stadt gefolgt, dort war sie in der Enge eines dürftigen Haushaltes unter den Alltagssorgen für Küche, Kind und Mann eingerostet wie die Mutter daheim in dem ihrigen; schließlich war sie gestorben, und wenn sich in den letzten irdischen Vorstellungen ihrer müden, abgehetzten Seele mit den sorgenvollen Wünschen für ihr einziges Kind noch ein wehmütiger Gruß an die Mutter verband, so hatte ihr Mann jedenfalls in der Todesanzeige nichts davon merken lassen. Vor der Welt bestand keinerlei Verkehr mehr zwischen der alten Frau und der Familie ihrer Tochter; was sie selber dabei empfand, verschloß sie sorgsam, mit der ganzen Zähigkeit, die den Frauen im Grollen wie im Lieben gegeben ist.

Außer der Wohnstube, die sie selber fast nie „bewohnte“ und eigentlich nur als Museum ihrer Vergangenheit zu betrachten schien, hatte Frau Klämmerlein im Erdgeschoß noch ein sehr geräumiges Schlafzimmer und einen Küchenanbau zur Verfügung. Eine nach ländlicher Art steil und schmal angelegte Treppe endigte mit einem winzigen Vorraum im oberen Stock, wo die drei Zimmer lagen, von deren Mietsertrag sie vornehmlich lebte und die zur Zeit von den drei Hansebrüdern besetzt waren. Links, in „Bremen“, hauste Doktor Hans Bardolf mit seinen Aufsatzheften und Klassikern, rechts lag „Lübeck“, das von Hans Mohr beherrscht wurde und immer ein wenig nach Bartpomade duftete, und geradeaus kam man nach „Hamburg“. Es war das größte der drei Zimmer und wurde außer als Wohnung des dritten der Freunde auch als Ort ihrer gemeinsamen Abendmahlzeiten, Zechereien und Plauderabende benutzt, welche sie als „Hansetage“ zu bezeichnen liebten. Die Zimmer waren, abgesehen von der störenden Menge zarter Andenken, leidlich ausgestattet und sehr billig; dafür mußten aber ihre Bewohner auch fast vollkommen auf das verzichten, was man Bedienung nennt. Alle paar Tage kam eine Stundenfrau, um die gröbere Hausreinigung zu erledigen, im übrigen besorgte Frau Klämmerlein in den Morgenstunden, wo ihre Mietsherren abwesend waren, selber Betten, Kohlenkasten und Zimmer, stäubte Bücher und Andenken ab und füllte die dazu bestimmten Gefäße mit frischem Wasser bis zum Rande.

Damit hatte aber ihre hausfrauliche Fürsorge auch ein Ende. Wenn sie mittags in ihrer Küche ein einsames Mahl bereitet und verzehrt und ihren Garten gründlich besichtigt hatte, vertauschte sie das abgetragene schwarze Hauskleid mit einem fast ebenso abgetragenen schwarzen Ausgehkleid aus Seide, welches vor Alter schon wieder anfing, modern zu werden, und trat ihren üblichen Besuchsgang zum Kreuzkonvent an, einem klösterlichen Versorgungshaus für würdige alte Damen, welches in der Stadt unter dem Namen „Lavendelkiste“ bekannter ist. Dort verbrachte sie den Rest des Tages mit gleichaltrigen und gleich erinnerungsseligen Freundinnen, und wenn sie abends heimgekehrt war, hüllte sie sich völlig in Schweigen und Taubheit. Sie war dann unempfindlich für etwaigen ruhestörenden Lärm über ihren Häupten, aber auch für jedes Anliegen. Am wenigsten hätte sie sich dazu verstanden, außer dem täglichen Frühstück irgend etwas zur Beköstigung ihrer Mietsherren beizutragen, und das einzige geistige Getränk, das sie in dem kleinen Keller des Hauses bewahrte, war wiederum ein unverletzliches Andenken, nämlich eine Flasche Kometenwein, achtzehnhundertelfer Rüdesheimer, die ihr ein weinkundiger und vaterlandsliebender Patenonkel zur Feier ihres just auf den ersten Gedenktag der Schlacht von Leipzig fallenden elften Geburtstages verehrt hatte. Sie hatte das edle Naß durch alle Wüsten und Dürren des Lebens hindurch gerettet, und es schien, daß sie es nun aufsparte, um es mit ins Grab zu nehmen.


2.

Das Zusammenleben der drei Hansebrüder im Hause der Frau Margarete Klämmerlein dauerte nun ohne nennenswerte Störung bereits drittehalb Jahre. Sie waren alle drei verwaist; Bardolf und Ritter waren ganz ohne nähere Verwandte, Mohr besaß noch irgendwo im Ukermärkischen eine verheiratete Stiefschwester und ein paar Tanten, wohlhabende Leute, mit denen er aber nur jeweils zu bestimmten Zeiten, meist einige Wochen vor dem Quartalsschluß, den Verkehr wieder aufzunehmen pflegte, und nicht immer mit dem von ihm gewünschten Barerfolg. Um sich aber in kurzer Zeit innerhalb der gesellschaftlichen und geselligen Kreise der Stadt eine behagliche Stellung zu erstreben, [11] gebrach es ihnen an der so wichtig gewordenen Beihilfe ererbten Besitzes oder aber einflußreicher Verbindungen, und wenigstens zweien unter ihnen, Bardolf und Ritter, ging auch die Fähigkeit ab, sich in dem geselligen Leben ihrer Tage ganz wohl zu fühlen. Denn dieses Leben stand für sie allzusehr unter dem Zeichen jener Richtung auf rücksichtsloses Erwerben und rücksichtsloses Genießen, die keiner Nation nach einem für sie siegreichen Kriege erspart bleibt. Die Lobredner der Zeit sprachen von einem ungeheueren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung, andere, nicht minder übertreibend, beklagten darin einen ungeheueren Schwindel; ruhige Beobachter mochten an einen starken und plötzlichen Sommerregen erinnert werden, der manches Feld segnet, manchem Säumigen oder Leichtsinnigen die überreife Frucht verregnet, friedliche Spaziergänger aber ins Zimmer bannt und ihnen die Aussicht völlig zudeckt. Die Hansebrüder gehörten zu diesen Spaziergängern; je reichlicher der goldene Regen auf das Land niederrieselte, um so unwegsamer wurde es für sie. Sie hatten ziemlich viel studiert, aber nichts, womit man irgend einen Rohstoff in Geld oder Geldeswert umwandeln kann, und besaßen sehr wenig; also gehörten sie zu den ganz kleinen Leuten.

Da kündigte sich ganz unversehens eine neue Erscheinung an. An einem schönen Augustabend, dicht vor den großen Schulferien, klopfte die würdige Frau Margarete Klämmerlein plötzlich an „Hamburgs“ Thür, wo die Hansebrüder eben um eine Batterie Bierflaschen versammelt saßen und mit großer Stimmkraft das Scheffel’sche Lied absangen.

„Ott’ Heinrich, der Pfalzgraf bei Rheine,
Der sprach eines Morgens: Rem blemm!“

Ziemlich verlegen starrten sie die unerwartete Besucherin an, deren Gehör und Geduld sie diesmal doch wohl zu hart geprüft hatten. Doktor Ritter schob ihr einen Stuhl hin, Doktor Bardolf bot ihr ein wappengeschmücktes Seidel voll Bier und Doktor Mohr bemerkte einschmeichelnd: „Wir sprachen eben von Ihren Kapuzinern, Frau Klämmerlein; was das eine Blütenpracht ist! Alle Tage wieder etwas Neues.“ Aber die alte Dame verschmähte Sitz und Trunk und blickte ordentlich befangen vor sich hin. „Ja, da haben Sie wohl recht,“ meinte sie. „Es giebt immer etwas Neues. Ich wollte den Herren auch eine Neuigkeit mitteilen. Ich erwarte nämlich Besuch. Morgen kommt sie.“

„Wer denn?“ riefen die Drei aus einem Munde. Frau Klämmerlein schluckte ein paarmal, dann blickte sie herzhaft auf. „Meine – Enkeltochter, Fräulein Emilie Flügge,“ sagte sie und griff nach der Klinke. „Aber nun will ich weiter nicht stören. Guten Abend, meine Herren!“ Und war verschwunden.

Vor den beiden Lehrern ließ sie sich auch am folgenden Morgen nicht sehen; aber dem Doktor Hans Ritter, der eine Stunde später als seine Freunde zum Dienst zu gehen pflegte, schüttete sie ihr Herz aus. Er traf sie eben dabei, einige Schreinerburschen abzulohnen, die ihr ein zweites Bett in ihrer großen Schlafstube aufgestellt hatten.

„Sehen Sie, Herr Doktor,“ sagte sie, als die Leute fort waren, „hier unten soll sie bei mir wohnen wie früher ihre Mutter selig. Ich hoffe, die Herren geben uns auch einmal die Ehre, daß es dem lieben Kinde nicht gar zu einsam bei seiner alten Großmutter wird. Und sehen Sie, das ist ihr Bild!“ Sie zog eine Schublade auf und reichte ihm eine verblaßte Photographie, die ein pausbackiges, großäugiges Kindchen, kaum ein Jahr alt, im weißen Hemdchen darstellte.

„Hm,“ sagte er, „sie wird sich wohl inzwischen etwas verändert haben.“

Frau Klämmerlein nickte und wischte sich mit dem Tuch über die Augen. „Ach ja,“ sagte sie, „das Bild ist freilich auch an die achtzehn Jahre alt. Ihre Mutter schickte es mir, es war ihr vorletzter Brief.“

Sie blickte in die Schublade nieder. Doktor Hans Ritter folgte dem Blick; da lagen allerlei kleine Andenken, wie man sie von einem frühverstorbenen Kinde verwahrt, Spielsachen, Schulhefte, Glückwünsche in steifer Schönschrift, auch ein Päckchen Briefe; abgegriffen, mit verblaßten Schriftzügen, zierlich mit bunter Seidenlitze zusammengebunden.

„Ich habe mich oft in meiner Verbitterung geschämt, daß ich das alles heimlich verwahrte,“ sagte sie leise. „Aber manchmal konnte ich nicht anders, ich mußte die Briefe immer wieder lesen, und die Puppen habe ich aus- und angezogen, wie ich es meiner Tochter vorthat, als sie noch ein kleines Mädchen war … Und so ein liebevolles kleines Mädchen! – Wie hätte ich damals denken können, daß sie sich je von meinem Herzen losreißen würde, um dem Manne zu folgen, vor dem ich sie warnte, weil ich ihn für einen leichtsinnigen und unfrommen Menschen hielt … Ach, lieber Herr Doktor, ich habe viel gelitten um sie, das dürfen Sie mir glauben … Wenn wir uns nur noch einmal gesehen hätten … wenn sie einmal mit dem Kleinen zu mir gekommen wäre, dann hätte ich mich wohl von meinem Groll bekehrt … Aber das wollte ja wohl der Mann nicht. Zuletzt gab sie es eben auf, ihre Briefe wurden seltener und blieben endlich ganz aus. Und als sie dann so früh gestorben war, da wurde der alte Groll gegen ihn erst recht stark und wild in mir. Wenn mir die Leute sagten, daß er ja doch ein ganz braver Mann geworden sei und in glücklicher Ehe mit ihr gelebt habe, so wollte ich es nicht glauben, und wenn sie von dem Kinde meiner Tochter sprachen, so wandte ich mich ab, denn es war ja sein Kind … Aber es war auch mein Enkelkind … und es glich ihr so, auf dem Bilde da … Ich hätte so gern für es gesorgt, wenn nur sein Vater nicht gewesen wäre. … Manchmal wurde ich ganz verwirrt, daß es mir in meiner Ungerechtigkeit war, als hätte er mich zweimal beraubt: erst meiner Tochter und dann ihres Ebenbildes. Und so ist das weiter gegangen, ein langes Jahr ums andere. Ich wußte gar nicht mehr, wo er jetzt wohnte. Bis vor drei Wochen – da treffe ich im Kreuzkonvent eine Fremde aus einer Stadt oben an der See, die Schwester eines der alten Fräulein, die da in Pflege sind, und die erzählt so ganz nebenbei von einem Herrn Flügge, den sie dort gekannt habe, und was der für ein prächtiger Mensch gewesen sei, ordentlich voll Andacht für seine verstorbene Frau und ganz nur Liebe zu seinem Töchterchen, für das er sich in schwerer Arbeit um kargen Lohn abmühte. Ich bezwinge mich und sage: wo wohnt der Herr denn jetzt? Da sagt sie: ach, der ist ja tot, voriges Jahr ist er gestorben, und seine Tochter ist jetzt Lehrerin irgendwo an einer Anstalt, sie muß eben für sich selber sorgen, so jung sie auch noch ist. Und da … wie ich da heim kam, habe ich gleich einen Brief angefangen an das Kind, es hat aber wohl acht Tage gedauert, bis ich damit zustande kam. Und dann habe ich gelauert und gelauert auf die Antwort und gedacht: es geschieht dir recht, wenn sie dir nie vergiebt. Bis auf einmal vorgestern die Antwort kommt: ein langer Brief, und ein so lieber! Wissen Sie, sie hat den meinen erst so spät bekommen, weil sie eine vornehme fremde Schülerin aus der Anstalt nach Hause begleiten mußte, irgendwo nach Belgien oder da herum; sonst hätte ich wohl gleich anderen Tages ihre Antwort bekommen, denn die Anstalt liegt kaum vier Meilen von hier, und ich war ihr so lange schon nahe und habe es nicht gewußt! Aber nun war es ein Glück, daß sie gerade Ferien hat; und heute kommt sie und will die Ferien bei mir bleiben. Ach, Herr Doktor, wir wollen es ihr recht schön machen!“

„Ja,“ sagte der Doktor Hans Ritter, drückte der alten Dame herzlich die Hand und ging nach seiner Bibliothek.

Beim Mittagessen traf er die beiden anderen in sehr aufgeregter Stimmung. Seine Anfrage, ob man am Nachmittag zusammen spazieren gehen wolle, wiesen sie mit einer gewissen Entrüstung ab. „Nein,“ sagte Doktor Bardolf, „ich habe genug zu thun, mein Zimmer aufzuräumen. Ich bitte dich, wenn eine junge Dame zu Besuch kommt!“

„Aber sie kommt doch nicht zu Besuch auf dein Zimmer,“ meinte Doktor Ritter.

„Sie könnte doch ’mal hineinsehen.“

„Jawohl,“ bestätigte Doktor Mohr, „und da will man doch mit nichts Anstoß erregen.“

„Und überhaupt muß man zum Empfang da sein,“ schloß Doktor Bardolf. „Hoffentlich habe ich noch ein paar reine Manschetten in der Kommode – sonst mußt du mir deinen Radiergummi leihen, Mohr.“

„Die Rosen habe ich schon bestellt,“ versetzte dieser.

Doktor Hans Ritter machte seinen Spaziergang allein. Unterwegs pflückte er einen großen Strauß Waldblumen.

Als er gegen Abend heimkam, überraschten ihn schon von fern Lichtschimmer und fröhliche Klänge aus der Wohnstube der [14] Wirtin. Hans Mohr saß an dem uralten, bemalten Tafelklavier und begleitete den Gesang Hans Bardolfs, der mit mächtigem Bariton soeben versicherte: „Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar.“ Frau Klämmerlein saß mit einem Ausdruck verschämter Seligkeit auf dem lederbezogenen Sofa hinter dem Tische, der zwischen zwei großen Rosensträußen – dem Geschenk der beiden Musiker – eine mächtige Bowle trug, ein junges schlankes Mädchen aber, mit vollem hellblonden Haar, ganz hell gekleidet, trat Hans Ritter entgegen und unterbrach seine Vorstellung mit den Worten: „Meine Großmutter hat mir heute schon viel von Ihnen erzählt, Herr Doktor.“

Und indem er ihr in die blauen Augen sah, war ihm, als ob er sie auch schon längst kennte. Das machte ihn so verwirrt, daß er kaum stammelnd ihr den Waldblumenstrauß anzubieten vermochte, der sich neben den vornehmen Rosen gar bescheiden ausnahm.

[31]
3.

Es wurden während der nächsten vier Wochen noch mehrere Bowlen in Frau Klämmerleins Wohnstube getrunken, und die Stube selbst nahm ein ganz anderes Aussehen an. Der Ausstattung nach glich sie ja noch immer dem Museumszimmer im Geburtshause irgend eines berühmten Künstlers oder Dichters von bescheiden bürgerlicher Herkunft, aber sie schien jetzt wirklich bewohnt. Zwei kleine geschickte Hände walteten in ihr, die jede allzu symmetrische Anordnung von Frau Margarete Klämmerlein durch irgend einen unmerklichen Kunstgriff in ein Bild der Behaglichkeit umwandelten. Und ungefähr denselben Erfolg hatte Fräulein Emilie Flügge nach wenig Tagen auch in den eigensinnigen Köpfen ihrer vier Hausgenossen erzielt.

Sie war keine große Schönheit und auch kein großes Kirchenlicht, aber nett und frisch an Leib und Seele. Natürlich stand sie an Gelehrtheit weit hinter ihren drei Verehrern. Wenn aber das Wissen danach zu bemessen wäre, wie es einer zu handhaben weiß, so übertraf sie die Herren noch um ein Bedeutendes. Sie wußte nichts von der Syntax in den Werken Alfreds des Großen, über welche Doktor Hans Mohr eine so rühmlich bemerkte Staatsarbeit geliefert hatte, aber vor ihrer Fertigkeit, modernes Englisch und Französisch zu sprechen und auszusprechen mußte er beschämt die Segel streichen, obzwar er von dieser Kunst ungefähr so viel verstand wie seine gelehrten Professoren. Philosophie hatte sie niemals studiert, und dennoch wußte der Philosoph Hans Ritter ihren allgemeinen Bemerkungen selten etwas Triftiges entgegenzusetzen. Vollends in der schwierigsten aller Künste, sich mit Kleinem herzlich zu freuen, stand sie über den drei Herren, die doch schon durch ihr Amtseinkommen darauf angewiesen waren, diese Fähigkeit in ganz anderem Maße auszubilden, als ein Kommerzienrat oder Majoratsherr.

Im Laufe der Zeit that die junge Lehrerin auch manchen Einblick in das wunderliche Leben und Treiben der Hansebrüder, sie fand sich mit gutem Humor darin zurecht und lernte sogar einiges von den Trinkformeln und Ausdrücken des akademischen „Comments“ anzuwenden, ohne ihrer weiblichen Würde etwas zu vergeben. Sie verstand sich ganz wohl mit allen drei Herren, am wenigsten geistige Berührung schien sie aber mit Doktor Bardolf zu finden, trotz der gemeinsamen Liebe zur Sangeskunst, die sie in Einzelvorträgen und auch manchmal im gefühlvollen Vortrag von Duetten bethätigten. Allmählich zeigte sich dies auch in ihrem Verhalten. Den Galanterien Doktor Mohrs begegnete sie nach wie vor mit einer gewissen heiteren Ironie, dem zurückhaltenden Ernste Doktor Ritters entsprach ihrerseits eine stille Freundlichkeit, in der sehr viel Achtung mitzuklingen schien; die treuherzigen Huldigungen des blonden Recken jedoch vermied sie immer sorgfältiger, und Doktor Ritter bemerkte, daß sie auf gemeinsamen Ausflügen der fünf Hausgenossen vor der bloßen Aussicht, einen Augenblick allein neben Bardolf zu gehen, befangen errötete.

Emiliens Ferien gingen eine Woche früher zu Ende als die der beiden Lehrer. Am vorletzten Abend vor ihrer Abreise hatten sich die Frauen, ermüdet von einem langen Spaziergange, frühzeitig zurückgezogen. Doktor Hans Ritter saß allein auf seinem Zimmer, sinnend und – dichtend; die letztere brotlose Beschäftigung trieb er seit einiger Zeit sehr eifrig, ohne übrigens anderen mit ihren Erzeugnissen lästig zu fallen. Da trat Doktor Hans Mohr zu ihm ein, er rauchte eine Cigarette und sah sehr wichtig drein. Nach einigen unwesentlichen Worten setzte er sich rittlings auf die Seitenlehne des Sofas und sagte:

„Hör’ ’mal, Ritter – du könntest mir da einen Rat geben. Du bist ja in diesen Dingen gerade kein Fachmann – aber [32] vielleicht hast du doch schon bemerkt, daß ich – wie soll ich sagen – – na, also daß ich unserer lieben kleinen Hausgenossin nicht gleichgültig bin. Na, und was soll ich es leugnen, die Sache beruht auf Gegenseitigkeit. Ich bin verliebt in das Mädchen – einfach verliebt! Heute, unterwegs, als wir so an dem murmelnden Bach im Walde vorbeischlenderten, fehlte nicht viel, daß ich ihr meinen Antrag gemacht hätte. Aber da riefst du mich beiseite, um über die Einkehr zu beraten, und nachher, den Rest des Weges, blieb sie mit Bardolf zurück, was ihr vermutlich nicht recht war, aber in solchen Dingen hat er nicht gerade das größte Feingefühl. Nun möchte ich nur wissen, hätte ich da einen dummen Streich gemacht oder einen gescheiten? Die Sache ist ja ganz wie es im Gedicht heißt: Sie hat nichts und du desgleichen – und so weiter. Es würde jedenfalls eine lange Wartezeit geben, und, weißt du, poetisch ist so etwas ja, aber – –“

Während dieses Vortrages betrachtete Doktor Mohr abwechselnd seine Cigarette, seine Stiefelspitzen und seine Fingernägel, und so entging es ihm, wie blaß und erregt sein Zuhörer aussah. Uebrigens blieb dem Doktor Ritter die Antwort erspart, denn bei den letzten Worten Mohrs trat Hans Bardolf in großer Erregtheit herein und rief. „Kinder, ich bitte um euren Glückwunsch! Heute nachmittag habe ich mich mit Emilie verlobt! Es ist noch Geheimnis, aber ich kann nicht schlafen gehen, ohne es euch wenigstens gesagt zu haben. Verliebt hatte ich mich ja beim ersten Blick in sie – und nun weiß ich aus ihrem eigenen süßen Munde, daß es ihr nicht anders ergangen war. Und einmal im Zuge, sprudelte er sogleich auch die zweite Neuigkeit hervor: er werde den Schuldienst aufgeben und die ihm von einem Parteiführer seiner Richtung angebotene Stelle als Redakteur einer liberalen Zeitung in einem ziemlich großen Fabrikorte des Westens annehmen. „Ein Lehrer will ich bleiben, aber ein Lehrer des Volkes, ein Prediger alles Idealen und Hohen! – Und sie wird meine Frau Lehrerin,“ setzte er selig hinzu.

Bei den ersten schicksalsschweren Worten Bardolfs war Mohr aufgefahren, aber da begegnete er einem so ernsten, beschwörenden Blicke Ritters, daß ihm das Wort ordentlich versagte. Unter diesem zwingenden Blicke fand er sogar allmählich so viel Fassung, Bardolf glückwünschend die Hand zu schütteln. Dann zog er sich zurück und überließ Ritter völlig hilflos dem jubelnden Redestrom, der jetzt unaufhaltsam den Lippen des glücklichen Bräutigams entfloß.

Doktor Hans Ritter ließ auch diesen Wasserfall nach wenigen herzlichen Worten schweigend über sich ergehen. Er hatte sich eine Cigarre angezündet und schien fast mehr mit ihr als mit dem Geschicke seines verliebten und verlobten Freundes beschäftigt. Allmählich ging dessen Vortrag aus Dur in Moll über. Vermögen besäßen sie ja freilich beide nicht, und die neue Stellung trage für den Anfang nur wenig mehr ein, als er in einigen Jahren auch als Lehrer zu erwarten habe. Sie würden eben entweder beide warten müssen, bis er und sie sich so viel erspart hätten, um sich einrichten zu können – oder aber wie richtige Zigeuner ins Blaue hinein freien. Und am Ende sei das noch am besten – auch um Emiliens willen; denn sie habe ihm bitter geklagt, wie peinlich und demütigend ihr ihre Stellung unter einer habsüchtigen Prinzipalin und neben deren anmaßender Tochter sei und ehe er das geliebte Mädchen noch jahrelang in solchen Stellungen schmachten lasse …

„Aber das wird ja wohl nicht nötig sein,“ unterbrach ihn Doktor Ritter. „Wozu ist denn die Großmutter da? Ihr wißt am Ende beide nicht, daß sie sich schon längst ein Sümmchen von so dreitausend Mark etwa zurückgelegt hat.“

Doktor Bardolf sah groß auf. „Aber Mensch,“ rief er, „das wäre ja ein unerhörter Glücksfall! Dreitausend Mark – damit könnten wir uns ja ein Paradies einrichten! Woher weißt du das denn?“

„Ja,“ sagte Ritter, während er abgewandten Gesichtes in einer dunklen Ecke nach irgend etwas herumsuchte, „sie hat es eben immer sehr geheim gehalten. Ich glaube, ich bin der Einzige, der es weiß. Und weißt du … am Ende ist es auch wohl am besten, wenn ihr es mir überlaßt, ihr die Sache klar zu machen. Morgen ist Sonntag – da werde ich mit ihr sprechen, wenn sie aus ihrer Frühmesse kommt. Du wirst ja wohl schon einen Weg wissen, deiner … deiner Braut nahe zu legen, daß sie so lange schweigt.“

„Natürlich,“ rief Doktor Bardolf. „Es ist merkwürdig, welches Glück du immer bei alten Damen hast! Weißt du noch – schon in unseren Fuchssemestern, da schickten wir dich immer voraus, wenn es galt, unsere Wirtin anzupumpen! Aber daß du das für mich und Emilie thun willst – Mensch, Bruder, das werde ich dir nie vergessen!“ Er stürzte auf den Freund los, und Doktor Ritter mußte es sich nun doch gefallen lassen, daß ihn der andere mit seinen Heldenfäusten zärtlich herumdrehte und ihm ins Gesicht starrte. „Aber, mein Gott, wie siehst du aus?“ fragte Bardolf.

„Ich habe Kopfschmerzen,“ sagte Ritter. „Vielleicht etwas erkältet.“

„Ja,“ meinte Bardolf, „du sprichst auch so heiser! Nimm dich nur in acht! Du kannst auch so wenig Strapazen vertragen. Na, sei nur zufrieden, jetzt wird es bald um so stiller hier im Hause! Nun geh aber zu Bett, und nochmals – tausend, tausend Dank! Ach, werde ich heute nacht süß träumen!“

„Möchte es in Erfüllung gehen,“ erwiderte Ritter und geleitete ihn freundlich zur Thür. Dann saß er noch lange vor seinem Schreibtisch und starrte auf die weißen, mit Versen beschriebenen Blätter. Ein paarmal faßte er sie an, als wollte er sie zerreißen. Zuletzt legte er sie sorgfältig in einen Umschlag, den er im hintersten Gefach des Tisches verbarg.

Am folgenden Morgen hatte er dann ein heimliches Gespräch mit Frau Klämmerlein, aus welchem seine Beredsamkeit nach langem Kampfe als Siegerin hervorging und abends wurde die Verlobung gefeiert. Es war eine stille Feier, die Greisin und Doktor Ritter waren ziemlich schweigsam. Sie schienen es kaum zu bemerken, daß das Brautpaar mehrmals in den dunklen Garten hinaustrat, um den prachtvollen Sternenhimmel zu betrachten, bis es sich endlich von seinem letzten astronomischen Ausgang erst wieder zu ihnen zurückfand, als es für Emilie die höchste Zeit war, zum Bahnhof zu fahren.

Hans Mohr war bei diesem stillen Familienfeste nicht zugegen. Ueber Nacht war ihm plötzlich eingefallen, daß er einem unlängst in die Provinz versetzten Verwandten vom höheren Steuerfach versprochen habe, ihn gegen Schluß der Ferien auf einige Tage zu besuchen. Nach seiner Rückkunft verkehrte er mit Bardolf äußerlich so freundschaftlich wie zuvor. Aber das alte Verhältnis zwischen den drei Hansebrüdern fand sich nicht wieder und es hätte sich wohl auch dann nicht wiedergefunden, wenn Bardolfs Braut den beiden anderen ganz unbekannt und gleichgültig gewesen wäre. Denn ein richtiger Verlobter ist für seine im Junggesellentum verharrenden Freunde immer ein ungeselliges Wesen. Wenn er schweigt, so scheint ihn eine gewisse geheimnisvolle Weihe zu umwittern, welche die anderen zu einer steten unbequemen Vorsicht in der Wahl ihrer Gesprächsstoffe, Scherze und Worte veranlaßt, und wenn er spricht, so ist es zumeist von etwas, das im eigentlichsten Sinne des Wortes nur für den Liebhaber Wert habe, nämlich von seiner Liebsten.

Doktor Hans Bardolf machte keine Ausnahme von dieser Regel. Immerhin trug er sein Glück mit wirklichem Herzenstakt, und es schien, als ob er ganz ernstlich und pflichtbewußt darauf bedacht sei, sich aus der bisherigen burschikosen Gemütlichkeit zu einem würdigen Mitgliede des vornehmsten, meistbietenden und meistfordernden aller Stände, des Ehestandes, heraus zu arbeiten. Durch besondere Fürsprache war es ihm gelungen, sich bereits zum Anfang des Winters einen ehrenvollen Abschied aus dem Staatsdienste zu verschaffen; eifrig bereitete er sich inzwischen auf seinen neuen Beruf vor, in dem er von Neujahr an; die ersten paar Wochen unter Anleitung seines Vorgängers, wirken sollte und den er sich in leuchtenden Farben, mit wahrhaft idealen Versprechungen an die Mitwelt und Anforderungen an sich selbst ausmalte.

Als der erste Schnee fiel, reiste Frau Klämmerlein nach dem künftigen Wohnorte des jungen Paares, um Emilie in der Ausstattung der Wohnung zu unterstützen und eine Woche vor Weihnachten fand die Hochzeit statt, ohne andere Gäste als die beiden Freunde des Bräutigams und eine ältere Kollegin der Braut, ein stilles, verblühtes Jüngferchen in mausgrauer [34] Gewandung, welches während der Trauungspredigt mehrmals errötete und beim Hochzeitsmahl, das in Frau Klämmerleins Museum stattfand, den Doktor Hans Ritter befragte, ob er Goethe oder Schiller für den größeren Dichter halte.

Dann wurde es, wie Hans Bardolf vorausgesagt hatte, sehr still in dem kleinen Hause. In das Zimmer „Bremen“ zog ein Kandidat der Theologie ein, der von der feuchtfröhlichen Vergangenheit seines Reiches nichts wußte und sie auch wohl kaum ganz gebilligt haben würde. Die beiden Freunde fingen an, so ganz allmählich jeder seine eigenen Wege zu wandeln, die äußeren Linien ihres kameradschaftlichen Verkehrs änderten sich noch nicht, aber sie verblaßten allmählich.

Doktor Hans Mohr hielt sich vom Parteileben, das er bisher pflegte, jetzt zurück, er entwickelte einen außerordentlichen Eifer für den pädagogischen Beruf und verfaßte für eine große Tageszeitung über neuerschienene Werke dieses Fachs mehrere lobende Besprechungen, die ihm einen angenehmen und sorgfältig gepflegten Briefwechsel mit den einflußreichen und angesehenen Verfassern eröffneten.

Doktor Hans Ritter war in seiner Weise nicht minder fleißig, seine „Kritische Würdigung der philosophischen Beweise für das Dasein Gottes“ gedieh endlich über die Einleitung hinaus und versprach sich zu einem jener Standwerke deutschen Geistes auszuwachsen, zu deren Durchlesen man ein Jahr und zu deren Abfassung ein Leben braucht. Oefters aber wurde er der Philosophie untreu und lief ihrer leichtfertigen Schwester, der Poesie, zu, die ihm allerhand Verse und Geschichten eingab, Erzeugnisse eines wunderlichen, nach innen gekehrten Humors. Es ging etwas von dem wehmütig süßen Erinnerungsduft des Klämmerleinschen Museums hindurch, in welchem er gar manches Mal stundenlang saß, geduldig die Erzählungen der alten Frau anhörend und sich mit ihr an den Briefen Emiliens erfreuend, aus denen das reinste und tiefste Liebesglück sprach.

Hans Bardolf schrieb seltener, meist nur einige herzliche Zeilen unter den Briefen seiner Frau. Anfangs schickte er sehr häufig Nummern seiner Zeitung, mit irgend einem blau angestrichenen Aufsatz, auf den er sich etwas Besonderes zugute thun mochte. Nach diesen Aufsätzen zu schließen, bearbeitete er für sein Blatt die verschiedensten Gebiete, von der hohen Reichs- und Stadtpolitik bis zur Kritik über eine durchreisende Operettentruppe – und alles, was er schrieb, war gleichmäßig mit einem eigenen, hochstrebenden und weltüberfliegenden Hauche beseelt, der es von dem übrigen Inhalte des Blattes wunderlich unterschied. Denn dieser setzte sich zumeist aus Beiträgen zusammen, die Hans Ritter schon vor Eintreffen der Postsendung ganz ebenso in dem von ihm gehaltenen Blatte der Universitätsstadt und anderen Ortsblättern gleicher Parteirichtung finden konnte, sie waren offenbar in Centralküchen gekocht und erinnerten auch in ihrem Geschmack manchmal an solche Gerichte, die in großen Kesseln für viele zu verschiedenen Tageszeiten speisende Gäste auf Vorrat gekocht und portionsweise aufgewärmt werden. Uebrigens wurden die Kreuzbandsendungen Bardolfs nach kurzem immer seltener.

Darüber war der Winter vergangen, die Veilchen und Kirschbäume hatten geblüht, die Kapuzinerkresse kleidete das altersgraue Gewand der Gartenmauer mit einem überaus bunt geblümten grünen Futter aus, und der wilde Wein stieg dem Häuschen mit üppigen Ranken bis aufs Dach. Seine Blätter wurden mählich rot, auf der feuchten Wiese des Gartens zeigten sich zu Frau Klämmerleins äußerstem Mißfallen wieder einige blasse Herbstzeitlosen; auch ihre Blüten vergingen in Nebel und Reif, und ein klarer Sonnenmorgen nach der ersten richtigen Frostnacht brach sanft und geräuschlos wie mit weichen Mädchenfingern die falben und roten Blätter ab, alle miteinander an einem Tage. Und dann kam mit dem ersten Winterschnee eine kurze Depesche, der ein langer, jubelnder Brief folgte; es war alles gut gegangen, die Mutter den Umständen nach wohl – ein prächtiges Mädchen, und Johanna Margarete sollte es heißen, nach ihren Paten, der Urgroßmutter und dem Doktor Hans Ritter.


4.

Am Jahrestag der Hochzeit ihrer Eltern wurde die kleine Johanna Margarete getauft. Es war wirklich ein sehr kleines Geschöpf für einen so langen Namen; Uneingeweihten erschien es als ein länglich rundes weißes Leinenpaket mit rosa Seidenschleifen und einer Art rötlichem Gesicht, welches nur unvollkommen an ein Menschenantlitz erinnerte, nach Aussage der Urgroßmutter dagegen vollkommen einem Engelsköpfchen glich. Der Doktor Hans Ritter wagte es nicht, irgend einen Zweifel gegen diese Behauptung auszusprechen im stillen that er, was die meisten unverheirateten Herren Paten beim ersten Anblick einer solchen Menschenknospe thun – er versuchte, sich eifrig und erfolglos vorzustellen, daß er auch einmal so ausgesehen habe. Völlig aber wie ein Gebild aus höheren und reineren Reichen erschien ihm die liebliche Gestalt, die sich mit mütterlicher Inbrunst über dieses unvollkommene Wesen beugte und ihm den von fern her angereisten Paten und „Onkel“ mit einem Ernste vorstellte, als wäre es schon imstande, sich sogleich zu erheben, zu knixen und ein „Sehr angenehm“ zu lispeln. Er hatte sie geliebt, mit einer tiefen und keuschen Liebe, von der nur Gott und er wußten, und er hatte dieser Liebe entsagt. Nun wandelten sich Liebe und Entsagung in eine wunschlose Andacht zu der heiligsten irdischen Macht, welche dem in zarter Jugend Verwaisten hier zuerst so vertraut, in so lieblicher und zarter Gestalt entgegentrat – zur Mutter, und es erfüllte und bewegte seine Seele wahrhaft wie ein Gelübde, als er vor ihren Augen das winzige Etwas – ihr Kind, zaghaft auf den Armen hielt und der Geistliche – unter lautem Widerspruch des Täuflings – das kahle Stirnchen benetzte.

Es war ein ganz nettes und trauliches Heim, in dem die kleine Grete das Licht der Welt erblickt hatte und zum Mitglied der christlichen Gemeinschaft geweiht wurde. Freilich waren es nur sechs kleine Räume einschließlich Küche und Mädchenstube; es war schon ein schwieriges Stück, zumal eben jetzt, für einen Logiergast ein Plätzchen frei zu machen, welches Hans Ritter natürlich der alten Dame überließ, während er sich selber in einem benachbarten Wirtshaus unterbrachte. Auch lag die Wohnung im dritten Stock, auf den dunklen und vielgewundenen Treppen duftete es nach mancherlei Hantierungen, und den Laden im Erdgeschoß unten hatte sogar ein sehr bemerkbares Butter- und Käsegeschäft inne. Allerdings versicherte der Doktor Bardolf, bis vor einem Vierteljahr habe dort ein Seifen- und Parfumeriehändler gewohnt und der Mann mit den Käsen werde nach Ablauf eines Mietsjahres sein Geschäft laut Aussage des Hausherrn verlegen. Drinnen aber in den kleinen Zimmern sah es um so einladender aus, die Möbel waren noch neu, sie strahlten von Sauberkeit und verrieten in ihrer Anordnung eine höchst reizvolle Mischung weiblichen Schönheitssinnes und männlicher Genialität. An der einen Wand des einfenstrigen Taschenzimmerchens, welches der Doktor Bardolf seine Studierstube zu nennen beliebte, und wo jetzt einstweilen Frau Klämmerlein schlief, hatte er aus seinem Offiziersdegen, seinem Helm und zwei sorgfältig entladenen Revolvern eine wirksame Trophäe aufgebaut, während an der anderen Wand ein Brett mit sieben langen Pfeifen die Würde und Hoheit des deutschen Mannes mehr von der friedlichen Seite zeigte. Im Wohnzimmer, über dem Sofa, hingen inmitten zahlreicher kleiner Photographien die Porträts von Emiliens Eltern, von Frau Klämmerlein mit Thränen begrüßt; gegenüber aber blickte einer der Engelsknaben von Rafaels Sixtina, mit himmlischer Gelassenheit auf die runden Aermchen gelehnt höchst befriedigt auf ein wirkliches, wohlgestimmtes Klavier.

Es war sehr hübsch, vor diesem Klavier beim freundlichen Lampenschein den Melodien zu lauschen, die Frau Emilie mit sanftem träumerischen Anschlag mehr angab als spielte, indes das ältliche Dienstmädchen, welches sie bereits als Kind in ihrer Eltern Haus gepflegt hatte und auf ihren Ruf aus weiter Ferne zu ihr übergesiedelt war, mit einer bei solchen Wesen höchst ungewöhnlichen Geräuschlosigkeit im Nebenzimmer das Abendbrot rüstete. Es war noch hübscher, wenn dann die vortragende Künstlerin plötzlich, beim ersten Ton eines leisen wimmernden Stimmchens aus dem Schlafzimmer, aufsprang und dorthin eilte, um eines höheren Amtes zu walten, indes die Zurückbleibenden einander mit einem wunderlichen, fröhlichen Lächeln anschauten. Ganz überaus hübsch aber war es, als Frau Emilie im Wohnzimmer den kleinen Weihnachtsbaum aufputzte – bereits „ihren“ [35] zweiten, wie sie mit Stolz erklärte; die anderen mußten derweil im dunklen Eßstübchen warten, nur ihre Tochter durfte dabei sein und „helfen“, bis dann alles fertig war und die kleine Gemeinde hereingelassen wurde, um sich am Glanze der Lichtchen, am Tannenduft zu erquicken und die angeblichen Zeichen einer überaus frühreifen Weihnachtsfreude auf den Zügen des vier Wochen alten Christenfräuleins gebührend zu bestaunen. Für keines fehlte es an überraschenden Geschenken, das eigenartigste aber hatte Frau Klämmerlein dem Urenkelchen mitgebracht – die Flasche Achtzehnhundertelfer, mit ganz vom Alter geschwärztem rotgelbem Siegel und der verblichenen Aufschrift in altmodischer Kanzleischrift: „Meyner lieben Nichte Margarete zum elften Geburtstag, am ersten Denktage der glorreichen Völkerschlacht, auf daß sie sich daran labe, wann es ihr im Leben so recht glückselig und sorgenfrey zu Mute ist.“ Sie hatte nicht allzuviel Tage gehabt, an denen es ihr „so recht glückselig und sorgenfrey“ war, und wann es einmal war, hatte sie an die Flasche Kometenwein nicht gedacht; nun schenkte sie ihn an die Urenkelin mit der gleichen Widmung weiter.

Vater Bardolf meinte, eigentlich würde die Klausel am sichersten erfüllt, wenn Grete den Wein gleich jetzt tränke, und indem er das sagte, lächelte er herber, als es sich zu einem bloßen Scherz paßte. Alsbald aber blickte er wieder mit glückseligem Behagen um sich, und hernach, als man bei Punsch und Kuchen zusammen saß, sprach er Vieles von der Zukunft, mit dem alten hoffnungsseligen Idealismus. Seine jetzige Stellung berührte er nur flüchtig, gleichsam als ein Sprungbrett, von welchem ihm über kurz der Aufsprung zu einer höheren und weit reicher ausgestatteten Stellung an einer der großen Parteizeitungen glücken sollte; und es war aller Ehren wert, was er dann auf jener freieren Warte für das deutsche Volk alles zu thun und zu schreiben gedachte. In dem ehrlichen Kraftton der Ueberzeugung, mit dem er das vortrug, lag auch für andere etwas Ueberzeugendes, zum mindesten Ermutigendes, und wenigstens sein Weib hörte ihm vollkommen gläubig, mit leuchtenden Augen und verschämtem Stolze zu. Denn so groß das eitle Selbstvertrauen eines Mannes sein mag, es wird doch übertroffen und oft genug überdauert von einem ungleich reineren und rührenderen Gefühl, von dem Zuvertrauen des Weibes, das ihn wahrhaft liebt.

Frau Margarete Klämmerlein verstand am wenigsten von den Thatsachen, auf die sich die Zuversicht Bardolfs mit Recht oder Unrecht stützte; immerhin war sie alt genug und hatte genug Luftschlösser aufsteigen und einsinken sehen, um aller Hoffnungsseligkeit mit Mißtrauen zu folgen. Aber stärker als der Zweifel war diesmal in ihr der Wille, sich glücklich und beruhigt zu fühlen. Ihre Enkelin war ein geliebtes und beglücktes Weib, das Kind war ein süßer Engel, und diese beiden Lichter bestrahlten einstweilen alle dunklen Sorgenecken in ihrer sorgenmüden Seele. Als sie am dritten Weihnachtstage mit Hans Ritter wieder heimfuhr und der einzige Mitreisende auf einer kleinen Station den Waggon verlassen hatte, faßte sie die Hand ihres Gefährten und sagte: „Sie haben recht gethan daß Sie mir das Geld gaben, Herr Doktor. Damals hatt’ ich so meine Bedenken und Zweifel. Aber nun ist sie glücklich, und er ist ein so braver lieber Mensch, und an dem Kinde werden wir, so Gott will, noch viel Freude erleben. Sie hatten recht, und ich danke Ihnen nochmals!“

Hans Ritter nickte ihr freundlich zu und blickte in die weite weiße Landschaft hinaus. Er versuchte sich die Oede mit all den lieben und schönen Bildern zu beleben, die in diesen zehn Tagen an ihm vorübergezogen waren und die alle den Worten der alten Frau beistimmten. Aber statt dieser Bilder, die er nun schon drei- und viermal unterwegs in befriedigtem Erinnerungsaustausch mit ihr erneuert hatte, drängte sich immer wieder eines vor seine Seele, von dem er zu niemand gesprochen hatte: ein überheiztes, verräuchertes, schlecht tapeziertes Zimmer, in dem es nach bedrucktem Papier und schlechten Cigarren roch, mit unsaubern Regalen, baufälligen Stühlen und einem großen Doppelschreibtisch ausgestattet. Vor diesem Schreibtisch hatte Hans Bardolf gesessen. als er ihn am zweiten Tage seines Besuchs ohne Verabredung auf seinem Bureau aufsuchte; auf dem Tisch lagen zahlreiche Ausschnitte aus Zeitungen, auch ein paar lange gelbe und weiße Papierbogen, mit hektographierter Schrift, auf einer Seite bedeckt. Alle diese Papierfetzen und Streifen waren an kleine Blätter weißes Papier geklebt, die in Blaustift und Tinte allerhand Vermerke in Bardolfs großzügiger Handschrift trugen. Ein Kleistertopf mit großem Pinsel und eine Schere machten sich neben dem Tintenfaß breit. „Der Herr Doktor ist drinnen, aber er wird wohl wenig Zeit haben, er macht den Stoff für die nächste Nummer zurecht,“ hatte der junge Mann gesagt, der draußen hinter dem Ladentisch mit der Ueberschrift „Annoncen-Expedition“ mit einigen Kunden verhandelte. Und Hans Ritter erinnerte sich der Bestürzung, mit der Bardolf bei seinem Eintritt aufgefahren war und, errötend wie ein Mädchen eine große, vielfach angeschnittene Zeitung über den Tisch gebreitet hatte. er schämte sich seines Handwerks! Dann, während Bardolf mit ihm ein Stelldichein in der nächsten Wirtschaft verabredete, war ohne viel Anklopfen ein Herr im Pelzrock hereingekommen, lang, hager, noch ziemlich jung, mit kalten, scharfen Augen, der eine Zeitung in der behandschuhten Rechten trug und, ohne den Besuch zu beachten, im Flüsterton auf Bardolf einredete. Ritter sah, wie der Freund unter den strengen und bestimmten Vorwürfen des andern nur mühsam seine Fassung bewahrte, und er erkannte auch den Aufsatz, dem dessen Mißfallen zu gelten schien: es war ein von Bardolf verfaßter Leitartikel, in welchem gewisse kürzlich in einer anderen Industriestadt aufgedeckten Fälle rücksichtsloser Ausbeutung der Frauen- und Kinderarbeit besprochen und die Bekämpfung solcher Mißbräuche als eine besondere, naturgemäße Aufgabe des liberal gesinnten Bürgertums gefeiert wurde. Bardolf hatte ihm den Artikel tags zuvor mit großer Genugthuung vorgelesen und sich sehr über sein Lob gefreut. – –

Als er nachher mit dem Freunde durch die Neustadt gegangen war, in welcher weite Fabrikanlagen mit modernen, breiten Villenstraßen abwechselten, hatte Bardolf nach einem besonders protzig angelegten Hause mit dem Kopf hingedeutet: „Das Haus kannst du dir merken, da wohnt einer der größten Schleicher dieses Jahrhunderts. Du hast ihn ja vorhin auf meinem Bureau gesehen!“

Und als Ritter antwortete: „Wie ein Schleicher sah der Mann nun eben nicht aus,“ hatte Bardolf bitter lächelnd hinzugesetzt. „Das hat der Herr Assessor auch vor einem armen Zeitungsschreiber nicht mehr nötig, seit er mitten in unsere Hochfinanz hineingeheiratet hat. Und das schlimmste ist, daß er mit seinem Einfluß wirklich hier am Ort die maßgebende Person für unsere Sache ist. Er klettert auf der Leiter hinauf, aber ohne ihn fällt auch die Leiter um.“

Und dann hatte er Ritter einen Namen genannt, den dieser erst vor einem halben Jahre als Ueberschrift eines reich mit Lob gespickten Artikels in Bardolfs Zeitung gelesen hatte. Der Artikel war von Bardolf verfaßt. „Im Auftrage des Aufsichtsrates, verstehst du! Unsere Zeitung ist auf Aktien gegründet, er besitzt jetzt die Hälfte davon und die Dividende, auf die er rechnet, ist zunächst ein Landtagsmandat und ein Orden. – Ja, siehst du, lieber Freund, wenn man nur für sich zu sorgen hätte. Aber nur Geduld, ich bringe es schon weiter. … Und so lange nur Frau und Kind gesund bleiben und man selber gesund ist. … Denken wir an die Zukunft! …“

Damit war das Gespräch auf lieblichere Dinge gekommen …

Die Erinnerung hieran beschäftigte Ritter, während er mit der alten Frau von der Taufe heimfuhr. Draußen dehnte sich wieder weit und breit das verschneite Ackerland. Hier und da reckten neben dem Bahndamm Fichten und Birken ihre Kronen über den Schnee wie Wegweiser, die von einem überwachsenen, vergessenen Wege übrig geblieben sind. Ein Schwarm Krähen flog auf und strich krächzend in der Richtung nach den Vorbergen hin, die grauweiß am Horizont auftauchten. Die alte Frau war eingeschlafen. Leise legte Ritter ihr seine Reisedecke über die Knie. Sie strich im Halbschlaf mit den Fingern darüber, der weiche wollige Stoff schien ein Traumbild in ihrer Seele zu wecken.

„Das arme süße Kindchen,“ murmelte sie. „Nur immer recht weich betten, recht warm halten!“

(Fortsetzung folgt.)
[46]
5.

Auch Doktor Hans Mohr hatte die Weihnachtsferien zu einer Reise verwandt. Es war eine Studienreise eigener Art, bei der er selbst das eine Studium betrieb und der Gegenstand des anderen war.

Während der großen Herbstferien hatte er auf einer Gesellschaft bei seinem Rektor eine junge Dame kennengelernt, die ihn durch ihr besonnenes und feines Wesen fesselte. Sie war wohl über die erste Jugendblüte schon hinaus, konnte aber noch mit Ehren unter den Jüngeren bestehen; denn sie wußte ihre schlanke und ziemlich hohe Gestalt mit einer ausgesucht vornehmen Bescheidenheit zu kleiden, und ihr Gesicht war eines von jenen kühlen und hartgeschnittenen Gesichtern, die spät aufhören jung zu scheinen, weil sie eigentlich nie ganz jung schienen. Von dem aschblonden Scheitel bis zum Kinn war alles ein wenig schmal und eng beieinander, aber nett und sauber und wohlgeordnet. Nur im Ausdruck des Mundes war das Ordnungsmäßige vielleicht etwas zu deutlich ausgeprägt: wenn sie einem zuhörte, preßte sie die schmalen Lippen noch etwas fester zusammen, es sah dann aus, als ob sie ein Zeugnisformular vor sich liegen hätte und darüber nachdächte, welches Prädikat sie einzeichnen dürfe. Das mochte eine Berufseigenheit sein, denn sie war die einzige Tochter und erste Gehilfin einer Dame, die in einem schöngelegenen Städtchen, etwa eine Eisenbahnstunde von der Universitätsstadt, eine sehr vornehme und teuere Erziehungsanstalt für Töchter wohlhabender Familien auf eigene Rechnung leitete. Es war die selbe Anstalt, an welcher Emilie Flügge bis zu ihrer Verheiratung unterrichtet hatte.

Die junge Dame trug einen Familiennamen von großem litterarischen Wohlklang. Ihr Großvater hatte sich als Erzieher [47] und Volksschriftsteller in der ersten Hälfte des Jahrhunderts viel Zuneigung erworben. Dessen Sohn war allerdings dem väterlichen Berufe nur insoweit treu geblieben, als er eine Lehrerin heiratete, selber hatte er als Direktor einer Pulverfabrik Berufsstellung, Vermögen und noch im besten Mannesalter einen plötzlichen Tod gefunden. Die Witwe aber war in das geistige Erbteil ihres Schwiegervaters zurückgetreten, sie hatte in demselben kleinen Städtchen, wo er vordem gelebt hatte, jene Erziehungsanstalt gegründet, für welche besonders in den ersten Anfängen der bewährte Namen ein überaus schätzbares Anziehungsmittel bildete.

Als Doktor Hans Mohr die junge Dame kennenlernte war er mit den Schriften ihres Großvaters nur erst seit kurzem oberflächlich bekannt. Daß er nun sogleich seine ganze Mußezeit darauf verwandte, diese Schriften zu studieren und das Ergebnis seiner Studien in Form einer Biographie weiter zu verfolgen, daran war allerdings wohl die Aussicht auf näheren Verkehr mit jener Dame und auf den Dank ihrer Familie mit schuld. Der zur Zeit im Schulwesen herrschenden Richtung entsprach ja der etwas altväterische Geist, der in ihnen waltete, nicht. Aber Mohrs kluger Sinn hatte in den Werken des Verstorbenen auch mancherlei Stellen entdeckt, auf welche er den Nachweis aufbaute, daß der berühmte Verfasser im Grunde ein Vorkämpfer der nunmehr herrschenden Richtung gewesen sei. Seitens der Familie wurde der Plan mit großer Freude aufgenommen, Briefe, Tagebücher und anderer Stoff zur Verfügung gestellt, und ein lebhafter sehr gelehrter Briefwechsel entspann sich zwischen den beiden Damen und dem neuen Geschichtschreiber ihres Hauses. Eine Zeit lang wirrte sich in diesen Briefwechsel von seiten der Damen ein fremder Faden, verstohlene, einladend freundliche Andeutungen, daß ein Uebertritt des Herrn Doktors aus seiner jetzigen Stellung in den Verband ihrer Anstalt seiner Arbeit gewiß ersprießlich und ihnen sehr wertvoll sein würde. Aber Hans Mohr wich höflich beiseite. Er war nicht der Mann, wie Hans Bardolf ein Angebot auf Treu’ und Glauben des Anbietenden zu nehmen, und was er unter der Hand von Emilie Flügge und anderen über die Ausnutzung der Hilfskräfte an jener Anstalt erfahren hatte, ließ ihn die Klugheit der Frau Direktor weit höher schätzen als ihre Freigebigkeit. Uebrigens schien seine Ablehnung die Achtung der Damen vor ihm zu erhöhen. In der liebenswürdigsten Weise wurde er eingeladen, die abschließenden Quellenstudien für sein Buch mit einem Ferienaufenthalt in der Anstalt zu verbinden.

Was er dort beobachtete, erweiterte sein Verständnis und leider auch seine Achtung für die Geschäftsführung der Anstaltsleiterinnen noch erheblich. Die Frau Direktor konnte sich an Feinheit der äußeren Erscheinung mit Fräulein Beate, ihrer Tochter, nicht messen, sie war eine kaum mittelgroße, sehr beleibte Dame mit unschönen, ziemlich plumpen Bewegungen, aber an zweckbewußt sicherem Denken und Handeln war die Tochter doch erst eine noch nicht vollendete Kopie der Mutter. Das Haus hatte seinen ganz bestimmten „Geist“, von welchem in Ansprachen, Einzelgesprächen und sogar Aufsätzen erstaunlich viel die Rede war. Eine auserlesene Probe dieses Geistes mochte die gemeinsame Weihnachtsbescherung für die Familie, den nicht verreisten Teil der Lehrkräfte und Schülerinnen und sonstige Angehörige und Freunde des Hauses sein, welcher auch Hans Mohr als verehrter Hausgast beiwohnte.

Jede Schülerin fand unter dem großen Weihnachtsbaum ein Geschenk, meist ein Buch poetischen oder geistlichen Inhaltes. Mit einem vollen Tone mütterlicher Herzlichkeit wies die Frau Direktor darauf hin, daß diese Gaben, dem Geiste des Hauses entsprechend, einfach und mehr nach ihrem inneren Werte als dem prunkvollen Augenschein gewählt seien; denn nicht der Preis mache ein Andenken lieb und unvergeßlich, sondern der Geist der Liebe, in dem es gegeben und empfangen werde! Sodann begann sie, allmählich und zufällig die zum Teil sehr kostbaren Gaben zu entdecken, welche von den reichen Eltern oder Vormündern der einzelnen Schülerinnen für sie und Fräulein Beate übersandt worden waren. Beide Damen begrüßten jedes Geschenk mit einem wortreichen Ausbruch der Verwunderung, der sich nur im Geiste des Hauses mit der Thatsache ausgleichen ließ, daß die betreffenden Postpakete und Ankündigungen bereits vor einigen Tagen durch ihre Hände gegangen waren, sie priesen den Geschmack der Spender und entrüsteten sich wiederholt über die allzu prächtige Auswahl, aber es schien unzweifelhaft, daß sie in keinem dieser Fälle den inneren Wert der Gabe nach der Niedrigkeit des Preises schätzten. Bei dem Angebinde, welches Hans Mohr von den Damen erhielt, konnte freilich nur von innerem Werte gesprochen werden: es war ein Handexemplar des ersten Werkes von Beatens Großvater mit einem Druckfehlerverzeichnis in Bleistift von der Hand des Verfassers.

Hernach beim Festmahle saßen die Erwachsenen und die Schülerinnen ausnahmsweise beisammen, am oberen Ende der Tafel gab es weißen und roten Wein, am unteren ein Erzeugnis aus Himbeersaft und Wasser, welches in Pensionaten unter dem Namen Unschuldsbowle oder Lämmerwein bekannt ist. Fräulein Beate saß zwischen Hans Mohr und einem Hilfsprediger aus dem Städtchen, welcher im Nebenamt als Anstaltsgeistlicher wirkte, daneben auch Litteraturstunden gab. An diesem Abend hatte er sich bereits durch eine kleine Ansprache unter dem Weihnachtsbaume nützlich gemacht, auch die gemeinsamen Gesänge auf dem Harmonium begleitet. Es war ein junger Mann von höflichem Wesen; Frisur und Bart zeigten einen diskret liberalen Schnitt. Dieser Gast erhob sich beim Nachtisch zu einer zweiten Ansprache, in welcher er gewissermaßen die weltliche Ergänzung zur ersten bot. Er erwähnte das Julfest der alten Germanen, schaltete einige tadelnde Worte über die Ausartungen der Weihnachtsfeier im finstern Mittelalter ein und wies auf die weltbefreiende Macht der Neuzeit hin, welche das Weihnachtsfest erst recht zum Feste der Familie gemacht habe. „Und auch wir empfinden es heute als solches, denn sind wir nicht hier alle zusammen eine große Familie, in einem Geiste der Liebe und Gastlichkeit vereinigt.“ Hier machte er eine kleine Pause, die übrigen gaben Beifallszeichen, und die Frau Direktor und Beate begannen verschämt niederblickend an ihren Gläsern zu drehen, denn der Redner war jetzt beim Geiste dieses Hauses angelangt. Er pries diesen Geist, fand ihn vornehmlich in den beiden leitenden Damen verkörpert und schloß mit einer Huldigung für „unsere verehrte, teure Frau Direktor“, die allen ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, und vor allem auch euch, liebe Schülerinnen, ein glänzendes Vorbild unermüdlicher Thätigkeit weit über das Maß der Pflicht hinaus ist!“ Dann klangen die Gläser, die Frau Direktor wischte sich mit dem Tuch über die Augen, und es war, als ob keiner den Unterschied ahnte, der darin lag, daß die Frau Direktor unermüdlich für sich thätig war, während ihre Lehrerinnen sich weit über das Maß der Pflicht hinaus bemühen sollten – gleichfalls für die Frau Direktor und für Beatens Mitgift, gegen einen Sold, der nicht viel mehr als die Hälfte des Honorars für einen ländlichen Hauslehrer betrug, nebst Anwartschaft auf ein einsames Greisenalter in irgend einem Armejungfernspital. Es schien wirklich, als ob keines von diesen bescheidenen, mehr oder minder unmodern aufgeputzten und mehr oder minder abgehetzten Wesen sich des Unterschieds auch nur heimlich bewußt zu sein wagte; und das war vielleicht der höchste Triumph für den Geist dieses Hauses.

Diesem Geiste widersprach es auch nicht, daß der Doktor Hans Mohr erst am vierten oder fünften Tage seines Besuches von den Damen auf seine Bekanntschaft mit einem früheren Mitgliede ihres Hauses angesprochen wurde. Er selber hatte diese Bekanntschaft nicht erwähnt, und als ihm endlich Fräulein Beate beim Durchblättern eines Photographiealbums – so ganz zufällig – Emiliens Bild zeigte und mit einem geheimnisvollen Lächeln fragte: „Diese Dame kennen Sie wohl schon, Herr Doktor“ – da antwortete er ziemlich ohne Erröten. „Gewiß; ich wohne bei einer Verwandten von ihr.“

„Ach ja,“ sagte die Frau Direktor mild und rückte an ihrer Brille, „nicht wahr, der Bräutigam wohnte auch in jenem Hause. Ich erinnere mich, sie war ja vier Wochen dort zu Besuche. Die arme Emilie! Sie war eben noch ganz Kind. Ich hatte es so gut mit ihr vor, vom nächsten Jahr an wollte ich ihr als Gehaltszulage eine alljährliche Prämienquittung auf unser „Lehrerinnenheim“ bewilligen. Wissen Sie, da hätte sie nach vollendetem sechzigsten Lebensjahr sorgenfrei leben können, ohne [48] daß sie selber einen Pfennig dafür eingezahlt hätte, und wenn sie vorher arbeitsunfähig wurde, schon früher. Aber sie ging hin und verheiratete sich, und noch dazu mit einem wildfremden Menschen, den sie gar nicht kannte. Ich will gewiß das beste von dem Herrn annehmen, aber ich finde, wenn man sich so nach ein paar Wochen leeren Vergnügens heiratet, ohne daß man einander im Ernste des Lebens beobachtet und auf den moralischen Wert geprüft hat – das ist geradezu unverantwortlich! Nicht wahr, das finden Sie doch auch?“

„O – – o ja. Natürlich,“ antwortete der Doktor Hans Mohr und klappte das Photographienblatt um. Es war ihm unbehaglich zu Mute, aber seine Schnurrbartenden reckten sich so männlich kühn in die Lüfte wie in seinen ehrlichen Tagen, und Fräulein Beate fand ihn gerade in diesem Augenblick doch recht vorstellbar. Jene ältliche Lehrerin aber, welche Doktor Hans Mohr bei Emiliens Hochzeit geführt hatte, war nicht mehr in der Anstalt. Ein freundliches Geschick hatte sie bei den Kindern einer früheren Schülerin auf einem thüringischen Schlosse ein Pöstchen mit lebenslänglicher Pension finden lassen, ehe sie für das „Lehrerinnenheim“ reif wurde.

Am letzten Tage seines Besuches machte Doktor Mohr noch die schätzbare Bekanntschaft eines Herrn, der die Tochter einer befreundeten Familie zur Anstalt zurückgeleitete. Es war der Chefredakteur jener großen Zeitung, für welche Mohr bereits einige populärwissenschaftliche Aufsätze und Kritiken geliefert hatte. Der Journalist freute sich, den begabten jungen Mitarbeiter auch persönlich kennenzulernen, und es traf sich glücklich, daß sie bis zur Universitätsstadt denselben Zug benutzten. Er war ein sehr angenehmer Gesellschafter von gesprächigem Wesen, und die Einblicke in das riesige Getriebe eines modernen großen Tageblattes, die er in gemütlichem Plauderton eröffnete, waren für Hans Mohr so überaus anziehend, daß er dem Fremden mit wahrem Behagen auch während dessen zweistündigem Aufenthalt auf dem Bahnhof der Musenstadt Gesellschaft leistete. Ganz beiläufig erkundigte er sich auch nach den Verhältnissen von Bardolfs Zeitung. „Ich interessiere mich dafür, weil ein Bekannter von mir, ein junger Philologe, dort vor einem Jahre etwa als Redakteur eingetreten ist,“ fügte er entschuldigend bei.

Der vornehme Journalist zog die Stirn hoch und lächelte ein wenig mitleidig. „Diese kleinen Ortszeitungen haben heutzutage einen schlimmen Stand,“ sagte er. „Sie sind ja nötig, und uns stören sie nicht, aber wir nehmen ihnen ein wenig die Luft, auch ohne daß wir es wollen. Uebrigens bedauere ich Ihren Bekannten aufrichtig, denn die Verhältnisse an jenem Blatte sind, wie ich glaube, besonders unerquicklich. Anderswo giebt es immer noch eine Anzahl von alten Lokalblättern im Besitze alter, bürgerlich und auch finanziell zum Teil sehr hochstehender Buchdruckereien, die ihre Zeitung sozusagen mehr als Familienerbstück denn als Mittel zum Zweck betrachten, bei diesen finden dann die Redakteure immerhin noch eine gewisse Möglichkeit, nach Maßgabe der Mittel geistig frei zu arbeiten – und vor allem auch eine anständige Remuneration und Behandlung. Ich erinnere mich sogar einiger Fälle dieser Art, wo der Herr Redakteur schließlich zum Schwiegersohn und Teilhaber aufrückte. Und das wäre dann freilich das beste! Denn das kann man ganz allgemein sagen: Im großen Betrieb mag man auch als Angestellter glücklich sein können, an kleinen ist man auf die Dauer nur dann etwas, wenn man mit zur Firma gehört.“ –

Hans Mohr merkte sich auch diesen Ausspruch. –

Zu Ostern des nächsten Jahres erschien sein Buch, mit einer Widmung an einen kleinen regierenden Fürsten und dem Vermerk auf dem Umschlag: „Der Reinertrag ist für den Denkmalfonds bestimmt.“ Dieser Zusatz wies auf ein weiteres Unternehmen hin, welches gleichfalls von Hans Mohr ausgegangen, ihm selbst aber von Fräulein Beate eingegeben war. „Finden Sie es nicht reizend,“ hatte sie ihn gefragt, „daß mein lieber Großvater im nächsten Jahre gerade hundert Jahr alt geworden wäre?“ Hans Mohr verstand sie ganz nach Wunsch. Einige Wochen vor Erscheinen seines Buches hielt er einen Vortrag im Städtchen, und sogleich nach diesem Vortrag bildete sich ein Ausschuß von Honoratioren, um das weitere zur Errichtung eines Denkmals für den „größten Sohn unserer Stadt“ in die Wege zu leiten. Jener kleine regierende Fürst, der als Knabe ein Jahr lang den Unterricht des berühmten Mannes genossen hatte, übernahm das Protektorat, und Doktor Hans Mohr wurde Mitglied des Ausschusses.

Sein Buch, auf dessen klingenden Ertrag er so edelmütig verzichtet hatte, brachte ihm überhaupt die aufgewandte Mühe doch alsbald mit Zinsen ein. Man wurde höheren Ortes auf ihn aufmerksam, sein Rektor verfehlte nicht, über ihn in ersichtlich gewünschtem günstigen Sinne beim Kuratorium zu berichten, was eine sehr angenehme Folge für die Besoldungsverhältnisse des jungen Mannes hatte. Eine ganze Reihe Zeitungen feierte ihn als Retter eines lange irrtümlich für reaktionär gehaltenen verdienstvollen Vorkämpfers der Geistesfreiheit und der modernen Volksbildung, und die Blätter der gegnerischen Partei thaten ihm den noch größeren Gefallen, sein Buch herunterzureißen.

Um dieselbe Zeit, aber ohne im mindesten dieselbe Beachtung zu finden, habilitierte sich der Doktor Hans Ritter als Privatdocent der Philosophie.


6.

Der Frühling und Frühsommer war vergangen, mit großer Hitze und Schwüle, auf die ein ungewöhnlich kühler regnerischer August folgte. Die vornehmen Häupter der Universität, die unterschiedlichen Geheimen Regierungs-, Justiz- und Medizinalräte waren mit ihren Familien in die Ferien gereist, um sich von Vorlesungen und Konsultationen zu erholen; und der Privatdocent Doktor Hans Ritter saß im Studierzimmer seines Chefs, des Oberbibliothekars und unbesoldeten Ehrenprofessors der Philologie, Doktor Isaak Bernstein, um von den Erfahrungen und Enttäuschungen seines ersten Semesters zu berichten.

Erstaunlich viel Bücher gab es in diesem Raume. Sie lagen auf Stühlen und Tischen, sie lagen sogar neben den Stühlen und Tischen auf dem Fußboden und reihten sich in deckenhohen Regalen ringsum längs den Wänden. Wo noch über Sofa und Schreibtisch ein Stück Wand frei von Büchern blieb, war es statt mit Bildern mit gestickten und gemalten Sprüchen in hebräischer Schrift behangen und inwendig hinter der Thür hingen zierliche, altersgebräunte Holztäfelchen mit gleicher Schrift. Denn der berühmte Philologe war Jude, von einer Strenggläubigkeit, die hier zu Lande seinen aufgeklärteren Stammesgenossen in Wissenschaft und Finanz schon fast sagenhaft erschien. Lange bevor er sich den Ruf des bewährtesten Bücherkenners und zugleich gelehrtesten Erforschers griechischer Philosophie errungen hatte, war er bereits der Stern einer rabbinatischen Hochschule weit im Osten gewesen, und aus dieser Vergangenheit hatte er sich unter anderem auch den eigenartig musikalischen Vortrag herübergerettet, eine Art psalmodirender ewiger Melodie, die sich in einem regelmäßigen Wechsel von sanftem Andante und kurzen, aufmunternden Allegri bewegte. Das Wesen des Mannes hatte schon längst Hans Ritters ganz besondere Sympathie gewonnen.

Auf dem runden Tisch vor dem Sofa stand eine Flasche süßen Weines mit zwei kleinen Krystallgläsern, und daneben ein Teller mit Rosinen, von denen der Professor Isaak Bernstein während des Gesprächs zuweilen eine naschte, meist dann, wenn er irgend eine akademische Person oder Einrichtung mit einer gewissen epigrammatischen Schärfe gekennzeichnet hatte. Es war gleichsam eine bescheiden lobende Selbstkritik.

„Nun also, Sie sind nicht unbefriedigt,“ sagte oder sang der Professor Isaak Bernstein, „und warum sollten Sie unzufrieden sein? Sie haben es gewollt, und Sie haben es nun. Ich hab’ Ihnen früher, wenn Sie davon sprachen, nicht abgeraten – ich hab’ Ihnen auch nicht zugeraten. Ich hab’ Ihnen gesagt, daß Sie hinaufsteigen wollten auf einen steilen Berg, und daß Sie hinaufsteigen wollten von der Seite, wo der Wind der Zeit am wenigsten kühlt, wo es heiß ist und einsam, denn was soll die Philosophie machen in dieser Zeit? Es ist keine Zeit für die Philosophie, diese Zeit macht alles mit Dampf, und mit Dampf macht man keine Philosophie. Nun, Gott, sie ist ja noch da, die Leute brauchen sie ein wenig fürs Examen, also hören sie ein Kolleg bei dem ordentlichen Professor, der eben fürs Jahr in der Examenskommission sitzt, – und wenn sie’s nicht hören, belegen sie’s doch, ’s ist ein barer Gewinn für den Mann, und [50] eine Freude. Aber der Privatdocent sitzt nicht in der Kommission, und er ist wie der Prophet in der Wüste. Er predigt, aber sie hören ihn nicht. – Ich hab’ Ihnen ferner gesagt; behalten Sie jedenfalls Ihr Pöstchen, bleiben Sie auch als Docent bei der Bibliothek – nun, warum nicht. Warum sollen Sie nicht als Privatdocent bei uns bleiben? Ich bin Ehrenprofessor und Bibliothekar, und wenn der Ehrenprofessor den Bibliothekar nicht hätte, könnt’ er lange suchen, wovon er auf seine alten Tage leben sollte. – Nun, Sie haben’s behalten, und man wird es Ihnen nicht nehmen aber man wird Sie auch dabei stehen lassen denn sie wollen jetzt eigene Beamten für die höheren Stellen an den Bibliotheken, und keine Docenten im Nebenamt, was sie eine Sinekure nennen. Schenken Sie sich doch, bitte, ein! – Sodann später, jetzt nach Ostern, als Sie Ihr Kolleg aufthaten, hab’ ich heimlich beiseite gestanden vor dem Auditorium Numero Zehn, ehe Sie kamen, und hab’ gesehen, wie die jungen Leute zuströmten, und sie kamen in großer Zahl und lachten, denn sie dachten, es wird vielleicht ein lustiges Kolleg, ein Sommerkolleg, wie das bei dem Herrn Geheimen Medizinalrat über die Sitten der Naturvölker, oder bei dem andern, der schon zwanzig Sommer lang über den Faust liest und noch immer nicht begriffen hat, warum der Doktor Faust das arme Gretchen nicht heiratet, und sie dachten, man muß alles ’mal versuchen vielleicht wird’s ein schöner Vortrag, ein akustischer Genuß, wie bei dem jungen Mann von der neueren Geschichte, der an gewissen Tagen im Lieutenantsrock ins Kolleg kommt, und sein Bursche trägt ihm die Mappe nach; denn warum? er ist doch Reserveoffizier, wenn er auch nicht fürs Vaterland mitgefochten hat wie Ihr Freund, der Doktor Bardolf, denn damals fehlte ihm noch ein Jahr zur Dienstpflicht, er ist ja eben erst voriges Jahr frisch aus dem Examen auf das Katheder gestiegen. – Alsdann, drei Tage drauf, hab’ ich mich wieder hingestellt, da kamen ihrer vier, und ich habe mir gesagt: er nimmt es ernst, er hat nicht gepanscht, er hat ihnen seinen Wein geschenkt rein, wie er ihm aus der Kelter kam, süß oder sauer. Und ich habe mich gefreut, obzwar ich mir’s schon gedacht hatte. – Nun bitte, trinken Sie doch! – Also, was soll man sagen, Sie haben die vier behalten, sie haben alle vier belegt, – na, drei haben sich ’s Honorar stunden lassen, der vierte hat bezahlt, zwölf Mark, abzüglich zwei Prozent an den Quästor, macht elf Mark sechsundsiebzig. ’s ist Geld, ’s ist elf Mark sechsundsiebzig mehr als ein Privatdocent der Philosophie sich von seinem ersten dreistündigen Privatkolleg versprechen kann! “

Was der Privatdocent Ritter auf diese lange Rede erwiderte, klang nicht verzagt. Er lächelte sogar ganz zufrieden, während er etwas von einem Gleichnis sagte, von einem Manne, der ausging zu säen und der Professor Isaak Bernstein lächelte auch beifällig und wiederholte die letzten Worte des Citats. „Etliches fiel auf ein gut Land, und trug Frucht. Jawohl, ’s ist ein schönes Wort, und eine trostreiche Rede und ’s ist auch ein wahres Wort, das darf ich sagen, denn ich bin ein alter Lehrer. Und so lange Sie sich an dem Wort halten und darauf bauen, werden Sie Freude haben am Lehren, und Sie werden ein Lehrer sein nach dem Herzen Gottes. – Sie haben kein Weib und keine Braut unter den Menschen, Sie haben für niemand zu sorgen, Sie haben sich mit der Wissenschaft verlobt, ich hab’s auch nicht anders. Die Leute reden viel davon, daß ich ein strenger Jud’ sei, weil ich das Gesetz halte, und weil ich nur einen Apfel und ein Glas Wasser nehme, wenn ich bei einem von den Kollegen eingeladen bin, weshalb mich auch der junge Mann von der neueren Geschichte heimlich den alten Adam genannt hat – ’s ist ein witziger junger Mann, er wird es weit bringen in der Welt! Ich bin aber ein schlechter Jude, denn ich habe keine Kinder und mein Haus wird verlöschen mit mir, weil ich allezeit nur um die Weisheit gefreit habe. Nun, der eine macht’s so, der andere macht’s so. Da ist Ihr Freund Bardolf, er hat ja auch bei mir gehört, und es ist ein guter Mensch, der hat jung gefreit und nur aus Liebe. Es freut mich, von Ihnen zu hören, daß es den beiden gut geht, obzwar er zu einem gefährlichen Geschäft gegangen ist. Da ist Ihr anderer Freund, der Kleine, der früher neben Ihnen wohnte, den Sie immer in der Mitte hatten, es sah aus, als ob Sie ihn so mitschleppten, nun, er hat sich gemacht, er wohnt jetzt feiner als Sie und kann Freude haben an seinem Buch, denn er baut ein Denkmal, und das bringt etwas ein und auf Freiersfüßen soll er auch gehen, ich habe die junge Dame neulich gesehen, er wird eine grausame Freude mit ihr erleben, wenn sie so ist wie sie aussieht! Etliche freien, etliche werden gefreit. Wenn Sie aber sonst für niemand zu sorgen haben, so freien Sie nur immer weiter an die Weisheit; denn warum? sie ist auch eine Braut.“

Es klopfte an die Thür, und ein langes schwarzäugiges Mädchen, das feuchte Regendach über den Schultern, erschien mit dem Einsatz, in welchem sie dem alten Herrn jeden Tag außer Samstags das Essen aus einer Wirtschaft in der Judengasse brachte, Samstags aber brachte es ein christlicher Hausknecht.

„Und da ist die Esther schon mit ihrem Korb,“ sagte der Professor Bernstein und erhob sich. „Wie die Zeit vergeht, man merkt es kaum an solch trübem Tage und bei einem guten Gespräch! Nun, lassen Sie sich’s wohl ergehen, lieber Herr Kollege, und den Urlaub haben Sie natürlich! Erholen Sie sich nur recht in den drei Wochen! Gehen Sie zu Fuß, ’s ist gesund!“ –

Während Hans Ritter unter seinem Regenschirm durch den feuchtkalten Nebelregen hinschritt, mußte er immerfort an die Bemerkung des alten Herrn über Bardolf denken. Er hatte den Freund seit jenem Patenbesuch im Dezember nicht wieder gesehen; ein lange und sorgfältig geplanter Besuch Emiliens mit dem Kinde zu Pfingsten war in zwölfter Stunde verhindert worden – sie waren selbst durch einen unabweisbaren Gast, eine Freundin Emiliens, überrascht worden, wie Bardolf entschuldigend schrieb.

Um so regelmäßiger unterhielt Emilie die briefliche Verbindung mit der Großmutter. Ihre Briefe atmeten stets das friedlichste Glück, ja es schien als ob ihr dieses Glück selbst die umgebende Landschaft verkläre; denn manchmal gab ihre Feder Natureindrücke wieder, welche kein einigermaßen nüchternes Auge von der flachen, kohlendunsttrüben Umgebung jener Industriestadt so leicht aufnehmen konnte. Nur zuweilen klang ein gewisser leiser Ton wehmütiger, fast gepreßter Stimmung mit durch. Frau Klämmerlein, für welche jede Nachricht vom Wohlergehen Emiliens und des Kindes ein Fest war, versicherte lächelnd, daß eine solche trauerselige Schwärmerei jeder jungen, glücklichen Frau zuweilen aufliege, und Hans Ritter glaubte es ihr willig.

Von Bardolfs Hand kam nur selten ein kurzer Gruß. Seine Zeitung schickte er nicht mehr. Ritter las sie gleichwohl fast regelmäßig, aus dem Lesezimmer der Universität, wohin jede in der Provinz erscheinende Zeitung ein Pflichtexemplar zu liefern hat, aber nur selten vermochte er noch aus irgend einem Beitrag die Hand des Freundes zu erkennen, dessen Name als der des verantwortlichen Redakteurs den Kopf des Blattes zierte. Bis auf den lokalen Teil konnte das Blatt ebensogut in sechzig anderen Orten erschienen sein, allerdings war dieser Teil sehr umfangreich, vornehmlich durch Berichte über Versammlungen und andere Nachrichten von dem Parteikriege, der hier, innerhalb der Mauern einer Stadt, noch viel persönlichere und gehässigere Formen annahm als in den mehr akademischen, grundsätzlichen Auseinandersetzungen der Parlamentsredner und großen Zeitungen. Für Hans Ritter war das alles überaus widerwärtig, und es schmerzte ihn, Bardolf dauernd in diese Verhältnisse gebannt zu sehen. Die Bemerkung des Professors Bernstein über das „gefährliche Geschäft“ war ihm aus der Seele gesprochen. Aber er versuchte sich immer wieder zu überreden, daß seine Empfindung in diesem Falle zu gutem Teile gelehrtes Vorurteil sei und daß selbst eine anfangs unbequeme Stellung keinen zu hohen Preis für ein häusliches Glück darstelle, wie es Bardolf und Emilie genossen. Das Anfangsgehalt, welches ihm Bardolf vor Antritt der Stelle angegeben, war immerhin noch einige hundert Mark höher als das, welches ihre zugleich mit Bardolf in den Schuldienst eingetretenen Studiengenossen jetzt im Durchschnitt erreicht hatten, ja noch um eine weitere Summe höher als sein eigenes Bibliothekarsgehalt, und inzwischen mußte Bardolf doch auch wohl gestiegen sein. Die Hauptsache blieb, daß die beiden miteinander glücklich waren – –

In seine Gedanken vertieft, war Hans Ritter, ohne es zu merken, an dem Speisehaus vorbeigegangen, dem gewohnten Heimwege nach. Als er um die Ecke bog, hörte er von einer [51] bekannten Stimme seinen Namen nennen. Er blickte auf und sah Bardolf vor sich stehen.

Wie ein fröhlicher Wanderer sah der Redakteur nicht aus. Sein Hut war zerknittert und regennaß, sein Sommerüberzieher – Hans Ritter kannte ihn noch von den Zeiten des Hansebundes her – abgetragen und verschossen. Das Gesicht war eingefallen, und es ging ein Duft von ihm aus nach schlechten, im Regen gerauchten Cigarre und stärkeren Sachen.

„Das ist ein schlechtes Reisewetter,“ sagte er mit einem gezwungenen Lachen, „zumal wenn man mit dem Bummelzug fährt. Ich bin vor einer Stunde angekommen und habe hier auf dich gewartet.“

„Vor einer Stunde!“ wiederholte Hans Ritter betroffen. „Aber Mensch, warum hast du dich denn nicht wenigstens in die Wirtschaft gesetzt?“

„Hm,“ machte Bardolf verlegen, „ich mochte da nicht gerne mit Mohr zusammentreffen – weißt du, ich wollte etwas mit dir besprechen, und –“

„Mohr ißt nicht mehr mit mir zusammen,“ antwortete Ritter. „Du erinnerst dich wohl, daß er im Mai verzogen ist, Frau Klämmerlein hat es euch doch geschrieben? Seitdem speist er auch anderswo, mit ein paar älteren Kollegen von sich. Er ist ja neuerdings bedeutend gestiegen. Also komm nur mit und iß vor allen Dingen etwas, du siehst ja zum Erbarmen aus! Es ist doch nichts mit – mit deiner Frau und dem Kinde vorgefallen?“

Sie waren unterdes im Speisehause angelangt. Der Saal war jetzt, während der Studentenferien, fast ganz leer. Sie setzten sich an ein Ecktischchen. Der Kellner brachte Bier, Bardolf leerte sein Glas auf einen Zug.

„Ach,“ sagte er aufseufzend, „das thut gut! Scheußlicher Durst! – Nein, vorgefallen ist eigentlich nichts. Es ist gottlob jetzt alles wieder wohl. Aber es war eine schwere Zeit. Na, ich muß es dir denn wohl erzählen. Laß nur so lange noch den Kerl mit der Suppe wegbleiben.“

Und nun erzählte er mit gedämpfter Stimme von Emiliens Leiden. Im Frühjahr hatte es angefangen – „nur so eine Erkältung,“ meinte sie. Dann war es immer schlimmer geworden. Der Arzt hatte darauf bestanden, daß sie wenigstens auf ein paar Monate aus der Stadt müsse, in einen ländlichen Kurort. Von dort her hatte sie ihre Briefe für die Großmutter geschrieben und durch Bardolf aus der Stadt abschicken lassen. Sie wollte es so, damit die alte Frau sich nicht unnütz beunruhigte.

Nun verstand Haus Ritter auch die Stellen, die ihm in diesen Briefen aufgefallen waren.

„Ja, das kannst du mir glauben,“ sagte Bardolf, „nie zuvor habe ich diesen Engel so kennengelernt wie während ihres Leidens, und ich glaubte doch, ihr liebes, tapferes Herz zu kennen! Nun, wie gesagt, die Kur hat geholfen, der Arzt sagt es ganz bestimmt, natürlich in acht nehmen muß sie sich noch immer. Aber nun kommt das gemeinste! Du kannst dir denken, daß das Geld gekostet hat, sie hatte ja auch das Kind und das Mädchen mit, ich habe derweil als Junggeselle gelebt. Sieh mal, Ritter, ich will mich nicht besser machen als ich bin, aber ich habe mich eingeschränkt, soviel ich konnte, doch was hilft das alles? Es ist so manches unbezahlt geblieben, weil sie doch immer voran gehen muß, und nun kommen die Leute und mahnen – ich weiß mir keinen Rat mehr! Ich habe sie darüber zu täuschen gesucht, solange sie fort war, aber jetzt geht das ja nicht mehr, sie nimmt doch selbst die Mahnbriefe an, während ich auf meinem Bureau bin, und muß sich mit den Leuten herumärgern, wie kann sie da gesund bleiben? Wir haben vertröstet und uns abgemüht, aber wir wissen nicht, woher wir’s nehmen sollen und nun …“ er stockte eine Weile und flüsterte dann mit gesenktem Blick. „seit vorgestern kleben die blauen Siegel an ihrem Klavier … Sieh ’mal, Ritter, ich will dir’s gestehen, damals, als ich mich verlobte, habe ich einen Augenblick gedacht, dich um die Aussteuer anzupumpen. Aber ich sagte mir, das wäre lumpig. Für unser Glück durfte ich dich nicht berauben, und sie hätte es auch nicht gelitten, wir hätten eben warten müssen, wer weiß wie lange, wenn die Großmutter nicht auf deine Verwendung mit ihrem Spargroschen herausgerückt wäre. Den durfte wir nehmen, Emilie hätte es ja doch geerbt. Aber nun – willst du mir aus dem Elend helfen? – Es kommt dir ungelegen, das sehe ich, Emilie wollte es auch nicht zugeben, aber ich weiß sonst keinen Menschen. Wenn du nicht willst oder –“

„Das ist es nicht,“ sagte Hans Ritter. Er sah sehr blaß aus, und seine Stimme klang, wie es ihm in großer Erregung eigen war, heiser. „Was ich kann, das thue ich. Dazu bedarf es ja gar keiner Rede! Aber weißt du, ich … ich habe in diesem Jahre etwas sehr aushausig gelebt … und … wie viel macht es denn alles in allem? Ich meine, damit alles gedeckt wird?“

Bardolf zögerte einige Augenblicke. „Du wirst erschrecken“ sagte er, „aber … ich habe gestern mit Emilie einen genauen Ueberschlag gemacht … es sind an die neunhundert Mark!“

Ritter stieß einen großen Seufzer der Erleichterung aus. „Das kann ich noch,“ sagte er. „Wir wollen es abrunden auf tausend. Aber ich kann sie dir erst morgen mitgeben. – Du bleibst doch hier? – Aber um Gottes willen, rege dich doch nicht so auf!“

Die Mahnung war begründet, denn der Kellner starrte bereits von fern mit offenem Munde her. Er hatte wohl noch nicht oft einen starken bärtigen Mann in einem Atem lachen und schluchzen gesehen.

Aber das Kindergemüt dieses Mannes war wie ein Gummiball. Sobald es sich von der pressenden Last befreit fühlte, dehnte es sich wieder rund und fröhlich empor. Auf dem Wege zur Post, wohin sie sogleich gingen, um an Frau Emilie zu telegraphieren, erörterte er noch sehr ernsthaft die Bedingungen und war untröstlich, daß sich Ritter weigerte, vier Prozent Zinsen zu nehmen, wenigstens in die Ausstellung eines Schuldscheins mußte Ritter zuletzt einwilligen. Aus dem Rückwege erzählte er bereits lustige Geschichten und schilderte die Verhältnisse seiner Redaktionsstellung jetzt ganz offen, mit einem gewissen Galgenhumor. „Uebrigens gedenke ich in einem halben Jahre von der Gesellschaft los zu sein,“ sagte er. „Ich trete gewissermaßen wieder in den Schuldienst zurück, es hat sich mir da eine glänzende Gelegenheit geboten. Ich habe in dem Kurort einen Hauptmann außer Dienst wiedergetroffen – Kriegskamerad von Anno Siebzig, weißt du, der spätestens zu Ostern gerade in unserer Stadt einen großartigen Auftakt zur wissenschaftlichen Vorbildung für den Offiziersdienst eröffnen will. Im Prinzip bin ich schon einig mit ihm. Das Fixum wird allein so viel betragen wie mein jetziges Gehalt, und dann bietet sich da natürlich noch eine Menge Gelegenheit zu Privatstunden!“

Nachher, bei Frau Klämmerlein, war er unerschöpflich in heiteren Geschichten von seiner Kleinen, die alte Dame segnete den Zufall, der den Gatten ihrer Enkelin so unvermutet in journalistischen Geschäften – wie er sagte – hierher geführt hatte. Am Abend freundete er sich mit dem jungen Arzte an, der jetzt das von Mohr verlassene „Lübeck“ beherrschte, und es wurde ein kleines Hausfest, in welchem noch einmal etwas von dem Geiste der alten „Hansetage“ aufzuleben schien. Denn er war einer von jenen Kindermenschen, die, so lange es ihnen halbwegs gut geht, auf alle guten Leute unbezwinglich heiter anregend wirken.

Doktor Hans Mohr gehörte nicht mehr zu diesen guten Leuten. Er hatte sich am Abend nach dem Häuschen der Frau Klämmerlein aufgemacht, um doch ehrenhalber wieder einmal vorzusprechen, auch wollte er Hans Ritter wegen eines philosophischen Werkes um Rat angehen, welches er zu besprechen übernommen hatte, ohne es zu verstehen. Da hörte er Bardolfs Stimme und sah den hohen Schatten hinter der weißen Gardine. Leise wandte er sich um und verließ den Garten wieder. Denn Fräulein Beate weilte seit kurzem wieder in der Universitätsstadt, und er kannte sie jetzt genau genug, um zu wissen, daß sie Emilies Gatten ebenso haßte wie Emilie selbst und den Umgang mit ihm nicht als empfehlend ansehen würde. Und dann schämte er sich doch auch ein wenig.

[61]
7.

Gretel saß in ihrem Bettchen und spielte ungeschickt mit dem bunten Wollschäfchen, das ihr der kleine Karl von Seedorf, des Herrn Hauptmanns achtjähriger Sohn, gestern mitgebracht hatte. Sie freute sich, wie die weichen farbigen Fäden in dem blassen Frühlingssonnenschein glitzerten. Daß vor drei Tagen die reichste Sonne der Liebe, die uns armen Menschen auf dieser Erde leuchtet, für sie erloschen war, davon verstand sie noch nichts. Nur zuweilen mischte sich ein verlangendes Wort in ihr kindisches Geplauder – „Mama!“, und sie sah mit großen blauen Augen fragend auf die beiden schwarzgekleideten Frauen, die vor ihrem Bettchen saßen. Es war ein Erinnern, ein flüchtiges Empfinden in ihrer jungen Seele, als ob es doch nicht in Ordnung sei, daß Luise sie nicht mehr wie früher hinüber brachte zu der schönen weißen Mama, die so still in ihrem weißen Bette lag, die ihr so weich über die Löckchen streichelte und so sanft und leise zu ihr sprach. Aber dann ließ die gute Luise das bunte Schäfchen ein paarmal auf der Decke springen, und die Erinnerung verflog wieder vor dem neuen, unerhört reizvollen Schauspiel. Und so spielte sie sich in den Schlaf.

Das Mädchen stand auf und ging mit leisen Schritten ab und zu, Unwesentliches besorgend, um nur nicht immer so unthätig sitzen zu müssen neben der seltsamen greisen Frau, die ihren Rosenkranz zwischen den Fingern rinnen ließ und dazu aus großen, thränenlosen Augen in die Ferne starrte. „Man sollte meinen, sie wäre schon über allen Schmerz hinaus,“ dachte das Mädchen. Und Frau Margarete Klämmerlein nickte, als hätte sie einen unausgesprochenen Gedanken erraten. Ihr Schmerz war nicht wie der der andere, denn er war ihr ja nichts Neues mehr. Sie hatte das alles schon einmal erlebt, o, nicht einmal! viel hundert. und tausendmal, in schlaflosen Nächten und am achten Tage, wenn sie längs ihrer Gartenmauer wandelte und die bunten Kressenblüten zu zählen schien Da hatte sie am Sterbelager ihrer einzigen Tochter gesessen, sie hatte ihr zum letztenmal das Kindchen gereicht und ihr letztes Atmen belauscht, bis es ganz still stand. Den herbsten, heiligsten Schmerzensdienst, den ein Mutterherz vollbringen mag, hatte sie so viel Jahre lang alltäglich im Geiste neu verrichtet, weil sie sich ihm das eine Mal, wo sie ihn wirklich erfüllen sollte, versagt hatte. Nun war er gleichsam zum zweitenmal an sie herangetreten, als sie vor drei Wochen von der Krankheit ihrer Enkelin erfuhr und sie beim ersten Wiedersehen als unheilbar erkannte, und diesmal hatte sie dem Dienste nicht gefehlt. Sie war ein ungelehrtes Weib und verstand es nicht, ihre Empfindungen verstandesmäßig zu [62] zergliedern, aber unbewußt empfand sie auf dem Grunde ihres Jammers eine dumpfe Genugthuung. Zeiten und Personen verwirrten sich ihr, und wie sie jetzt scheinbar bis zur Teilnahmlosigkeit erschöpft vor dem Bettchen Gretels saß, war es ihr, als sei dies Kind, dessen Schlummer sie bewachte, ihre Enkelin, und jene, deren Augen sie vor drei Tagen zugedrückt, sei ihre Tochter gewesen.

Unterdes nun stand draußen auf dem großen Friedhof eine Schar dunkelgekleideter Männer entblößten Hauptes einen gelben Sarg und eine offene Gruft. Die Frühlingssonne glitzerte so fröhlich in den Beschlägen des Sarges wie daheim auf den Messingknäufen an Gretels Bettchen. Es roch nach Veilchen und frischem Grün, an den Birken schimmerten schon Blütenkätzchen, und als der Prediger seinen Segen gesprochen und die ersten Erdbrocken dem Sarge nachkollerten, strich eine Amsel vom Zweige ab und flog mit hellwerbendem Ruf über die Gräber hin.

Nun hatten die Freunde und Nachbarn längst jeder seine drei Schollen Erde ins Grab geworfen aber noch zögerten die Arbeiter, das traurige Werk zu vollenden, sie blickten unschlüssig nach dem Leichengefolge, das einige Schritte abseits harrte, und dann wieder auf den Witwer, der noch immer am Grabe kniete und, die Hände vor den Augen, herzbrechend schluchzte. Als er sich endlich auf das leise Zureden des Doktor Ritter erhob und wankend am Arme des Freundes davonschritt, öffneten sich die Reihen der Leidtragenden wie auf ein heimliches Kommando zu einer Gasse und schlossen sich hinter den beiden wieder paarweise. Es sah aus, als wollten sie den Ueberlebenden geleiten wie zuvor die Tote, anders als bei manchem recht vornehmen Begräbnis, wo die Menge unverzüglich nach Erledigung der Sache so eilfertig und anteillos auseinanderläuft wie aus der Börse oder aus dem Theater. Das wenigstens ist ein unbestreitbares Vorrecht der Armen, daß sie aus ihrem letzten Gange in angenehmer Gesellschaft bleiben; es geht keiner mit ihnen, der nicht gut Freund ist und es redlich mit ihnen meint. Und es gab viele, die es redlich mit Hans Bardolf und seinem Weibe meinten, aber freilich hatten sie beide es nie gelernt, ihre Liebe und Freundlichkeit nach dem Beutel zu verteilen, und es gab unter all den Männern im schwarzen Rock vielleicht keinen, den ein Finanzminister mit reiner Freude angeschaut hätte.

Zwei sehr ungleiche Paare machten den Schluß: ein Setzer und ein Drucker aus der Zeitungsdruckerei, deren geistiges Futter Hans Bardolf bis vor acht Tagen zurechtgeschnitten hatte und hinter diesen neben dem jungen Hausarzte der neue Chef Hans Bardolfs, der Hauptmann Wunibald von Seedorf, mit dem Eisernen Kreuz an dem Uniformrock. Die beiden Arbeiter hatten einen großen Kranz auf den Sarg niedergelegt, mit einem mächtigen Seidenband, auf dem einen Zipfel stand ‚Ruhe sanft‘ und auf dem anderen. „Die Setzer und Drucker der A.-G. Städtischer Anzeiger“. Der Drucker war ein großer starker Mann mit einem graubärtigen Gesicht von etwas schläfrigem Ausdruck, sein Begleiter war noch ziemlich jung, schmächtig und blaß, er sah nachdenklich aus und trug eine große grellrote Krawatte.

„Weißt du, Kiehnike,“ sagte der Drucker langsam, „inwendig magst du so rot sein wie es dir paßt, aber zu dem Fall konntest du deine Gurgel auch ’mal schwarz gehen lassen!“

„Det verstehste nich, Müller,“ erwiderte der Setzer ruhig. „Partei is Partei, die rote Binde is gewissermaßen mein Feldgeschrei, un dat darf ick mir nich rauben lassen. un ick hab’ och keine andere. Un warum och nich? So’n armer Studierter wie unser guter Doktor da vorn is ja och man nur en Proletarier, un es is sein Schade, wenn er sich für die Protzen abrackert, statt zu der Partei zu kommen.“

„Na“, meinte der Drucker, „jetzt ist er ja auch fertig mit ihnen! Dem Herrn Assessor soll er nett die Wahrheit gesagt haben! Die können lang’ warten, die Blauen, bis sie so einen wieder kriegen.“

„Jawohl,“ versetzte der Jüngere, „un det freut dich, weil du schwarz bist un dich mit’n Himmel vertrösten läßt. Na, du wirst och noch klug werden.“

Der Hauptmann war bis dahin schweigend neben seinem Begleiter hergegangen, nach einem passenden Zuspruch suchend, denn er hatte das Gefühl, als ob ein Arzt beim Begräbnisse eines seiner Patienten einigen Trostes wohl bedürfe. Aber da er selber durch das Unglück Bardolfs herzlich betrübt war, fiel ihm nichts Rechtes ein. Schließlich, als sie schon nahe am Thore waren, blickte er noch einmal zurück über den stillen, mit schönen Baumgruppen und Rasenstreifen bestellten Raum und sagte: „Wissen Sie, mein verehrter Herr Doktor, eigentlich ist der Friedhof hier doch die einzige halbwegs auflandige Lokalität in diesem gottverlassenen Heiden- und Kohlennest!“

Er war kein unkluger Mensch, der Hauptmann von Seedorf, und wenn ihm das geschäftliche Mißgeschick bisher mit so bedauerlicher Treue gefolgt war, so lag das nur daran, daß er so ganz einseitig für den Frontdienst begabt und erzogen war und gar nicht für den Verdienst. In den sechs Jahren seiner Invalidität hatte er ungefähr ebensoviel „Lebensstellungen“ erledigt: er war in jede mit einer unbestimmten, aber starken Hoffnung eingetreten, daß sie ihn in stand setzen werde, seinem Sohne einige Rittergüter zu hinterlassen, und beim Abschied von jeder war er versucht, zu sprechen wie König Franz nach der Schlacht bei Pavia: „Tout est perdu“ – „Alles verloren“; aber jedesmal hätte er auch hinzusetzen können wie der ritterliche König: „fors l’honneur!“ – „außer der Ehre!“ Bei alledem hatte er seinen mutterlosen Knaben frisch und brav erzogen, wenn auch nach seiner Weise, und wenigstens etwas hatte Zinsen unter seinen Händen getragen. das mütterliche Vermögen des Knaben, denn es war nicht in den väterlichen Unternehmungen angelegt, sondern in guten preußischen Staatspapieren, und der Hauptmann von Seedorf hätte eher Steine geklopft als diese Papiere angetastet. So schlimm war es zum Glück noch nie gegangen. die Pension war noch immer unverpfändet, selbst für die Erziehung Karls hatte das Erbe seiner Mutter noch mit keinem Pfennig herhalten müssen, und eben jetzt war der Hauptmann wieder einmal fest überzeugt, mit seinem pädagogischen Plane die goldführende Ader endlich getroffen zu haben.

Die vorläufige Einrichtung hatte allerdings die paar tausend Mark, die ihm von seiner letzten Erbtante Ende des Sommers zugefallen waren, so ziemlich verschluckt, und die Jahresmiete für das große altfränkische Haus in der Vorstadt mit dem weitläufigen, schlecht gepflegten Garten dahinter war eigentlich etwas höher, als er sich’s veranschlagt hatte, aber dafür hatte man eben auch Platz, und den braucht man für eine Anstalt, die sich naturgemäß erweitern und zu einer ordentlichen kleinen Kriegsakademie auswachsen will. Da war unter anderem vorn im Hausflur rechts das Sprechzimmer des Herrn Hauptmanns mit der Aufschrift. „Direktion“, und gegenüber für Doktor Hans Bardolf die „Subdirektion“; das Klassenzimmer im Erdgeschoß und der Speisesaal im oberen Stock – die Küche lag etwas weit ab, im Souterrain – waren von einer Größe und Ausstattung, als sollte sich das ganze künftige Offizierscorps eines Regiments hier ausbilden und satt essen, und die Haushälterin des Herrn Hauptmanns hatte eine großartige „neue Garnitur“ erhalten und sah sich von einem ganzen kleinen Stabe weiblicher Adjutanten umgeben. Selbst Hans Ritter wußte nichts einzuwenden, als ihm der Hauptmann zum Schlusse ihres Rundganges durch die Anstalt erklärte. „Sehen Sie, es ist alles fix. und fertig, militärisch adrett, und wenn uns jetzt zu Ostern die Schüler gleich dutzendweise überfallen sollten, wir sind auf alles gerüstet.

Es war eine unüberwindliche Eigenheit Hans Ritters, daß er es nicht übers Herz brachte, erwachsenen Männern seine Bedenken gegen ihre Unternehmungen unaufgefordert auszusprechen. Er war allzu geneigt, eher an seiner Einsicht in fremde Verhältnisse als an der Sachkenntnis derer zu zweifeln, die er achtete, und der Hauptmann von Seedorf hatte sich seine Achtung sehr schnell gewonnen, weil er in ihm einen Ehrenmann erkannte, der es einmal wirklich gut mit Hans Bardolf vorhatte. So fiel es dem Hauptmann auch nicht allzu schwer, ihn von der Ansicht abzubringen, daß es am besten für Bardolf sei, einstweilen die bisherige Wohnung aufzugeben und Gretel mit dem Mädchen zur Urgroßmutter ziehen zu lassen. „Glauben Sie mir, es thut nicht gut,“ sagte der Hauptmann. „Es mag ja sein, daß es dem armen Kerl jetzt fürs erste hölleneinsam in der verwaisten Wohnung seines Glückes vorkommt, aber nehmen Sie so einem unglücklichen Witwer auch noch die Stätte und das Pfand seiner verlorenen Liebe weg, dann ist er erst recht einsam, und dann stehe ich auch nicht für den besten ein. Ich kann da aus Erfahrung sprechen. Als mich das damals so hintereinander traf, erst invalid und dann ein halbes Jahr danach Witwer – na, wenn ich da nicht den Jungen alle Tage [63] vor Augen gehabt und manchmal ein bißchen Kindermädchen gespielt hätte, dann stände ich jetzt vielleicht nicht mehr ganz so lebend vor Ihnen. Lassen Sie also die Familie nur hübsch beieinander, das Kind wird ihm besser thun als alle Trostpredigten, die man sich halten lassen kann und die man sich selber hält! Herrje, mir thät’s ja selber leid, wenn ich das niedliche Krabbelchen mit seinem rotgoldigen Lockenköpfchen nicht mehr zu sehen bekäme! Ist doch mein Junge schon mit seinen siebeneinhalb Jahren ordentlich verliebt in diese fünfzehnmonatige Dulcinea! Na, das hat er von mir, ich hab’ allezeit die kleinen Wickelpuppen gern gemocht, und wenn ich’s vorher nicht gethan hätte, würde ich’s im Kriege gelernt haben, denn, mein verehrter Herr Doktor, das kann ich Sie versichern, wenn man so im Schnee gelegen hat und nachher verwundet im Lazarett liegt, und dabei immerfort denken muß. was macht das Kind zu Hause, kann es wohl schon ‚Vater!‘ sagen und wirst du es auf dieser Erde jemals von ihm hören – da hat man hinterher ein Herz für jedes Kleine, das sich noch seiner gesunden zwei Eltern erfreut – und für die anderen erst recht! – Also wie gesagt, lassen Sie das bleiben und reden Sie auch der würdigen alten Dame zu, daß sie ihm den Kopf nicht heiß macht!“

Es fiel nicht schwer, Frau Klämmerlein von ihrem Wunsche abzubringen, als ihr auch Hans Ritter zuredete, denn dieser nach Ansicht der meisten seiner Kollegen so völlig unpraktische Mensch war für die alte Dame längst das unfehlbare Orakel in allen wichtigen Fragen geworden. Somit reisten die beiden ohne das Kind ab und Haus Bardolf fand sich zum erstenmal allein in den engen Zimmern, die ihm jetzt so weit und öde, so trostlos öde und kalt vorkamen. Luise hatte ihm Speise und Trank hingesetzt, er rührte es nicht an und saß still, ganz starr immer auf den einen leeren Stuhl an der anderen Seite des Tisches hinschauend. Da weckte ihn ein helles Kinderlachen im Nebenzimmer auf. Die kleine Gretel war wieder wach und spielte im Dunklen mit ihrem Wollschäfchen, das neue Spielzeug ließ sie nicht ruhig schlafen.

„Sie versteht es noch nicht; sie ist noch so klein“, sagte die gute Luise schüchtern und wandte sich ab, um zu weinen.

Ja, sie versteht es noch nicht. Erst später, allmählich wird sie von anderen erfahren was sie besaß und so früh verlor. Aber ganz verstehen wird sie es erst noch viel später, wenn sie ihre eigenen Kinder heranwachsen sieht und sich freut, für sie sorgen zu können! Alsdann wird sie erkennen, wie viel ärmer sie war als ihre Kinder – und sie wird sie um so inniger lieben.


8.

Der Tag, der den glücklichen Doktor Hans Mohr zum Gatten von Fräulein Beate und zum Mitleiter der Musteranstalt für Töchter der gebildeten und besitzenden Kreise machte, fiel genau drei Jahre nach jenem Tage, an dem sich das morsche geistige Band des Hansebundes vor der Erscheinung eines jungen schlanken Mädchens mit blonden Flechten und in hellen Kleidern sacht und still gelöst hatte. In diesen drei Jahren war Hans Mohr recht weit gekommen, und er hatte gewiß allen Grund, zuversichtlich auszusehen, während er am offenen Fenster des Gasthofs die weißen Handschuhe vorsichtig anzog und drunten auf dem Markte die Augustsonne fröhlich auf seinem Denkmal glitzerte.

Es war ein ganz ansehnliches Denkmal. Die Bronzebüste des berühmten Volkserziehers wurde von allen alten Leuten des Städtchens für sprechend ähnlich erklärt, und nur ein Teil der weiblichen Einwohnerschaft fand die Toilette der Idealfiguren etwas mangelhaft, die nach bewährtem Brauche den Sockel auf den drei inschriftfreien Seiten belebten. links die Pädagogik, rechts die Philanthropie und hinten, mit dem Gesicht nach dem Spritzenhäuschen der Stadt, die Aufklärung, alle drei in ärmellosen langen Frauenhemden, die aber auf der Schulter mit einer Fibula geschlossen und überaus zerknüllt waren, also antik. Dem Gesicht nach war es dreimal dieselbe Dame, aber sie hatten jede ihr Symbol bei sich, die Pädagogik erklärte einem artigen Kinde das Abc, die Philanthropie drückte ein zerlumptes Kind an sich und die Aufklärung hatte gar kein Kind, sondern eine Fackel und einen Heiligenschein, so daß nur ein ganz unkundiger Mensch die drei miteinander verwechseln konnte, übrigens hatte Doktor Mohr die Bedeutung einer jeden in seiner Festrede bei Enthüllung des Denkmals gründlich angegeben und erklärt. Und am Abend jenes weihevollen Tages, der sehr passend in den wunderschönen Monat Mai fiel, hatte man auf dem Festkommers auch Hans den Festredner und Fräulein Beate als eben verlobtes Paar ausgerufen und gefeiert. Die Frau Direktor hatte bis dahin noch im stillen gewünscht, die Entscheidung ein wenig weiter hinauszuziehen; aber auch Fräulein Beate hatte ihre Frühlingsempfindungen, und so hatte sie den Freund mit Hilfe ihrer Festtoilette auf eigene Faust zur Erklärung veranlaßt und ihn mit sich verlobt, eine halbe Stunde nach der Enthüllung der großväterlichen Büste. Dagegen hatte nun wieder die Frau Direktor durchgesetzt, daß die Hochzeit in die Ferien verlegt wurde, weil sich sonst durch Bewirtung der Schülerinnen und der Lehrpersonen die Kosten erheblich und unnötig erhöht haben würden.

Eine sehr modern und vornehm ausgestattete Karte im offenen Umschlag setzte Doktor Hans Ritter von der vollzogenen Vermählung in Kenntnis. Es ist zu hoffen, daß er nicht mehr erwartete, jedenfalls warf er die „Drucksache“ nach einer halben Minute nachdenklichen Betrachtens beiseite, um sich wieder einer anderen Postsendung zuzuwenden, die er eine Viertelstunde zuvor durch den Geldbriefträger erhalten hatte. Diese so ungleich erfreulichere Sendung aber hatte er im Grunde nur seiner manchmal bis an Unordnung streifenden Zerstreutheit zu verdanken. Denn als er – ungefähr zur Zeit von Fräulein Beatens Verlobung – endlich den ersten Band Manuskript von seiner „Kritischen Würdigung etc.“ dem Professor Isaak Bernstein zur freundschaftlichem Begutachtung überreicht hatte, war er sehr erstaunt, als ihm der Professor acht Tage darauf einen Teil des Manuskripts zurückbrachte und sagte. „Nun, ich hab’ Ihr Buch noch nicht ganz durch, lieber Kollege, was ich gelesen hab’, hat mir Freude gemacht, ’s ist ein gelehrtes Buch, ’s ist ein gründliches Buch, und ’s ist gar nicht geschrieben, wie ein deutscher Philosoph sonst schreibt, man kann’s beim ersten Lesen verstehen, wenn man Herz hat, denn es steckt viel Herz drin! Wenn ’s Buch herauskommt, werden die Philosophen sagen: er schreibt wie ein Dichter, er ist noch zu jung, und die Journalisten werden sagen. Gott, es wär’ was geworden, wenn er nur nicht so gelehrt wär’. Nun, lassen Sie sie sprechen, lassen Sie sie kritisieren, denn dazu sind sie da! – Aber das hier, das hab’ ich heute gelesen, es gehört nicht hinein, und es ist auch nicht vollständig, wenn Sie das Ende dazu finden können, so geben Sie’s mir, und wenn Sie noch mehr von der Art haben, so möcht’ ich recht schön bitten, geben Sie’s mir auch, denn warum? ’s ist nicht schlecht, ’s ist gut, und es interessiert mich.“

Daraufhin hatte Hans Ritter dem alten Herrn denn wohl schließlich seine Novellenversuche und einiges in Versen anvertrauen müssen, der alte Herr hatte sie gelesen, sehr verständig und eingehend mit ihm besprochen, und zuletzt hatte er zwei Erzählungen ausgesondert, die er für druckreif erklärte – „und Sie werden sie loswerden; denn warum? ’s ist Wein, guter Wein, und von einer Sorte, wie sie jedermann gern trinkt. Schicken Sie sie ein! Nun, warum wollen Sie sie nicht einschicken. Weil Sie nicht wissen, wie man’s macht? Nun man giebt sie eben auf die Post, mit einem kleinen Briefchen, ’s kommt an. – Wissen Sie was?“ fügte er nach einigem Zögern bei, während er sich beiseite wandte und irgend etwas zwischen den Bücherregalen zu suchen schien – „schicken Sie sie an den Herausgeber der ‚Iris‘, Herrn Doktor Julius Alexander Stein, er wird’s nehmen, denn er kennt seine Leute. – Aber Sie dürfen ihm nicht sagen, daß ich Sie an ihn gewiesen habe.“

Das hatte Hans Ritter versprochen und war dann schnell zu einer anderen Frage übergegangen, denn er hatte die Verlegenheit des Professors bemerkt und kannte ihren traurigen Grund. Der Doktor Julius Alexander Stein war der jüngere Bruder des Professors Isaak Bernstein, und er hatte sich taufen lassen. Seitdem war er für den strenggläubigen Bruder tot. Isaak Bernstein sprach nicht übel von seinem Bruder – er mied es überhaupt, von ihm zu sprechen, er schrieb nicht an ihn und nahm keine Briefe von ihm an; und es war ein unwidersprochenes Gerücht, daß irgendwo auf einem jüdischen Friedhof weit hinten im Osten ein offenes Grab sei mit einem namenlosen Leichenstein davor, angelegt im Auftrag Isaak Bernsteins – das „wartende [64] Grab“, das den wahrhaft Gläubigen verkündet, daß Einer aus dem Hause dessen, der es errichtet, abgefallen vom Glauben und geistig gestorben ist für das Volk des Herrn.

Nach einigem Bedenken hatte Hans Ritter das Manuskript wirklich an den Doktor Julius Alexander Stein abgesandt, er hatte sich gelobt, nun weiter nicht daran zu denken, und wie jeder junge Autor hatte er unablässig daran gedacht, mit einer Spannung, die erst nach Ablauf der vierten Wartewoche allmählich in eine dumpfe Ergebenheit überging. Und nun, da die Ergebenheit schon längst zur Gewißheit des Mißgeschicks geworden war, hatte ihm dieser reizende Geldbriefträger heute die Antwort gebracht. „Mit Vergnügen acceptiert … Honorar beiliegend … weiteren Anerbieten stets mit Interesse entgegen sehend. etc.“ Das Honorar betrug den dritten Teil seines Jahresgehalts von der Bibliothek aber das war es ja nicht allein, es war vor allem sein erstes Honorar, und nur wer einmal ein erstes Honorar empfangen hat, wird ermessen können, mit welchem inneren Beben Hans Ritter diese blauen Scheine befühlte und betrachtete – als ob sie von Rafael persönlich gemalt und ihm gewidmet wären! In dieser Stimmung hätte ihn selbst eine schriftliche Liebeserklärung von Fräulein Beate nicht zu erschüttern vermocht, wie viel weniger die gedruckte Anzeige von ihrer Vermählung!

An den Doktor Hans Bardolf gelangte nicht einmal eine solche gedruckte Karte, und das lag daran, daß sich Hans Mohr verrechnet hatte, als er mit Beate und ihrer Mutter zusammen zwei Tage vor der Hochzeit die Liste der Adressaten anstellte. „Hier, dies sind die Bekannten, denen ich die Anzeige schicken muß“, sagte er, „es sind zweiundfünfzig, bitte, mein Engel, willst du nicht einmal nachzählen?“ Der Engel nahm die Liste und zählte sehr sorgfältig, mit dem Bleistift in der Hand, dann sagte er mit einem reizenden Lächeln. „Du hast Dich verzählt, liebster Hans, es sind nur einundfünfzig“. Der liebste Hans sah noch einmal nach, und da war ein Name ganz fein mit einem spitzen, harten Bleistift durchgestrichen. „Ach ja,“ sagte er, „ich habe mich verzählt. Es sind wirklich nur einundfünfzig.“

So erfuhr der Doktor Hans Bardolf die große Neuigkeit erst einige Tage später, in der Nachschrift zu einem Briefe Hans Ritters, den ihm die kleine Grete sehr sorgsam und selbstbewußt überreichte, als sie am Nachmittag mit Luise, Kinderwagen, Puppen und sonstigem Zubehör vor der Veranda im Garten des Seedorfschen „Instituts“ anrückte, denn das war jetzt ihr gewöhnlicher Spielpark, und sie wußte unter Anleitung Luisens und Karl von Seedorfs schon recht geschickt herumzustolzieren, während die Väter auf der Veranda Kaffee tranken und ihre Cigarren rauchten. Auch der Hauptmann von Seedorf lernte den Inhalt des Briefes einschließlich der Nachschrift kennen und hielt mit seiner Meinung nicht zurück. „Wissen Sie, lieber Doktor,“ sagte er, „ich will natürlich gegen Ihren ehemaligen Freund gar nichts gesagt haben – na, und Sie haben ja auch im Grunde nichts mit ihm gehabt, wenn ich klar sehe, so ist er von Ihnen und dem Doktor Ritter so ganz sachte abgerückt, wie ein Marodeur oder meinethalben auch ein Maroder, der sich unterwegs auf dem Marsch so still ins Kornfeld drückt, aber das muß ich sagen, wenn alle Ehen im Himmel geschlossen werden, dann muß er da oben schlecht angeschrieben stehen, denn ohne triftigen Grund straft einen der Herrgott nicht mit so einer Frau! Sie kennen sie ja wohl nur aus den Erzählungen Ihrer lieben seligen Frau, und die hätte ja selbst dem Teufel möglichst viel Gutes nachgesagt, aber meine Selige war von etwas minder sanftem Gemüt, und die kannte das Fräulein schon länger, denn sie hat ja mit ihr zwei Jahre lang zusammen in der Schule gesessen, in den obersten Klassen, wo die Häkchen schon zu Haken werden. Dieses angenehme Wesen hat alles, nur kein Gemüt und keine Ehrlichkeit. – Na, ich bin gespannt, was da für eine Rasse herauskommt! Obzwar man das nie verschwören soll, denn es ist kurios, wie unser Herrgott manchmal mit dem Erbschaftsgesetz umspringt. Da sehen Sie sich einmal meinen Jungen an! Ich hab’ gut, ihm eine Soldatenmütze aufsetzen und die braunen Haare rund kurz scheren, deshalb sieht er sich doch nicht einmal um, wenn eine Militärmusik vorbeizieht, aber einen Ameisenhaufen zu besehen oder ein krankes Kaninchen zu pflegen, dafür läßt er sein Leben, und mit Ihrem kleinen weißen Mädel spielt er wie eine Bonne. Na, ich werd’ denn wohl sehen müssen, wie er sich weiter macht, meinethalben mag er dann Arzt werden oder Bauer, denn das sind doch noch die zwei gescheitesten Berufe, wenn einer keinen Grips fürs Militärische hat. – Ich wollte nur, die Bengels, die man uns ins Haus schickt, hätten etwas Grips dafür, fuhr er seufzend fort. „Uebrigens, lieber Doktor, ich habe mir heute einen Ueberschlag gemacht, weil ich doch morgen aufs Land gehe – wir haben doch besser abgeschnitten als ich dachte, und wenn wir im nächsten Halbjahr nur fünf mehr kriegen, dann habe ich zu Ostern sogar einen baren Ueberschuß, vorausgesetzt, daß ich einige laufende Rechnungen aufs nächste Jahr hinübernehme.“

Doktor Hans Bardolf war zu wenig Finanzmensch und in diesem Augenblick angesichts seines blühenden, lachenden Kindes auch zu ausschließlich glücklicher Vater, als daß ihm ein Zweifel gegen das Seedorfsche Budgetsystem gekommen wäre, und so konnte er mit ganz reinem Gewissen die Einladung des Hauptmanns annehmen, „daraufhin nach dem Abendbrot einmal ausnahmsweise ein paar Flaschen zu trinken.“ Aus den paar Flaschen wurden vier, sie tranken auf den Doktor Hans Ritter, sie tranken mit feuchten Augen auf ihre Kinder, die nun längst friedlich in ihren Bettchen schlummerten, und zuletzt brachte der Hauptmann sogar in perlendem Champagner höchst ernsthaft die Gesundheit der „würdigen alten Herrschaften“, des Herrn Professor Bernstein und der Frau Margarete Klämmerlein, aus. Der Champagner war aber, wie er vorher ausdrücklich erklärt hatte, keine Verschwendung, denn er war ihm von einem durchgebrannten Zögling an Zahlungsstatt geschickt worden und „kostete also keinen Pfennig“.

[80]
9.

Als der Großvater die Großmutter nahm, hatte man in der Umgebung der Industriestadt stellenweise noch Reben gebaut und war bei ihrem saueren Safte, wie weiland Kurfürst Joachim bei der Kreszenz vom Berliner Kreuzberg, „oftmals sehr fröhlich gewest“; die Enkel bauten Rüben und tranken starkes Bier und Schnaps, und Hans Bardolf, obwohl er von Geburt ein Mainfranke und Landsmann des berühmten Steinweins war, that es auch, denn etwas muß der Mensch haben, zumal wenn er fleißig ist.

An Fleiß ließ es Hans Bardolf nicht fehlen. Er begrüßte jeden Auftrag zu Privat- und Nachhilfestunden während seiner freien Zeit als ein Geschenk Gottes, und wenn er abends müde nach Hause gekommen war, sein Kind geküßt und sein einfaches Abendbrot gegessen hatte, saß er noch spät bis in die Nacht, arbeitete an Uebersetzungen antiker Schriftsteller und sah Korrekturbogen gelehrter Werke durch. Es war eine sauere und trockene Arbeit, sie wurde von den Verlegern kärglich und gleichsam nach dem Quadratmeter bezahlt, aber er war froh, daß er auch sie gefunden hatte, denn sie half ihm wieder ein wenig, sich zum zweitenmal schuldenfrei zu machen und die winzigen Posten in dem Sparkassenbuch, das er seinem Kinde am ersten Geburtstag gekauft und selbst während der letzten Krankheit Emiliens nicht angetastet hatte, allmonatlich um eine Kleinigkeit zu mehren.

Aber mehr und mehr plagten ihn Gesundheitsstörungen, die dem kraftvollen, kraftbewußten Manne etwas Neues und Unheimliches waren. Zuerst im Frühsommer, nach einer garstig verregneten Wanderung mit anschließender Kneiperei in einem Bauernwirtshaus, hatte er es verspürt und auf „Rheumatismus“ angesprochen. Es war geschwunden und wiedergekommen, dann schien es sich auf die Eingeweide zu werfen – er mußte sich wohl „den Magen verstimmt“ haben. Eine Zeit lang bekämpfte er die Störung mit Hausmitteln, wie sie jeder Deutsche von akademischer Bildung kennt, Opiumbitter und andere als heilsam gerühmte Tränkchen von stark alkoholischer Mischung. Nun aber, gerade in den Ferien, die er so fleißig auszunutzen gehofft hatte, wurden auch edlere Teile rebellisch, starke Kopfschmerzen mit einer wunderlichen Mattigkeit verbunden, traten auf, das Gesicht brannte und vor allem wurden die sonst so scharfen Augen trübe und unsicher, vielleicht waren sie vom allzulangen Arbeiten bei Licht unwillig geworden. Er entschloß sich endlich, einmal den Augenarzt zu fragen. Die Untersuchung dauerte lange. Als Bardolf wieder aus dem Hause des Augenarztes trat, sah er sehr verstört aus. Er ging nach dem ferienstillen Institut und schlug in dem großen Konversationslexikon, welches der Hauptmann als Grundstock der Lehrbibliothek angeschafft hatte, gewisse Artikel nach, die er lange und ernst durchstudierte. Dann ging er zu dem Geheimen Sanitätsrat Dr. Leuxenberg, der erst vor kurzem als Direktor an das große Krankenhaus der Stadt berufen war. Von dessen Haus ging er langsam und gesenkten Hauptes vor die Stadt, auf den Friedhof, und dort, vor einem mit Blumen geschmückten Hügel, im trüben Scheine des einbrechenden Herbstabends, weinte er die bittersten Thränen seines Lebens. Es war ganz still rings um ihn, ab und zu flatterte ein dürres Blatt vom Baume, und keine andere irdische Kreatur als ein paar kleine Vögel im Gezweig sahen es, wie hier ein Mensch mit Gott rang.

Die gute Luise freute sich anfangs sehr, als sie sah, wie sorgfältig ihr Herr die Arznei gebrauchte und die zurückgezogene Lebensweise beobachtete, die ihm – wie er sagte – der berühmte Arzt gegen seine Erkältung verordnet hatte, auch schien es ihr, als ob es mit dem „Fluß aus den Augen“, wie sie es nannte, wirklich besser werde. Allmählich aber wurde sie mißtrauisch. Das ganze Wesen ihres sonst so guten Herrn war so wunderlich verändert, es war etwas Unstetes in ihn gekommen. Halbe Stunden lang saß er unthätig, vor sich hinbrütend, um dann wieder die Arbeit mit einem fieberhaften Eifer aufzunehmen. Und kein fröhliches Lachen mehr, nichts von der jugendlichen Leichtherzigkeit, die ihm sonst auch in geldärmster Zeit nie ganz ausgegangen war! Was sie aber am meisten beunruhigte, das war die neuartige, fast trübselige Zärtlichkeit, mit der er Grete betrachtete und liebkoste. Sie sah es vierzehn Tage lang mit wachsender Besorgnis an. Der Herr Hauptmann war verreist, sonst hätte sie diesem ihr Leid geklagt. Eines Abends aber wurde es ihr zu arg. Der Herr Doktor saß vor seinem Schreibtisch, auf dem inmitten eines kunstvoll gezogenen Epheustockes im dunklen Rahmen die Photographie der seligen Frau stand. Luise hatte das Kleine hereingebracht, damit es dem Vater den Gutenachtkuß gebe, und Gretel hatte dabei wie gewöhnlich auch der lieben Mama ein Kußhändchen zugeworfen. Als sich Luise dann mit ihr zum Gehen wandte, gewahrte sie zufällig einen so schmerzlichen, todwehen Ausdruck auf dem Antlitz ihres Herrn, daß sie vor Schrecken das Kind fast fallen ließ und als sie nachher zurückkehrte, saß er noch immer stumm und leidend vor dem Schreibtisch, seine Augen, auf das Bild gewandt, waren voll Thränen, und sein Körper bebte. Sie sagte nichts, aber in derselben Nacht setzte sie sich hin und verfaßte [82] mit des Schreibens ungewohnten Händen einen langen Brief an den Doktor Ritter, abzugeben auf der königlichen Universitätsbibliothek.

Als Hans Ritter dieses Schreiben unter großer Bestürzung entziffert und bedacht hatte, wandte er sich sogleich brieflich an den Geheimen Sanitätsrat Doktor Leuxenberg; die gute Luise hatte zum Glück den Namen genannt, und Hans Ritter war kein ganz Fremder für den berühmten Arzt, dem er bei Beschaffung einiger seltenen medizinischen Werke bibliothekarisch behilflich gewesen war. Auch erwies sich der Geheime Sanitätsrat dafür nicht undankbar; denn trotz seiner vielen Amtsgeschäfte übersandte er umgehend die gewünschte vertrauliche Auskunft, zu der er sich verpflichtet fühlen mußte, nachdem er die edlen Beweggründe Ritters zu seiner Anfrage erfahren. Sie war nicht so lang wie Luisens Brief, aber Hans Ritter bedurfte noch mehr Zeit, um sie zu verstehen, denn der Geheime Sanitätsrat frönte der damals noch ziemlich verbreiteten Ansicht, daß die Handschrift eines Arztes gar nicht unleserlich genug sein könne, und der Brief bestand großenteils aus medizinischen und anatomischen Kunstausdrücken, zu deren Verständnis selbst die Sprachgewandtheit Hans Ritters nicht immer ausreichte.

Einige Stunden später meldete sich der Doktor Hans Ritter bei seinem Chef, der draußen vor der Stadt auf seinem Weingute Ferienruhe genoß. Es war kein großes Gut – nur ein schön und ziemlich hoch gelegenes Wächterhäuschen mit einem kleinen Stück Weinberg; der Professor Isaak Bernstein ließ es durch einen benachbarten Bauern bestellen und wenn die Trauben reif waren, zog er bei gutem Wetter alltäglich hinaus, um sie nach und nach aufzuessen, wobei er übrigens auch die Unterstützung werter Freunde und müder Wanderer nicht verschmähte.

Diesmal war er zum Glück allein. Er saß im milden Sonnenschein auf der Bank vor seinem Häuschen, gekleidet in einen langen schwarzen Hausrock von eigentümlich östlichem Zuschnitt und auf dem grauen, lockigen Haar ein schwarzseidenes Mützchen, und erbaute sich an der schönen Aussicht. In der linken Hand hielt er eine mächtige Weintraube, von der er mit Daumen und Zeigefinger der Rechten eine der großen, blauschwarzen Beeren nach der andern abzupfte und in den Mund steckte; einige abgelesene Traubenskelette am Boden zeugten davon, daß er diesem angenehmen Zeitvertreib schon eine Weile huldigte. Sehr freundlich und teilnehmend begrüßte der Professor Isaak Bernstein seinen Gast, nachdem er die Traube weggelegt und sich die kleinen, schöngeformten Hände sehr sorgfältig mit dem rotseidenen Schnupftuch abgewischt hatte.

„Ein schöner Tag heute,“ sagte er, „ein fröhlicher Tag, still und gesegnet, wie er einem alten Mann gut thut! Aber Sie sehen nicht so fröhlich aus wie der Tag. Nun, was ist’s denn lieber Kollege?“

„Herr Professor,“ begann Hans Ritter, „Sie sagten mir unlängst, daß man an vorgesetzter Stelle beabsichtige, den hiesigen Bibliothekstab um mehrere definitiv angestellte Beamten zu vermehren. Glauben Sie, daß ich Aussicht haben würde, dabei zu avancieren, falls ich auf die akademische Laufbahn verzichte?“

Isaak Bernstein blickte ihm gespannt ins Gesicht. „Nun,“ sagte er zögernd, „was soll ich sagen? Es ist so eine Sache. Die hohen vorgesetzten Behörden haben ihre eigenen Ansichten – sie haben ihre eigenen Männer bei alledem, wenn ich über einen Mann berichte, den ich so lange kenne, werden sie sich wohl halten an meinen Bericht. … Aber warum wollen Sie das?“

Hans Ritter zog den Brief des Geheimen Sanitätsrats hervor. „Wenn ich Sie an ein Gespräch erinnern darf,“ sagte er, „das wir vor einem Jahr über meine Aussichten hatten –“

„Nun, warum soll ich mich nicht erinnern?“ versetzte der Professor. „Und was ist anders geworden? Soll man gratulieren? Aber Sie sehen nicht aus wie ein glücklicher Bräutigam –“

Hans Ritter überreichte ihm den Brief mit kurzen Worten! und trat einen Schritt beiseite. Es war wohl noch eine Stunde bis zur Abenddämmerung, die Sonne leuchtete warm und klar über Thal und Strom, und über den jenseitigen Bergen lag ein wunderbar milder, weicher Silberduft, aber quer durch das lieblich stille Bild zogen sich jetzt langsam schwelende, mißfarbige Rauchstreifen von den Aeckern unterhalb des Rebenhanges hin, wo hochgehäuft das dürre, abgestorbene Kartoffellaub verbrannte.

Der Professor Isaak Bernstein hatte sich seit dem Tode Emiliens von Hans Ritter vieles über sie, ihren Gatten und ihr Kind berichten lassen, und eines, was ihm Ritter verschwieg, hatte er vielleicht zwischen den Zeilen manches seiner Gedichte gelesen. Während er den Brief halblaut las, wurde sein freundliches, faltenreiches Gesicht sehr ernst. Der alte Talmudist verstand sich auf den Inhalt dieses Briefes besser als Hans Ritter, und er nickte ein paarmal traurig bei den Schlußworten, welche klar besagten, daß es sich um eine lebensgefährliche Nierenentzündung handle. Dann faltete er den Brief sorgfältig zusammen, gab ihn zurück und ging einigemal nachdenklich auf und ab, bis er vor Haus Ritter stehen bleibend sagte. „Nun, Sie haben mir den Brief zu lesen gegeben, Sie haben ihn gelesen. Sie wollen aus Ihrer Docentenlaufbahn austreten und wollen machen, daß Sie ein sicheres Amt haben und ein gutes steigendes Gehalt, um für das kleine Mädchen sorgen zu können. … Soll ich Ihnen sagen, was die Welt dazu sagen wird? Oder soll ich Ihnen sagen, was ich davon denke?“

„Auf das Urteil der Welt bin ich in diesem Falle wirklich nicht gespannt,“ antwortete Hans Ritter mit einem trüben Lächeln, und der Professor Bernstein fuhr fort. „Dann kennen Sie auch das meinige, und ich brauch’s Ihnen nicht erst zu sagen. Denn warum? Die Menschheit braucht allerlei, sie braucht auch Professoren, sie braucht Philosophen, aber am nötigsten braucht sie gute Leute. Und also, wenn Sie 'mal was nötig haben, und der alte Professor Bernstein kann’s Ihnen geben, dann haben Sie’s auch. – – Nein, danken Sie nicht! Warum sollen Sie mir danken? Ich hab’ Ihnen ja noch nichts gegeben, nicht einmal eine Traube. Aber Sie werden keine Zeit haben, ich denke mir, Sie werden zu Ihrem Freunde reisen wollen – ich will Sie nicht aufhalten, und wenn Sie ein paar Tage ausbleiben ich will Sie gerne vertreten. Leben Sie wohl bis dahin – und der Allmächtige segne Sie!“

Hans Ritter hatte sich gegen Bardolf schon früher verschiedenemal der Notlüge schuldig gemacht. Während der nächsten Tage und noch bei mehreren Besuchen setzte er dieses Werk mit Eifer und, wie er hoffte, auch mit Erfolg fort. Es war erstaunlich, mit welcher Gewandtheit er, nachdem er dem Freunde das Geständnis seines Leidens entlockt, eine Reihe von schnellerfundenen Fällen gleicher Art aus seiner Bekanntschaft aufzuzählen wußte, die wieder ganz harmlos ausgeheilt seien. Wirklich schien es, als ob Bardolf sich dabei beruhigte.

Der Hauptmann, den Ritter bei seinem zweiten Besuche wieder in der Stadt fand und auch von dem Briefe des Arztes unterrichtete, bewährte sich wie immer als eine von Grund auf vornehme und ehrliche Seele. Bei aller Trauer freute er sich ordentlich, daß der überaus geringe Besuch seines Instituts in diesem Semester es ihm leicht machte, Bardolf sein Gehalt weiter zu zahlen, ohne ihn viel zu beschäftigen. „Wissen Sie,“ sagte er, „ich würde ihm am liebsten das bißchen Arbeit auch noch erlassen aber dazu kriegt man ihn ja nicht herum. Es ist jammerschade! Gerade jetzt hätte ich so eine glänzende Zukunft für ihn gehabt, denn es ist so gut wie sicher, daß ich zu Ostern die Chefredaktion einer großen militärischen Zeitschrift übernehme, wo ihm dann eine Stelle als Mitredakteur mit entsprechendem Gehalt sicher wäre. Den Krempel hier gebe ich auf!“

Für Laienblicke schien sich das Befinden Bardolfs kaum sehr zu verschlechtern. Als die Weihnacht herankam, bestand er darauf, persönlich Gretel und Luise zur Urgroßmutter zu bringen, wo die beiden dann einige Wochen bleiben sollten, während deren er im Hause des Hauptmanns sein Quartier hatte. Nach so viel Jahren brannte in dem kleinen Hause wieder der Weihnachtsbaum. Frau Klämmerlein konnte sich nicht satt sehen an Gretels Freude und an der ganzen Gretel, und Bardolf selbst schien von einer tiefen und großen Freude bewegt, daß er dies Fest mit seinem Kinde an der Heimstätte seiner Junggesellenjahre feiern durfte.

Am zweiten Feiertage abends reiste er zurück. „Auch der lieben Mama einen Kuß!“ sagte Gretel, als er sie zum Abschied küßte. „Ja, Kind, den will ich bestellen,“ erwiderte er. „Sei nur immer hübsch brav!“ Es lag etwas wunderbar Ruhiges und Hohes in seinen Zügen. Ritter begleitete ihn zur Bahn. Unterwegs fing Bardolf an. „Sag ’mal, lieber Freund, wir müssen doch einmal davon sprechen, du hast noch immer den Schein von mir, weißt du – –“

„Leider nicht,“ fiel ihm Ritter ins Wort. „Er ist mir, bald nachdem du ihn mir gegeben hattest, ins Feuer gefallen.“

Bardolf blieb stehen und guckte ihm ins Gesicht. „Das [83] sieht dir ähnlich!“ rief er, und es klang etwas von der alten fröhlichen Heiterkeit hindurch.

„Du solltest überhaupt von solch dummem Zeug gar nicht reden,“ versetzte Hans Ritter. „Ich bitte dich! Mir! Einem deutschen Novellisten, der Geld wie Heu verdient! Laß mich dir lieber noch ’mal persönlich danken, daß du uns euer weißes Mädel eine Zeit lang dalässest. So lange es hier bleibt, ist das Liebste bei uns, was ich habe.“

Bardolf hielt wieder inne und erfaßte die Hand des Freundes. „Ich danke dir!“ sagte er, „das hat wohlgethan.“

Nach einer Weile fing er an, von anderem zu sprechen. Es war ein lauer, regnerischer Winter; schwarze Weihnachten; die Straßen schlammig und der Himmel sternlos, von Wolken grau verhängt. „Sieh doch“ sagte Bardolf, „wie wundervoll die Sterne leuchten! So war es an unserem Verlobungsabend.“

Ritter blickte ihn erstaunt und gerührt an.

„Ja,“ fuhr Bardolf fort, „ist es nicht seltsam, daß meine Augen diesen Glanz heute wieder auf einmal so deutlich erkennen, deutlicher als je? Sie machen mir sonst doch neuerdings wieder so viel zu schaffen. Sogar den ‚Fuhrmann‘, da vorn im ‚Großen Wagen‘ meine ich heute wieder zu sehen. Ich zeigte ihn Emilie damals, sie konnte ihn nicht erkennen, aber sie war selig, daß ich so hell und scharf sähe. – Hier unten der Schmutz und dort oben die ewige Welt voll Licht und Klarheit,“ fuhr er fort. „Es ist wunderbar!“

„Ja, es ist wunderbar,“ wiederholte Hans Ritter leise.

Dann tauchten sie in das Menschengewühl des Bahnhofs ein, und bald darauf trennten sie sich vor der Waggonthür mit festem Händedruck und vielen herzlichen Grüßen.

Acht Tage darauf, in der Frühe des Morgens traten der Hauptmann und Hans Ritter aus dem Portal der Seedorfschen „Lehranstalt.“ Plötzlich und rapid, wie es der Geheime Sanitätsrat vorausgesehen, hatte es sich vollbracht. Als Hans Ritter am Abend zuvor auf das Telegramm des Hauptmanns herbeigeeilt war, hatte der Sterbende schon kein Zeichen des Erkennens mehr für ihn gehabt; und zwölf Stunden darauf war er gänzlich entschlafen, ohne die von den behandelnden Aerzten erwarteten Krämpfe und anscheinend ganz schmerzlos. Nur noch einmal während dieses langsamen Hinüberdämmerns waren über seine Lippen menschliche Laute gekommen, ein leises, zufrieden müdes Flüstern. „Sterben – – – schön – – –“.

Die Freunde hatten bei ihm gewacht. Nun traten sie hinaus auf die kaum erst belebte, schlüpfrig feuchte Gasse, und der Hauptmann von Seedorf sagte zum Abschied: „Na nun gehen Sie in den Gasthof und legen Sie sich eine Weile, lieber Doktor, zum Frühstück werde ich Sie wecken kommen. Uebermorgen ist das Begräbnis, natürlich mit Musik, vom Kriegerverein aus, und drei Salven übers Grab! Wenigstens im Grabe hat doch auch der Bescheidenste ’mal etwas davon, daß er mit dabei war.“

Es dauerte noch einige Tage nach dem Begräbnis, bis das Notwendigste, Vormundschaftsübernahme, Ordnung und Einteilung der fahrenden Habe in „Andenken- und Versteigerungswürdiges“ und dergleichen, erledigt war. Auffallend schön geordnet waren die Briefschaften und Papiere Bardolfs. Obenauf im Schreibtisch fand sich ein geschlossener Brief an Hans Ritter. Er hat aber niemand je gesagt, was darin stand.

Und nun saß er wieder im Eisenbahnwagen und fuhr heim zu seinem Heim, und zugleich zu dem Kinde, das nun ihm allein anvertraut war, und zwischen Wachen und Schlafen war es ihm, als hörte er immerfort zu dem eintönigen Rollen und Stoßen des Zuges die Worte der alten Frau, die sie damals im Schlafe gemurmelt, als er mit ihr von der ersten Geburtstags- und Weihnachtsfeier der Kleinen heimfuhr. „Nur recht weich betten, und recht warm halten!“

[95]
10.

Fünfundzwanzig Monate war Grete alt, als sie völlig zur Waise wurde. Sie fing eben an, von sich in der ersten Person zu sprechen und es kostete viel gute Worte von seiten ihrer Hüterinnen und manchen großen Thränenstrom von ihrer Seite, bis sich dies kleine, kaum erwachte Ich mit dem neuen, dunklen Verlust aussöhnte. Daß die Mama – die wirkliche, nicht die im Bilde – zu den Engeln gereist sei und erst „nächstens“ wieder kommen werde, war ihr schon geläufig, aber sie wollte es nicht einsehen, warum nun ihr Vater der Mama nachreiste; zum wenigsten hätte er sie doch mitnehmen sollen!

Aber nach etlichen Tagen war sie auch darüber getröstet. Vater und Mutter hatten ihr durch den lieben Paten sehr schönes Spielzeug und eine ganz wunderbare Menagerie geschickt, lauter Tiere aus Biskuit, die vor denen im Bilderbuch den großen Vorzug haben, daß man sie zur Belohnung aufessen darf, sobald man gelernt hat, wie sie heißen. Und sehr umsichtig unterstützte das in den Himmel zurückgekehrte Christkindchen die Trostmittel des Paten dadurch, daß es nun doch noch nachträglich einen richtigen Winter mit Eis und Schnee schickte – mit viel Schnee, der sich von den Fenstern des frei im Garten gelegenen Hauses ganz anders ausnahm als aus dem dritten Stock in einer engen, menschenvollen Stadtgasse.

Da gab es Bäume, die aussahen, als wären sie ganz von Zucker, und denen es kaum zuzutrauen war, daß sie „nächstens“ voll von roten Kirschen hingen; da gab es vor allem unzählige Piepvögelchen schwarze, graue und ganz bunte, die im Schnee hüpften und bis an die Fenster flogen. Wenn man sie auf dem freigekehrten Platz vor der Küche lockte. „Piep, piep, piep!“ und dabei Futter streute, so kamen sie herbei und pickten es auf. Und es gab Wagen auf der Straße, die ohne Räder über den Schnee fuhren, ganz schnell, und dazu entzückend „Klingkling“ machten. Ein paarmal wurde man sehr warm eingepackt, daß kaum noch etwas herausguckte als Augen, Näschen und ein paar vorwitzige goldrote Löckchen, dann stieg die Luise in einen solchen Wagen, der Pate hob Gretel hinein und stieg nach, und dann ging es, hui, über den Schnee mit Klingkling und Peitschenknallen, ganz aus der Stadt hinaus, weit, weit, zwischen Bergen, die ganz voll Schnee lagen, und dem großen Wasser, auf welchem ungeheure weiße Tische von Eis trieben und einmal saß sogar auf einem solchen Tisch ein weißer Vogel, den man bisher nur aus dem Bilderbuch kannte, und der Pate freute sich sehr, daß man ihn gleich wiedererkannte und mit seinem Namen rief. „Schwan“. Vor dem Reize solcher Neuheiten mußte jeder Kummer entschwinden.

Und dann war es ja daheim beinahe ganz wie zu Hause! Wenn man abends zu Bett gebracht wurde, saß der Pate vor seinem Schreibtisch auf seinem Zimmer, ganz wie Vater, im Zimmer nebenan, auf dem Tischchen, stand Mamas Bild zwischen grünen Blättern, da stand neben Luisens Bett dasselbe Bettchen, in dem man „immer geschlafen hatte“, und darüber hing der Engel, der einen so lieb ansah und nur den Kopf in einer Art auf die Aermchen legte, wie ein artiges Kind es durchaus nicht soll, aber Engel dürfen so etwas. Und dann noch so viel andere Sachen, die man immer gesehen hatte und die der Vater auch so gern sah, daß er es gewiß nicht lange ohne sie aushalten konnte.

Sie erben von Geschlecht zu Geschlecht, Kleinodien, die ihr Gold von der Erinnerung leihen, was allgemach doch verloren geht, das wird ersetzt durch anderes, das eine neue, alternde oder früh und plötzlich abscheidende Gegenwart für ihre Zukunft wieder hinzufügte. Und wenn wieder ein junges Paar sich gefunden hat und sein Nest einrichtet, so zeigen und erklären sie einander mit weinendem Lächeln und zärtlichem Kosen ein Stück ums andere von dieser Mitgift, die so wunderlich von den neuen, frischgefertigten Sachen absticht, und es ist ihnen, als ob unsichtbare Hände sich segnend über den neuen Bund breiten. Da ist das Nähtischchen, das ihre Mutter mit dem ersten langen Kleid von der Großmutter empfing, an dem sie später in seligem Hoffen und Bangen die winzigen ersten Hemdchen für das Kommende nähte; da ist die Lade, ein zunftgerechtes Meisterstück seines Großvaters, in der seine Mutter ihre armen kleinen Schmucksachen verwahrte, neben dem Brautkranz und dem Gesangbuch, das nun den Ehrenplatz auf ihrem kleinen Bücherstand bekommen soll. Da sind aus der eigenen Kindheit, aus der Jünglings- und Jungfrauenzeit werte Andenken, und sie erzählen einander von dem Freunde, dessen Namen auf dem Prunkseidel steht und der nun begraben liegt auf dem Schlachtfeld im fernen fremden Lande, von der Freundin, welche die Rosen so gern sah und so kunstvoll nachmalte und die der Tod mitten in der Rosenzeit ihrer Brautschaft brach! Und dann wieder noch weiter zurück: da sind Wanderbücher, Schattenrisse und Pastellbildchen aus einer Zeit, die noch nicht davon träumte, mit Dampf durch die ganze Welt zu fahren und mit Sonnenstrahlen zu malen; da ist am ganz verblaßten Seidenbande die alte Guitarre, zu deren schnarrenden Tönen so gefühlvolle Lieder klangen, als der Großvater die Großmutter nahm.

„An Alexis send’ ich dich, er wird, Rose, dich nun pflegen,“

und

„Sieh, Doris, wie vom Mond bestrahlt die Tanne glänzt, wie schön! Von allen Bäumen hab’ im Wald die Tann’ ich mir ersehn!“

Vieles haben die alten Erinnerungs- und Erbstücke erlebt, Herzerfreuendes, Herzzerreißendes, und sie haben es nicht vergessen, es ist, als ob die Zeit ihnen eine Seele gegeben habe, eine Traumseele, die nur in der Nacht aufwacht und spricht. Dann, wenn die Menschen schweigen und das Haus zu sprechen anfängt, dann stimmen sie ein. Auf der Treppe knackt es wie von leisen, verstohlenen Schritten, und vor dem Nähtischchen rauscht es leise, als ob wieder ein Mädchen im leichten Hauskleid auffahre, um dem heimlichen Besucher entgegenzueilen. Zwischen den Vorhängen zittert ein blasser Streifen des Mondlichtes über die alten Bilder, über den verschossenen Goldschnitt des Gesangbuchs, und ein Lufthauch bewegt raschelnd das vergilbte beschriebene Blättchen, das aus dem Buche vorragt. Ist es der Text zu einer Taufpredigt oder zu einer Grabschrift?

Vieles von Wonnen und Leiden, von halbvergessenen und von kaum überstandenen, hatten Bilder und Hausrat in dem ehemaligen Zimmer des Doktors Hans Bardolf zu erzählen, wenn auch das letzte Licht nebenan auf dem Arbeitstisch Hans Ritters erloschen war und im stürmischen Anhauch des Winterwindes das alte Häuschen zu sprechen begann. Viele unsichtbare Gäste waren heimisch in diesem Hause, aber den Schlummer des Kindes störten sie nicht.

Der Schnee verging, und der Frühling kam, ausnahmsweise einmal so, wie ihn die Dichter schildern, mit sonnigen Tagen, rechtzeitig eintreffenden Nachtigallen und unermeßlich viel Blumen! Aber im Garten des Häuschens draußen zwischen dem Armenviertel und den Krankenhäusern fand er diesmal die neueste und lieblichste Blüte schon vor. Sie gefiel ihm, er that ihr alles zu Gefallen und empfahl sie an den Bruder Sommer, und die Empfehlung behielt Kraft und ging weiter von einem zum andern, daß keine Sonnenglut, keine Nebelfeuchte und kein Frosthauch dem „weißen Mädchen“ schade und daß es frisch und gerade aufwachse wie ein junges Bäumchen.

Es ist nicht festzustellen, von wem sie zuerst im zartesten Alter den Kosenamen empfing, jedenfalls paßte er immer besser. So lange ihr Vater lebte, hatte er darauf bestanden, daß man sie immer weiß kleidete, nur mit rosenfarbenen oder lichtblauen Schleifen und Schärpen, und von einem so unpraktischen Manne wie ihrem Paten und Vormund war es nicht anders zu erwarten, als daß er auch jene Forderung des Vaters übernahm mit der für jeden umsichtigen Menschen gewiß höchst thörichten Begründung, wenn man ein junges Menschenkind zur äußeren und inneren Schönheit und Reinheit erziehen wolle, müsse man es vor allem schön und in lichte Farben kleiden, anstatt in solche, die „nie schmutzen“.

[96] Ueberhaupt entwickelte und bethätigte dieser Mann von vornherein Erziehungsgrundsätze, die es einer so praktischen Person wie der guten Luise manchmal sehr schwer machten, den Gehorsam als „Pflicht und Trost“ zu empfinden. Es war noch lange nicht das Schlimmste, daß er die Gartenschnecken, die ihm Grete brachte, auf die Mauer setzte, statt sie vor den Augen des Kindes zu zertreten und ihm so möglichst früh beizubringen, daß es für den denkenden Menschen zweierlei Tiere giebt. solche, die man züchtet, weil sie direkten Nutzen bringen, und solche, die das boshafter oder leichtsinnigerweise nicht thun und deshalb umgebracht werden.

Freilich würde dieser Unterricht die kleine Grete einige Thränen gekostet haben, denn sie war einstweilen von einer unbegrenzten Gutmütigkeit gegen alle Welt. Wenn sie mit ihrem Spielball eine von Frau Klämmerleins Kapuzinerblüten getroffen hatte, so streichelte und putzte sie eifrig an der Blume herum, bis es nicht mehr weh that, den „armen Regenwürmern“, die sich so begehrlich aus der Erde heraufschlängelten und doch offenbar Hunger hatten, streute sie Brocken von ihrem Brötchen hin, und vollends unter den Menschen ahnte sie noch nichts Böses. Die Welt der Erwachsenen außerhalb ihres Heims bestand für sie aus lauter Onkeln und Tanten, und wer immer von dieser großen Verwandtschaft durch das Gartenthörchen trat, konnte darauf rechnen, von ihr mit einem Händedruck und einem so treuherzigen „Tag!“ begrüßt zu werden, daß es den größten Menschenfeind für ein Weilchen in einen lachenden Optimisten verwandeln mußte.

Im ersten Jahre war auch der Hauptmann von Seedorf mit seinem Sohne ein paarmal herübergekommen, zuerst in den Osterferien, nachdem der Hauptmann die Pforten seines „Instituts“ für immer geschlossen hatte, und zu Beginn der Herbstferien sogar von der weit abgelegenen Großstadt aus, in welcher die neue, so ungemein aussichtsvolle militärische Zeitschrift erschien. Sie hatten sich beidemal ein paar Wochen in der Stadt aufgehalten, waren fast jeden Tag nach dem Häuschen herausgekommen, die Männer hatten ihre unter so trüben Umständen begonnene Freundschaft angenehm ausgebaut, und der junge Naturforscher Karl hatte sich der kleinen Grete ebenso eifrig gewidmet wie früher. Später beschränkte sich der Verkehr auf einen immer spärlicher werdenden Briefwechsel – der Hauptmann von Seedorf war schwach im Schreiben von Privatbriefen, und er mochte auch aus den mancherlei Orten und Stellungen, aus denen seine jeweiligen kurzen Grüße in buntem Wechsel dauert waren, wenig Erfreuliches zu berichten haben.

Auch der Doktor Hans Mohr fand an einem schönen Tage im Herbstmonat die Klinke des Gartenthörchens wieder, nachdem er sich durch längeres Spähen vergewissert hatte, daß Frau Klämmerlein ausgegangen war, denn er fürchtete sich ein wenig vor der alten Dame, seit er bei einer zufälligen Begegnung, kurz nach seiner Hochzeit, entdeckt hatte, daß sich ihre Schwerhörigkeit fast bis zur völligen Unanredbarkeit verstärkt habe. Uebrigens war er kein Menschenfeind – in Beurteilung dessen, was ihn am meisten kümmerte, nämlich seiner eigenen werten Person, war er sogar Optimist – und somit empfing er den strahlenden Gruß Gretels mit vielem Wohlwollen. Hans Ritter, der eben in den Garten trat, fand ihn mit der Kleinen so gewinnend plaudernd, als ob sie die Tochter eines Geheimen Kommerzienrats wäre.

Viel Worte des Beileids sagte der Doktor Hans Mohr, während er mit Hans Ritter längs den Kapuzinerkressen auf und ab ging. Es erwies sich, daß seine schmerzlichen Empfindungen bei der Nachricht vom Tode ihres gemeinsame Freundes zu lebhaft gewesen waren, als daß ihm irgend ein schriftlicher Ausdruck genug gethan hätte – auch gab ihm ein immerhin neuer und umfangreicher Wirkungskreis so unglaublich viel zu thun, daß er darüber thatsächlich keine Zeit zu Privatbriefen mehr fand! Um so weniger hatte er es versäumen wollen, gelegentlich eines leider nur kurz bemessenen Besuches in der Universitätsstadt einmal anzurufen, zumal er gehört hatte, daß das reizende kleine Mädel jetzt bei der Urgroßmutter sei. Und er fügte hinzu, daß seine Frau und seine Schwiegermutter es ihm ja nicht verzeihen würden, wenn er heimkäme, ohne das Töchterchen der armen Emilie Flügge gesehen zu haben, von der sie so oft und so herzlich sprachen. Es schien, daß er bereit war, noch manches von sich und den Seinen im Austausch gegen anregende und rührende Einzelheiten aus dem Trauerspiel Bardolfs und Emiliens zu berichten, aber Hans Ritter hatte eine so eigentümliche Art, höflich zuzuhören und über dem Zuhören sogar die Einladung zum Sitzen zu vergessen, daß es selbst dem geübten Festredner allmählich die Rede abschnitt. Zuletzt erinnerte sich Hans Mohr, daß er sich leider unmöglich länger aufhalten dürfe.

Ein paar Schritte vor dem Thörchen wandte er sich noch einmal, um einen langen, schwermütigen Blick auf das „alte liebe Häuschen“ zu heften. „Wer wohnt denn jetzt in meinem alten Lübeck?“ fragte er.

„Niemand“, antwortete Hans Ritter. „Ich habe es zugemietet, damit uns kein Fremder mehr ins Haus kommt. Auf Bardolfs Zimmer schläft sein Kind.

„Hm,“ meinte Doktor Hans Mohr, „also zahlst du Frau Klämmerlein jetzt für alle drei Zimmer Miete? Hör’ ’mal, dann mußt du dich aber ja jetzt ganz gut stehen?“

„O ja,“ erwiderte Ritter, „es geht. Wir haben beide unser Auskommen, das Kind und ich auch.“

Doktor Haus Mohr verabschiedete sich und schritt so in tiefen Gedanken hinaus, daß er die zum Abschied ausgestreckte Hand Gretes ganz übersah. Grete blickte ihm nachdenklich nach und sagte bedauernd. „Armer Onkel!“ Denn sie war noch zu klein, um ein Gesicht, wie es der Doktor Mohr machte, für etwas anderes als den Ausdruck bedauernswerter Enttäuschungen zu nehmen. Im Grunde aber hatte sie recht, denn es ist wirklich enttäuschend und ärgerlich für einen Biedermann, wenn er nach längerer Abwägung seiner Menschen- und Familienpflichten schließlich ohne den Segen seiner Frau zur Brandstätte schlendert, um auch einen Eimer Wasser zu reichen, und unterwegs von der zurückkehrenden Feuerwehr hört, daß schon alles gelöscht ist. Der Doktor Hans Mohr empfand sein Mißgeschick. Er sah unzufrieden aus, während er in der Westentasche mit einem Zwanzigmarkstück spielte. Dieses Geldstück hatte er beiseite gesteckt, um es dem Doktor Hans Ritter mit einigen pädagogischen Ratschlägen und dem Bedauern, für jetzt nicht mehr geben zu können, als Beitrag zu Gretes Erziehungskosten zu überreichen. Nun blieb ihm nichts übrig, als sich dafür bei seinem Cigarrenhändler eine Extrasorte zu bestellen, die er sogleich bezahlte. „Verpacken Sie sie, bitte, in ein leeres Kistchen von meiner gewöhnlichen billigen Nummer“, fügte er umsichtig hinzu, denn er war ein aufmerksamer Gatte und dachte auch auf Reisen an seine Frau.

An der Stätte des ehemaligen Hansebundes ließ sich der Doktor Hans Mohr vor der Hand nicht wieder sehen. Nur durch die Presse erfuhr Hans Ritter von seinen nächsten Werken, unter denen eine reich illustrierte „Festgabe zum vierzigjährigen Regierungsjubiläum“ seines durchlauchtigen Denkmalprotektors und ein Band gesammelter Vorträge unter der Aufschrift „Bausteine zum Tempel einer zielbewußten Mädchenerziehung“ noch nicht das Aergste waren. Die kleine Grete fand keine Gelegenheit mehr, dem armen Onkel ihr Beileid auszudrücken.

Zum Glück betraten genug andere Leute den Garten, die den Gruß des weißen Mädchens niemals überhörten. Da waren der Briefträger, der Metzger, die Gemüse- und Milchweiber, da war der alte stelzfüßige Orgelmann, der jeden Donnerstag kam, und da war vor allem der liebe Onkel Professor, der sich weit öfter als jeden Donnerstag einstellte.

Es war merkwürdig, zu sehen, wie gut der Professor Isaak Bernstein mit Frau Margarete Klämmerlein aus- und übereinkam; er war der einzige Mann, dem sie ein allenfalls ausreichendes Verständnis für ihre Erfolge in der Kressenzucht zusprach, und es war von Frühling bis Herbst selten, daß auf seinem Arbeitszimmer mehrere Tage der frische Strauß aus ihrem Garten fehlte, den ihm meist Gretel an der Hand ihres Paten zu bringen pflegte. Ebenso wenig aber fehlte es auf diesem Zimmer jemals an irgend einer angenehmen Ueberraschung für Augen oder Mäulchen des weißen Mädchens. Für Hans Ritter war die Unterhaltung des alten Herrn ein ziemlich auskömmlicher Ersatz sozusagen gelehrten Umgangs und er wußte, daß er auch noch in anderer Hinsicht von Isaak Bernstein sicher auf eine Hilfe rechnen konnte, die er freilich eben darum entschlossen war, nur im äußersten Falle der Not zu erbitten. Aber einen Dienst, von dem er gar nichts wußte, leistete ihm der alte Herr, indem er das arg [98] erschütterte Ansehen Hans Ritters in der akademischen Gesellschaft auf einen ganz neuen und festen Boden stellte.

Eine hervorragende Rolle hatte Ritter in dieser Gesellschaft auch während seiner akademischen Lehrthätigkeit nicht gespielt, während der Professor Isaak Bernstein in ihr ungefähr wie im Professorenkollegium zwar nicht ordentliches, aber doch Ehrenmitglied war. Es war damals die Zeit, wo im neuen Reich auch der gesellige Verkehr in den vornehmsten akademischen Kreisen der deutschen Gelehrtenwelt sich von Grund auf umzustimmen begann. In immer selteneren Fällen wiesen diese Kreise noch eine Aehnlichkeit mit dem Bilde auf, welches ein gefeierter Romandichter zehn bis fünfzehn Jahre zuvor bereits mehr seinen Erinnerungen und seinen Idealen als der Wirklichkeit nachgezeichnet hatte. Der sagenhafte deutsche Professor in Schlafrock und Pantoffeln, der mit der langen Pfeife im Munde unter den Augen seiner strümpfestrickenden Gattin grundgelehrte Werke schrieb und unbemittelten Zuhörern an bestimmten Wochentagen Freitisch gewährte, verschwand allmählich vor dem weltgewandten und höchst gesellschaftsfähigen modernen Geheimrat, auf dessen ordengeschmücktem Ueberrock ein letzter Hauch vom Staube der Bibliotheken manchmal nur noch wie eine scherzhafte Anspielung zu haften schien.

Unter solchen Glanzerscheinungen machte sich der Doktor Hans Ritter fast so altmodisch wie das Fach, welches er bevorzugte, und wenn man ihn auch löblichem Brauche gemäß wie andere Privatdocenten manchmal eingeladen hatte, so weinte man ihm doch keine Thräne nach. Man fand, daß er wohl thue, die Bahn für standesgemäßer ausgestattete Bewerber frei zu lassen. Nun aber war man doch auch wieder durchaus nicht einverstanden, als man vernahm, daß dieser Herr wirklich „der Wissenschaft untreu“ geworden sei und unter anderem Novellen aus der Gegenwart in die Zeitschriften schreibe. Denn für das Gros der akademischen Gesellschaft erschien das Verfassen von Erzählungen höchstens dann als Neben- und Erholungsarbeit eines Gelehrten statthaft, wenn er wenigstens in der Wahl und Behandlung des Stoffes eine nur Eingeweihten zugängliche Fachgelehrsamkeit bewährte. Hier dagegen – – – „Wissen Sie, meine Liebe,“ pflegte die Frau Geheimrat Hermann, Beatens Gastfreundin, zu sagen, „dieser Doktor Ritter ist eine etwas zerrüttete Existenz, wenn er auch eine gute, pensionsfähige Stellung hat. Er lebt ganz familiär mit seiner alten Wirtin und hat das kleine Kind irgend eines Freundes zu sich ins Haus genommen, wie komisch, nicht? Und dann schreibt er so Geschichten, wie sie in den Zeitungen stehen! Es ist schade um ihn; mein Mann sagt, früher hätte er eine recht vielversprechende Facharbeit vorgehabt.“

Als der Professor Isaak Bernstein sie so einmal, in einer großen akademischen Gesellschaft, einer kürzlich zugezogenen Kollegin den Fall klar machen hörte, sagte er: „Nu, was wollen Sie, meine Gnädige? Der junge Mann wird sich gesagt haben, wenn auch ein junger Mann davon absieht, die Beweise fürs Dasein Gottes zu kritisieren, der liebe Gott existiert drum doch weiter! Was aber die Geschichten angeht, die er schreibt“ – der Professor Bernstein zog die Augenbrauen hoch, sah die Dame an und machte die Gebärde des Geldzählens – „wissen Sie auch, was der Mann für so ein Geschichtchen kriegt?!“

Diese geheimnisvolle Bemerkung, in einer Angelegenheit, für die man dem Professor Isaak Bernstein ein angeborenes Verständnis zutraute, machte eine doppelte Wirkung. Erstlich die, daß während der nächsten Monate aus zahlreichen akademischen Häusern mehr oder minder umfangreiche Pakete mit weiblicher oder männlicher Handschrift an unterschiedliche Redaktionen abgingen. Auf diese Reaktionen gab es dann später viel Lachen und Fluchen, und es war auch in diesem Falle ein Glück für den Professor Isaak Bernstein, daß nicht jeder Fluch auf den zurückfällt, der eigentlich daran schuld ist. Die zweite Wirkung aber war die, daß der Schriftsteller Hans Ritter auf einmal ganz anders in der „besten Gesellschaft“ der Universität verteilt wurde. Man fühlte dunkel, aber lebhaft, daß Arbeiten, über deren Bezahlung sogar der Professor Isaak Bernstein die Augenbrauen hoch zog, doch etwas ganz Vorzügliches sein müßten, man las sie und empfand demgemäß ihren inneren Wert, und als das erste Novellenbuch von Hans Ritter erschien, fand es zum größten Staunen der Sortimenter sogar einigen Absatz zu Weihnachtszwecken in akademischen Familien.

„Wissen Sie, meine Liebe,“ sagte die Frau Geheimrat Hermann, „dieser Doktor Hans Ritter ist eine merkwürdige Persönlichkeit! Ein Sonderling, aber ein geistreicher Sonderling, seine Sachen werden enorm hoch bezahlt.“

11.

So glänzend stand sich Hans Ritter noch lange nicht, wie es die akademischen Herrschaften in ihrer Unkenntnis aller außerhalb der Zunft liegenden litterarischen Erwerbsverhältnisse annahmen. Freilich hätte er es besser haben können, wenn er nicht so eigen gewesen wäre. Der litterarische Markt war damals noch nicht so stark wie heute mit arbeitslustigen Erzählern und Erzählerinnen überfüllt, und ein gebildetes Talent konnte sich, wenn es erst „eingeführt“ war, bei einigermaßen entwickeltem Geschäftssinn durch fleißige Herstellung lesbaren Stoffes ein ziemlich hohes und regelmäßiges Einkommen verschaffen. Aber eben dieser Geschäftssinn ging Hans Ritter ab. Er konnte sich von der Vorstellung nicht befreien, daß ein Schriftsteller nichts aus der Hand geben dürfte, wovon er nicht überzeugt wäre, daß er es nicht besser machen könnte. Er fuhr fort, seine Geschichten innerlich zu erleben, ehe er sie verfaßte, und da er in allem kein Mann der raschen Arbeit war, ja selbst im Träumen langsam, so war seine „Jahresproduktion“ nicht derart, daß sie einem Berufserzähler von flottem Betrieb imponiert hätte. Aber es ging auch so und merkwürdigerweise ging es noch besser als zu der Zeit, da der Doktor Hans Ritter nur für sich zu sorgen hatte und seine Nahrung im Speisehaus suchte, anstatt wie jetzt am „Familientisch“ in Frau Klämmerleins „Museum“. Es war ein erschwingbarer Luxus, das Häuschen von Freunden frei zu halten, und es war sogar möglich, alljährlich eine Summe einzuzahlen, welche dem weißen Mädchen in Zeiten dienen sollte, von denen es noch keine Ahnung hatte.

Die Verfassung des kleinen Haushalts war fast noch kunstvoller und verwickelter als die des Deutschen Reiches. Der Außenwelt gegenüber war Frau Klämmerlein nach wie vor die vorstellende Gewalt, welche das Häuschen gemietet hatte und den Doktor Hans Ritter nur als ihren Mietsherrn zu „ästimieren“ brauchte. Im Innern hatte sie die Hoheit ohne besondere schriftliche Konvention an den Doktor abgetreten, dessen Matrikularbeitrag zu dem gemeinsamen Reichshaushalt den ihrigen ja um ein vielfaches überstieg. Wenn man aber genau zusah, so schwebte über dem friedlichen Zusammenwirken der häuslichen Mächte als oberste entscheidende Macht die Rücksicht auf einen sehr geliebten Regenten, und das war Grete. Sie hatte dieses kleine Reich gegründet, sie hatte den Doktor Hans Ritter zum wirklichen geheimen Hausherrn gemacht, sie hatte der alten Frau einen neuen Geist gegeben, der sich anderswo als im Kreuzkonvent heimisch fühlte und sogar mit dem in Luisens Person zusammen gefaßten eigenwilligen Vasallentum fertig wurde, und im Grunde war sie es auch, die durch persönliche Neigung allmählich den Anteil der verschiedenen Mächte an ihrer Erziehung abgrenzte. Es ist leider kaum zu bezweifeln daß Frau Beate, verehelichte Frau Doktor Hans Mohr, und viele andere staatlich beglaubigte Bildnerinnen weiblicher Jugend an dieser Erziehung vieles zu verbessern gefunden hätten. Frau Margarete Klämmerlein traf dabei noch die geringere Schuld, sie beschränkte sich wenigstens auf die Unterweisung in Dingen, mit denen sie praktisch Bescheid wußte, und wenn sie zum Beispiel der kleinen Grete das Lesen nach der alten Buchstabiermethode beibrachte, so mochte zu ihrer Entschuldigung dienen, daß sie es selber so gelernt hatte und das wunderschöne deutsche Wort „lautieren“ nicht einmal dem Klange nach kannte. Auch daß Grete beim Strickunterricht sich das Garn zu ihrem ersten eigenen Strumpf von einem Fleißknäuel herunterstricken durfte, als dessen Kern sich ein süßes Chokoladenei herausstellte, war wohl kaum eine bewußte pädagogische Ketzerei. Gefährlich mußte es ja immerhin erscheinen, auf diese Weise in der unerfahrenen Kinderseele die Vorstellung zu erwecken, als ob man in der Welt für jede abgewickelte Pflicht etwas Süßes bekomme. Frau Beate würde es immer vorgezogen haben, die Fleißknäuel wenigstens um etwas Brauchbares und Arbeitsmäßiges zu wickeln etwa einen Fingerhut, „den das Kind sowieso bald haben muß“, oder um ein Geldstück für die Sparbüchse. Aber Frau Margarete Klämmerlein wußte es nicht [99] besser, und übrigens hatte sie als Urgroßmutter schon ein gewisses Recht, unpädagogisch zu handeln.

Weit schlimmer stand es für den Doktor Hans Ritter. Seine Sache wäre es gewesen, durch eine zielbewußte und methodische Einwirkung im Sinne einer aufgeklärten Moral den etwaigen üblen Einfluß der alten Frau rechtzeitig unschädlich zu machen. Er versäumte diese Pflicht leider nur zu sehr. In einem Alter, wo gebildete Kinder sich schon beinahe genieren, noch ans Christkindchen zu glauben, vermochte sich Grete nur schwer von der Vorstellung zu trennen, daß jeden Abend ein oder sogar mehrere Engel an den Fenstern vorbeiflögen und hineinguckten, um zu sehen, ob die Kinder auch artig sind und hübsch schlafen; und sie stattete das angenehme Bild dieser himmlischen Ronde noch aus Eigenem mit einer Menge von Zügen aus, die für jeden vernünftig und klar denkenden Menschen deutlich bewiesen, wie nachlässig der Doktor Hans Ritter in der Bekämpfung der leider ja so sehr üppigen kindlichen Einbildungskraft gewesen war.

Er wußte wirklich sehr wenig vom methodischen Erziehen. Dagegen sorgte er dafür, daß sein weißes Mädchen frühzeitig und reichlich das große Glück auch ausnutzte, welches sie vor so vielen Kindern großstädtischen Reichtums voraus hatte: an einem Orte zu, leben, wo ihr eine schöne, wechselvolle und gesegnete Landschaft bis in die Fenster schaute. Er war immer darauf bedacht, die jedem Menschen eingeborene Teilnahme an allem Belebten in der Natur in ihr unverkümmert und rein zu entwickeln; denn er war überzeugt, daß von dieser herzlichen Teilnahme alle praktische Religion ausgeht, und daß einem erwachsenen Menschen, der Blumen mutwillig zertritt und Tiere quält, aller kirchliche Eifer nichts nützen kann. Und wie er sie im Buche der Natur allmählich die Ehre Gottes lesen lehrte, so schmückte er ihr die Seiten dieses Buches auch mit den Bildern derer aus, die ihr fürs Leben teuer sein sollten; er erzählte ihr von ihren Eltern auf den Wegen, wo sie vordem gewandelt waren, und ließ sie ihre ersten Sträußchen winden dort, wo einst ihre Mutter Blumen gepflückt hatte. Wenn aber die Kleine mit kindlicher Phantasie das Geschaute und Gehörte weiter spann, wenn sie davon träumte, daß jetzt wohl durch das blaue Fenster im rosigen Abendgewölk die Mama aus dem Himmel herunterguckte auf ihre Gretel, und wenn sie sich fest vornahm, nächstens doch einmal heimlich im Bettchen wach zu bleiben, um die hereinschauenden Engel zu sehen, so wehrte er ihr nicht. Denn er hielt dafür, daß es für ein Kind besser sei, an tausend gute Engel zu glauben als an einen bösen Menschen.

Hans Ritter wußte wohl, daß der Schleier einmal zerreißen und daß einmal die erste Thräne fließen mußte, welche menschliche Lieblosigkeit dem Kindesauge entpreßt, aber so lange es ging, wollte er diesen Augenblick hinausschieben. So hatte er Grete auch bereits zwei Jahre über das übliche Alter aus der Schule gehalten und sich mit dem häuslichen Unterricht zu helfen gesucht, als ihm ein freundlicher Zufall darüber weghalf. Auf einem Spaziergang im Walde waren sie einer Schar spielender Mädchen in verschiedenem Alter begegnet. Gretel hatte sich – zuerst sehr schüchtern – der fröhlichen Schar zugesellt, die sie freundlich aufnahm, während Hans Ritter mit der beaufsichtigenden Dame ins Gespräch kam. Es war ein Fräulein anfangs der vierziger Jahre, mit Namen Martha Weber, das mit seiner betagten Mutter ein großes Pensionat in der Stadt leitete und daneben an der Töchterschule als Lehrerin thätig war. Hans Ritter hatte von ihr schon als einer ebenso kenntnisreichen wie muntern Dame reden gehört, und das Gespräch bestätigte ihm diesen Ruf so sehr, daß er ihr auch seine Besorgnisse für Grete kurz entschlossen offenbarte. „Geben Sie sie immerhin in die Schule,“ sagte Fräulein Weber. „Sie kann selbst von unpassenden Mitschülerinnen nicht so viel Uebles annehmen, daß es den Nachteil einer einsamen Kindheit aufwöge. Und was das Pedantische des heutigen Betriebs in einer großen Schule angeht – es ist etwas daran, das gebe ich zu, aber es kommt doch am Ende alles auf die einzelnen Lehrer und Lehrerinnen an. Da sehen Sie sich unsere Mädchen ’mal an, die meisten davon gehen auch noch zur Schule, und sehen Sie nur, wie munter und unverbildet sie spielen können! Aber wissen Sie etwas: wenn Ihre Kleine so lieb ist, wie es scheint, so lassen Sie sie außer der Schule doch öfters zu uns kommen! Da findet sie Freundinnen, für die ich bürgen kann. Uebrigens wird sie wohl gerade in meine Klasse kommen, bei mir soll sie die roten Bäckchen nicht verlieren.“ Dabei sah sie ihn so überzeugend an, daß er herzlich dankend zusagte. Es erwies sich im weitern Verlauf des Gesprächs, daß die Damen auch manches von ihm gelesen hatten, und was Hans Ritter besonders erfreute, war die Offenherzigkeit, mit der das Fräulein auch einzelnes von ihrem Lobe ausschied. „Das liegt mir nicht,“ sagte sie einfach.

Mit der Zeit wurde die Freundschaft zwischen den beiden Damen und Hans Ritter recht fest. Er freute sich bei jedem Besuche mehr über das Glück, welches seinem einsamen weißen Mädchen den Verkehr mit dem frischen Leben dieses Hauses geboten hatte. Unwillkürlich verglich er das, was er hier sah und hörte, mit jener anderen Anstalt, an welcher einst Emilie Flügge gelitten hatte und nach deren Bilde er – überaus voreilig und ungerecht – sich lange Zeit das Wesen aller derartigen Anstalten vorgestellt hatte. Auch hier konnte man von einem ganz besonderen „Geiste des Hauses“ sprechen; aber es war eben das Gute an ihm, daß man nicht beständig von ihm sprach. Dieser Geist drängte sich nicht wie in dem Hause der Frau Direktor und Beatens dem Besucher auf gleich einem zudringlichen Parfüm, er erfüllte das ganze Haus mit einer wohligen Wärme fröhlicher Regsamkeit und anregender Freude. Die greise „Frau Professor“, welche das ganze Wesen trotz ihres Alters mit ungeschwächter Rüstigkeit leitete, hatte mit der Zeit einen kleinen Stab von gleichgesinnten Gehilfinnen um sich gesammelt; es war erstaunlich, für welche Menge geistiger und künstlerischer Interessen diese Damen Zeit übrig fanden, wie dankbar sie jede Anregung aufnahmen und doch über dem Weiteren nie die Forderung des Tages versäumten. So zeigten sich auch unter den jungen Mädchen, denen großenteils schon ältere Schwestern und Verwandte im Besuche der Anstalt voraufgegangen waren, gemeinsame Züge, welche wirklich fast familienhaft anmuteten und stark genug schienen, selbst eine einzelne widersprechende Natur alsbald in ihren heilsamen Kreis zu bannen. Ein jegliches in diesem Hause, groß und klein, war vergnügt, weil alle bestrebt waren, ihre Pflicht zu thun und einander Freude zu machen; dabei wurde das Wort „Pflicht“ nur sehr selten gebraucht, und wenn es einmal gebraucht wurde, so wirkte es wie ein leiser, wohlbeherzigter Vorwurf.

Es betrübte Hans Ritter, daß er sich für so viel Freundlichkeit, die man seinem weißen Mädchen und ihm hier entgegentrug, nicht erkenntlich machen konnte. Als er diese Empfindung einer der Damen einmal aussprach, meinte sie lächelnd:

„O, Sie könnten unsrer Frau Professor schon einen großen Gefallen thun: wenn Sie nämlich für unsere Aeltesten die Litteraturvorträge übernehmen wollten. Ich weiß, daß Frau Professor es gern sähe; aber sie wollte Sie wohl nicht darum bitten, weil sie immerhin nicht in der Lage ist, ein Honorar zu zahlen, das Sie entschädigte. Wenn man solche schriftstellerischen Honorare bezieht wie Sie –“

Auf diesem Umwege erfuhr nun Hans Ritter auch von dem Sagenkreis, der sich allmählich – er begriff nicht, wie – um seine novellistischen Einnahmen gesponnen hatte. Es gelang ihm nur unvollkommen, die Legende zu zerstören, und man sah es immer noch als einen Beweis freundlichen Entgegenkommens an, daß er die Lehrstunden übernahm. Früher hätte sie „der junge Mann von der neueren Geschichte“ gehabt, den der Professor Isaak Bernstein so sehr liebte; der hatte es aber jetzt nicht mehr nötig, da er zur ordentlichen Professur und zugleich zur Heirat mit einer reichen Erbin gelangt war.

Für Hans Ritter wurden diese Vorträge eine Quelle reiner Freude. Sie befriedigten seine nur mit vielem Kummer unterdrückte Neigung zu selbständigem Lehren, und hatte er sich früher schon über jeden Beweis eifrigen Strebens bei vereinzelten Zuhörern gefreut, so überraschte ihn jetzt die einmütige, treuherzige und dankbare Aufmerksamkeit seiner Zuhörerinnen. In diesem Punkte ist das junge weibliche Volk den jungen Herren überhaupt ja weit vorauf; es kam aber noch hinzu, daß sie sich bewußt waren, über Dichter von einem unterrichtet zu werden, der selber das Dichten verstand. Und einem wirklichen, lebendigen Dichter kommen junge Mädchen in diesem Alter, zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren, ausnahmslos mit Empfindungen entgegen, die man bei anderen Leuten, zum Beispiel bei Verlegern, nur ganz selten findet.

(Fortsetzung folgt.)
[112]
12.

Beim Tode ihrer Eltern war Grete noch zu klein gewesen, als daß sie ihren Verlust gefühlt hätte. Die kindliche Seele, die sich ängstigte, wenn ein flüchtiger Wolkenschatten über den Sonnenschein an der Wand huschte, war über die breiten schwarzen Schatten auf ihrem Lebenswege nichtsahnend hinweg gegangen – wie das zarte Gehör der Fledermaus den leisen, sirrenden Flügelschlag einer Mücke vernimmt, aber von einem plötzlichen Donner nichts zu empfinden scheint. Im zwölften Sommer Gretes kreuzte der Tod wiederum zweimal kurz nacheinander ihre Straße.

Nur „einer Erkältung wegen“ hatte der Professor und Oberbibliothekar Isaak Bernstein sein Kolleg auf eine Woche unterbrochen und die laufenden Geschäfte in der Leitung seiner Bibliothek dem ersten Bibliothekar überlassen. Am vierten Abend dieser Woche besuchte ihn der Doktor Hans Ritter und war angenehm überrascht von dem Befinden des greisen Herrn. Die Erkältung schien völlig behoben zu sein. Der Professor Isaak Bernstein saß behaglich an seinem Tisch, den zwischen vielen Büchern ein von Grete am Nachmittag überbrachter Blumenstrauß schmückte, trank süßen Wein und las in seinem Lieblingsbuch, den Sprüchen Salomonis. Die Glückwünsche Hans Ritters zur Genesung nahm er mit einem fast listigen Schmunzeln entgegen. „Ei ja“, sagte er, „es ist freundlich vom Engel des Todes, daß er zu einem alten Mann ein paar kleine Boten vorausschickt. Man kann sich einrichten, man kann sein Haus bestellen und seine Geschäfte abschließen. Ich bin recht zufrieden mit diesen vier Tagen. Ich habe mich fleißig dazu gehalten und es ist nun alles erledigt!“

Hans Ritter suchte ihm die trüben Ahnungen auszureden.

„Was heißt trübe?“ antwortete der Professor Isaak Bernstein. „Der Allmächtige weiß allein, wann er einen alten Mann abberufen wird, aber dem alten Mann ist es nichts Trübes, daran zu denken. – Schenken Sie sich ein, lieber Kollege. Nun, wenn’s noch länger geht, warum soll ich mich nicht freuen? warum soll ich’s mir nicht behagen lassen, wenn die Trauben in meinem Weinberg noch ’mal für mich reif werden? Aber wenn’s anders geht, warum wollen Sie mir das Herz schwer machen und thun, als ob es eine trübe Sache sei für mich? – Nu, trinken Sie, bitte!“

Nach einer kleinen Weile fügte er hinzu: „Es freut mich, daß ich Ihnen auch über meine Nachfolge im Amt etwas ziemlich Sicheres, na, sagen wir etwas Sicheres verraten kann, natürlich nur im strengsten Vertrauen. Die hohe vorgesetzte Behörde hat mir’s ja auch nicht schriftlich gegeben, unter beigedrucktem Siegel, aber man hat seine Ohren, man kennt seine Leute, und man weiß, was man weiß. Unser guter Doktor Müller, der mich ja jetzt schon vertritt, wird an meine Stelle kommen – nun, und Sie werden in seine Stelle vorrücken, man wird Sie hier im Betrieb lassen, das wird Ihnen auch das Liebste sein. – Nun, sagen Sie nichts, wozu? ich weiß, was Sie sagen wollen, und ich nehm’ ’s für quittiert an.“

Dann holte er eine Zeitschrift herbei, mit einer Kritik über einen kürzlich erschienenen Roman Hans Ritters, und sprach viel Verständiges über Kritik und Roman. „Aber was ich da zufällig noch in der Nummer gefunden habe – Sie haben es wohl übersehen, hier ganz unten, Rubrik Personalnotizen und Auszeichnungen: Der Doktor Johannes Mohr, Mitinhaber und Leiter einer Erziehungsanstalt für Töchter gebildeter Stände, hat von seinem Fürsten den Charakter als Geheimer Hofrat erhalten. Sehen Sie, nun hat er doch einen Charakter, man soll nicht sagen, was aus einem jungen Menschen werden kann, wenn er sich nur Mühe giebt! Nun, der eine hat dies, und der andere hat das, er hat seinen Charakter, und Sie haben Ihr weißes Mädchen. ’s ist ein liebes Kind, es ist schön von ihr, daß sie den alten Onkel Professor besucht hat in seiner Unpäßlichkeit, und wenn ich Sie recht schön bitten darf – nu, warum nicht? man muß an alles denken –, so nehmen Sie sie auch mit, wenn der alte Mann begraben wird. Denn warum? man hat doch immer gern, wenn ein paar dabei sind, denen es Ernst ist.“

Der Doktor Hans Ritter schwieg und drückte herzlich die kleine magere Rechte, die sich ihm über den Tisch entgegenstreckte. Dann kam die Esther mit ihrem Einsatz, sie war nun schon ein paar Jahre Wirtin und eine sehr behäbige Erscheinung geworden: aber sie ließ es sich nicht nehmen, den Herrn Professor selbst weiter zu bedienen wie früher. Es war alles wie früher; und Hans Ritter verließ das Haus mit dem beruhigenden Gefühl, daß der Professor Isaak Bernstein trotz seiner neuartigen, allzu vorsorglichen Gedanken noch keinerlei Ursache habe, den Engel Asrael mehr zu fürchten, als es sich für jeden betagten muntern Herrn schickt.

Vierundzwanzig Stunden später war Isaak Bernstein allem Irdischen entrückt. Ganz plötzlich hatte das alte Herz seinen Dienst eingestellt; und zwei berühmten Leuchten der medizinischen Fakultät, welche man herbeigerufen, blieb weiter nichts übrig, als festzustellen, daß es ein leichter und schmerzloser Tod gewesen sei, der den greisen Schriftgelehrten heimholte, eben als die drei ersten Sterne am Himmel den Anfang des Sabbaths verkündeten.

Ziemlich weit draußen vor der Stadt wurde er beigesetzt, auf einem uralten Judenfriedhof, der noch von den Zeiten des Mittelalters her sich scheu und ärmlich, zwischen Wald und Weide, an die Flanke eines längst verlassenen Burgberges hinduckt. In dem großen Trauergeleite fehlte auch die eine Zeugin nicht, die er gewünscht hatte. Sehr befangen und verwundert blickte das weiße Mädchen, an den Arm seines Paten geschmiegt, in dieses seltsame Schauspiel hinein, wobei ihm der fast gruselige Ort kaum unheimlicher vorkam als die Unmenge von vornehmen Herren in dunklen Röcken und Staatsuniformen mit blinkenden Ordenszeichen. Es war das erste Begräbnis, dem sie beiwohnte; es war ein sehr eigenartiges Schauspiel, und auch für eine minder kindliche Seele wäre es schwer gewesen, die Kontraste dieses Schauspiels mit dem friedlich beschaulichen Bilde des kleinen, weißlockigen Onkel Professors zu vereinigen, wie ihn Grete gekannt hatte. Da hatte ein roh gezimmerter, schmuckloser Sarg gestanden, und hinter diesem Sarge ein schlanker, schwarzbärtiger Prediger in dunkler Tracht, der gewaltig predigte und in seine Predigt viele Worte und Sätze aus einer fremden, bald wild und bald süß bittend klingenden Sprache mischte. Die goldene Sonne spielte zwischen den Zweigen durch, in dem dichten, ungepflegten Gehölz zu Häupten des Predigers rauschte der Wind, und der Prediger rief mit feierlicher Leidenschaft: „Ihr Palmen, schüttelt die Häupter, weil der Gerechte stirbt und ein Führer in Israel dahin ist! Es waren keine Palmen, nur einfach deutsche Eichen, Birken und Holderbäume; aber das weiße Mädchen hörte in diesem Augenblick wirklich die Palmen am Saume der Wüste rauschen. Ihrer jungen und raschen Phantasie wandelte sich das Bild des guten Onkels und seines deutschen Leichengefolges in ein anderes um, das ihr schon geläufig war aus dem biblischen Lesebuch, mehr noch aus vielen schönen, bunten Abbildungen, die ihr der Onkel Professor in einer großen Mappe gezeigt hatte: Städte von Häusern ohne Fenster, mit flachen hellen Dächern über dunklen engen Gassen, umgeben von grünen Saatfeldern und gelbgrauem Gefels, wo bärtige ernste Männer in weißen Mänteln neben beladenen Lasttieren herschreiten und schlanke Palmen abseits der Straße das Grab eines frommen Mannes umragen. Und mit diesem unklaren Phantasiebilde war sie vielleicht in der ganzen großen Versammlung am Sarge Isaak Bernsteins die einzige, die dem Urgrund seines ganzen Wesens und Fühlens unbewußt nahe kam.

Auch der Doktor Julius Alexander Stein war zum Begräbnis erschienen, ein stattlicher, vornehmer Herr mit mehreren Ordenszeichen, der mit den gelehrten Häuptern der Universität verkehrte wie ihresgleichen und von den meisten seiner ehemaligen Glaubensgenossen mit großer Hochachtung begrüßt wurde. Sehr freundlich und anregend unterhielt er sich auf dem Heimwege mit Hans Ritter und dessen kleiner Begleiterin. Es war ihm, wie er versicherte, eine eigene Freude, bei so ernstem Anlaß endlich die schon längst gewünschte persönliche Bekanntschaft seines langjährigen, ihm so besonders werten Mitarbeiters zu machen.

Der Doktor Julius Alexander Stein war ein wohlhabender Herr, der ohne Thränen von einer Erbschaft absehen konnte, auf die er unter obwaltenden Umständen doch nie gerechnet hatte.

[114] Uebrigens erwies sich diese Erbschaft doch nicht so bedeutend, wie man es allgemein voraussetzte. Ein großer Teil von ihr war eben schon bei Lebzeiten nach und nach ausgeteilt worden, an arme Studenten und an dürftige fromme Glaubensgenossen, die dem Spender weder mit Worten danken noch seine Gutthat preisen durften, „denn der Dank frißt die Freude des Gebenden auf“, pflegte der Professor Isaak Bernstein zu sagen. Zu ähnlichen Zwecken bestimmte auch das Testament ansehnliche Legate, immerhin blieb noch eine ziemlich hohe Summe übrig, die ebenso wie der Weinberg dem Doktor Hans Ritter als Haupterben zufiel. Man kann durch eine Erbschaft nicht vollkommener überrascht werden, als es der Doktor Hans Ritter war. Es gab trotzdem Leute, die ihn von dieser Zeit an für einen besonders schlauen und erwerbskundigen Mann ansahen, aber es muß zur Ehre des menschlichen Geschlechts gesagt werden, daß es nur solche Leute waren, die nicht das Vergnügen hatten, den Doktor Hans Ritter näher zu kennen.

Das freundschaftliche Verhältnis zwischen Isaak Bernstein und Frau Margarete Klämmerlein hatte zweifellos auf einer hohen gegenseitigen Achtung beruht, immer aber war es nicht derart, daß man dem Tode des Professors eine besonders erschütternde Wirkung auf die alte Dame beimessen mochte. Sie war ja freilich schon seit einigen Monaten sehr schwach und fast ganz an ihr Zimmer gefesselt. Hans Ritter hatte ihr eine klösterliche Pflegerin bestellt und dafür gesorgt, daß ihr an geistlicher und leiblicher Tröstung nichts fehlte. Nun schien ihr doch die Nachricht vom Hinscheiden des Professors, der immer noch einige Jahre jünger war als sie, einen großen Stoß zu geben. Seitdem wurde sie täglich schwächer, und zwei Tage nach ihrem letzten Namenstag entschlief sie – „an Altersschwäche“. Ihr Gedächtnis, das sie während der letzten Jahre manchmal Personen und Verwandtschaftsgrade bös durcheinander wirren ließ, hatte sich zuletzt wieder geklärt, sie sah alle ihre Lieben, die Lebenden und die Toten, leibhaftig und deutlich vor sich, lispelte gute Worte zu jedem, und so schied sie in friedlich beglückter Häuslichkeit, gestärkt durch die Trostmittel ihrer Kirche und umgeben von allem, was ihr lieb war. An ihrem letzten Namenstage hatte sie noch einmal ein Stündchen besonderen Wohlbefindens gehabt und ihn auf freundliches Zureden des Arztes und des Doktors Hans Ritter damit gefeiert, daß sie die von Grete ihr zu diesem Tage zurückgestiftete Flasche Kometenwein endlich entkorken ließ. „Er wird auch sonst gar zu alt,“ meinte sie lächelnd. Ein wunderbarer Rebenduft erfüllte das Zimmer, die alte Frau winkte einen nach dem andern an ihr Lager, um mit ihm anzustoßen, und mit ganz leiser Stimme erzählte sie, wie sie auch einmal da gewesen sei, wo dieser Wein wächst. Auf der Hochzeitsreise sei es gewesen, sie hätten nur sieben Tage reisen können und sehr bescheiden, aber es seien doch die schönsten Tage gewesen, voll Sonnenschein und Rosen. Lauter Rosen und Sonnenschein!

Am Vorabende des Begräbnisses stand der Doktor Hans Ritter mit Grete am Gartenthürchen. Die Sonne ging eben unter, es war ein Flimmern und Leuchten, daß sie sich zuletzt geblendet umwenden mußten. Da hörten sie hinter sich einen freundlichen Gruß, und als sie zurückschauten, stand da neben einem stattlichen Herrn mit grauem Schnurrbart ein schlanker, schöner Jüngling, beide in Reisekleidern. Der Jüngling blickte lächelnd und verwundert auf das kleine goldlockige Mädchen, dessen fragendes Antlitz rosig vom Abglanz des Abendscheins leuchtete, und der Hauptmann von Seedorf streckte Hans Ritter die Hand hin und sagte: „Unser herzliches Beileid! Das ist nun das zweite Mal, daß wir beide uns in ernsten Tagen finden, mein lieber Doktor, aber im ganzen scheint es anders zu sein als damals. Wir sind eben angekommen, Karl hat die Anzeige in der Zeitung ganz zufällig im Gasthof gefunden. Nun sehen Sie nur, wie die beiden sich anstarren! Es ist aber auch kein Wunder, uns Alten geht es nicht besser, was ist das Mädel groß geworden! Ja, aus Kindern werden Leute!“

13.

Die gute Luise, welche jetzt als Thronerbin von Frau Margarete Klämmerlein das Scepter in Küche und Hauswesen führte, hatte während der nächsten Wochen öfter Anlaß, sich über den häuslichen Eifer des weißen Mädchens zu verwundern. Von dem eigentlichen Grunde dieses Eifers, der Grete den Aufenthalt in der Küche mitunter selbst einem Familienspaziergang vorziehen ließe, ahnte die gute Luise nichts, und Grete selbst hätte ihr ihn auch kaum deutlich machen können, denn es war nur ein dunkles Gefühl – das Gefühl der Furcht vor jener männlichen Würde, Gelehrsamkeit und Ueberlegenheit, welche der kleinen Grete zum erstenmal in ihrer ganzen Fülle an dem Unterprimaner Karl von Seedorf entgegentrat.

Der Doktor Hans Ritter war ja auch ein recht gelehrter Herr, aber wie er überhaupt unpraktisch war, so legte er eben keinen Wert darauf, mit seinem Wissen zu imponieren, ein kleines Mädchen konnte mit ihm jahrelang verkehren und vieles von ihm lernen, ohne zu merken daß es doch unverantwortlich dumm sei. Uebrigens war der Pate Hans auch ein Wesen höherer Gattung, zu dem man ohne Beschämung aufblickt, weil es eben in seiner Natur liegt, daß es „alles“ weiß. Aber ein großer Junge, der beinahe noch mehr als alles zu wissen scheint – das ist etwas Schreckliches. Nicht als ob dieser große Junge sich patzig oder renommistisch gestellt hätte! Er war überaus freundlich, wollte nicht anders als früher angeredet werden und ließ sich alles zeigen, was einem lieb war, von der größten Puppe bis zum selbstgepflanzten japanischen Hopfen, der an der Wand wächst. Nicht er renommierte, sondern die ungeheuere Bildung renommierte ohne sein Zuthun aus ihm heraus, wie der Dampf aus dem Theekessel. Wenn aber Grete so unvorsichtig war, dem überwältigenden Eindruck von so viel Weisheit schüchtern Ausdruck zu geben, so sah er sie mit einem unerträglich gütigen Lächeln an und sagte entweder. „Das wirst du später auch schon lernen“ oder „Ja, weißt du, das ist nichts für euch!“ Und er war doch nur ein großer Junge.

Grete verstand natürlich nicht, daß sie alles in allem nur eine Scene aus dem großen Kampf der Geschlechter mitspielte, aber ein dunkler und sicherer Trieb ließ sie endlich auch zu den Waffen greifen. Sie zog sich in die Küche zurück, wie in eine Burg, wo ihr das Wissen der guten Luise manche schätzbare Munition lieferte, und indem sie den Feind hinterlistig nachlockte, gelang es ihr sogar, ihm einige empfindliche Schlappen beizubringen. Der Kenner des Gebisses der Carnivoren erwies eine beschämende Unkenntnis in den Grundgesetzen des Kartoffelschälens, und als er es sich mit all seinem botanischen Latein beikommen ließ, ein Bündel Schnittlauch für Sellerie zu halten, mußte er unter dem vereintem Gelächter der weiblichen Sieger, von Wöppy verfolgt, einen fluchtartigem Rückzug antreten. –

Zur selben Stunde, wo sich in den nahrungspendenden Gebieten des Hauses die Niederlage des humanistisch gebildeten jungen Mannes vollendete, wurde auch draußen in der Bohnenlaube an seinem Schicksal gesponnen. Der Hauptmann von Seedorf und der Doktor Hans Ritter saßen beisammen, tranken Wein, hüllten sich in Rauchwolken und berieten wichtige Dinge.

„Wissen Sie, lieber Doktor,“ sagte eben der Hauptmann, „daß Ihnen mein Junge gefällt, das freut mich wirklich ganz ungemein. Es ist eine Ehre für ihn – und auch eine wie – soll ich sagen? – eine Genugthuung für mich. Denn das war ja in diesen flauen Zeiten immer meine größte Sorge, ob der Junge in seiner Ausbildung keinen Knacks bekommen würde. Sie müssen eben bedenken, was das für ein Hin und Her war, ein Wechseln der Anstalten und Lehrer, weil ich ihn doch in den Jahren nicht von mir thun wollte. Zuletzt, im vorigen Frühjahr, gab ich meinem Herzen doch einen Stoß und that den Jungen in das Pädagogium, da oben in dem merkwürdigen Nest zwischen Heide und Moor; ich kannte die Gegend noch von meinen ersten Manövern her und dachte, so lange die Versuchung noch anderswo so gut reüssiert, wagt sie sich in diese reizvolle Gegend nicht; bequemer als in meinen damaligen Verhältnissen hatte er es ja dort jedenfalls, auch war mir die Anstalt sehr empfohlen worden.

Ich arbeitete mich derweil in meinem Versicherungsfach ab, es ging hervorragend miserabel, und ich war diesmal wirklich nahe daran, den Mut zu verlieren, als mich der reine Zufall Seiner Erlaucht dem Reichsgrafen von und zu Nordeck in den Weg laufen ließ; Anno Siebzig war er als Avantageur bei den Königshusaren mit Gott für König und Vaterland ausgeritten. Damals hieß er noch Erbgraf, und es kann ja sein, daß er niemals über diesen Posten auf Wartegeld hinausgekommen wäre, [115] wenn ich nicht bei einer gewissen kleinen Balgerei den rothosigen Sergeanten, der eben auf ihn anlegte, zusammengehauen hätte, wodurch denn die Chassepotkugel ein paar Zoll nach rechts abflitzte und nur den linken erbgräflichen Oberarm streifte. Jedenfalls erinnerte sich die Erlaucht daran mit einer beschämenden Treue, und da ich ihm unvorsichtigerweise etwas von meinen betrübenden Verhältnissen verriet, so kam’s schließlich, daß ich am anderen Morgen als Mitglied der reichsgräflichen Fideikommißregierung aufwachte. Und sehen Sie, so geht’s in der Welt, dieser junge Mann findet im Handumdrehen für mich das, wonach ich seit sechzehn Jahren vergeblich suchte, einen richtigen Posten für mich, wo ich dahinten in der Polackei auf meinem Starostenschloß sitze, meinen Beamtenstab in der Zucht des Herrn halte und den Eingeborenen gegenüber den Europäer repräsentiere. Ich thue meine Pflicht als Güterdirektor und Christ, bin außer dem Herrgott nur Seiner Erlaucht Rechenschaft schuldig und beziehe vor allem mein sicheres, sehr auskömmliches und pensionsfähiges Gehalt, zu dessen Verschwendung sich in der Gegend auch mit angestrengtestem Nachdenken keine Wege ausfinden ließen; kurz, ich bin geborgen und könnte allabendlich mein angegrautes Haupt friedlich zur Ruhe legen, wenn nur eben die Sorge um den Jungen nicht wäre. Damit komme ich wieder auf mein Thema!

Das Pädagogium geht, wie Sie wissen, nur bis Unterprima einschließlich, es müßte also zu Ostern wieder ein Wechsel eintreten, denn sein Abiturientenexamen muß der Junge natürlich machen! Das wäre denn wieder eine neue Schwierigkeit, aber auch vielleicht ein Glück. Denn – ich glaube, die Hauptsache für einen jungen Mann von heutzutage ist doch, daß er allmählich und nicht so mit einem Plumps aus der Gebundenheit in die sogenannte Freiheit hineinkommt. Also auf unsern Fall angewandt: der Junge braucht für sein letztes Schuljahr ein Haus, in dem es bürgerlich aber behaglich zugeht, und in dem Hause einen väterlichen Freund, der ihm vertraut und dem er vertraut. Und um es kurz zu machen, lieber Freund. Sie thäten mir und, wie ich weiß, auch dem Jungen den größten Dienst, wenn Sie der Mann sein wollten! Sie brauchen nur Ja zu sagen, dann ist die Sache erledigt und Karl tritt zu Ostern bei Ihnen an, daß er dann die nötigen Kenntnisse für die hiesige Oberprima mitbringt, hat mir der Direktor des Pädagogiums verbürgt. Was die materielle Entschädigung betrifft, so brauchen Sie nur zu sagen, was Sie wünschen. Aber damit ist’s ja nicht genug, Sie verdienen sich außerdem noch einen Stuhl im Himmel und dauernde Dankbarkeit in diesem Leben von uns beiden."

Nach diesem Hauptangriff zündete der Hauptmann die Cigarre wieder an und lehnte sich behaglich auf seinem Stuhl zurück, um den Abwehrversuchen des überraschten Doktors einzeln mit überlegener Strategie zu begegnen.

„Aber, verehrter Freund,“ sagte schließlich der Doktor Hans Ritter, „ich habe ja nicht einmal Platz für ihn. Da sehen Sie sich doch das Häuschen nur an!“

„Das habe ich bereits gethan,“ erwiderte der Hauptmann sehr ruhig, „und es ist gut, daß Sie mich daran erinnern. Ich kenne Sie und begreife vollkommen, daß Sie den alten Bau nicht verlassen wollen. Wenn ich Ihnen raten darf, so mieten Sie ihn nicht weiter, sondern kaufen Sie ihn, Sie haben ja jetzt das Kapital dazu. Ich habe mich erkundigt, die Verwaltung ist willens, sich des Anwesens zu einem anscheinend sehr annehmbaren Preise zu entledigen. Und dann setzen Sie einfach hinten statt der Küche einen zweistöckigen Anbau in Hausbreite hin; so gewinnen Sie zwei bis drei neue Räume! Die Sache geht famos! Ich habe mir sogar schon erlaubt, die Sache oberflächlich zu berechnen, abzumessen und zu skizzieren. Nun, warum lachen Sie denn? „Da soll einer nicht lachen,“ rief Hans Ritter. „Am Ende bauen Sie mir noch über meinem Kopf einen gotischen Turm auf das Dach, das mir noch gar nicht gehört. Wie soll ich mit dem Jungen fertig werden, wenn der auch so energisch eingreift wie der Alte?“ „Davor brauchen Sie keine Angst zu haben,“ entgegnete der Hauptmann. „Der wandelt auf anderen Bahnen, die ihn wohl schließlich, so Gott will, zu irgend einem Lehrstuhl für Zoologie der Regenwürmer oder so etwas führen werden. Im Docieren ist er schon jetzt groß. Die Aepfel fallen zuweilen recht weit von den Bäumen! Na, einerlei, wenn er nur brav bleibt und sein gerad’ gewachsenes Gemüt behält.

In diesem Augenblick kam Karl herbei. Ehe es Hans Ritter verhindern konnte, hatte der Vater ihm mitgeteilt, um was es sich handelte, und die unverstellte herzliche Freude Karls besiegte das letzte Bedenken des Doktors.

Eine Woche darauf reisten die beiden wieder ab, und nach weiteren acht Tagen begannen Maurer und Zimmerleute ihr geräuschvolles und staubiges Werk, welches besonders der guten Luise manche aufregende Stunde brachte. Im Grunde ihres Herzens aber war sie doch sehr stolz, daß ihr Herr endlich auch einmal „etwas an sich legte“.

„Das Kind“ war anfangs sehr betroffen über die Aussicht, den großen Jungen nun nächstens sogar als Hausgenossen ertragen zu müssen. Aber das Bewußtsein, daß sie ihm doch in einigem „über“ sei, versüßte ihr den Gedanken und auf jeden Fall war es eine Neuigkeit, über die sich mit ihren Schulfreundinnen vieles reden ließ. Als eine große Schwierigkeit erwies es sich dabei, den künftigen Hausgenossen ihren Freundinnen gegenüber kurz zu bezeichnen. Schließlich nannte sie ihn einfach ihren Vetter, „er sagt ja auch Onkel zu meinem Paten Hans, und ich zu seinem Vater,“ dachte sie. Uebrigens bewies der „Vetter“ sich aus der Ferne sehr aufmerksam, er vergaß Grete in keinem seiner Briefe an ihren Paten, und zu Weihnachten fand sie auch ein Geschenk von ihm unter dem Christbaum. Mit alledem entging er seinem Schicksal nicht; als er zu Ostern einzog, fand er auf seinem Arbeitstisch ein zierliches Sträußchen, aus Märzveilchen und Schnittlauch zusammengestellt. Er war klug genug, sich bei der Spenderin mit allen Zeichen des Vergnügens zu bedanken. „Nicht ’mal ärgern läßt er sich,“ sagte sie sehr enttäuscht zu ihrem getreuen Wöppy.

[128]
14.

Es entsprach den sonderbaren Ansichten Hans Ritters über Erziehung heranwachsender Jugend, daß er von seinem Pflegebefohlenen keine Minute Zeit mehr beanspruchte, als dieser ihm freiwillig widmete. Er sah es gern, daß der Jüngling mit einigen passenden Schulkameraden, die anscheinend eine besondere Gruppe in der „Klasse“ bildeten, fleißig verkehrte, auch an ihren Leibesübungen und gemeinsamen Ausflügen teilnahm, und besonders gern sah er es, daß Karl die Einladungen von Frau Professor Weber und ihrer Tochter nicht vernachlässigte, mit den erziehenden Damen respektvoll verkehrte und sich auch bei solchen kleinen Festen, an denen die jüngeren Insassinnen des Hauses unter üblicher Aufsicht teilnahmen, den Ruf eines wohlerzogenen jungen Mannes erwarb, „den man ruhig einladen kann.“

Zu solchem großartigen Verkehr war das weiße Mädchen noch ein paar Jährchen zu „klein“, aber auch sie war alsbald zu einem friedlichen und familiären Verhältnis mit dem „Vetter“ gelangt, sie freute sich über jeden kleinen Dienst, den sie ihm im täglichen Verkehr leisten konnte, und er widmete ihr eine gewisse brüderliche Ritterlichkeit, die von seiner früheren gelehrten Herablassung angenehm abstach. Grete war auch äußerlich ein sehr liebes Mädchen, groß und stark für ihr Alter, ihr rundes Gesichtchen unter dem vollen, aufgekämmten Goldhaar, das hinten in zwei mächtigen Zöpfen niederhing, war nicht eben „klassisch“ geschnitten, aber ungemein angenehm durch die reinen, blütenfrischen Farben und vor allem durch den Ausdruck der großen blauen Augen, aus denen eine Welt von Liebe strahlte. Wenn sie neben dem schönen, kräftig schlanken Jüngling einherschlenderte und seelenvergnügt zu seinem braunlockigen Haupte aufblickte, so sahen gute Menschen mit Wohlgefallen nach den beiden, und mancher, der betrübt war, kam ein Weilchen auf andere Gedanken.

Weder der Hauptmann von Seedorf noch der Doktor Hans Ritter gehörten zu jenen Männern, die es als eine Kränkung ihrer bürgerliche Ehre ansehen, wenn „ihr Junge“ in der Schule nicht auf dem ersten Platze sitzt. Uebrigens hatte sich Karl, dank der vortrefflichen Ausbildung des Pädagogiums und seiner Fassungsgabe, leicht und ohne Nachhilfe auch auf dem Gymnasium in der vordersten Reihe gehalten und brauchte das Examen nicht zu fürchten. Natürlich begann gleichwohl für ihn im Winter eine Zeit verstärkten „Ochsens“ und Repetierens. Eben aber in dieser Zeit machte der Doktor Hans Ritter eine Entdeckung, die ihm bewies, daß doch auch für ihn noch eine verschlossene Kammer in der Seele seines Zöglings war. Zunächst fiel ihm, kurz nach einer fröhlichen Neujahrsgesellschaft im Weberschen Hause, die merkwürdige vergnügte Zerstreutheit Karls auf, die zeitweilig in entschiedene Schwermut umzuschlagen schien. Nach ewiger Zeit fanden sich für diese ungewöhnlichen Stimmungen die ersten Ursacherscheinungen: ein Löschblatt, mit flammenden Herzen bemalt, ein leerer Briefumschlag, welcher, zwischen ähnlichen Zeichnungen, auf deutsch, lateinisch, griechisch, englisch, französisch und sogar hebräisch die verhängnisvollen Worte „ich liebe Dich!“ trug. Ueberraschend konnte die Entdeckung für ihn nicht sein; er hatte sich schon früher gelegentlich erinnert, daß bei ihm selbst und verschiedenen Schulfreunden der platonische Zustand ein bis zwei Jahr früher eingetreten war als Karl jetzt zählte. Einstweilen schwieg er noch. Aber wiederum nach mehreren Tagen sagte ihm Fräulein Weber lachend: „Wissen Sie übrigens, lieber Herr Doktor, daß Ihr Karl auch dichtet? Dieser Tage hat er meiner Cousine und mir hier eine Probe vorgelesen und das Autogramm sogar aus Versehen liegen gelassen, ganz wie ein richtiger Dichter. Da sehen Sie, da sind die Verse!“

Es waren wirkliche Verse, anscheinend ein Schwanengesang, denn der jugendliche Dichter versicherte darin wiederholt, daß sein Herz gebrochen, seine Hoffnung tot sei, er sprach den unbescheidenen Wunsch aus, das „Himmelsrund“ möge einstürzen, um ihn zu begraben, und knüpfte daran überraschenderweise die Zuversicht, alsdann werde wohl „eine“ kommen, um an seinem „einsamen Grab“ zu beten. „Wenigstens die Reime sind ziemlich sauber, seufzte der Doktor Hans Ritter, aber es war ihm doch unbehaglich zu Mute, denn dieses Symptom schien ihm bei diesem Menschen doch schon auf weitere Fortschritte des Uebels zu deuten. Man konnte schließlich nicht wissen – Karl mußte sehr einnehmend für weibliche Augen erscheinen, und auch unter Hans Ritters Zuhörerinnen gab es sehr anziehende Gesichtchen. – –

Er beschloß, den Sünder einmal nach Tisch auszuhorchen. „Sag’ ’mal, mein Junge, ich höre, du dichtest jetzt auch?“

Karl wurde dunkelrot. „Ach, weißt du, Onkel Hans, das war nur so … Es ist aus“, fügte er mit Grabesstimme hinzu.

„So,“ sagte der Onkel, „na, das freut mich. Wirklich aus?“

Karl zog ein beschriebenes Blatt aus der Logarithmentafel und überreichte es ihm. „Das ist mein Abgesang“, sagte er und verschwand, es war Zeit zum Nachmittagsschulgang, und selbst mit einem Vulkan im Busen darf man nicht zu spät kommen.

Auch der Doktor Hans Ritter machte sich auf den Weg, denn er hatte um drei Uhr Litteraturvortrag über Goethes „Tasso“. Unterwegs überzählte er nachdenklich seine Zuhörerinnen. „Ade! An E. Sc.“ lautete die Ueberschrift des „Abgesangs“. Aber er erinnerte sich nicht, jemals eine junge Dame gekannt zu haben, deren Familiennamen so ungewöhnlich war, mit Sc anzufangen.

Sehr zerstreut betrat er sein Vorlesungszimmer und verbeugte sich wie üblich nach dem Seitentischchen, an welchem die alte Frau Professor Weber als dame d’honneur zu sitzen pflegte. Die Inhaberin des Tischchens erhob sich und schüttelte nickend sechs hellblonde Hobelspanlöckchen. „Ach,“ sagte sie, „Sie werden entschuldigen, Frau Professor ist heute verhindert –“

„Ach, das ist mir aber wirklich sehr angenehm!“ rief der Doktor Hans Ritter. „Das heißt, ich wollte sagen … wer denkt auch an so etwas!“

Die Dame mit den sechs Hobelspanlöckchen und der nadelspitzen Nase war Miß Edith Scott, die englische Lehrerin des Pensionats, die sich kurz nach Neujahr in der Blüte ihrer achtunddreißig Winter mit dem Zeichenlehrer Rabe verlobt hatte.

„Wissen Sie, lieber Herr Doktor, das ist ja sehr beruhigend für Sie“, meinte Fräulein Martha Weber, als ihr Hans Ritter [129] nach der Stunde seine Entdeckung mitteilte. „Ein junger Mann, der mit achtzehn Jahren die Erstlinge seines Herzens einer beinah’ vierzigjährigen Miß opfert, der ist normal, auf den können Sie sich verlassen!“


15.

Ein paar Monate, nachdem das Herz des Jünglings im Entsagungsschmerz um die nichtsahnende Miß gebrochen war, bestand er mit Glanz sein Examen, und die zum letztenmal vor ihm geöffnete Pforte des Gymnasiums erschien, seinem heitern Blick als das Ausgangsthor in ein herrliches und unabsehbares Gefilde. Es war ausgemacht, daß er zunächst seinen Vater auf einer großen Reise in die Schweiz begleiten und dann in Freiburg zurückbleiben sollte, um dort sein erstes Semester Naturkunde und wohl mehr noch Naturgenuß zu pflegen. Dann sollte er in einer erheblich weiter ostwärts gelegenen Universitätsstadt sein Jahr abdienen, bei einem Regiment, dem auch sein Vater angehört hatte und in dessen Annalen der Name Seedorf seit drei Geschlechtern ruhmvoll fortlebte.

Doktor Hans Ritter hatte darauf bestanden, daß Karl seine Studien auswärts beginne. „Es taugt nicht, wenn der junge Wein im alten Fasse bleibt“, meinte er; „eine Erziehung ist jetzt zu Ende, die neue muß von neuen Erziehern geleitet werden, und ihr Katechismus ist das ungeschriebene Gesetzbuch des löblichen Burschentums.“ Karl hatte sich bereits für eine Verbindung entschieden, welche seit einiger Zeit auf vielen Universitäten Wurzel geschlagen hatte und mit vielem Feuer für sittliche und patriotische Ideale eintrat. Hans Ritter hatte nichts gegen diese Ideale einzuwenden, wenn es ihm auch vorkommen wollte, als ob ihre jugendlichen Vertreter sich nicht immer frei von dem Uebel eines leitartikelschreibenden Säkulums hielten, Selbstverständliches als Tugend zu preisen. Er gab wenig auf äußerliche Zeitformen und war es schon zufrieden, daß Karl sich einem [130] festen Verbände einfügte und nicht vorzog, erziehungslos auf eigene Hand durch den Ocean der akademischen Freiheit plätschern zu wollen.

Zum Abgang vom Gymnasium hatte er seinem Zögling ein Kommersbuch gestiftet. Es war ein dicker, stattlicher Band mit goldgepreßtem Deckel, der Doktor Hans Ritter lächelte ein wenig ironisch, als er dieses Prachtwerk mit dem bescheidenen Buche verglich, welches ihm vor zwanzig und etlichen Jahren die Texte zu seinen musikalischen Versündigungen geliefert hatte. Auch der Inhalt wies schon bei flüchtigem Durchblättern manche Neuerung auf. Viele gute und schöne Lieder waren hinzugekommen, vieles Gute und Schöne hatte man aus Gründen, die der Doktor Hans Ritter nicht begreifen wollte, unter den Tisch fallen lassen, und manches war dafür eingesetzt worden, was nur aus Versehen in einem Liederbuch für die erwachsene Jugend mitzulaufen schien. Eines von jenen Liedern, die der Doktor Hans Ritter nicht wiederfand, schrieb er mit seiner kleinen, ebenmäßigen Handschrift auf das weiße Schutzblatt vor dem Titel.

Karl las die Verse, und mit halblauter Stimme und begeisterungsroten Wangen wiederholte er eine Stelle, die ihm besonders Eindruck zu machen schien:

„Edler Geist des Ernstes soll
Sich in Jünglingsseelen senken,
Jede still und andachtsvoll
Ihrer heil’gen Kraft gedenken!“

„Siehst du, Onkel Hans,“ rief er, „das drückt ganz genau aus, was meine Bundesbrüder wollen! Von wem ist das Lied? Es klingt manchmal so altertümlich, und es predigt doch unsere Ideale!“

„Habe ich den Namen des Dichters nicht darunter gesetzt?“ erwiderte der Doktor Hans Ritter. „Wahrhaftig, ich hab’s vergessen! Ich dachte, du kenntest das Lied. Es ist von dem deutschesten der deutschen Dichter, wie man ihn wohl nennen mag, von Ludwig Uhland. Er schrieb diesen ‚Gesang der Jünglinge‘, als er so alt war wie du jetzt bist und wie du im Begriff stand, die Freuden des Burschenlebens zu genießen; im Jahre, in dem Schiller starb, und ein Jahr vor der Schlacht bei Jena. Wir mögen daraus merken, daß diese Ideale, für die ihr eintreten wollt, nicht ganz so neu sind, und das ist das Beste daran. In trüber Zeit gingen sie leuchtend auf und führten die deutsche studierende Jugend aus einer bösen Versumpfung heraus. Wenn ich gewisse Erscheinungen unserer Zeit in Betracht ziehe, so fehlt es jetzt, unter der neuen Herrlichkeit deutscher Einheit und Macht, auch nicht an Irrsternen und Irrlichtern, welche die Jugend wieder in den Sumpf locken möchten. Es ist auch weiter kein Wunder, denn es ist mit den Völkern wie mit den Menschen, sie können nichts schwerer ertragen als eine Reihe von guten Tagen. Ihr wollt euch ans Ideale halten, das ist fein und löblich, vielleicht ließe sich’s noch kürzer sagen: ihr wollt freudig bleiben! Denn das Heilige, welches alles Gute im menschlichen Leben zur Reife bringt, und welches auch dies Lied preist, das ist die Freude; die Freude an der Natur, an Wissen und Kunst, an den Geschlechtern, die vor einem Gutes geschaffen haben, an seinem Volke, und besonders die Freude an sich selber, an allem, was einem der Herrgott gegeben hat und was man fortbilden soll, um andern Freude zu machen; die Freude, die man schlürft wie die tägliche Lebensluft und nicht schlingt, die Freude, die uns vom Tier unterscheidet! Wer sich rein zu freuen strebt, der kommt über die Versuchung weg, gemein zu genießen.“

Der Hauptmann von Seedorf war während dieser Worte unbemerkt eingetreten und hatte still zugehört. Als Karl mit seinem Buche weggegangen war, schüttelte er Hans Ritter die Hand und sagte:

„Doktor, Sie hätten Prediger am Kadettenhaus werden sollen, aber recht haben Sie. Ich danke Ihnen, daß Sie’s meinem Jungen gesagt haben, und ich wollte, mir hätt’ ’s einer in dem Alter auch so gesagt. – – Beiläufig, wissen Sie auch das Neueste von Ihrem weiland Freunde, dem fürstlichen Geheimrat Johannes Mohr, und seiner besseren Hälfte? Da müssen ja nette Dinge vorgekommen sein! Erst fällt diese Frau Beate aus Eifersucht – noch dazu aus grundloser Eifersucht – über eine ihrer jungen Lehrerinnen her, dann wird sie auf Antrag dieser Lehrerin, die anscheinend etwas sehr viel weniger Geduld besitzt als unsere liebe selige Freundin, wegen wörtlicher und thätlicher Beleidigungen zu so und so viel Strafe und Entschädigung verurteilt; und dann geht die Lehrerin auch noch hin und schreibt eine Broschüre: „Eine Musterschule für Equipagenkinder“ oder so ähnlich. Was sagen Sie dazu? Ich wollte es Ihnen schon gestern erzählen, mir hat’s unterwegs ein alter Bekannter berichtet, der die Geschichte genau kennt, denn er hatte die ehrenvolle Aufgabe, die Klägerin als Rechtsanwalt zu vertreten.“

„Ich habe davon gehört,“ sagte Hans Ritter. „Es sind arme Leute.“

„Na, wissen Sie,“ meinte der Hauptmann, „so weit bin ich nun doch noch nicht, diese Sorte noch zu bedauern. Sie haben ihre Anstalt um ein Heidengeld verkauft und fühlen sich möglicherweise sehr wohl!“ –

Diesmal weinte Grete doch sehr, als Karl mit seinem Vater abreiste; sie hatte sich an ihn gewöhnt. Dann aber nahm sie sich vor, den Paten nun, wo er „nur sie“ hatte, erst recht lieb zu haben und dieser Vorsatz gewann an Stärke, als sie erfuhr, daß auch dies Zusammensein bald auf eine „schrecklich lange Zeit“ unterbrochen werden solle.

Zum erstenmal hatte Fräulein Martha Weber durch ihren Zuspruch einen lange widerwillig erwogenen Entschluß Hans Ritters entschieden, wobei sie mit großer Umsicht seine eigenen Ratschläge über Karls Studiengang als Waffe gegen den Unschlüssigen gebrauchte.

„Da haben Sie sehr weise gehandelt, lieber Freund“, sagte sie in ihrer bestimmten, munteren Weise. „So ein langes Edelhähnchen muß zur rechten Zeit aus dem Nest, fort von den Alten und unter seinesgleichen, damit es sich in der Welt aus eigenen Augen umsieht und fliegen lernt. Aber nun müssen Sie auch ebenso an Ihre Grete denken. Lieber Gott, wir kennen Sie und wissen, wie gut es das herzige Kind bei Ihnen hat! Aber sie wird jetzt im Herbst vierzehn Jahre, und in dem Alter kann ihr kein Schulunterricht einen Ersatz mit nach Hause geben für das, was nun einmal ihr wie so manchem Mädchen zu Hause fehlt; ich meine, häusliche Gesellschaft ihresgleichen und Obhut einer gebildeten Weiblichkeit. Es hilft Ihnen nichts, Sie müssen sie jetzt ein paar Jahre ganz von sich thun, an einen Ort, wo sie das findet.“

„Könnte sie denn nicht vielleicht bei Ihnen … ich meine, wenn Sie sie eine Zeit lang ganz zu sich nähmen –?“ stotterte der unglückliche Pate, aber die entschlossene Dame schnitt ihm mit einem Lachen die Rede ab:

„Lieber Freund, das meinen Sie doch unmöglich im Ernst! Es wäre ja gerade, als wenn Sie Ihren Zögling hier auf die Universität geschickt und ihm nur eine Wohnung außerhalb Ihres Hauses gesucht hätten! Nein – Sie wissen, wie gern wir das Kind haben und immer bei uns haben möchten, aber das geht nicht! Recht weit weg müssen Sie sie thun und wenn es nach meinem Willen ginge, so würde sie auch während der Ferien fürs erste dort bleiben oder zu Besuch bei Freundinnen, wo sie denn auf die einfachste Weise lernt, sich auch ohne das gewohnte Gängelband unter Fremden zu bewegen. Was meinst du dazu, Mutter?“

Die Frau Professor saß in ihrem Lehnstuhl und arbeitete an einem Erstlingsjäckchen. Es war ein geheiligter Brauch für sie, jeder ehemaligen Schülerin zum ersten Sprößling eine selbstgehäkelte und gestrickte „Garnitur“ zu stiften, und diesmal war es, wie sie mit vielem Stolz ausrechnete, gerade Nummer Hundert und eins. Die Sache schien Eile zu haben denn die Frau Professor sah nur einen Augenblick freundlich lächelnd auf und nickte dem Doktor ermutigend zu.

„Ich finde, meine Tochter hat recht,“ sagte sie weiterarbeitend; „Sie wissen, lieber Herr Doktor, ich bin keine strenge Verfechterin des Pensionatswesens und habe selber oft genug Eltern abgeraten, aber diesmal muß ich zuraten. Sie müssen auch nicht denken, daß es draußen in der Welt nur Anstalten von der Art giebt wie die, worin der ehemalige Kollege von meiner Tochter, der Herr Doktor Mohr, damals hineinheiratete; Sie sind etwas parteiisch, wenn Sie uns immer als einzigartige [131] Ausnahme ansehen, ich habe Ihnen das ja schon öfters gesagt. Da ist zum Beispiel eine, an die wohl meine Tochter auch gedacht hat, sie liegt in einer reizenden Gegend und die Besitzerin ist eine frühere sehr liebe Gehilfin unseres Hauses. Ihr liebes kleines Mündel bliebe damit sozusagen ganz in der Tradition – –“

„Das wäre ja gewiß sehr viel wert,“ sagte der Doktor Hans Ritter erleichterten Gemütes, aber er erschrak doch wieder, als er nun hörte, wie weit jene Anstalt ablag. Sehr sorgfältig und umständlich zog er während der nächsten Wochen seine Erkundigungen ein, aber das Ergebnis war doch schließlich, daß Fräulein Weber wieder einmal recht behielt und das Verbannungsurteil unterzeichnet wurde.

In diesem Sinne betrachtete es wenigstens Grete anfangs. Sie war sehr unglücklich und empfand es als eine besondere Verschärfung, daß sie „nicht einmal Wöppy“ mitnehmen durfte. Allmählich aber siegte die verlockende Aussicht auf das Neue und der letzte Rest von Kummer löste sich vor der Ankündigung, daß der Pate sie selber hinbringen werde. Grete war noch niemals auf Reisen gewesen, und nun sollte sie eine so lange Reise, noch dazu auf Umwegen mit allerlei Unterbrechungen an schönen Orten, mit ihm machen, der alles am besten verstand und einem alles so schön zu erklären wußte!

Mit befreitem Herzen und einem Gefühl großer Wichtigkeit trat sie nun in die Beratungen über ihre Pensionatsaussteuer und über die Reiseausrüstung des Paten ein; und nun empfing der Doktor Hans Ritter allerdings von den Weberschen Damen, von der guten Luise und selbst von Gretes junger Weisheit so viel Belehrungen über alles das, was zu einer solchen Ausstattung gehört, daß er jetzt erst die Höhe der modernen Civilisation zu ahnen glaubte. Er hatte bisher noch immer der Anschauung seiner Studentenzeit gehuldigt, wonach ein Reisender im gesitteten Europa weiter nichts brauchte als eine mit dem Nötigsten gefüllte Umhängetasche, einen Stock und in jeder Hosentasche eine gleich große Summe Geldes, eine für die Ausfahrt und eine für die Heimkehr, und nach dieser Auffassung hatte er auch Karl angeleitet. Nun schrieb er ihm schleunigst einen entschiedenen Widerruf nach Freiburg, damit der unglückliche junge Mann sich nicht durch seine Schuld eines Tages in irgend einer Schlucht des Kaiserstuhls oder des Schwarzwaldes fände, hilflos und von allem entblößt, was ein wohlbedachter Reisender nach weiblicher Aussage gegen die Wechselfälle dieses Lebens bedarf.

Nicht ganz ausschließlich über lustige Orte führte der Umweg, auf dem der Doktor Hans Ritter sein weißes Mädchen in die Fremde führte. Er besuchte mit ihr die Stadt ihrer frühesten Kindheit. Welch’ lange Zeit war verflossen, als Grete nun zuerst wieder, an einem sonnigen Herbsttage, die alte Heimat betrat! Der Pate zeigte ihr das Haus, in welchem sie gewohnt hatte – es waren noch dieselben Läden im Erdgeschoß, und er fuhr mit ihr hinaus nach der Stätte, die dem Hauptmann von Seedorf zufolge die „einzige halbwegs anständige Lokalität in diesem Nest“ bildete. Dort vor dem Grabe ihres Vaters und vor jenem andern Grabe, an welchem der arme Hans Bardolf zweimal sein Herz vor Gott geopfert hatte, erzählte er ihr vieles von ihren Eltern und von ihren eigenen frühesten Lebensjahren. – –

Gar viele solche Erinnerungsreden erklingen an jedem Tag auf großen Friedhöfen, vor hölzernen Kreuzchen und vor hohen Marmorengeln. Es ist sehr gut, daß die Engel von Stein nicht hellhörig und leichtbeschwingt sind, wie wir uns ihre himmlischen Urbilder deuten; manche wären sonst längst auf und davon geflogen vor all der Bitterkeit und dem Selbstruhm, womit das Lob der Verstorbenen durchsetzt ist. Auf den Gräbern Hans Bardolfs und seines Weibes standen nur einfache Steinkreuze mit Namen und Todestag, von blühenden Herbstblumen umgeben und von dunklen, schon angewachsenen Lebensbäumen beschattet. In dem Budget des Doktors Hans Ritter war noch lange nach dem Tode seines Freundes kein Platz für marmorne Statuen frei gewesen, und wenn doch zwischen den Lebensbäumen ein Engel stand und zuhörte, so muß es einer von den unsichtbaren gewesen sein. Es war nichts Bitteres für ihn zu belauschen, und auch kein Selbstlob, wenn die Lebensbäume leise dazwischen flüsterten, so kam es vom Herbstwind, der sie berührte, und nicht vom unwilligen Flügelschlag eines Himmelsboten.

Aber manches, was Hans Ritter verschwieg, ergänzte der grübelnde Geist des Kindes an seiner Seite. Indem sie schweigsam, die zum Andenken gepflückten Herbstblüten in der Hand, neben ihm dem Ausgang zuschritt, suchte sie in ihrer Erinnerung den Weg ihres Lebens von heute bis zu jenen Zeiten zurückzuschauen, von denen er ihr erzählt hatte. Sie fand ihn nicht völlig, das Ende verlor sich im erinnerungslosen Dunkel der ersten Kindheit, aber so weit das Licht des Gedächtnisses reichte, sah sie überall denselben treuen Hüter und Weggenossen an ihrer Seite, kein Glück, das sie nicht von ihm empfangen, kein Weh, über das er sie nicht getröstet hatte!

Plötzlich blieb sie stehen, reckte die Arme zu ihm auf und lehnte schluchzend ihr Köpfchen an seine Brust – „Lieber, lieber Pate!“

Er blickte liebevoll auf sie nieder und legte sanft seine Hand auf ihre Schulter. Dann machte er sich los und strich ihr die Löckchen aus der Stirn.

„Gieb mir die Blumen,“ sagte er, „ich will sie dir in meinem Taschenbuch verwahren.

Dann verließen sie den Friedhof und fuhren zur Bahn zurück, durch eine neue Vorstadt mit mehreren Fabriken, vielen Arbeiterhäusern und einer halbfertigen Kirche. Der Ort blühte. In seinen Preßverhältnissen schien sich wenig verändert zu haben. Die neueste Nummer der Zeitung, die Bardolf einst redigierte, fand sich im Wartesaal.

Als die Sonne dieses Tages sank, waren die beiden schon viele Meilen von dem „Kohlen- und Heidenest“, und am fünften Tage sah Grete zum erstemal, atemlosen Staunens voll, das Meer, die Ostsee, still und schön, leuchtend im Sonnenschein und belebt von unzähligen Fahrzeugen. Sehr viel Wunderbares hatte man auf dieser Reise erlebt und gesehen; alte Städte mit Kirchen und Rathäusern, die der Pate „natürlich“ genau kannte, waldige Berge mit turmhohen Denkmälern, große Häfen voll tausend haushoher Schiffe, und Gasthöfe mit mehreren Kellnern, die einen als gnädiges Fräulein anredeten – aber dies war doch das wunderbarste! Und am Strande dieses Meeres, in dem schönen, weißen Hause, inmitten des wundervollen Buchenwaldes, sollte sie nun zwei Jahre lang wohnen!

Ach, man erlebt doch recht viel Großes, wenn man alt wird!

Der Doktor Hans Ritter hatte schon etwas mehr erlebt; er hatte sogar beinahe drei Jahre am Meere gewohnt, allerdings nicht als reichlich zahlender Schüler, sondern als sehr kärglich bezahlter Hauslehrer. Aber auch er war zufrieden. Fräulein Martha Weber hatte wieder einmal recht gehabt; und was ihn noch besonders freute, war, daß er sich mit dem Geistlichen, der Grete hier zur Einsegnung vorbereiten und einsegnen sollte, ebensogut verstand wie mit den Damen der Anstalt.

Wiederum sehr auf Umwegen kehrte der Doktor Hans Ritter heim, er hatte Geschmack am Reisen gefunden; vielleicht war ihm sein Heim auch plötzlich minder anziehend geworden.

Als er dieses dann wieder betrat, fand er bereits das erste Briefchen Gretes vor. Er las so lange darin, als ob es ein Buch wäre. Dann ging er auf ihr verlassenes Zimmer, wo auf dem Tischchen das verblichene Bild ihrer Mutter inmitten des dichten frischen Epheus stand. Noch nie war ihm die wachsende Aehnlichkeit so aufgefallen wie jetzt, da er beim Lampenschein Gretes Züge aus dem Gedächtnis mit diesem einige Wochen vor Emiliens Vermählung aufgenommenen Lichtbilde verglich. Nur stärker, freier versprach Hans Bardolfs Kind zu werden.

Er wollte das Bild auf seinen Schreibtisch hinübertragen. Aber er ließ die Hand wieder sinken, ohne es zu berühren. Es war ihm, als gehörte es noch immer einem andern, außer dem es niemand bewahren dürfte als das Kind der beiden. Als aber die gute Luise am anderen Morgen das Arbeitszimmer ihres Herrn betrat, sah sie auf seinem Schreibtisch das neueste Bild Gretes aufgestellt, das er vor ihrer Abreise hatte machen lassen, und davor lag ein kleiner, blaßgrüner Epheuzweig.

(Schluß folgt.)
[142]
16.

An einem schönen Vormittag im Frühherbst schloß der erste Bibliothekar Doktor Hans Ritter sein Amtspult ab, steckte den Schlüssel in die Tasche und machte die Abschiedsrunde vom Kabinett seines Chefs bis zum Pult des jüngsten Kollegen und als er, mit den freundlichsten Reisewünschen der sämtlichen Herren ausgestattet, die große steinerne Treppe der Bibliothek herabstieg, leuchtete sein Antlitz fast so selig wie das des Oberprimaners Karl von Seedorf beim letztmaligen Durchschreiten des Schulhofs. Dieser war aus der Klausur hinausgezogen um in der weiten Welt das frische Leben zu finden, und der Doktor Hans Ritter zog aus, um aus der weiten Welt sich das frische Leben in seine Klausur zurückzuführen – zum erstenmal nach zwei Jahren, und natürlich wieder auf bequemen Umwegen.

Waren sie ihm wirklich so lang und schwer geworden diese zwei Jahre? Die Leute schienen nichts davon zu merken. Aeltere Bekannte, die ihn nach längerer Abwesenheit wiedersahen wünschten ihm mit ungeheuchelter Ueberzeugung Glück zu seinem Aussehen, und seine tägliche Umgebung, die gute Luise, Kollegen, Freunde und Schülerinnen, meinten, daß er immer munterer und zufriedener werde. Der Doktor Hans Ritter meinte es selber, und er glaubte auch, die Ursache deutlich vor Augen zu sehen, als er daheim den Koffer gepackt hatte und einen letzten langen Blick auf seinen Schreibtisch warf. Da stand das Bild des weißen Mädchens, und da war das Schubfach, welches ihre Briefe, bibliothekarisch sorgsam geordnet, in langer Reihe barg, Briefe mit deutschen, dänischen, schwedischen, norwegischen Marken, Briefe aus der Anstalt und Briefe aus den Ferien, in die man „eigentlich nur mit bösem Gewissen und auf besonderes Zureden des Paten anderswohin als zu ihm reiste“, um es hinterher doch immer „entzückend“ zu finden, bei den Schulfreundinnen in Kopenhagen, am Wettersee und am Christianiasfjord, an verschiedenen deutschen Orten, und ganz ausnehmend auf der Nordseeinsel, wohin man die Lieblingslehrerin begleitet, mit ihr vier Wochen gebadet, Seehunde festgestellt und natürlich sehr viel vom Paten gesprochen hatte. Konnte man überhaupt von irgend etwas anderem mit irgend jemand lieber sprechen? Am wenigsten mit dem „Vetter Karl“, der sich heuer in den Osterferien – angeblich auf der Durchreise zu botanischen Studien in irgend einem scheußlichen Moorgebiet – vier Tage lang in der Stadt am schiffbaren Busen der Ostsee aufgehalten und bei den Damen im weißen Hause einen sehr günstigen Eindruck hinterlassen hatte. Stattlich, mit gebräunten Wangen und einem „richtigen“ Schnurrbart in Chokoladebraun, spazierte er durch ein paar Briefe Gretes aus jenen Tagen, um dann wieder in seiner Welt zu verschwinden Es war in diesen Briefen eine merkwürdige Entwicklung, ein Ausknospen und Blühen, welches der Gärtner in der Ferne mit glückseliger Aufmerksamkeit verfolgte. Anfänglich herrschte in ihnen noch der reine Ton der Kindheit, die von großen Dingen unbefangen plaudert und dann wieder um eine rührende Kleinigkeit himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt herumschwärmt. Dieser Ton verklang nicht, aber allmählich mischten sich andere Noten ein, erste schüchterne Frühlingsrufe eines neuen, jungfräulichen Seelenlebens. Aber auch von so viel dunklen Rätseln zog sich leise der Vorhang weg. Oft und öfter wurde das fließende Plaudern unterbrochen von stammelnden Fragen. Es war dann, als ob sich die junge Seele in diese Briefe wie in ein eigenes Heiligtum zurückziehen, um vor der Weisheit Eines, dem sie mit ihrem ganzen Verlangen angehörte, all ihre neuen Fragen und Gedanken niederzulegen.

Fräulein Martha Weber hätte vielleicht solche Stellen nicht mit ungeteilter Freude gelesen denn sie würden ihr gezeigt haben, daß sie als wohlgeschulte Pädagogin recht gehabt, das „liebe kleine Mädchen“ einem allzu mächtigen Einflusse zu entziehen, aber zugleich, daß sie das richtige Mittel diesmal nur halb gefunden hatte. Sie hätte auch den briefliche Verkehr zwischen den beiden durchschneiden müssen, und vielleicht würde auch das nichts geholfen habe. Aber der Doktor Hans Ritter gehörte nicht zu denen, die sich ein kleines Weihrauchopfer damit verschaffen, daß sie vertraute und ehrende Briefe Dritten zu lesen geben und am wenigsten hätte er gerade Fräulein Martha Weber einen Einblick in Gretes Bekenntnisse gestattet. Es kam ihm manchmal vor, als ob sein freundschaftliches Verhältnis zu dieser Dame gleichsam auf einem Träger beruhe, dessen Metall nicht durchweg gleich legiert sei auf seiner Seite nur das solide Eisen persönlicher Achtung mit einem ehrlichen Zuschuß Dankbarkeit, auf der ihrigen noch ein wenig von einem fremden Bestandteil, dessen Art und Namen sich schwer erkennen ließ. Fräulein Martha würde es vielleicht für „geistiges“ Interesse an einer eigenartigen Künstlernatur erklärt haben ‚Hans Ritter’ war so bescheiden, es mit dem Wohlwollen einer umsichtigen Tante für einen erwachsenen Neffen zu vergleichen. Vielleicht war es noch etwas anderes, jedenfalls war es da, und Hans Ritter empfand es im geheimen um so öfter, je mehr sich ihm in Gretes Briefen die morgenreine, noch von keiner Sonnenglut und Wetterschwüle versehrte Blume einer jungen Mädchenseele erschloß.

Er öffnete das Schubfach und überblickte die lange Reihe noch einmal, zog den ersten und letzten heraus und verglich die Schriftzüge der Adresse. Hier die ganz schulmäßige, steife und unpersönliche Kinderhand, dort die zierliche, leichte und doch deutliche Schrift, die fast ein wenig absichtlich seiner eigenen angenähert schien. Dann, während er die beiden Briefe wieder einordnete, streifte sein Blick eine andere, sehr viel dünnere Reihe, die daneben lag, mit großen, weit ausgeschwungenen Schriftzügen – Kurts Briefe; „sie vertragen sich ganz friedlich,“ sagte er vergnügt lächelnd, „und sind so verschieden!“ Knapp und sachlich erzählten sie von Erlebnissen – „daß ich auf der Reise auch Grete aufsuchte und einige Tage dort in der Stadt verweilte, weißt du wohl schon. Grete sieht sehr wohl aus, die Damen waren ungemein freundlich. Ausführlicher wurde über Studien, Lehrer, Bücher, künstlerische und wissenschaftliche Interessen, auch über Dinge aus der studentischen Welt berichtet, am wenigsten über Empfindungen und Herzenskämpfe.“

Er verschloß die Briefe und machte sich reisefertig.

Auf dem Bahnhof begegnete er Frau Geheimrat Hermann, die ihren gelehrten Gatten in die Ferien nach einer schöngelegenen süddeutschen Universität geleitete; der Herr Geheimrat wollte dort Handschriften vergleichen und seine stärkere Hälfte wollte sich auch auf ihre Weise erholen. Sehr gewinnend begrüßte sie den Doktor Hans Ritter; er galt nun längst auch an der Gesellschaftsbörse dieser Dame und ihrer Kreise für „in jedem Betracht“ gut.

„Ei“, sagte sie, „Sie wollen auch auf Reise gehen? Man sollte nicht glauben daß Sie eine Erholung brauchen, Sie sehen ja so schmuck aus wie ein Bräutigam.“

„Ja“, erwiderte Hans Ritter vergnügt, „ich hole mein Mündel aus dem Pensionat ab, sie ist jetzt sechzehn Jahr alt.“

Die Frau Geheimrat lächelte merkwürdig verständnisvoll. „Ach, das ist ja aber reizend,“ lispelte sie.

Jetzt kam auch der Geheimrat zu Wort Er nannte sein Reiseziel und bemerkte weiter. „Vielleicht werden wir ja auch Ihren früheren Zögling, den jungen Herrn von Seedorf, dort treffen? Sie sagten mir doch neulich, daß er auch einen Teil der Ferien dort bleiben werde. Ein hoffnungsvoller junger Mann; mein alter Freund Stubinger, bei dem er dort hört, hat mir erst dieser Tage Gutes von ihm geschrieben.

„Ach ja“, fiel die Gattin ein, „ein reizender junger Mensch! Unsere Elise, unsere Aelteste, die jetzt nach Pfingsten ein paar Wochen bei Stubingers zu Besuch war, schwärmte ordentlich für ihn. Wie so junge Mädchen eben sind! Nun, gewiß werden wir ihm viele Grüße von Ihnen bestellen!“

Hans Ritter verbeugte sich dankend und überrascht, es wäre ihm wirklich nicht eingefallen, ihr diese Grüße aufzutragen. Als er endlich in seinem Coupé saß, seufzte er erleichtert. „Es giebt gewisse Leute, denen ein Jäger nicht gern bei der Ausfahrt begegnet,“ dachte er höchst respektlos. „Aber ich bin ja kein Jäger, und diese Reise soll mir kein übles Vorzeichen verderben können.“ Dann zündete er seine Cigarre an, lehnte sich zurück, dachte an sein weißes Mädchen und berechnete die Stunde bis zu dem nächsten frohen Morgen, wo er sie in dem weißen Hause am [143] Seegestade wiedersehen sollte. „Es soll mich doch wundern wie sie geworden ist,“ dachte er. – –

Dem ersehnten waren schon drei, vier frohe Morgen gefolgt, die beiden ungleichen Reisegefährten waren von dem Buchenwald am Seestrande schon wieder viel weiter entfernt als von dem stillen Vorstadtgarten mit den Kapuzinerkressen, und noch war Hans Ritter des Wunderns nicht „Meister“ geworden. Es war ein glückseliges Wunder, das ihn immer von neuem gefangen nahm, wenn die schlanke biegsame Mädchengestalt leichtfüßig, den Wanderhut am Arm, neben ihm herschritt, wenn er sie auf schmalem Wald- und Bergpfad vorantreten ließ, um sich von der reinen Melodie ihrer sicheren und anmutigen Bewegungen, ihrer ganz eigenen, freien und unbewußt stolzen Haltung entzücken zu lassen, wenn sie dann lachend den weißen, nach der Mode des Jahres unbedeckten Hals und das von dicken goldrot glänzenden Flechten gekrönte Köpfchen zu ihm zurückwandte und die klaren, treuen Augen lebhafter noch als ihre helle Stimme so viel Liebes und Frohes zu erzählen wußten und wenn die alte Pilzsammlerin im Walde ihnen auf ihre Frage nach dem rechten Weg zur Ruine freundlich grinsend Auskunft gab: „Gehen Sie nur so weiter, Sie können’s nicht verfehlen, das andere junge Pärchen ist auch schon vorausgegangen!“ Grete faßte die Hand ihres Paten und sah ihn lachend an, wenn sie dabei errötete, war es wohl nur vor Freude und Wanderlust. Ihn aber überlief es wunderlich, als ihm aus dem Mißverständnis der Alten zuerst deutlich mit fremder Stimme ein Gedanke entgegenklang, der heimlich und scheu während dieser Tage in ihm erwacht war – so seltsam und so fernab von allem, was sein Gefühl für Grete bisher bestimmt hatte, daß er ihm kaum ins Antlitz zu sehen wagte! Er bezwang sich, sein Benehmen gegen sie wurde förmlicher, minder unbefangen ein paarmal fiel es ihr sehr auf, sie dachte nach, womit sie ihn wohl verstimmt haben konnte, und war nun absichtlich erst recht lieb und zärtlich zu ihm. Als sie sich abends trennten, faßte sie ihn schmeichelnd bei den Händen. „Bist du mir böse? Hab’ ich etwas verkehrt gemacht?“ Er wandte sich ab. „Nicht doch, Kind! Ich bin vielleicht etwas müde. Aber du mußt mich nicht so fragen. Es wird vergehen.“

Aber es kam wieder, in der Einsamkeit der Nacht, nun schon beherzter, mit Gründen und mit Beispielen, an denen es in der akademischen Gesellschaft nicht fehlte und mit denen sie sich regelmäßig nach kurzem ausgesöhnt hatten, selbst mit dem längsten Falle des Geheimen Medizinalrats Weitzel, der sich vor anderthalb Jahren in seinem hundertunddreißigsten Semester mit einer Freundin seiner jüngsten Tochter vermählte. Der Doktor Hans Ritter hatte die beiden noch neulich durch die Allee wandeln gesehen. Sie schienen äußerst zufrieden und eine ländliche Schöne mit bunten Bändern an der Haube schob vor ihnen ein Korbwägelchen her, auf dessen schreienden Insassen sich das faltige graubärtige Antlitz des berühmten Klinikers mit einem unbeschreiblichen Stolze richtete …

Nach dem Urteil der Welt fragte der Doktor Hans Ritter noch weniger als der Geheime Medizinalrat Weitzel, aber an Selbstbewußtsein kam er ihm nicht völlig gleich. Es gelang ihm nicht, sich mit Bestimmtheit ein Recht auf Besitz und eine Fähigkeit des Beglückens zuzusprechen, die der Geheime Medizinalrat auch beim zweitenmal allem Weinen und Kopfschütteln der Seinen zum Trotz ebenso unbedenklich für sich in Anspruch genommen hatte wie fünfunddreißig Jahre zuvor beim erstenmal. Der Geheime Medizinalrat hatte eben nur immer erwogen, was er alles bieten konnte, der Doktor Hans Ritter ermaß, was er alles zu begehren wagte, und das Wagnis erschien ihm auch dann nicht geringer, wenn ihm eine schmeichelnde Stimme zuflüsterte, daß dies Begehrenswerte ja doch größenteils durch ihn erst so köstlich geworden sei. Denn nicht für sich hatte er es bisher gepflegt und behütet in wunschloser Hingabe hatte er nur die Stelle der Toten zu vertreten getrachtet, die Stelle des Freundes und derer, die er geliebt und der er nur entsagt hatte, um sie in einem reineren Sinne fortzulieben. War es die Krönung seines Werkes, wenn er das Geschaffene behielt, um es nicht in fremde, minder sorgsame Hände fallen zu sehen? Oder war es der Widerruf alles dessen, was er für Recht erkannt und geübt hatte, wenn er nach einem halben Menschenalter freiwilligen Wirkens plötzlich die Rechnung vorwies und das ganze Werk als Preis einzog?

Vor dieser Zweifelsfrage irrte das Gewissen ängstlich hin und her, aber eine andere Macht, welcher der Philosoph Hans Ritter bisher niemals ein Recht auf Entscheidung eingeräumt hatte, begann listig nachzuhelfen und als Grete zum erstenmal nach zwei Jahren wieder durch das Gartenpförtchen trat und ausrief: „Ach, unser altes, liebes Haus! Hier ist es doch am schönsten, hier möcht’ ich immer bleiben!“ – da klang das bedeutsame Wort schon bestimmter in der Seele des Mannes wieder als vier Tage zuvor jenes erste Omen im thüringischen Tannenwalde. „Unser Haus!“ sagte er leise und sah sie traumhaft vergessen an. Ihre Augen erwiderten seinen Blick mit unschuldiger, glücklicher Zärtlichkeit. – Aber da kam auch schon die gute Luise zur Begrüßung herbei – – und Wöppy, das liebe, einzige, reizende Hündchen. – – –

17.

Nun hatte sie die erste Nacht wieder in „unserem Hause“ geschlafen und zuerst wieder den von seiner Bibliothek heimkehrenden Paten mittags an „unserem Gartenthürchen“ erwartet, um mit ihm zuerst wieder an „unserem Tische“ zu speisen und nach dem Mittagsmahl waren sie hinaufgestiegen zu „unserem Weinberghäuschen,“ wo der Doktor Hans Ritter besonders an schönen Herbstnachmittagen am liebsten sann und dichtete. Dort hatten sie sich getrennt, Grete wandelte längs der Höhe weiter nach der anderen Seite des Bergvorsprungs, an dessen Fuße dort Fräulein Martha Weber seit einigen Jahre einen grasreichen Baumgarten als Erholungs- und Spielplatz für ihre Mädchen besaß, und Hans Ritter blieb einstweilen zurück, um angeblich noch ein Stündchen zu „arbeiten“. Sehr gewissenhaft hatte er einen weißen Bogen Papier mit allem Schreibwerkzeug auf dem kleinen Tische zurechtgelegt, das weiße Blatt war nach einer halben Stunde noch so leer wie zuvor, als sich die Thüre plötzlich vor einem höchst unvermuteten Besuch öffnete.

„Sieh da! Willkommen, mein Junge! Daran hätte ich wirklich nicht gedacht,“ rief der Doktor Hans Ritter, sehr erfreut und doch auch etwas verlegen, denn er hatte seit einige Tagen überhaupt viel weniger als sonst an den Studiosus Karl von Seedorf gedacht und ihn keineswegs hergewünscht. „Ich glaubte dich kaum vor Ende des Monats erwarten zu sollen. Es ist doch nichts vorgefallen? Du siehst etwas angegriffen aus.“

„O nein“, sagte Karl. „Ich – ich bin nur eher fertig geworden weißt du, und da dachte ich, je eher ich – –“

„Du weißt ja, wie willkommen du immer bist“, warf der Doktor Hans Ritter ein. Es fiel ihm auf, wie verlegen Karl war, und damit wuchs seine eigene Verlegenheit. „Luise hat dir wohl gesagt, daß wir hier oben seien? Grete ist schon voraus zu Webers, nach dem Baumgarten, weißt du – –.“

„Ja,“ antwortete Karl und spielte mit der dargebotenen Cigarre, ohne sie anzuzünden. „Du, Onkel Hans,“ begann er dann plötzlich entschlossen, „ich muß dir etwas erzählen. Du kennst ja die Frau Geheimrat Hermann, ihr Mann ist mit meinem Professor Stubinger noch von der Studentenzeit her befreundet, und daher verkehren auch die Familien noch miteinander, obgleich man sich nichts Verschiedeneres denken kann. Diesen Sommer war ihre älteste Tochter, die lange Elise, ein paar Wochen bei Stubingers zu Besuch; sie hat uns mit ihrer unglückseligen Koketterie unglaublich gequält, und ich glaube, unser Professor und seine prächtige Frau waren auch froh, als sie wieder einmal unverlobt abzog. Gestern mittag war ich nun bei Stubingers eingeladen – wir waren gerade am Abend vorher mit dem Professor von einem achttägigen Studienausflug heimgekehrt – und da treffe ich auch die Frau Geheimrat; sie ist jetzt mit ihrem Manne da, der dort auf der Bibliothek irgend etwas bearbeitet. Sie redet mir erst allerlei von ihrer Elise vor, und ich muß wohl nicht nach Wunsch darauf reagiert haben, denn auf einmal setzt sie so ein säuerliches Lächeln auf und sagt: „Nun, dem Herrn Doktor Ritter wird man nun wohl bald gratulieren können.“ „Wozu?“ frage ich verwundert. Und da sagt sie … aber bitte, Onkel, hör’ mich ruhig an … sie sagt … du wollest dich verheiraten … mit unserer Grete! Und du hättest es ihr selber gesagt.“

„Ich hätte ihr das gesagt?“

„Ja, nicht wahr?“ fuhr Karl fort. „Ich bestritt ihr das natürlich auch, und es mag sein, daß ich mich etwas vergessen [144] habe; die Frau Professor verwies es mir nachher sehr deutlich. Aber wie kann da einer ruhig bleiben! Noch dazu, wo sie darauf bestand und ordentlich nachmachte, wie du es ihr gesagt hättest du holtest dir jetzt die Braut ab! … Onkel Hans, denk’ dir!!“ – Und weiß der Himmel, was sie noch alles schwatzte, ich entschuldigte mich bei der Frau Professor und lief heim. Erst wollte ich dir’s schreiben aber ich brachte es nicht fertig, solche Verleumdungen aufzuschreiben, und da bin ich lieber gleich hergekommen.

Der Doktor Hans Ritter war sehr blaß geworden, aber er sah dem aufgeregten Jüngling fest in das Gesicht. „Demnach scheinst du es doch nicht für eine bloße Verleumdung zu halten?“

Karl fuhr in ängstlicher Ueberraschung auf. „Nein, Onkel Hans“ stotterte er, „du – du mußt mich nicht mißverstehen … Weißt du, es war mir ja wohl in der ersten Aufregung … Wenn eine das so bestimmt wiederholt … Aber ich schämte mich im selben Augenblick darüber … denn da könnten ja hundert alte Basen kommen und so etwas behaupten. Es bliebe ja doch unmöglich; du und Grete! – – Das heißt, bitte, mißverstehe mich nur nicht – sieh’ ’mal, es giebt ja kein Wesen in der Welt, das für dich zu gut wäre, Onkel Hans, und wenn du wirklich … verzeih’ … wenn etwas Wahres daran wäre … verzeih’ … ich rede nur so –“ er schöpfte tief Atem und versuchte, ruhiger zu sprechen: „Sieh’ ’mal, Onkel Hans, Grete könntest du ja mit einem einzigen Wort zu allem bringen. Andere Mädchen in ihrem Alter stellen sich das Bild von dem Pastor, der sie eingesegnet hat, oder von einer Lieblingslehrerin auf ihr Tischchen, denn sie müssen irgend ein Heiligenbild haben; Grete braucht das nicht, die hat dich, dein Bild steht in ihrem Herzen, nicht bloß auf ihrem Tischchen; du bist sozusagen ihr irdischer Herrgott – du hast sie eigentlich so lieb und hold gemacht, wie sie ist, und sie gehört dir, es ist, als wenn du ihr Vater wärest und eigentlich noch etwas Heiligeres. Und eben darum …“; er stockte und trat in größter Verwirrung ans Fenster.

Auch Hans Ritter schwieg und blickte eine Weile starr vor sich hin. Es war ein großer Schmerz in seiner Seele, und doch etwas wie eine Befreiung, als hätten die stammelnden Worte des Jünglings mit einem Schlage den Streit in seinem Innern entschieden, den er selbst nicht zu schlichten wagte. Aber noch etwas anderes hatte er aus diesen Worten herausgehört. Urplötzlich stand vor seiner Erinnerung in greller Deutlichkeit eine andere Scene, als er die Hoffnung seiner ersten großen, ungestandenen Liebe im Geständnis eines rascheren – glücklicheren Freiers untergehen sah. „Sag’ ’mal, Karl,“ begann er – „seit wann ist dir dein Gefühl für Grete so klar?“

Karl wandte sich hastig um. „Wie … was meinst du damit, Onkel Hans?“ fragte er errötend.

Hans Ritter sah ihn ruhig, fast heiter an. Jetzt, wo er mit einem beherzten Griff die Versuchung aus seiner Seele gerissen hatte, die ihn einige Tage lang entzückt und gepeinigt hatte, war er wieder der alte. „Ich meine,“ sagte er, „seit wann du weißt, daß du Grete so liebst?“

Karl zögerte einen Augenblick, dann erwiderte er treuherzig den Blick seines Erziehers.. „Wenn du es denn einmal gemerkt hast, Onkel Hans … Weißt du, als ich sie jetzt zu Ostern wiedersah … da kam es über mich. Und seitdem war ich ja ganz in diesem Banne! Bitte, lieber Onkel Hans, sei nicht böse, wenn ich dir’s sage, siehst du, du hast mich ja auch in der Ferne weiter erzogen, und wenn ich vielleicht mehr oder eher als andere daran dachte, etwas Richtiges zu werden, daran warst du schuld; freilich, seit Ostern war’s doch mehr die Grete … Aber,“ fuhr er nach einer Weile fort, „wie lieb ich sie habe, das weiß ich doch erst seit gestern mittag!“

„Hast du Grete jemals merken lassen …“ fragte Hans Ritter.

„Aber wo denkst du hin!“ rief Karl „Nein, sieh’ ’mal, dann machte ich dir doch wenig Ehre! Sie war ja noch ein halbes Kind … oder vielmehr, sie ist es am Ende noch … und ich … weißt du, Liebe muß man sich doch verdienen, nicht wahr? – Aber sag’ ’mal, Onkel, glaubst du – ich meine, ob Grete …“

„Ob sie deine ungestandenen Gefühle teilt, du großer Junge? Das weiß ich natürlich nicht, und wenn ich’s wüßte, würde ich dir’s nach deinen eben gehörten, sehr löblichen Grundsätzen erst recht nicht sagen. Nein, du hast recht. Liebe muß man sich erst verdienen, und so lange mußt du schweigen. Inzwischen ist es ja schon genug, daß du mir’s gestehst. Der Umweg ist zwar nicht mehr Mode, aber mitunter ist er doch noch zweckmäßig. Nicht wahr? Denn wenn ich bei Grete soviel gelte, wie du dir denkst, so kommt wohl auf meine Meinung etwas an, ganz abgesehen –“

„Onkel Hans!“ rief Karl und faßte bittend die Hand seines Erziehers, der aber fuhr sehr ruhig, nur mit etwas heiserer Stimme fort. „Ganz abgesehen, meine ich, von meinen rechtlichen Befugnissen, die mir ja wohl noch auf eine hübsche Reihe von Jahren zustehen, und die ich sogar noch in etwas erweitern möchte, indem ich Grete adoptiere. Die gesetzlichen Voraussetzungen dafür sind ja wohl alle vorhanden – auch der Unterschied im Alter, setzte er seufzend hinzu. „Geändert wird ja in meinem Verhältnis zu ihr eigentlich nichts dadurch, aber wir wollen es der Frau Geheimrat und ähnlichen Leuten zu Gefallen thun, damit diese armen Seelen Ruhe haben. Und es ist ja die einfachste Lösung, nicht wahr? Na, nun thue nur nicht so zärtlich, mein Junge! Dein Vater hat doch recht, es ist etwas von einer anderen Art in dir, oder bist du erst seit Ostern so liebevoll gestimmt? Erzähle mir lieber von dir und deinen großen Plänen! – Aber das können wir unterwegs thun, denn nun willst du doch wohl Grete sehen, nicht wahr?“

Es war schade, daß der Professor Stubinger und die anderen hohen Meister des Studiosus Karl von Seedorf nicht mitgingen; sie wären gewiß mit ihrem Schüler sehr zufrieden gewesen. Ein wenig Neigung zum Docieren hatte er doch noch – oder hatte er sie schon wieder? Denn Docent wurde er, das stand fest, und bereits lugten auf dem Boden dieses Entschlusses allerhand Pläne zu Einzelforschungen, großen Studienreisen als Keime hervor. „Siehst du, Onkel Hans, ich bin kein Streber, aber wozu ich Neigung und am ersten Talent habe, darin möchte ich auch etwas Rechtes und Nützliches leisten, und sonst verdiente ich ja auch nicht einmal, im stillen Grete zu lieben. Denn mir sind die Wege leichter gemacht als viele anderen, also ist auch meine Pflicht größer. Seit vorigem Jahre bin ich mündig; ich habe Vater natürlich gebeten, mein Vermögen weiter zu verwalten, es hat mir Mühe genug gekostet, ihn zu bewegen, daß er wenigstens jetzt meinen Wechsel aus dem Meinigen deckt. Bis dahin hatte er ja immer Zins auf Zins laufen lassen, und es ist jetzt so viel, daß ich mit materiellen Schwierigkeiten gar nicht zu rechnen brauche, und wenn sie mich zwanzig Jahre als Privatdocent sitzen ließen. Aber, so Gott will, dauert es nicht ganz so lange.

„Und es steckt doch auch viel von dem Alten in ihm“, dachte der Doktor Hans Ritter, aber er verschwieg den Gedanken. Denn sie waren jetzt an dem jenseitigen Saume der Höhe angelangt, wo sich zwischen den letzten Bäumen ein bequemer Pfad zu dem Baumgarten absenkte. Sehr lustig und anmutig ging es da unten zu. Fräulein Martha Weber saß auf einer Bank unter dem größten der breitwipfligen Kirschbäume, welche die Wiese einfaßten. Sie war nachgerade den Mitspielern doch nicht mehr gewachsen, und sie begnadigten sie, sich mit dem Posten als Oberbefehlshaber und Schiedsrichter. Einige jüngere Kolleginnen aber waren mitten drin zwischen den jungen Spielerinnen, die lachend und jauchzend über den weichen Rasen hintollten. Es war wunderbar anzusehen, wie die schlanken, lebensvollen Gestalten in bunten und leichten Kleidern gruppenweise zusammenhuschten und von dannen eilten, wie ein noch im Werden begriffener Strauß von lebendigen Bäumen, der sich immer wieder auflöst, um sich sogleich wieder neu und reizvoll zu bilden. Ein wenig abseits stand Grete in ihrem weißen Gewand und ließ sich eben von einer Freundin das goldige Haar wieder aufstecken, worauf sie lachend in die Reihe zurücksprang, jetzt durchaus nur ein glückseliges, spielfrohes Kind.

Vor diesen Anblick klappte der zukünftige Privatdocent sein unsichtbares Heft zu und schien fürs erste nur noch ein Ziel auf Erden zu kennen, welchem er im Laufschritt hügelab zustreben wollte. Der Doktor Hans Ritter aber zog ihn bei der Hand zurück. „Wart’ noch ein wenig, mein Junge,“ sagte er, „und sieh dir’s genau und nachdenklich an, denn das ist so ziemlich der hübscheste Blick, den der Herrgott einen auf dieser Erde genießen läßt. Dem Menschen kann mit der Zeit manches leid werden, das er früher mit Vergnügen ansah, wer aber solch ein Kränzchen netter, artiger junger Mädchen im einfachen Schulkleid ansehen kann, ohne daß es ihm wohler ums Herz wird, der [146] soll sich doch nur ja sogleich begraben lassen! Es ist aber mehr als hübsch, es ist auch rührend, und wenn du lieber sagen willst: es ist beschämend, so habe ich auch nichts dagegen. Denn wenn es auch keine Engel sind – na, knurre nur nicht mit den Augen! – sagen wir also: wenn auch höchstens ein halber Engel darunter ist, so haben sie doch wenigstens eines von den Engeln, den guten Willen, den Willen zu lernen, zu helfen, zu sorgen, zu lieben, zu danken – kurzum besser zu werden! Darin sind sie euch über. Ein Dutzend von euch jungen Männern mit all eueren Worten, Plänen, Idealen und was weiß ich sonst noch, und ganz besonders mit euerem berühmten höheren Verstand, hat nicht so viel reinen guten Willen als ein einziges von den Mädchen da unten. Es ist aber mehr als beschämend, es ist heilig! Sieh diese zierliche Menschenblüte,“ sein Auge suchte sein weißes Mädchen, „so anmutig, so leicht und rein, es ist, als hätte sie der liebe Gott am Sonntagnachmittag gebildet, zu seinem Vergnügen. Aber wie teuer ist sie in Wahrheit erkauft! Wie viel Hände wurden müd’, wie viel Nächte waren schlummerlos und wie viel Tage voll Mühe und Not, damit die zarte Pflanze sicher aufwachse, getränkt mit Thränen, umschauert von Sterbeseufzern! Ueber Gräbern wuchs sie empor, welche die Sorge um ihr Gedeihen vielleicht früher grub, als es der Lauf der Natur gewesen wäre. Die sie lehrten, gaben für sie in jahrelangem Mühen ihr Wissen und ihre Arbeit hin, damit ein zarter, eingeborener Trieb den Weg zum Licht nie verfehle; und die sie liebten, gaben ihre eigenen Hoffnungen hin, damit an ihr die Hoffnung nicht zu Schanden werde, damit sie stark werde, dereinst im Lebenssturm zu bleiben, wie sie jetzt im Spiele blüht: rege, hilfreich und freudig! Erinnere dich an das Lied, das ich dir beim Abschied in das Buch deiner fröhlichen Burschenstunden schrieb.

‚Seht das holde Mädchen hier!
Sie entfaltet sich im Spiele;
Eine Welt erblüht in ihr
Zarter, himmlischer Gefühle.
Sie gedeiht im Sonnenschein,
Unsre Kraft in Sturm und Regen;
Heilig soll das Mädchen sein,
Denn wir reifen uns entgegen!‘

Nun komm und laß uns gehen, sie zu begrüßen!“


18.

Droben am Himmel gehen Sonne, Mond und Sterne ihre gemessenen Bahnen, hier drunten auf Erden gehen wir Menschen unseren Freuden und Geschäften nach, in einem krausen Gewimmel, stoßen und stören einander, als wäre die kleine Erde wirklich schon längst zu klein für uns geworden. Seltener, als uns not thut, blicken wir aufwärts zu der wandelnden Welt; seltener noch mag es geschehen, daß einer auch durch die Wolken die Sterne leuchten sieht, wie es dem Doktor Hans Bardolf an seinem letzten irdischen Weihnachten zu teil ward. Aber doch sind wir mit unzähligen goldenen Fädchen an die himmlischen Begleiter geknüpft. Wir messen unser Wirken und Ruhen, unser Schlafen und Wachen nach ihren Bewegungen, und wunderlich ist es, daß wir auch unser Erinnern nach ihrem Winke sinken und steigen lassen. Es sitzt einer, der sonst das Jahr über fröhlich ausschaut, in trüben Gedanken, weil die Sonne wieder einmal denselben Stand erreicht hat, wo sie stand, als sein Herz einen Bund schloß, der längst vermorscht und vergangen ist, und ein mächtiges Volk erwacht an einem Morgen in einem ernsten, heiligen Gefühl des Dankes, nur weil fünfundzwanzig Erdumläufe verflossen sind, seit ihm ein paar Züge mit einer goldenen Schreibfeder nach Kampf und Sieg den Frieden wiedergaben.

Ein ganzes Volk! Denn wenn viele darunter sind, die an solchem Tage nichts Besonderes fühlen, die auch an ihm nur für sich und ihre höchsteigenen Leiden und Freuden Sinn haben, so sollen sie uns die Einheit nicht stören. Sie laufen so mit; und es ist doch die ganze Wiese grün, wenn auch hier und da zwischen den Halmen eine sauere Stelle im Boden ist, wo höchstens ein Unkraut gedeiht oder ein Giftschwämmchen.

Der Geheime Hof- und Edukationsrat Doktor Mohr, Ritter eines fürstlichen Ehrenkreuzes vierter Klasse am grünen Bande, lief auch so mit. Er hatte wahrhaftig genug mit sich selber zu thun. Denn er trug die schwerste Last, die eines Mannes Schultern drücken kann: ein leeres Dasein.

Es hatte eine Zeit gegeben, wo dem Doktor Hans Mohr kein Ziel begehrenswerter erschien, als in Wohlstand und Würden ohne Arbeit, ohne Sorgen für andere von einem Tag in den andern leben zu können. Früher als er hoffte, hatte er dieses Ziel erreicht, vereint, wenn auch nicht immer einig, mit einer gleichgesinnten Gefährtin, war er beherzt drauf losgeschritten, quer durch den Sumpf. Alle unpraktischen Ideale und Grundsätze, die ihn in einer früheren Zeit zu einem munteren armen Teufel und immerhin zulässigen Gliede des Hansebundes machten, hatte er unterwegs eins nach dem andern als lästigen Ballast aus dem Ranzen gepackt und weggeworfen, ohne daß die Leute es merkten – mit derselben Gewandtheit, mit der er früher sein Teil am Einkauf für ein bescheidenes Junggesellenmahl verschämt und versteckt unter dem feinen Röckchen zu tragen wußte. Der Ranzen blieb darum nicht leer. Andere schöne Dinge hatte der Doktor Mohr nach und nach hineingepackt: Wohlweisheit, Biedermannswürde, sogenannte Menschenkenntnis und Andacht zum eigenen Wohlbefinden. Und es war schrecklich, wie schwer diese Dinge drückten, als er nun endlich drüben angelangt war und sich unter lauter Leuten fand, die alle ganz dieselben Güter in ihrem Sack trugen und alle ebenso schwer daran zu tragen hatten. Denn diese Leute, zu deren Orden der Doktor Mohr jetzt gehörte, sind auf einander angewiesen. Sie finden sich schon darum überall zusammen, weil jeder von ihnen den thätigen und sorgenden Menschen über kurz unausstehlich wird.

Der Geheime Edukationsrat Doktor Johannes Mohr vermied es seit einer Reihe von Jahren, die Universitätsstadt wieder zu sehen, in der er einmal so arm und fröhlich gewesen war. Aber man hatte ihm gar zu dringend den Geheimen Medizinalrat Weitzel empfohlen, und so stellte er sich an diesem gesegneten zehnten Mai des Jahres 1896 dem berühmten Kliniker dar. Auch blieb sein Vertrauen nicht unbelohnt: der Geheime Medizinalrat entdeckte bei dem wohlbeleibten Herrn bereitwillig Anzeichen einer möglicherweise vorhandenen Verfettung und entließ ihn mit einer langen Diätvorschrift.

Als der betrübte Patient aus der Villa des Arztes trat, fiel ihm das Festgeläut auf. „Ach Gott, ja, das Friedensjubiläum!“ seufzte er verdrießlich. Was ging ihn das an? Aber plötzlich stieg in ihm die Erinnerung an einen anderen zehnten Mai auf, an dem die Hansebrüder, just ein Jahr nach dem Frankfurter Frieden ihre „Buden“ in dem Hause der „komischen, alten Dame“ bezogen und feierlich den Bund gestiftet hatten. Und die Erinnerung zeitigte in seiner von frischen Todesängsten weichgemachten Seele ein ungewohntes Verlangen, den andern Ueberlebenden des Bundes noch einmal wiederzusehen. Es konnte ja sein, daß auch der sich einsam fühlte und über manches Gebrechen zu klagen hatte, und übrigens war er ja längst ein angesehener Mann, mit dem selbst Frau Beate höflich verkehrt haben würde.

Der Mietskutscher nickte verständnisvoll, als ihm sein Fahrgast die Adresse des Oberbibliothekars Doktor Ritter nannte. Unterwegs, nahe dem Bahnhof, begegnete ihnen ein anderer Wagen, darin saß ein sehr stattliches junges Paar in hellen Reisekleidern. Die junge, schöne Frau hielt einen großen Rosenstrauß in der Hand, und ihre blauen Augen blickten so strahlend und dankbar in die Welt hinaus, als hätte der liebe Gott diesen sonnigen, blühenden Maitag eigens für sie geschaffen. Der Kutscher grüßte die beiden und bekam ein holdseliges Nicken zurück; der Geheime Edukationsrat aber sah gar nicht hin, er las in seiner Diätvorschrift und seufzte.

Er blickte erst auf, als der Wagen um die letzte Ecke bog. Da lag das alte Haus kaum dreißig Schritt vor ihm, bis auf den Anbau ganz wie früher und doch ganz wie verzaubert. Die Außenseite der grauen Gartenmauer war längs der Straße mit Guirlanden bekränzt, vor dem Gartenpförtchen waren Blumen gestreut, und drinnen auf der Wiese, unter den blühenden Kirschbäumen, saß und stand um eine lange Festtafel, scherzend und bankettierend, eine fröhliche Gesellschaft alte und junge Herren, in dunklem Festanzug und in Uniformen, würdige Matronen in Schwarz und schöne, weißarmige Mädchen in lichten, leichten Kleidern, mit Blumen im Haar.

„Halt, Kutscher, halt!“ rief der Geheime Edukationsrat, und nachdem er das heitere Bild lange verwundert betrachtet, fragte er: „Was ist denn da los?“

Der Kutscher sah ihn maßlos erstaunt an „Nanu,“ sagte er, „das wissen Sie nicht? Ich dachte, der Herr gehörte dazu, [147] und ich wunderte mich schon, daß Sie die Zwei vorhin so vorbeifahren ließen. Da ist ja heut’ Hochzeit!“

„Was sagen Sie da?“ fragte der Geheime Edukationsrat „Hat sich der Herr Oberbibliothekar verheiratet?“

„Ach ne,“ erwiderte der Kutscher, „seine Tochter, natürlich. Mit dem Doktor von Seedorf, dem Privatdocenten aus München! Das heißt, es ist ja nur seine angenommene Tochter, eigentlich hieß sie Bardolf, Fräulein Grete Bardolf. Ich kenne das ganz genau, weil nämlich meine Frau in dem Hause früher gedient hat – und eigentlich hätte ich auch das junge Paar fahren sollen, nicht der Johann,“ setzte er ärgerlich hinzu, denn der Fahrgast mißfiel ihm nachgerade.

„So, so!“ sagte der Geheime Edukationsrat und seufzte. „Dann fahren Sie mich nur gleich nach meinem Gasthof.“

„Ist auch besser“, brummte der Kutscher und drehte um.

Der Oberbibliothekar Hans Ritter stand im Garten, etwas abseits von der fröhlichen Gesellschaft, mit dem Rücken gegen die Straße, und plauderte mit dem Hauptmann von Seedorf, der bei Tisch eine so schöne Rede gehalten hatte vom Frieden, der heute vor fünfundzwanzig Jahren geschlossen worden sei und den der Vater der Braut miterstritten habe, vom Frieden dieses Hauses, in dem auch ihre Eltern Hochzeit gemacht und in dem sie unter der Obhut ihres zweiten Vaters so lieblich aufgeblüht, und vom Frieden der Liebe, der niemals in ihrer Ehe abnehmen möge. Da trat Fräulein Martha Weber zu ihnen, sehr munter und sehr aufgeregt. Sie fing nun auch schon an, ihre grauen Haare ohne Scheu zu tragen; die fremde Beimischung in ihren Gefühlen für den Doktor Hans Ritter hatte sich verflüchtigt oder veredelt, und sie waren nun ganz und gar nur richtige Freunde.

„Denken Sie, lieber Freund“, rief sie, „da hielt eben drüben an der Ecke einige Augenblicke ein Wagen – ich möchte drauf schwören, daß der Herr, der drin saß, niemand anders war als mein ehemaliger Kollege, der Doktor Hans Mohr.“

Hans Ritter wandte sich hastig nach der angegebenen Richtung um. „Nein,“ sagte Fräulein Martha, „er ist schon längst wieder fort. Am Ende war’s doch auch nur eine Aehnlichkeit, denn was hätte der Herr hier zu suchen? Damit wandte sie sich wieder einer Gruppe von jungen Mädchen zu, Freundinnen Gretes, von denen zwei aus weiter Ferne herbeigereist waren, um das unschätzbare Amt der Brautjungfern nicht zu versäumen.

Der Hauptmann von Seedorf blickte dem lebhaften Fräulein wohlgefällig nach. „Ihre verehrte Freundin hat wie gewöhnlich recht,“ sagte er. „Was hätte der Herr hierzu suchen? Und gerade heute, wo es, wie Sie mir sagten, vierundzwanzig Jahre sind, daß Sie und Bardolf mit ihm hier jenen denkwürdigen Bund stifteten. Ich weiß zwar nicht, ob der Herr abergläubisch ist – seine ausgezeichnete Gemahlin reist ja neuerdings viel als Sendbotin irgend einer geisterseherischen Sekte herum – aber auf jeden Fall müßte er doch das Gefühl haben, gegen irgend etwas Unsichtbares zu rennen, wenn er sich hier heute sehen lassen wollte. – Im übrigen, lieber Freund, Sie wissen, ich bin kein Gelehrter, und am Ende könnte mir auch alle Gelehrsamkeit keine genaue Vorstellung vom Leben der Seligen geben, aber ich denke mir, so ’ne gewisse Fühlung mit Wohl und Wehe der irdischen Hinterbliebenen ist jedenfalls gesichert, und dann muß es heute im Himmel eine sehr zufriedene stille Ecke geben. Von der ich, beiläufig bemerkt, nach Gretes Eltern und Voreltern und meiner seligen Frau auch den würdigen Professor Isaak Bernstein nicht abgeschlossen haben möchte!“

Eine von Gretes Freundinnen, mit einer dunkelroten Rosenknospe im schwarzen Haar, kam vom Tisch herüber und kredenzte ihnen Wein. Erschrocken blickte sie auf den Römer, den sie dem Hauptmann hingereicht. „Es ist – der Wind hat’s gethan,“ stammelte sie. „Es ist eine Kirschenblüte.“

Der Hauptmann nickte ihr lächelnd zu. „Blüten im Wein, Blüten in jungen Locken und auf weißem Haar“, sagte er. „Ueberall Blüten! Sie müssen zugeben, lieber Freund, daß ich Geschmack hatte, als ich vorhin den Mädchen riet, ihre Köpfchen, zu Ehren unseres botanischen Brautpaares so zu schmücken, und zu Ehren des Friedens. Ja, dies ist in der That ein Friedensfest, wie ich es mir seit fünfundzwanzig Jahren gewünscht habe. Schade, daß es in ein paar Stunden vorbei ist! Es wird Ihnen fürs erste sehr einsam vorkommen, lieber Freund. Ich habe daheim, gottlob, soviel Aerger damit, meine Polacken zu Menschen zu erziehen, daß ich wenig Zeit habe, an mich zu denken. Aber Ihr Erziehungswerk – an einem unvergleichlich edleren Gegenstande – ist zu Ende. Was bleibt Ihnen nach all dem Ringen?“

Der Doktor Hans Ritter sah ihn lächelnd an. „Was mir bleibt?“ fragte er leise. „So Gott will – der Friede!“