Die Ostermesse in London

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Titel: Die Ostermesse in London
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aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 173-175
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[173]

Lebens- und Verkehrsbilder aus London.

In Briefen von einem in London lebenden Deutschen.
II.
Die Ostermesse in London.

In einem Lande, wo „statistische Tabellen“ herrschen, und die Regierungsweisheit größtentheils darin besteht, Zahlen und Massen „Rechnung zu tragen“, spielen die capite censi oder (um es in ein deutscheres Latein zu übersetzen) Proletarier auch ohne das Recht, alle 6 Jahre einen mit einem bezahlten Namen beschriebenen Zettel abgeben zu dürfen und so das höchste politische Recht zu genießen, eine viel bedeutendere Rolle, als sich die Herren im Ober- und Unterhause träumen lassen. Seit der großen Ausstellung, die jetzt in dem prächtigen Parke Sydenhams zu dem glänzendsten Volksbildungstempel vereinigt wird, hat in England eine neue Epoche der Geschichte angefangen, deren Hauptinhalt darin besteht, daß sich das politisch-unberechtigte Volk in seiner Selbstständigkeit und Bildung selbst vertritt und in allen wichtigen politischen Angelegenheiten, ohne Vertretung, den Ausschlag giebt. Wir benutzen die Gelegenheit der Londoner Ostermessen, uns dieses Volk einmal so recht in der Nähe und so hübsch beisammen anzusehen.

Unsere Reise geht zunächst diesseits der Themse, drei Meilen weit von der City östlich durch lange, zum Theil ungemein breite, stets überfüllte Straßen, an unzähligen engen, schmutzigen, dunkeln Seitenstraßen vorbei. Wenn wir uns im Hauptstrome halten, kommen wir ganz sicher in die Stepney-Messe hinein, ein Labyrinth von Menschen, Buden, Apfelsinen, Austern, Zuckerwerk, Spielsachen, Flaschenbatterien, Polichinell-Theatern, Jongleurs, Musikanten, wilden Thieren, Zwergen, Riesen, Mißgeburten entweder ohne Hände mit den Füßen schreibend, oder ohne Füße auf den Händen gehend, nachgemachten Negern, Indianern, Menschenfressern, Penny-Theatern, Public-, Thee- und Pie-Häusern mit großen Fahnen auf den Dächern an schiffsartig aufgetakelten Masten, in ein Geschrei, Gewühl, ein Drängen und Stoßen, ein liebenswürdiges Lumpengesindel, das an Ausdehnung, Dichtigkeit, Gutmüthigkeit und Kaltblütigkeit seines Gleichen in der ganzen Welt nicht finden mag.

Wir sind mitten auf dem berühmten Stepney-Markte. Sie nennen es hier „Fair“, was auf deutsch „Fehr“ heißt, denn man kann es weder mit „Messe“, noch „Markt“ übersetzen. Auf Märkten und Messen ist die Hauptsache kaufen und verkaufen; die Fairs sind Volksfeste, wo man nur im Ernste verkauft. Alles Kaufen ist Spaß und dient nur der Volkslust.

[174] „Stepney“ ist ein Name, mit welchem man alle die großen Proletarierstädte im Osten der City: Whitstapel, Spitalfields, Bethnolgreen, Poplar-Linehouse, Schadwell u. s. w. in einem Worte bezeichnet. Der Mittelpunkt der Stepney-Volksbelustigungen ist denn auch ungefähr in der Mitte dieser großen Haufen Unglück in den bezeichneten Stadttheilen – zwischen drei Eisenbahnhöfen und einer Menge Kanälen, die in die neun meilenweiten Docks und von da in die ewig belebte Themse führen. An jedem Eisenbahnhofe lungern stets Hunderte von Boten und Trägern, in jedem Dock finden jeden Morgen 600 bis 1000 Menschen als Löscher und Lader Beschäftigung, ohne die Hunderte und Tausende, denen die Thore vor der Nase zugeschlagen werden und die sonach mindestens 24 Stunden hungern oder betteln, wenn sie nicht anderweitig in der ewigen Lotterie von Angebot und Nachfrage einen Gewinn ziehen. In jedem Kanal ziehen, laden und löschen täglich Hunderte von Kohlenmännern und Frachtkahnschiffern. Ringsum liegen außerdem unendliche Massen von Fabriken und Manufacturen und Werkstätten, die für große Lieferanten arbeiten, auch „Klein-Deutschland“ in Whitstapel mit seinen Zuckersiedern, Straßenmusikanten, Besen- und Blumenmädchen aus allen Theilen Groß-Deutschlands. – Alles dies ist nun heute so hübsch beisammen in Stepney. Zunächst kann man gar nichts unterscheiden. Es ist wie ein Wasserfall, der statt aus Tropfen, aus Menschen, Buden, Apfelsinen und Zündschwamm besteht. Lernt man dann etwas unterscheiden, fällt uns gewiß zunächst eine ungeheure Masse schmutziger Jungen und Mädchen auf, die alle etwas für 1 Penny oder 1/2 Penny zu verkaufen haben, besonders Apfelsinen, Zündschwamm und Zuckerwerk. Jedes Mädchen hat einen Hut auf, geht aber jedenfalls barfuß. Der Hut ist das Letzte, was ein weibliches Wesen in London verliert. Nichts sieht komischer aus, als wenn so ein irisches Apfelsinenmädchen mit zottigem Haar so ein recht nettes, vornehmes, seidenes Mäntelchen, das sie geschenkt bekam, auf den Lumpen trägt, die ihr in schauerlicher Vielseitigkeit um die nackten Beine fliegen. Und die Erwachsenen? Ja hier sieht man Vollblut-Angelsachsen. Was für stoute, doppelstoute, vierschrötige, gutmüthige Kraftmenschen! Das ist Proletariat mit Guineen in der Tasche und Fleisch und Porter im Magen. Sie stillen nicht ihren Hunger, sondern befriedigen täglich den gesegnetsten Appetit mit Fleischkeulen, die sie noch eben so zubereiten, wie die alten griechischen Helden im Homer, und mit Porter und Ale, gegen dessen Stärke sich die deutschen „Kümmel“ im Gefühl ihrer Schwäche hinter das blanke Wasser verkriegen würden.

Die Masse blauer Jacken mit blanken Knöpfen, flatternden Halstüchern und breitkrämpigen Strohhüten zeigen, daß Seewasser in der Nähe ist. Was für seltsame Gestalten! Und was für eine Menge unmögliche Sprachen sie mit einander reden. Lange, hagere, breite, dicke, gelbe, braune, rothe, schwarze Matrosen – alle Völker und Racen waten da schwerfällig umher und zum Theil Arm in Arm, verbrüdert durch das kosmopolitische Meer und in den Tanzkneipen Hamburgs, Londons, New-Yorks, Valparaisos, Capstadts, Cantons, Schanghais, Adelaides, Melbournes, Sydneys u. s. w.

Um auch einen Blick auf das weibliche Geschlecht zu werfen, so bemerken wir, daß es hier am Schlechtesten her- und wegkommt. Zwar sieht man manche anständige, schöne, arme Gestalt; aber die Meisten lachen dir gerade in’s Gesicht und nicht selten wirst du in ihrer Nähe einen unerträglichen Gin-Geruch merken. Gin, der ekelhafteste, giftigste Branntwein, ist der tägliche Trost der Verworfenen, Armen und Hungrigen, besonders der hier überaus stark vertretenen Irländerinnen, kenntlich an ihren breiten, stumpfen, schmutzigen Gesichtern.

Was thun denn nun aber die etwa 500,000 Menschen hier? Sie genießen Staub, Gin, Bier, Austern, sehen und lassen sich sehen, drängen und lassen sich drängen – das ist Alles. Doch nein, für den Gehörsinn ist doch am Besten gesorgt. Man denke nicht, daß die Leute eben hier in Buden hineingucken und sich etwas aussuchen oder auch nicht, und dann bieten und handeln oder auch leer wieder weggehen. So bequem haben’s die Handelsleute hier nicht. Alle Bildung und Weisheit aller Zeiten und Nationen muß hier in den Buden und an den Ständen mitarbeiten, um den Leuten ihr Kupfer und Silber abzujagen. Dort blinkt eine „silberne“ Zuckerzange in der Luft. Der Mann, der sie emporhält, erzählt in der anmuthigsten Weise deren ganze Geschichte und Werth, wie das Erz aus der Erde kam, geschmolzen, gereinigt, verarbeitet ward, die lange Mord- oder Bibelgeschichte, die in Relieffiguren auf sie gedruckt ward. – Nachdem das Alles im lebendigsten Flusse und Feuer öffentlicher Beredtsamkeit bekannt geworden, faßt er Alles zusammen und wie eine Bombe donnert dann der Schluß in die staunende Menge: Gentlemen und Ladies, das Alles bekommen Sie für 1 Schilling. Aber keine Hand regt sich, kein Schilling zeigt sich gerührt. Nun „man wird ihn hören, stärker beschwören“. Zu der Zuckerzange gesellt sich ein Rasirmesser. Dessen Geschichte und Tugenden werden jetzt mit denen der Zuckerzange verflochten. Bombe: Alles für 1 Schilling. Es kommt noch Keiner. So nimmt er zu der Zuckerzange und dem Rasirmesser, Löffel, Messer und Gabel. Die Rede beginnt von vorn und verwebt die Tugenden und Biographien aller fünf Gegenstände zu einem einzigen Haupteffect. Alles, Alles das zusammen für einen einzigen Schilling. Zuletzt strotzt die Hand wie eine große Sonne von Zuckerzange, Rasirmesser, Löffel, Messer, Gabel, Scheere, Federmesser, Theelöffeln, Nadelbüchsen, Zahnbürste, Badeschwamm, Geldbörse u. s. w. – Mit so erhobener Hand führt der Mann die verwickeltste Fuge von Biographien und Attesten mit Anspielungen auf Minister, mit Citaten von Sokrates, Cicero u. s. w. durch, und auch jetzt kostet Alles zusammen nur noch einen Schilling. Ein Glück, wenn das englische Achtgroschenstück sich nun ergiebt. Ergiebt’s sich nicht, so wirft der Mann Alles zusammen nieder und versucht’s mit Schnittwaaren, Bildern u. s. w. nach demselben Systeme. Welch eine Anstrengung, welch ein Witz, welch eine Gelehrsamkeit, um eines Schillings willen. Aber das ist noch Aristokratie.

An tausenderlei Orten siehst du dasselbe Schauspiel um bloßer kupferner Pence willen. Da steht z. B. ein Mann mit einem Haufen gewöhnlicher Calmuswurzel. Der Mann sagt, man habe dem Sokrates, nachdem er das Gift getrunken, gerathen, von dieser Wurzel zu nehmen, er habe es aber abgelehnt, und das sei der einzige Grund, weshalb er gestorben, sonst würde er heute noch leben. Was man Christus am Kreuze gereicht, sei nicht Essig in einem Schwamm, sondern [175] diese Wurzel gewesen. Der große griechische Arzt Hippokrates sage da und da in seinem Werke so und so über diese Wurzel. Wellington sei bei Waterloo zum Tode verwundet worden, habe von dieser Wurzel gegessen und dadurch die Schlacht gewonnen. Und so fort durch alte, mittelalterliche und neue Zeit, wo diese Wurzel stets alle Krankheiten geheilt habe. Schluß und Effect: Alles für einen Penny.

Die Hauptsache ist gegen Abend Trinken und auch etwas Betrunkensein. Ist im Weine Wahrheit, steckt auch jedenfalls in Bier und Spirituosen etwas davon, da der „Geist“ in allen diesen Getränken ein und derselbe ist. Und so sah ich denn auch, wie respectabel der Engländer in seiner Wahrheit d. h. seiner Betrunkenheit ist. So korkzieherförmig auch die Bahnen manches Helden waren, er stieß und beleidigte Niemanden. Kein Schimpfen und Schlagen. Selbst schon ganz daniederliegende Helden unterhielten sich ganz höflich mit dem Policeman, der blos zu beweisen suchte, daß es für ihn, den Helden, comfortabler sein würde, wenn er sich eine bequemere Stelle zum Mittagsschläfchen aussuchte. Er bequemte sich nur unter der Bedingung dazu, daß der Policeman sein Ehrenwort darauf giebt, wie er ihn für völlig nüchtern und einen Gentleman halte.

Gleichzeitig findet die „Fair“ zu Greenwich auf der andern Seite der Themse, die Fair zu Blackwall zwischen Docks und die Fair um die „Chalk-Farm“ am entgegengesetzten Ende Londons statt. Greenwich ist schon so oft von deutschen Federn beschrieben worden, daß die Deutschen den „Markt zu Greenwich“ vielleicht besser kennen als wir hier zu Lande. Stepney ist für das riesige reiche Proletariat, die von der Themse und dem Meere leben, Greenwich für die Clerks, Gerk’s und Needlewomen (Kaufmannsdiener, Stutzer und Näherinnen), Chalk-Farm für das blasse, hagere Proletariat des Westendes. Die Unterschiede sind ziemlich scharf, aber im Ganzen haben diese Messen etwas Gleichmäßiges. Alle Klassen erscheinen gutmüthig, friedlich und anspruchslos, und die Hauptbelustigungen bestehen in spielender Uebung körperlicher Kraft und Gesundheit und der Freude daran: Wettlaufen Hügel auf, Hügel ab, Scheibenschießen mit Flitzbogen um Eßwaaren, Esel- und Pferdewettrennen von Damen und Kindern, Kraftproben im Gewichtheben, in langen Reihen über einander hinwegspringen, Schaukeln, Haschen, Criket- und Racketspiel, Kokusnußabwerfen. Die Neckereien mit den Knarren, mit denen man immer unvermuthet einander den Rücken herunter rädert, ist wohl bekannt. Man muß starke Nerven haben, um’s zu vertragen. Es fühlt sich nicht nur jedesmal, als wenn der Rock von Oben bis Unten zerrisse, sondern erschüttert auch von den Rückennerven her den ganzen Organismus. Man lacht sich hier bald todt darüber und beweis’t damit, daß Nerven und Muskeln gesund sind. Ja, es ist ein gesundes, kräftiges, gutes, gebildetes Volk mit rothen Wangen, lachenden Augen, schönen Gesichtern, hohen Stirnen, wozu bei dem weiblichen Geschlechte noch die langen schweren braunen und blonden Locken und die eigenthümlich leuchtenden Augen kommen, deren feste, ruhige Milde sich weiter nicht schildern läßt.

Aber da waren ja auch so viele Gruppen von blassen, zerlumpten Gestalten! Stand bei dem Einen nicht mit großer Schrift um den Hut herum: „We ara Syng with starvation“? (Wir sterben vor Hunger.) Und wo’s nicht auf dem Hute stand, las man’s noch deutlicher in Gesichtern. Richtig, furchtbar wahr und wirklich. Aber ihr seht in diesen Gesichtern zugleich auch die celtische Race, den Irländer, die Folge und den Fluch anderer Mächte. –