Die Katastrophe von Para-Dschala

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Autor: Walther Kabel
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Titel: Die Katastrophe von Para-Dschala
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1914, Fünfter Band, Seite 216–221
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Walther Kabel arbeitete diese Erzählung teilweise wörtlich in den Roman Das Auge des Brahma auf den Seiten 79–84 ein.
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[216] Die Katastrophe von Para-Dschala. – Bereits im Jahre 1851, als die Ostindische Kompanie, damals noch die eigentliche Herrin des indischen Kolonialreichs, die erste Eisenbahn von Bombay nach Tanna bauen ließ, wurden ihr von seiten der eingeborenen Bevölkerung Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Fürchteten die Inder doch nicht mit Unrecht, daß die Herstellung eines Schienennetzes, das die schnelle Herbeischaffung von Truppen und Kriegsmaterial aller Art in das Innere des Landes gestattete, ihre letzte Hoffnung auf eine Befreiung von dem englischen Joch endgültig zerstören würde.

Zunächst war es fast unmöglich, die nötigen Arbeiter für jenen Streckenbau anzuwerben. Dann wurden später auch die fertiggestellten Teile des Schienenstranges nachts immer wieder aufgerissen und zerstört, Brücken verbrannt und die leitenden Ingenieure aus dem Hinterhalt niedergeschossen. Schließlich mußte die Ostindische Kompanie, um das Projekt überhaupt ausführen zu können, den Schienenweg Tag und Nacht durch Militär überwachen lassen. So kam es, daß die nur 32 Kilometer lange Strecke erst nach fast zweijähriger Bauzeit beendet werden konnte. Die scharfe Bewachung des Schienenstranges mußte aber noch jahrelang fortgesetzt werden.

Wer als treibendes Element hinter diesem gefährlichen, [217] offenbar sehr gut organisierten Widerstand gegen den Bahnbau gesteckt hatte, ist nie herausgekommen, obwohl nach dem Bericht des damaligen Generalgouverneurs von Indien, Earl Dalhousies, nicht weniger als dreiundvierzig Eingeborene allein wegen der Mordanschläge, die sie auf die Ingenieure verübt hatten, gehängt wurden, nachdem man ihnen vergeblich durch das Versprechen gänzlicher Begnadigung ein Geständnis abzulocken versucht hatte.

Schon zu jener Zeit gab es eben wie noch heute in Indien eine große Anzahl von Geheimgesellschaften, die lediglich das Ziel verfolgten, ihre Heimat von den fremden Eindringlingen zu säubern. Und Mitglieder einer solchen Vereinigung waren es auch zweifellos, die der Ostindischen Kompanie das Anlegen dieses ersten Schienenweges nach Möglichkeit zu erschweren wußten und auf deren Konto auch die furchtbare Katastrophe von Para-Dschala zu setzen ist.

Ein Jahr später wurde trotz dieser schlechten Erfahrungen der Bau einer zweiten Eisenbahnlinie von Bombay nach Manmad beschlossen. Im Mai 1854 hatten die Ingenieure die neue Strecke vermessen und abgesteckt, eine Aufgabe, deren Lösung wiederum nicht ohne allerlei unliebsame Zwischenfälle vonstatten ging. Dann begann die eigentliche Bauausführung. Das schwierigste Geländehindernis bot das Sinpangebirge, das man nicht umgehen, sondern durchschneiden mußte. Zu diesem Zweck war es nötig, den Para-Dschala, den heiligen Berg, einen schlanken Bergkegel, auf dem sich ein uralter Hindutempel befand, zum Teil wegzusprengen.

Im Herbst 1855 hatte man die Arbeit so weit gefördert, daß die ersten Sprenglöcher in das Gestein des Para-Dschala getrieben werden konnten. Wir folgen bei der weiteren Schilderung der Ereignisse einem 1885 in London erschienenen Buche des englischen Ingenieurs Thomas Marling, eines der wenigen Überlebenden der Para-Dschala-Katastrophe.

„Vom 14. November 1855 ab verging keine Woche, in der wir nicht ein paar Mann durch heimtückische Kugeln verloren hätten. Wir lebten wie im Kriege, nur daß wir von unseren Gegnern höchst selten etwas zu sehen bekamen. Die wildzerklüftete [218] Natur des Sinpangebirges kam unseren fanatischen Feinden sehr gelegen. Da gab es Schleichwege, von denen wir keine Ahnung hatten, weite unterirdische Höhlengange, in denen die meuchlerischen Schützen wie Gespenster verschwanden. Das uns reichlich zugeteilte Militär half wenig. Am Tage hielt es uns die erbitterten Eingeborenen wohl vom Leibe, kam aber die Nacht, so kamen die Schrecken. Wir alle waren in kurzer Zeit in fast lächerlicher Weise nervös geworden. Rieselndes Erdreich, ein rollendes Steinchen trieb uns das Blut aus den Wangen. Gewiß, bisweilen glückte es uns auch, diesen oder jenen der braunen Bande abzufassen. Dann wurde kurzer Prozeß gemacht. Er wurde an dem Gerüst eines der Gesteinsbohrer aufgeknüpft. Tagelang ließen wir die Leichen dort baumeln, um die anderen abzuschrecken. Es half nichts. Jede Nacht dasselbe Spiel. Bald hier, bald da laute, in den Felstälern widerhallende Schüsse. Und zumeist waren wir die Leidtragenden bei der Partie.

Dabei blieb’s jedoch nicht. Wir hatten über die beiden Quellflüßchen des Godawari zwei Brücken gebaut, zur Vorsicht schon in Eisenkonstruktion, da unsere Erfahrungen, die wir bei der Strecke Bombay-Tanna mit Holzbrücken sammeln durften, nicht gerade ermutigend gewesen waren. Eines Tages traf dann an unserer Arbeitstelle die Nachricht ein, daß beide Brücken in einer Nacht in die Luft gesprengt worden waren, nachdem man die dort postierten Wachen, je fünf Mann und einen Unteroffizier, hinterrücks erschossen hatte. Das war ein harter Schlag für uns. Denn nunmehr waren wir für lange Wochen von der Küste so gut wie abgeschnitten und mußten außerdem die Arbeit am Para-Dschala vorläufig einstellen. Erst Anfang Dezember waren die Brücken wieder ausgeflickt, und der Tanz am Heiligen Berge konnte aufs neue beginnen. Die Westseite des Para-Dschala mußte auf eine Ausdehnung von etwa dreihundert Meter niedergelegt werden.

Unsere Widersacher blieben rührig wie vorher. Die ewigen Belästigungen durch pfeifende Kugeln hörten nicht auf. Über ganz Indien lagerte es ja damals schon wie eine drohende Gewitterwolke. Diese Anfeindungen, denen wir Eisenbahner [219] ständig ausgesetzt waren, bildeten sozusagen das warnende Grollen des Unwetters, das sich kaum sechs Monate später in Gestalt des großen Aufstandes über ganz Indien entladen sollte. Die Eingeborenen schlichen um uns herum wie mordgierige Katzen. Ihre Mienen waren freundlich, aber in ihren Augen brannte tödlicher Haß. Und die mutigsten, die fanatischsten und – ehrlich gesagt – die begeistertsten Vaterlandsfreunde von ihnen waren eben die, die nachts mit der modernen Feuerwaffe in der Hand unsern Schlaf störten und unseren Spaten unliebsame Arbeit zum Gräberauswerfen gaben.

Nachdem wir in der ersten Januarhälfte des Jahres 1856 genügend Sprenglöcher gebohrt hatten, um einen Felsvorsprung, den wir scherzend ‚die Nase‘ getauft hatten, als erstes Hindernis beiseite zu räumen, wurden die Zündschnüre gelegt und alles für den Morgen des 17. für die Sprengung bereitgemacht. Diese gelang vollständig. Die ,Nase‘ war verschwunden. Nun ging es rüstig vorwärts. Anfang April hatten wir in dem Para-Dschala schon eine recht erhebliche Ausbuchtung freigelegt und auch bereits gegen zweihundert Meter Geleis eingefügt. Es galt jetzt nur noch die letzten siebzig Meter zu bewältigen. Diese gedachte unser leitender Ingenieur auf einmal zu erledigen. Hatten wir doch mit der Zeit so viel Neues hinsichtlich der Anlage der Sprengschüsse hinzugelernt, daß uns die Aufgabe gar nicht so riesengroß vorkam, wie es dem Laien scheinen mag. Es handelte sich nach unseren Berechnungen um ungefähr fünfzehnhundert Kubikmeter Gestein, die zu ‚bewegen‘ waren, wie der Fachmann sagt. Nicht weniger als achtzig Sprenglöcher, die meisten bis zu drei bis vier Meter Tiefe, wurden in den Heiligen Berg getrieben und dann im Laufe des 18. April mit Pulver gefüllt, wovon wir genau hundertundacht Zentner verbrauchten. Am folgenden Tage legte ich mit Hilfe zweier Kollegen die Zündschnüre und Pulverbahnen. Aber ein Regenguß, der am Abend einsetzte und einige Stunden andauerte, machte unsere ganze Mühe zuschanden. Die Zündschnüre waren durchgeweicht und die Pulverbahnen, die das gleichzeitige Explodieren aller Ladungen herbeiführen sollten, weggewaschen.

[220] Dann brach der Unglückstag, der 19. April 1856, an. Die Nacht war kühl und sternenklar gewesen und ohne jede Störung verlaufen. Der Morgen brachte warmen Sonnenschein. Unsere Arbeiter sollten zuerst die über den Felsabhang verteilten Sprenglöcher nachprüfen, ob auch kein Wasser eingedrungen war. Der leitende Ingenieur und meine sieben Kollegen verließen gleichzeitig mit ihnen unser Lager, das etwa sechshundert Meter von der Baustelle entfernt war. Ich selbst verspätete mich etwas. Dies sollte meine Rettung werden. Denn als ich gerade aus dem Talgrunde emporstieg, erschütterte urplötzlich ein ungeheurer Krach die Luft. Gleichzeitig fühlte ich mich wie ein Federball hochgehoben und fortgeschleudert. Ich verlor die Besinnung und erwachte erst wieder nach Stunden in meinem Zelt. Mein rechter Arm war gebrochen, und an der Stirn klaffte mir eine große Wunde. Soldaten unseres Bedeckungskommandos hatten mich gefunden und fortgeschafft. Einer von ihnen war es auch, der den Verlauf dieser furchtbaren Katastrophe aus der Ferne mitangesehen hatte.

Aus seinen Angaben ging folgendes hervor: Als unsere Arbeiter und die Ingenieure bis dicht an die Sprengstelle gelangt waren, tauchte mit einem Male hinter einem Felsen ein Hindu auf, der eine brennende Fackel drohend um den Kopf schwang. Noch ahnte niemand etwas Böses. Da rief der Inder unseren Leuten ein paar Worte entgegen und stieß urplötzlich die Fackel auf die Erde. In demselben Augenblick schoß es wie feurige Schlangen über den Abhang hin, das Gestein wankte, Pulverdampf und Steinsplitter verfinsterten die Luft. Als es wieder klar wurde, bot sich den Augen der entsetzt herbeieilenden Soldaten, die in weitem Umkreise wie täglich Posten gestanden hatten, ein grauenvoller Anblick. Nicht einer von all den Menschen, die sich in der Nähe der Sprengstelle befunden hatten, war mit dem Leben davongekommen. Einhundertvierundzwanzig zum Teil bis zur Unkenntlichkeit zerfetzte Leichen lagen dort umher. Das Felsgeröll war weithin mit Blut bespritzt.

Der Para-Dschala hatte den fremden Eindringlingen den Weg freigegeben, aber unter welchen Opfern!“

[221] So weit Thomas Marling, der glücklich diesem in der Geschichte des Eisenbahnbaues einzig dastehenden Attentat entrann. Dessen Urheber sind nie entdeckt worden, trotzdem der Generalgouverneur mit aller Energie und rücksichtsloser Strenge die Untersuchung betrieb, denn bereits am 10. Mai desselben Jahres brach der große indische Aufstand aus, der mit seinen Tausenden von Opfern das Blutbad von Para-Dschala schnell in den Hintergrund drängte. Der Bau der Bahnstrecke Bombay-Manmad wurde erst acht Jahre später wieder aufgenommen. Bis dahin hatte England alle Hände voll zu tun, um die rebellischen Völker Indiens niederzuzwingen. Am 5. März 1866 dampfte dann der erste Eisenbahnzug von Bombay nach Manmad ab. Auf Befehl des Vizekönigs hielt er am Para-Dschala, und in würdiger Weise wurde eine dort in die Felswand eingelassene Erztafel enthüllt, die die Aufschrift trägt: „Zur Erinnerung an den 19. April 1856“.

W. K.