Die Kaktushecke

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Textdaten
Autor: Walter Benjamin
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Titel: Die Kaktushecke
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aus: Vossische Zeitung. 1933; Beilage: Das Unterhaltungsblatt, Nr. 8, S. 1–2
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 8. Januar 1933
Verlag: Ullstein
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Commons, S. 2
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Die Kaktushecke
Von
WALTER BENJAMIN

Der erste Fremde, der zu uns nach Ibiza kam, war ein Ire O’Brien. Das ist jetzt ungefähr zwanzig Jahre her, und der Mann war damals schon in den Vierzigern. Er war, bevor er sich bei uns zur Ruhe setzte, viel herumgekommen, hatte in seiner Jugend lange als Farmer in Ostafrika gelebt, war ein großer Jäger und Lassowerfer, vor allem aber ein Sonderling, wie ich keinen gekannt habe. Von den gebildeten Kreisen, Geistlichen, Magistratsbeamten, hielt er sich fern, selbst mit den Eingeborenen stand er nur in losem Verkehr. Dennoch lebt sein Gedächtnis bei den Fischern heute noch, und zwar vor allem wegen seiner Meisterschaft im Knotenbinden. Im übrigen schien seine Menschenscheu nur halb die Folge seines Naturells zu sein; widrige Erfahrungen mit Nahestehenden mochten das Weitere dazu getan haben.

Ich konnte damals nicht viel mehr ermitteln, als daß ein Freund, dem er sein einzig wertvolles Besitztum anvertraut hatte, damit verschwunden war. Das war eine Sammlung von Negermasken, welche er bei den Eingeborenen selber in seinen afrikanischen Jahren erworben hatte. Im übrigen hat sie dem, der sie sich angeeignet hatte, kein Glück gebracht. Bei einem Schiffsbrand war er umgekommen und mit ihm die Sammlung von Masken, die ihn an Bord begleitet hatte.

O’Brien saß auf seiner Finca hoch über der Bucht, hatte er aber Arbeit vor, so führte ihn sein Weg immer wieder ans Meer. Da befaßte er sich mit Fischerei, ließ die aus canas geflochtenen Reusen hundert Meter und tiefer hinab, wo die Langusten auf dem felsigen Meeresboden spazieren, oder fuhr an stillen Nachmittagen hinaus, um Netze zu legen, die in zwölf Stunden wieder eingeholt sein wollten. Daneben aber war der Fang von Landtieren seine Freude geblieben, und in England besaß er zu Amateuren und Wissenschaftlern genügend Beziehungen, um selten ganz ohne Aufträge, sei es auf Vogelbälge, seltene Käferarten, Geckos oder Schmetterlinge zu sein. Am meisten aber beschäftigten ihn die Eidechsen. Man erinnert sich noch der Terrarien, die damals, zuerst in England, in der Kakteen-Ecke der Boudoirs oder der Wintergärten sich ansiedelten. Eidechsen begannen ein Modeartikel zu werden, und unsere Balearen wurden bald bei den Tierhändlern ebenso bekannt, wie sie es bei den Führern römischer Legionen einst ihrer Schleuderer wegen gewesen sind. Denn „balea“ heißt die Schleuder.

O’Brien, ich sagte es schon, war ein Sonderling. Ich glaube, vom Eidechsenfang und Kochen bis zum Schlafen und Denken tat er nichts auf die Art, wie andere es machen. Was Speisen anging, so hielt er von Vitaminen, Kalorien und dergleichen wenig. Alles Essen, so pflegte er zu sagen, sei Heilung oder sei Vergiftung, und ein Mittleres gäbe es nicht. Der Essende also müsse sich immer als eine Art von Rekonvaleszenten ansehen, wenn er sich nämlich richtig ernähren wolle. Und nun konnte man von ihm eine ganze Liste von Speisen hören, deren die einen dem Sanguiniker, die anderen dem Choleriker, andere wieder dem Phlegmatischen und endlich wieder andere dem Melancholischen entsprächen, ihnen heilsam seien, indem sie die ergänzenden, die mildernden Substanzen ihnen einverleibten.

Ganz ähnlich stand es mit dem Schlaf; er hatte da eine eigene Theorie der Träume und behauptete, bei den Pangwe, einem Negerstamme im Innern, das unfehlbare Mittel kennengelernt zu haben, Alpträume, quälende Gesichte, die im Schlafe wiederkehren, sich fernzuhalten. Man brauche nur am Abend, ehe man schlafen gehe, das Schreckensbild – wie es die Pangwe unter Zeremonien tun – sich zu beschwören, so bleibe man des Nachts vor ihm bewahrt. Er nannte das die Traumimpfung.

Das Denken endlich – wie er es mit dem Denken hielt, das sollte ich eines Nachmittags erfahren, als wir in einem Boot auf dem Wasser lagen, um Netze, die am Vortag ausgeworfen waren, einzuziehen. Der Fang war elend. Wir hatten das beinahe leere Netz fast eingebracht, als ein paar Maschen sich an einem Riff verfingen und trotz aller Sorgfalt bei der Bergung rissen.

Ich rollte meine Regenhaut zusammen, schob sie in meinen Nachen und streckte mich aus. Das Wetter war bewölkt, die Luft still. Bald fielen ein paar Tropfen, und das Licht, das alle Dinge hier vom Himmel her so sehr beansprucht, verzog sich, um sie der Erde zurückzugeben.

Als ich mich aufrichtete, fiel mein Blick auf ihn. Er hielt sein Netz noch in den Händen, aber die ruhten; der Mann war wie abwesend. Befremdet faßte ich ihn näher ins Auge; sein Gesicht war ausdruckslos und ohne Alter; um den geschlossenen Mund spielte ein Lächeln. Ich griff nach meinem Ruderpaar; ein paar Schläge führten uns übers stille Wasser.

O’Brien sah auf.

„Jetzt hält es wieder“, sagte er und prüfte, kräftig zerrend, den neuen Netzknoten. „Es ist aber auch ein doppelter Fläme.“

Verständnislos sah ich ihn an.

„Ein doppelter Fläme“, wiederholte er. „Sehen Sie, er kann Ihnen auch beim Angeln nützen.“

Und damit nahm er ein Stück Schnur, schlug eines ihrer Enden ein und schlang es drei-, viermal um sich selber, bis es zur Achse einer Spirale wurde, deren Windungen mit einem Ruck sich zum Knoten zusammenzogen.

„Eigentlich“, fuhr er fort, „ist er nur eine Abart des doppelten Galeerenknotens und auf alle Fälle, geschleift oder ungeschleift, dem Zimmermann vorzuziehen.“ All dies begleitete er mit geschwinden Windungen und Schleifen. Mir schwindelte.

„Wer diesen Knoten“, schloß er, „auf Anhieb bindet, der hat es ziemlich weit gebracht und kann sich zur Ruhe setzen. Ganz wörtlich meine ich das: zur Ruhe setzen, denn das Knoten ist eine Yogakunst; vielleicht das wunderbarste aller Entspannungsmittel. Man lernt es nur durch Ueben und Wiederüben – nicht erst am Wasser, sondern zu Hause, in aller Gemütsruhe, im Winter, bei Regen. Und am besten, wenn man Kummer und Sorgen hat. Sie glauben nicht, wie oft ich darüber eine Lösung für Fragen, die mich bedrückten, gefunden habe.“

Schließlich versprach er, mich in diesem Fache zu unterrichten und in alle seine Geheimnisse vom Kreuz- und Weber- bis zum Puffer- und Herkulesknoten mich einzuführen.

Aber es wurde nichts draus; denn bald darauf sah man ihn immer seltener am Wasser. Erst blieb er drei, vier Tage fern, dann ganze Wochen. Was er trieb, wußte niemand. Man munkelte von einer geheimnisvollen Beschäftigung. Unzweifelhaft hatte er irgendeine neue Liebhaberei entdeckt.

Es vergingen einige Monate, bis wir wieder einmal im Boot beieinander lagen. Diesmal war der Fang reichlicher, und als wir zuletzt eine große Meerforelle an seiner Angel fanden, machte O’Brien mir den Vorschlag, am nächsten Abend zu einem kleinen Essen zu ihm zu kommen.

Nach Tisch sagte O’Brien, indem er eine Tür öffnete, „meine Sammlung, von der Sie gewiß schon gehört haben.“

Gehört hatte ich von der Sammlung von Negermasken wohl, aber eigentlich nur dies, daß sie zugrundegegangen war.

Doch da hingen sie nun, zwanzig bis dreißig Stück, im leeren Zimmer, an geweißten Wänden. Es waren Masken von groteskem Ausdruck, die vor allem eine bis ins Komische getriebene Strenge, eine ganz unerbittliche Ablehnung alles Ungemäßen verrieten. Die aufgeworfenen Oberlippen, die gewölbten Riefen, zu denen Lidspalte und Brauen geworden waren, schienen etwas wie grenzenlosen Widerwillen gegen den Nahenden, ja gegen das Nahende schlechthin, zum Ausdruck zu bringen, während die gestaffelten Kuppen des Stirnschmucks und die Verstrebungen der geflochtenen Haarsträhnen wie Mäler hervortraten, die die Rechte einer fremden Macht über diese Züge bekundeten. Auf welche dieser Masken man auch blickte, nirgends schien ihr Mund irgend dazu bestimmt, Laute entfahren zu lassen; die wulstig aufgeworfenen oder festgeschlossenen Lippen waren Schranken vor oder nach dem Leben wie die Lippen der Embryonen oder die der Toten.

O’Brien war zurückgeblieben.

„Diese hier“, sagte er plötzlich hinter mir und wie zu sich selber, „habe ich zuerst wiedergefunden.“

Als ich mich umwandte, stand er vor einem langgezogenen, glatten, ebenholzschwarzen Kopf, der ein Lächeln zeigte. Es war ein Lächeln so von Anbeginn herauf, daß es im Grunde wie ein Wiederkäuen des Lächelns hinter den geschlossenen Lippen schien. Im übrigen lag dieser Mund ganz tief, wie [2] denn das ganze Antlitz nichts als Ausgeburt der ungeheuren gewölbten Stirn war, die in unaufhaltsamem Bogen herniederfloß, durchbrochen nur von den erhabenen runden Augenringen, die wie aus einer Taucherglocke hervortraten.

„Diese habe ich zuerst wiedergefunden. Und ich könnte Ihnen auch sagen, wie.“

Ich sah ihn nur an. Mit dem Rücken lehnte er sich gegen das niedrige Fenster, und dann begann er:

„Wenn Sie hinaussehen, haben Sie vor sich die Kaktushecke. Es ist die größte in der ganzen Gegend. Bemerken Sie den Stamm, wie er bis hoch hinauf verholzt ist. Daran erkennen Sie das Alter; mindestens hundertfünfzig Jahre. Es war eine Nacht wie heute, nur daß der Mond schien. Vollmond. Ich weiß nicht, ob Sie sich je Rechenschaft von der Wirkung des Mondes in dieser Gegend gegeben haben, in der sein Licht nicht auf den Schauplatz unseres Tagesdaseins zu fallen scheint, sondern auf eine Gegen- oder Neben-Erde. Den Abend hatte ich vor meinen Seekarten zugebracht. Sie müssen wissen, es ist mein Steckenpferd, die Karten des britischen Marineamts zu verbessern, und zugleich ein billig erworbener Ruhm, denn wo ich eine neue Stelle mit meinen Reusen besetze, nehme ich Lotungen vor. Also ich hatte einige Hügelchen auf dem Meeresgrunde umschrieben und drüber nachgedacht, wie hübsch es wäre, wenn man mich dort in der Tiefe verewigte, indem man ihrer einem meinen Namen gäbe. Und dann war ich zu Bett gegangen. Sie werden vorhin gesehen haben, daß ich Vorhänge vor den Fenstern habe; die fehlten mir damals noch, und der Mond rückte, während ich schlaflos lag, gegen mein Bett vor. Ich hatte wieder zu meinem Lieblingsspiel gegriffen, dem Knotenschlingen. Ich glaube, ich habe Ihnen schon einmal davon gesprochen. Das geht so vor sich, daß ich im Geiste einen komplizierten Knoten schürze, darauf ihn gleichsam bei mir selbst beiseite lege und einen zweiten, wieder in Gedanken, zustandebringe. Dann kommt der erste wieder an die Reihe. Nur daß ich ihn diesmal nicht zu schürzen, sondern zu lösen habe. Natürlich kommt es dabei darauf an, die Form der Knoten ganz präzise im Gedächtnis zu behalten, vor allem darf sich der erste mit dem zweiten nicht vermengen. Diese Uebungen, in denen ich es wirklich zu einigem Können gebracht habe, stelle ich an, wenn ich Gedanken im Kopf habe und keine Lösung, oder Müdigkeit in den Gliedern und keinen Schlaf finde. Bei beiden kommt es auf ein und dasselbe hinaus: die Entspannung.

Diesmal aber half mir meine bewährte Meisterschaft nichts, denn je näher ich der Lösung kam, desto näher rückte auch der blendende Mondschein gegen mein Bett vor. Da nahm ich meine Zuflucht zu einem andern Mittel. Ich ließ die Sprüche, Rätsel, Lieder und Diktons, die ich allmählich auf der Insel gelernt habe, Revue passieren. Das ging schon besser. Ich fühlte meinen inneren Krampf sich legen, da fiel mein Blick auf die Kaktushecke. Ein altes Spottverschen kam mir in das Gedächtnis: „Buenas tardes chlumbas figas.“ Der Bauernjunge sagt „Guten Abend“ zu der Kaktusfeige, zückt sein Messer und zieht ihr, wie es heißt, vom Wirbel bis zum Hintern einen Scheitel.

Aber die Zeit der Kaktusfeigen war längst vorüber. Die Hecke stand kahl; ihre Blätter stießen bald schräg ins Leere, bald standen sie gestaffelt, dicke Schalen, die vergebens auf Regen warten.

„Kein Zaun, sondern Zaungäste“, ging es mir durch den Kopf.

Denn in der Zwischenzeit schien eine Verwandlung mit dieser Hecke vor sich gegangen. Es war, als wenn die draußen in der Helle, die nun mein ganzes Bett umgab, herstarrten; als hinge da eine Schar mit angehaltenem Atem an meinen Blicken. Ein Getümmel erhobener Schilde, Kolben und Streitäxte. Und beim Einschlafen erkannte ich plötzlich das Mittel, mit dem die Gestalten da draußen mich in Schach hielten. Es waren Masken, die sich mir entgegenreckten!

So war der Schlummer über mich gekommen. Am nächsten Morgen aber ließ es mir keine Ruhe. Ich nahm ein Messer, und dann schloß ich mich acht Tage mit dem Block ein, aus dem die Maske, die hier hängt, entstand. Die anderen entstanden eine nach der andern, und ohne daß ich noch jemals einen Blick an die Kaktushecke verloren hätte. Ich will nicht sagen, daß sie alle meinen früheren ähnlich sehen; aber schwören möchte ich, daß kein Kenner diese Masken von denen unterscheiden könnte, die vor Jahren einmal ihre Stelle einnahmen.“

So erzählte O’Brien. Wir plauderten noch ein Weilchen, dann ging ich.

Einige Wochen später hörte ich, O’Brien habe sich wieder mit einer geheimnisvollen Arbeit eingeschlossen und sei für jedermann unzugänglich. Ich habe ihn niemals wiedergesehen, denn bald danach starb er.

Schon lange hatte ich nicht mehr an ihn gedacht, als ich zu meiner Ueberraschung eines Tages bei einem Pariser Kunsthändler in der Rue La Boétie in einem Glaskasten drei Negermasken entdeckte.

„Darf ich Sie“, wandte ich mich an den Chef des Hauses, „zu dieser unerhört schönen Erwerbung aufrichtig beglückwünschen?“

„Ich sehe mit Vergnügen“, war die Antwort, „daß Sie Qualität zu würdigen wissen! Ich sehe, daß Sie Kenner sind! Die Masken, die Sie hier mit Recht bewundern, sind nichts als eine kleine Probe der großen Kollektion, deren Ausstellung wir augenblicklich vorbereiten!“

„Und ich könnte mir denken, mein Herr, daß diese Masken unsere jungen Künstler zu interessanten eigenen Versuchen inspirieren würden.“

„Das hoffe ich sogar! – Wenn Sie sich übrigens näher dafür interessieren, lasse ich Ihnen aus meinem Büro die Gutachten unserer ersten Kenner aus dem Haag und aus London kommen. Sie werden finden, daß es sich um jahrhundertalte Objekte handelt. Bei zweien möchte ich sogar von Jahrtausenden reden.“

„Diese Gutachten zu lesen, würde mich in der Tat besonders interessieren! Dürfte ich Sie nun fragen, von wem diese Sammlung stammt?“

„Sie stammt aus dem Nachlaß eines Iren. O’Brien. Sie werden seinen Namen nie gehört haben. Er lebte und starb auf den Balearen.“