Die Offenbarung Johannis/Exkurs zu Kap. 4-6

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
« Kap. 6. Die ersten sechs Siegel Wilhelm Bousset
Die Offenbarung Johannis
Kap. 7-8,1. Intermezzo und siebentes Siegel »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
[276]
Exkurs zu Kap. 4-6.

1. Am einschneidendsten ist hier die Kritik von Spitta. Nach Sp. soll mit Kap. 6 — abgesehen von einer kleinen Fortsetzung in Kap. 7 und 19 — die christliche Urapokalypse (U) zu Ende gehen. Sp.s Gründe dafür sind im wesentlichen 1) daß mit 6,12ff. in der Tat ein apokalyptisches Ende gegeben[277] sei. 2) daß mit 7,1ff. eine unerwartete, ganz neue Episode einsetze. Nun aber ist mit der richtigen Erklärung von 6,12ff. Sp. erster Grund hinfällig geworden. In 6,12ff. ist nicht das Weltende gezeichnet, sondern ein starkes Erdbeben als Vorzeichen desselben. Gerade nach 6,12ff. erwartet man noch mindestens die Schilderung des eigentlichen Endes, die man in Sp.s rekonstruierter Quelle U einfach vermißt. — Der zweite Grund Sp.s würde, wenn er sich als stichhaltig erwiese, doch noch nicht beweisen, daß mit Kap. 6 eine Quelle aufhörte, sondern nur, daß in 7,1ff. ein störendes Element in den Zusammenhang des Ganzen sich eindrängt. Sp.s Annahme einer U-Quelle scheint also danach nicht begründet zu sein. An Sp. hat sich auch nur Schmidt bis jetzt angeschlossen, während J. Weiß, der sich, was die Grundidee betrifft, in den Bahnen Spittas hält, dies Werk der christlichen Apk mit Kap. 6 noch lange nicht zu Ende sein läßt. Die Gründe, die Sp. veranlaßten, bei Kap. 6 den starken Einschnitt zu machen, sind also auch für J. Weiß nicht maßgebend.

Wie aber die Kapitel 4-6 nach vorwärts mit den folgenden Kapiteln zusammenhängen, so ist auch nach rückwärts ihr Zusammenhang mit Kap 1-3 nicht (mit Vischer, Vlt., Weyl., Pfleid. I, Schmidt) zu zerreißen. Die Schwierigkeiten, die in den Versen 4,1.2 Vorliegen, sind zu überwinden (vgl. den Kommentar zu dieser Stelle, auch zu 1,20, und was oben über den Charakter von 1-3 gesagt ist).

Namentlich ist zu betonen, daß Kap. 4-6 genau so christlichen Ursprungs sind wie Kap. 1-3. Der christliche Charakter haftet wenigstens an Kap. 5 untilgbar. Es ist ein unbestreitbares Verdienst von Sp., daß er Vischer gegenüber diese These siegreich verfochten hat. Die Streichung von 5,9-14 (Erbes 5,11-14) und die Beseitigung von ἀρνίον in V. 6 (Vischer), oder gar die Streichung von 5,6-14 (Weyl.) ist nichts anders als einfache kritische Willkür, mit der man schließlich jede neutestamentliche Schrift in eine jüdische umprägen könnte.

2. Was die Sprache dieses Stückes anbetrifft, so finden sich häufig in diesen Kapiteln die charakteristischen Wendungen, welche auch sonst in der ganzen Apk zerstreut sind: καθήμενος ἐπὶ τὸν θρόνον etc. achtmal (sonst sechsmal vgl. auch die vielen übrigen Verbindungen mit καθήμενος und die Innehaltung der o. S. 165f. besprochenen merkwürdigen Regel); ἀστραπαὶ φωναὶ βρονταί 4,5; (8,5; 11,19; 16,18 tritt noch σεισμός hinzu); der manirierte Gebrauch von ὡς 4,6; 5,6; 5,11; 6,1; 6,6 (sehr oft in der Apk); 4,8 κύριος ὁ θεὸς ὁ παντοκράτωρ etc.; 5,9 ἐκ πάσης φυλῆς etc.; 6,8 ἐξουσία; 6,9 διὰ τὸν λόγον θεοῦ καὶ διὰ τὴν μαρτυρίαν; 6,10 ἅγιος καὶ ἀληθινός; οἱ κατοικοῦντες ἐπὶ τῆς γῆς vgl. die Aufzählung 6,15[1]. Daß sich die sonstigen Spracheigentümlichkeiten der Apk auch in diesen Kapiteln belegen lassen, bedarf kaum einer Erwähnung. An besondern Spracheigentümlichkeiten sind [278] etwa noch folgende zu bemerken: λαμπάς 4,5; 8,10, sonst λυχνία, 5,1 κατασφραγίζειν sonst σφραγίζειν, 5,2 κηρύσσειν (sonst κράζειν). In der Wortstellung finden sich dieselben Eigentümlichkeiten, wie in den andern Partien des Buches. Das Verbum steht gewöhnlich den andern Satzgliedern mit Ausnahme der Subjekte voran, sehr oft beginnt es auch den Satz. Ausnahmen sind sehr selten und dann gewöhnlich begründet: 4,8 ἀνάπαυσιν οὐκ ἔχουσιν, 6,4 καὶ ἵνα ἀλλήλους σφάξουσιν, 6,6 καὶ τὸν ἔλαιον καὶ τὸν οἶνον μὴ ἀδικήσῃς (ferner 4,5 καὶ ἐκ τοῦ θρόνου ἐκπορεύονται, 6,13 ὑπὸ ἀνέμου μεγάλου σειομένη). Aber 6,4 τῷ καθημένῳ ἐδόθη — αὐτῷ. Das Attribut wird seinem Substantiv immer nachgestellt, eine Ausnahme bilden auch hier nur die Zahlwörter. Eine Trennung des Artikels vom folgenden Substantiv kommt nicht vor.

3. In der Christologie von Kap. 4-6 zeigen sich die überraschendsten Berührungen mit den ersten drei Kapiteln. Christus steht hier wie dort im Mittelpunkt der apokalyptischen Handlung, dort ist er der Menschensohn, welcher inmitten seiner Gemeinde richtet, hier das Lamm, das die Siegel des Buches allein lösen kann. Wie Christus in seinen Attributen und seiner Machtbefugnis neben Gott tritt 1,13f.; 1,17 (vgl. die Doxologie 1,6), so steht das Lamm auch hier inmitten des Thrones und erhält denselben Lobpreis, wie Gott ihn erhält 5,9ff.; 5,13; erscheint neben ihm als Weltrichter. Hier wie dort steht Christus in Beziehung zu den sieben Geistern und ist der Herr derselben 1,4-6; 3,1; 5,6. Nur wird in diesen Kapiteln Christus als das Lamm, das geschlachtet ist, und das durch seinen Tod die Erlösten erkauft hat, gedacht (5,9). Aber der parallele Gedanke findet sich auch schon 1,5. Und wie in Kap. 1-3 neben einer bereits sehr weitgehenden Christologie sich Spuren einer älteren Anschauung finden, so ist hier das Lamm, das geschlachtet wurde, zugleich der Löwe aus Judas Stamm, der Sproß Davids, und es ist von dem Zorn des Lammes im Weltgericht die Rede.

4. Literarische Berührungen. Vgl. Völter III 458ff. Durchsetzt sind diese Kapitel von Anklängen an das alte Testament, so daß sich oft Wort für Wort und Satz für Satz die Parallelen nachweisen lassen. Aber der Apokalyptiker handhabt das alte Testament in einer sehr freien und originellen Weise. Spuren einer selbständigen Übersetzung des hebräischen Textes finden sich kaum. Bemerkenswert ist, daß 6,16; (Hos 10,8) statt des charakteristischen Wortes der LXX βουνοί : πέτραι steht. Aber auch gemeinsame Fehler mit der LXX lassen sich nicht nachweisen. Von Berührungen mit dem Buch Henoch läßt sich außer der Parallele 6,9; Hen 47 nur die Charakterisierung der Cherubim ἀνάπαυσιν οὐκ ἔχουσιν (vgl. Hen 39,12ff.; 40; 71,7) anführen. Alle übrigen bei Vlt. aufgezählten Anklänge beweisen nichts. Die Parallele zwischen 6,9-11 und IV Esra 4,35-36 ist schon besprochen. (Vlt. 461 plaidiert für die Priorität der Apk).

Auf die Berührungen zur eschatologischen Herrenrede ist bereits hingewiesen 6,1-8 vgl. Mk 13,7-8; Mt 24,7; Lk 21,10ff.; 6,12ff. vgl. Mk 13,24f.; Mt 24,29f.; Lk 21,25f. Dagegen ist das fünfte Siegel nicht in Parallele mit der Weissagung des Jüngerschicksales zu setzen. Es handelt sich die beiden [279] Male um etwas ganz Verschiedenes. Berührungen mit dem Petrus-Brief sind bereits erwähnt. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß der stärkste Anklang an die Versöhnungslehre der Apk sich I Pt 1,18f. findet. Dort finden sich die beiden Bilder vom Lamm und Loskauf neben einander.

5. Vor allem aber sind die Kap. 4-6 den drei ersten in ihrer künstlerisch literarischen Gesamthaltung durchaus ebenbürtig. Die Abhängigkeit von fremden Vorbildern ist naturgemäß größer als bei den Briefen, aber sie ist genau dieselbe wie bei der Menschensohnvision im ersten Kapitel. Und ebenso groß und noch größer ist die Originalität, Kraft und Wucht, mit der unser Apok. den entlehnten Stoff neu zu gestalten gewußt hat. Der Vergleich macht das am besten klar. Wie klar und einheitlich ist die Vision vom Throne Gottes gegenüber der verworrenen Zeichnung des Ezechiel! Was hat der Apok. in der Vision von den vier Reitern aus dem Gesicht des Sacharja von den vier Rosse-Herden gemacht! Wie nüchtern ist die Scene von den Gerechten in ihren Behältern im IV Esra und wie plastisch ist die entsprechende Vision des fünften Siegels! Die Visionen vom Throne Gottes, von der Eröffnung des Buches durch das Lamm, von den vier Reitern, den Seelen unter Gottes Thron haben im alten und neuen Testament, wie in der spät-jüdischen Literatur kaum irgendwie ihres Gleichen. Auch der Aufbau des Ganzen ist prachtvoll. Zuerst ein großangelegtes ruhiges Bild: Gott im Himmel thronend, umgeben von seinen Trabanten. Dann eine zweite große Szene voller Spannung. In Gottes offener Hand ruht das Geheimnis der Zukunft, das versiegelte Buch, und niemand im ganzen weiten Rund der Schöpfung kann die Siegel des Geheimnisses lösen. Da tritt in den Kreis eine neue gewaltige, geheimnisvolle Gestalt, das geschlachtete Lamm, und ihm allein ist die Macht über das Geheimnis gegeben. In mächtigen Hymnen löst sich die Spannung auf, und nun beginnt das Lamm die Siegel zu lösen, und in stürmischer Bewegung rauschen und brausen die Ereignisse vorüber, bis nach dem sechsten Siegel eine Ruhepause eintritt.


  1. Spezielle Verwandtschaft mit Kap. 1-3: βασιλαίαν καὶ ἱρεῖς 1,6; 5,10; θάνατος καὶ ᾅδης 1,18; 6,8; (20,13f.); ὁ ἔχων τοὺς ὀφθαλμούς 2,18; ὁ ἔχων τὸ πρόσωπον 4,7; der Gebrauch von ἕκαστος 2,23; 5,8; 6,11; ἅγιος in Beziehung auf Gott und Christus 3,7; 4,8; 6,10.

« Kap. 6. Die ersten sechs Siegel Wilhelm Bousset
Die Offenbarung Johannis
Kap. 7-8,1. Intermezzo und siebentes Siegel »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).